Die Töchter der Villa Soledad - Alaitz Extremera Leceaga - E-Book

Die Töchter der Villa Soledad E-Book

Alaitz Extremera Leceaga

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Beschreibung

1927, Basondo im Baskenland: Estrella und ihre Zwillingsschwester Alma führen ein privilegiertes Leben in der Villa Soledad. Sie wachsen mit rauschenden Festen und großem Luxus auf, doch sie leiden unter ihrem herrischen Vater, ihrer Rivalität untereinander und dem Fluch, dass eine von ihnen an ihrem fünfzehnten Geburtstag sterben wird. Als der Tag kommt und sich ihr Schicksal erfüllt, bleibt eine der Schwestern übrig. Gebrandmarkt von ihrem Schicksal wird sie zu einer furchtlosen Frau, die alles tun wird, um ihr Erbe, ihren Stolz und ihr geliebtes Land in Basondo zu schützen.

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Seitenzahl: 804

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Das Buch

1927, Basondo im Baskenland: Estrella und ihre Zwillingsschwester Alma führen ein privilegiertes Leben in der Villa Soledad. Sie wachsen mit rauschenden Festen und großem Luxus auf, doch sie leiden unter ihrem herrischen Vater, ihrer Rivalität untereinander und dem Fluch, dass eine von ihnen an ihrem fünfzehnten Geburtstag sterben wird. Als der Tag kommt und sich ihr Schicksal erfüllt, bleibt eine der Schwestern übrig. Gebrandmarkt von ihrem Schicksal wird sie zu einer furchtlosen Frau, die alles tun wird, um ihr Erbe, ihren Stolz und ihr geliebtes Land in Basondo zu schützen.

Die Autorin

Alaitz Leceaga, geboren 1982 in Bilbao, liebt Krimis, Thriller und Liebesromane. Sie hat bereits zahlreiche Kurztexte veröffentlicht. Ihr Debüt »Die Töchter der Villa Soledad« war ein Bestseller in Spanien.

ALAITZ LECEAGA

Die Töchter der Villa Soledad

ROMAN

Deutsch von Sybille Martin

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe El bosque sabe tu nombre erschien 2018 bei Ediciones B, Penguin Random House, Grupo Editorial, Barcelona

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 03/2020

Copyright © 2018 by Alaitz Leceaga

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von © Trevillion Images (Mark Owen) und © Shutterstock (Mariusz Switulski, Mimadeo, TJmedia, Lev Kropotov, Naria_P)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-23217-7V001

www.heyne.de

Für meinen Mann, auf ewig

Wo wir auch hingehen, ein Schatten trottet hinter uns her – und immer einer auf vier Beinen.

Clarissa Pinkola Estés,Die Wolfsfrau

Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL – FEUER

Das unsichtbare Band

Die Sternenhöhle

Brücke in die Vergangenheit

Etwas Böses

Das Spiel mit dem Feuer

ZWEITER TEIL – WASSER

Löwenzahn

Es geschah in einer Nacht

Die Rosen von Großmutter Soledad

Der geheimnisvolle Gast

Die Kletterpflanze

Die Hochzeit

DRITTER TEIL – WIND

Las Ánimas

Wertvoller als Wasser

Feuersturm

VIERTER TEIL – ERDE

Der andere Marquis

Unser Geheimnis

Laura

Das mysteriöse Palais

Der Wolf unter uns

Das Zuloaga-Werk

Der Hispano-Suiza

Zuckerbrot und Peitsche

Das letzte Fest

Der schwarze Wolf

Danksagung

ERSTER TEIL FEUER

Das unsichtbare Band

Das Feuer spürte ich zum ersten Mal, als ich elf Jahre alt war. Am selben Nachmittag sprang Großmutter Soledad von der Klippe hin­ter unserem Haus. Meine Schwester Alma konnte schon mit den Toten reden, bevor das eiskalte Wasser des Kantabrischen Meeres unsere Großmutter für immer verschlang, aber ich musste bis zu jenem Nachmittag warten.

Wenn die Tage nach einem langen Winter endlich wieder heller wurden, gingen Alma und ich gewöhnlich in den Wald gegenüber unserem Haus. Wir kannten jede hundertjährige Eiche, jede Wurzel und die Spuren der Wildschweine auf dem feuchten Waldboden, weil wir uns nach der Siesta, auf die unsere Mutter bestand, gern aus dem Haus stahlen und bis Einbruch der Dunkelheit durch den Wald stromerten.

»Du blutest, Estrella«, sagte Alma, ohne mich anzusehen.

In der Nacht meiner Geburt war ein Komet über den Himmel geschossen und hatte einen Schweif aus Feuer, Eis und Sternenstaub hinterlassen, weshalb meine Mutter den Namen Estrella für mich wählte: Stern.

»Pass bloß auf«, fügte sie hinzu. »Wenn du dir das Kleid schmutzig machst, schimpft Mama wieder. Du weißt doch, dass es ihr und Carmen überhaupt nicht gefällt, dass wir im Wald spielen, weil sie finden, so etwas schickt sich nicht für kleine Señoritas.«

»Falsch, es ist wegen der Wölfe. Mama und Carmen haben Angst, dass sie uns bei lebendigem Leib auffressen und man nur noch unsere blutverschmierte, zerfetzte Kleidung und unsere Schuhe im Unterholz findet«, erwiderte ich, um ihr Angst zu machen.

»Du meinst, wie bei der Tochter der Dorflehrerin. Die Wölfe haben so wenig von ihr übrig gelassen, dass die Arme sie nicht mal anständig begraben konnte. Wie schrecklich«, ergänzte Alma und klang kein bisschen mitfühlend.

Wie alle in Basondo hatte auch ich diese Geschichte schon oft gehört, doch bei dem Gedanken an die zerfleischte Tochter der Lehrerin lief mir stets ein Schauer über den Rücken.

»Du blutest immer noch«, raunte Alma.

Ich schaute auf meine rechte Hand und sah den Kratzer auf dem Zeigefinger.

»Das ist nichts weiter, wahrscheinlich bin ich irgendwo hängen geblieben«, erwiderte ich gereizt.

Nur einzelne Sonnenstrahlen gelangten durch die hohen Baumwipfel, die eine weite, grüne Kuppel bildeten, und das hellrote Blut fühlte sich heiß an, es brannte unter meiner Haut. Der Anblick von Blut hatte mir nie etwas ausgemacht, aber in dem Moment fand ich es schrecklich, fast unerträglich. Es schnürte mir den Magen zu, und ich schüttelte meine Hand, um dieses rote Feuer loszuwerden. Ein paar Tropfen fielen auf den Waldboden, doch die meisten spritzten auf mein blaues Kleid.

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst aufpassen«, sagte Alma, als sie um den Stamm einer riesigen Kiefer herumging. »Stell dich nicht so an, du ziehst schon die ganze Zeit eine Flunsch. Mir ist lang­weilig. Und wenn du schmollst, bist du wirklich nicht witzig, Estrella.«

»Ich schmolle nicht«, maulte ich. »Du bist einfach unerträglich.«

»Unerträglich? Aber ich bin doch die heilige Alma«, flötete sie.

Die angebliche »Heiligkeit« meiner Schwester war in Basondo ein offenes Geheimnis. Manche Bewohner glaubten, Alma sei eine Art Auserwählte, die ihnen einen Kontakt mit ihren Lieben im ­Jenseits herstellen könnte.

»Wenn du es ihr nicht erzählst, wird Mama auch nicht erfahren, dass wir im Wald waren«, antwortete ich und starrte auf die verräterischen Blutstropfen auf meinem Rock. »Ich gebe Carmen das Kleid zum Waschen. Sie verrät mich bestimmt nicht – im Gegensatz zu dir.«

Alma drehte sich um und sah mich an. In unserem Wald glänzten ihre gelben Augen noch intensiver.

»Ich verrate dich auch nicht, Dummkopf.«

Meine Schwester verbrachte oft Stunden mit verlorenem Blick, der auf irgendeinen Punkt in ihrem eigenen Universum gerichtet zu sein schien. Mich störte das nicht, denn Alma war meine Zwillingsschwester, und ich wusste eigentlich immer, was sie dachte, außer in den Momenten, wenn sie diesen verhexten Gesichtsausdruck hatte. Wir waren sechs Jahre alt, als sie mir gestand, dass sie Wesen sehe könne, »die nicht mehr lebten«, aber unser Haus bevölkerten. ­Gespenster. Sie erzählte mir, dass sie durch die unbewohnten Räume und langen Flure der Villa Soledad zu schleichen pflegten und vor sich hinmurmeln oder lautlos weinen würden.

»Hast du kürzlich einen Geist gesehen?«, fragte ich, tat aber so, als würde mich ihre Antwort nicht wirklich interessieren.

Alma wich einer knorrigen Wurzel aus. Als wir zum ersten Mal den Wald erkundet hatten, war sie über genau diese Wurzel gestolpert, weil diese unter dem trockenen Laub verborgen gewesen war. Sie hatte sich an der Stirn verletzt, Mama aber erzählt, ich hätte sie beim Spielen im Garten geschubst. Dafür waren mir zwei Wochen Stubenarrest aufgebrummt worden.

»Weißt du, das Reden mit den Toten ist gar nicht so gut, wie es scheint«, erwiderte sie, als wir unsere geheime Lichtung beinahe erreicht hatten. »Carmen meint, es sei ein schlechtes Zeichen, wenn die Toten meine Gesellschaft suchen, und Mama, na ja, mit Mama kann ich nicht über Gespenster reden, also bleibst nur noch du.«

Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Trotz der Kälte schwitzte ich vom Gehen, und das Haar klebte mir an der Stirn.

»Mir ist das alles egal. Vergiss, dass ich dich gefragt habe«, erwiderte ich herablassend. »Ich glaube eigentlich nicht, dass du sie wirklich sehen kannst. Du willst doch nur angeben und etwas ­Beson­deres sein.«

Ich war eifersüchtig auf alles, was Alma konnte und ich nicht. Und sie legte es liebend gern darauf an. Wenn sie glaubte, ich schliefe schon, hörte ich sie nachts in unserem gemeinsamen Zimmer manchmal flüstern. Alma führte lange und geheimnisvolle Gespräche mit Menschen, die nicht in unserem Zimmer waren, manchmal lachte sie leise, andere Male weinte sie in ihr Kissen, es kam offenbar darauf an, welches Gespenst sie gerade heimsuchte.

»Sei nicht eifersüchtig, Estrella.«

»Ich bin überhaupt nicht eifersüchtig, schönen Dank auch«, log ich. »Du kannst andere hinters Licht führen mit deiner Behauptung, was Besonderes zu sein oder mit Toten reden zu können, aber ich bin deine Zwillingsschwester und weiß ganz genau, wie du wirklich bist: nämlich genau wie ich.«

Alma strich mit der Hand über den Efeu, der am Stamm einer Eiche emporwucherte. Kleine blaue Wildblüten sprossen wie eine Perlenkette aus dessen Ästen.

»Ja, wir sind Zwillinge, aber wir sind nicht identisch. Du hast zwei verschiedenfarbige Augen, ein grünes und ein gelbes«, erinnerte sie mich. »Ich habe zwei gelbe Augen.«

»Lächerlich. Wir sind identisch in allem, was wichtig ist.«

Wir waren bei der Lichtung angekommen. Ich erkannte es an den verkrüppelten Buchen und den großen Farnen. Auch das Plätschern des Flüsschens war zu hören. Hinter vier Kiefern, die so hoch waren wie Leuchttürme und eine fast gerade Linie bildeten, erkannte ich schon unsere Wiese mit dem hohen Gras und den Wildblumen. Hier schien die Sonne und ließ alles golden schimmern wie Almas Augen, es roch nach Blumenwiese, die noch nie gemäht worden war. Ein paar Samenkronen vom Löwenzahn tanzten in der Sonne und verloren sich dann im dunklen Wald.

»Wenn du so große Angst vor den Toten hast, warum beichtest du es nicht Padre Dávila? Vielleicht bist du nach ein paar Vaterunsern und Gebeten geheilt und siehst keine Gespenster mehr«, schlug ich boshaft vor.

»Beichten? Niemand wird mir glauben, oder schlimmer noch, man glaubt mir und verbrennt mich als Hexe auf dem Scheiterhaufen«, klagte Alma und setzte sich im Schneidersitz ans Flussufer. »Nein, das kann ich niemandem erzählen.«

Alma verbarg ihr Gesicht in den Händen, als würde sie weinen, aber ich wusste, dass sie nur so tat.

»Wir haben das Jahr 1927, Alma, heutzutage wird niemand mehr als Hexe verbrannt«, versicherte ich ihr. »Außerdem hat Carmen mir mal erzählt, dass nur arme Frauen verbrannt wurden, wir beide sind praktisch schon Marquisen. Niemand, der noch bei Verstand ist, würde es wagen, uns der Hexerei zu bezichtigen und erst recht nicht, uns auf dem Dorfplatz zu verbrennen.«

Bei der Vorstellung musste ich lachen, doch Alma starrte mich erschrocken an.

»Was ist daran so lustig? Erinnerst du dich nicht an die Geschichte von Jeanne d’Arc, die uns Miss Lewis erzählt hat? Hinterher hatte ich wochenlang schreckliche Albträume, in denen ich von den Flammen verschlungen wurde.«

Auch ich hatte schon vom Feuer geträumt, aber anders als bei Jeanne d’Arc oder meiner Schwester war das Feuer in meinem Traum in mir und loderte unter meiner Haut.

»Niemand wird dich verbrennen, Alma«, sagte ich und setzte mich neben sie auf den Boden. »Du bist schließlich die Gute von uns beiden. Sollte also eine von uns in den Flammen sterben, dann ich.«

Alma lächelte sichtlich erleichtert, und ich begriff, dass sie wie alle anderen glaubte, ich sei die Schwester, auf die man hätte verzichten können.

»Ich habe irgendwo gelesen, wenn ein Zwilling stirbt, hat der andere ein Leben lang das Gefühl, als fehle ihm ein Arm oder ein Auge«, sagte ich. »Kannst du dir das vorstellen? Dein ganzes Leben lang herumzulaufen mit dem Gefühl, dir fehlt etwas? Ich will so was nicht erleben, nur weil du so dumm warst und dem Priester erzählen musstest, dass du mit den Toten reden kannst.«

»Das war deine Idee«, brachte mir Alma in Erinnerung, pflückte eine blaue Wildblume, die neben ihrem Lackschuh blühte, und legte sie in ihre flache Hand. »Wenn man mich tötet, bist du schuld daran.«

Ein Schauer lief mir über den Rücken, was aber nichts mit der Kälte zu tun hatte, die von der weichen, feuchten Wiese aufstieg. Nein. Es schwang etwas Finsteres in Almas Worten mit, eine Vorahnung, das düstere Versprechen an die Schwester: Wenn man mich tötet, bist du schuld daran.

Ich starrte auf die blaue Blüte in ihrer Hand und glaubte für einen Moment, sie hätte sich bewegt. Zuerst dachte ich, es sei der Nordwind, der auf der Suche nach uns durch den Wald pfiff. Derselbe eiskalte Wind, der vom Meer über die Klippen aufstieg und in unser Zimmer drang, wenn uns nachts die Toten heimsuchten. Aber es war nicht der Wind. Ich spürte ein Kribbeln unter meiner Haut, eine fiebrige Hitze, die aus meiner Brust aufstieg und sich wie heißes Gift rasch in meinen Adern ausbreitete, und in dem Augenblick begann sich das Blümchen auf seinem Stängel so anmutig zu drehen wie die Tänzerin einer Spieluhr.

»Bist du das, Alma?«, fragte ich mit trockenem Mund. »Bist das du?«

»Nein. Ich glaube, das bist du, Estrella«, flüsterte sie und starrte gebannt auf die tanzende Blume in ihrer Hand.

Die Blume drehte sich immer schneller und schwebte schließlich ein paar Zentimeter über Almas Handfläche.

»Das glaube ich nicht, du bist das, du machst das nur, um mich zu verhöhnen. Hör auf damit!«, schrie ich, und die Blume drehte sich noch schneller. »Du sollst aufhören!«

Je wütender ich wurde, desto schneller drehte sich die Blume. Ich spürte ein Glühen und Kribbeln unter der Haut wie Elektrizität bis in meine Fingerspitzen, als würde man mit einer Lupe Sonnenstrahlen einfangen und auf einen bestimmten Punkt richten.

»Das bist du, Estrella, du kannst zaubern.«

»Das bin nicht ich, es ist das Feuer.«

Während Alma mit ihren unmöglichen gelben Augen zu den Toten sprach oder Botschaften aus dem Jenseits an die Lebenden überbrachte, die sie gerührt oder weinend umarmten, wenn sie die Worte ihrer lieben Verstorbenen hörten, musste ich elf lange Jahre warten. Bis zu jenem Nachmittag.

Wir verließen unseren Wald und nahmen den längeren Weg nach Hause, der sich an den Klippen entlangschlängelte.

»Mach dir nichts draus, wenn dieses Feuer, das du spürst, echt ist, wirst du das bestimmt noch öfter machen können«, brüllte Alma über das Tosen der Wellen hinweg.

Verstohlen warf ich einen Blick auf meine Hand, aber da war nur der Kratzer auf dem Zeigefinger, sonst nichts, weder Brandwunden noch Blasen. Dennoch spürte ich die Hitze in mir, ganz ähnlich der Restwärme einer Glut als Erinnerung an das Feuer.

»Du hast doch keine Ahnung, wie das mit dem Feuer funktioniert, also rede nicht so, als wüsstest du alles«, sagte ich, obwohl ich ebenfalls keine Ahnung hatte. »Ich bin die Ältere, falls du das vergessen haben solltest.«

»Zwei Minuten«, murmelte Alma und zog einen Schmollmund.

»Zwei Minuten reichen, ist nicht zu ändern.«

Ich glaubte, Alma würde weiterstreiten, doch plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf den Lastenkran an den Klippen, mit dem das Eisenerz aus unserem Bergwerk auf die Schiffe verladen wurde, die unten an der Steilküste vor Anker lagen.

»Da steht Großmutter Soledad«, sagte sie.

Ich sah mich um, weil ich dachte, unsere Großmutter spazierte an den Klippen entlang und hätte uns aus dem Wald kommen sehen, in dem wir eigentlich nicht spielen durften.

»Was? Wo denn?«

»Dort«, antwortete Alma. »Sie steht direkt an der Klippe, als wolle sie ins Meer springen. Siehst du sie denn nicht?«

Der Kran stand nicht weit entfernt, aber darunter war niemand zu sehen.

»Du spinnst, ich kann Großmutter nicht sehen. Um diese Zeit sitzt sie bestimmt im Wintergarten und trinkt ihren Amaretto Sour, wie jeden Abend vor dem Essen.«

Aber Almas Katzenaugen waren noch immer auf den Lastenkran gerichtet und erspähten etwas für mich Unsichtbares, wobei sie mit den Tränen kämpfte.

»Ich sehe sie so deutlich wie dich«, sagte Alma mit einem Hauch von Stimme, und mir begann zu dämmern, was das zu bedeuten hatte. »Ihr silbriges Haar ist nass und wirkt länger als heute Morgen, es reicht ihr bis zur Taille. Jetzt sieht sie mich an, sie trägt ihre Perlenkette und das elegante lange Kleid aus blutroter mexikanischer Seide. Kannst du sie wirklich nicht sehen, Estrella?«

Wütend und entschlossen stapfte ich zum Rand der Klippen, obwohl meine Beine zitterten und mein Magen krampfte. Es roch stark nach Salpeter, der mit jedem Atemzug in die Nase stach.

»Du lügst und bist nur eifersüchtig auf mich, weil du das Feuer nicht spüren kannst.«

»Ich lüge nicht. Großmutter Soledad steht dort an der Klippe, direkt vor dir. Jetzt sagt sie etwas.« Alma verstummte und lauschte. »Sie sagt, dass sie es leid war, hier zu leben, so fern von ihrem geliebten Land, weil Großvater sie als junges Mädchen dazu gezwungen hat. Sie erträgt es nicht länger.«

Ich war erst elf Jahre alt, aber ich wusste sofort, was das zu bedeuten hatte: Unsere Großmutter war tot.

»Großmutter sagt, dass es ihr sehr leidtut«, sprach Alba weiter und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Sie bedaure sehr, uns allein zu lassen, aber sie wolle wieder nach Hause. Sie sagt, wenn sie hier in Basondo stirbt, wird Vater sie auf unserem Familienfriedhof beerdigen, und dann könnte sie nie wieder nach Hause, in ihre wahre Heimat.«

»Sie ist hier zu Hause. Sei endlich still!«, rief ich. »­Großmutter Soledad ist daheim, und es geht ihr gut. Ich will nichts mehr hören.«

»Großmutter lässt dir ausrichten, dass sie dir die Kette mit dem Smaragd-Anhänger vermacht, die du immer haben wolltest. Sie weiß, dass du sie dir heimlich umgelegt hast, wenn sie nicht da war, und im Spiegel der Frisierkommode geprüft hast, ob sie zu deinem grünen Auge passt. Sie liegt auf deinem Kopfkissen, sie gehört jetzt dir«, sagte Alma schluchzend, dann schüttelte sie den Kopf, als würde sie etwas Schreckliches hören. »Nein …!«

»Was ist? Was hat Großmutter noch gesagt?«, fragte ich mit dem salzigen Geschmack der Tränen im Mund.

Alma blinzelte mehrmals und sah dann zu Boden. Ich musste nichts mehr fragen, ich wusste, dass Großmutter Soledad gegangen war.

»Eine von uns beiden wird ihr folgen, vor unserem fünfzehnten Lebensjahr«, murmelte Alma, als würde sie den Fluch einer Zauberin aussprechen. »Eine von uns wird sterben.«

Ich trat von der Klippe zurück und ging zu meiner Schwester.

»Hat sie gesagt, wer von uns beiden?«, fragte ich und hielt den Atem an, weil ich mich vor jeder der beiden möglichen Antworten fürchtete.

Alma zögerte.

»Nein, das hat sie nicht gesagt.«

Ich wusste, dass sie log, ich wusste es, als ich in ihre tränenerfüllten Augen blickte.

Dann lief ich durch das hohe Gras zum Haus, durchquerte ohne innezuhalten Vorgarten und Vestibül und stürmte die Treppe hinauf in unser Turmzimmer, meine Lungen brannten, aber ich musste es mit eigenen Augen sehen. Als ich vor meinem Bett ankam, lag sie auf dem Kopfkissen, wie Alma gesagt hatte. Großmutter Soledad hatte mir die Kette mit dem Smaragd-Anhänger vermacht, bevor sie von der Klippe ins Meer gesprungen war.

Das war der Beweis für mich, dass meine Schwester Alma wirklich mit den Toten reden konnte.

»Halt still, Estrella. Sonst kann ich dir das Kleid nicht zuknöpfen. Es ist schon kompliziert genug, und du machst es mit deinem Gezappel nur noch schwieriger«, schimpfte Carmen, die mit den Knöpfen meines schwarzen Kleides kämpfte. »Du bist ja kaum zu bändigen, Mädchen.«

Ich zog eine Grimasse, denn Carmen konnte mein Gesicht nicht sehen. Das Kleid aus schwarzer Rohseide und Organza, das ich zu Großmutter Soledads Trauerfeier anziehen musste, war wirklich unbequem, dennoch hörte ich zu zappeln auf.

»Ich mag das Kleid nicht, ich habe viel schönere Kleider. Warum kann ich nicht eins von denen anziehen?«, maulte ich.

Carmen strich sich eine Strähne ihres kastanienbraunen Haars hinters Ohr und seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass ich diese Frage stellte.

»Weil dieses extra für die Trauerfeier der Señora Marquise genäht wurde«, erklärte sie mir geduldig. »Es kommen sehr wichtige Leute zur Trauerfeier. Sie werden dich begrüßen und dir kondolieren, deshalb müsst ihr beide anständig aussehen. Sieh dir Alma an, wie hübsch sie ist. Du willst doch wohl nicht abstreiten, dass sie richtig elegant wirkt mit ihrem Seidenkleid und den Lackschuhen. Sie sieht aus wie eine Porzellanpuppe.«

Ich sah zu Alma hinüber, die auf der Bettkante saß und mit den Beinen baumelte. Carmen hatte sie zuerst angekleidet, weil sie wusste, dass sie hinterher stillsitzen und nicht in den Garten laufen und sich schmutzig machen würde, wie ich es zu tun pflegte.

»Ja, wie ein Püppchen«, räumte ich zähneknirschend ein. »Machst du mir auch so eine Zopfkrone wie ihr?«

Almas glänzendes schwarzes Haar war zu einem schönen Zopf geflochten und auf dem Kopf festgesteckt.

»Natürlich, aber dann musst du wirklich stillhalten«, sagte Carmen, als sie endlich den letzten bezogenen Knopf auf meinem Rücken geschlossen hatte. »Eines Tages werden Alma und du die Marquisen de Zuloaga sein. Ihr müsst euch langsam daran gewöhnen, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Ihr dürft nicht mehr so wild herumtoben und müsst lernen, euch wie anständige Señoritas zu benehmen, verstanden?«

Ich zog eine Flunsch, aber Alma schenkte ihr ein reizendes ­Lächeln.

»Miss Lewis sagt, dass wir beide eines Tages wonderful ladies sein werden, glaubst du das auch, Carmen?«, fragte Alma. »Glaubst du, dass wir auch so gute Marquisen sein werden wie Großmutter ­Soledad?«

»Natürlich, Kindchen, bessere sogar. Eure Großmutter war eine gute Frau, sie war schön und hatte Stil, das kann man nicht mit Geld kaufen, aber die Arme war nie glücklich hier.« Carmens braune Augen wurden traurig, was ich nicht verstand. »Ich hoffe, dass die Señora Marquise jetzt an einem Ort ist, wo sie glücklich sein kann.«

Darauf schwiegen wir drei, als befürchteten wir, Großmutter ­Soledad befände sich im Zimmer und könnte uns hören.

»Jetzt ist sie heimgegangen. Ich bin traurig, aber ich freue mich auch für sie,« sagte Alma, die gern die Sensible spielte, die sie aber keineswegs war, wie ich wusste.

»Sei nicht traurig wegen deiner Großmutter, Schätzchen. Die ­Señora Marquise hätte das nicht gewollt, nicht einmal heute.« Carmen ging zu Alba, die mit gesenktem Kopf auf dem Bett saß. »Du wirst sehen, schon bald wirst du dich besser fühlen. Eure Großmutter kannte euch gut und liebte euch sehr, ihr habt ihr in den letzten Jahren viel Freude bereitet.«

»Und trotzdem werde ich sie sehr vermissen«, fügte Alma hinzu.

Seufzend kehrte Carmen zu mir zurück und begann mich zu frisieren.

»Bewahre Haltung, so gut du kannst, Mädchen«, sagte sie abschließend. »Wenn du Schwäche zeigst, werden andere das ausnutzen.«

Alma erwiderte nichts darauf, aber ich erkannte an ihrem missmutigen Gesichtsausdruck im Spiegel, wie sehr es sie störte, dass Carmen sich wieder mit mir beschäftigte.

Wir drei befanden uns hoch über dem Kantabrischen Meer in unserem Turmzimmer, in das eine Wendeltreppe aus der dritten Etage führte.

»Wenn Alma und ich Marquisen sind, können wir dann tun und lassen, was wir wollen, wie Vater?«, fragte ich unser Kindermädchen.

»Wir Frauen dürfen nie tun, was wir wollen, nicht einmal eine Marquise darf das. Es ist den Männern vorbehalten«, antwortete sie resigniert. »Halt still, damit ich dir den Zopf flechten kann. Euer Vater wird gleich hochkommen und es gar nicht mögen, wenn ihr nicht fertig seid.«

»Klar, er muss ja auch nicht so viele Knöpfe schließen«, murrte ich und griff mir an den Rücken. »Das ist vielleicht lästig.«

»Du tust ja geradeso, als hättest du sie selbst zuknöpfen müssen, Mädchen«, tadelte mich Carmen.

Alma kicherte, und ich bedachte sie mit einem vernichtenden Blick in den Spiegel.

»Ich mag dieses Kleid nicht, es ist steif und schnürt mir die Luft ab«, klagte ich weiter. »Diese blöde Schneiderin hat sich bestimmt mit den Maßen geirrt. Oder du hast die Kleider vertauscht und mir das von Alma angezogen, die ist nämlich dicker als ich.«

Carmen kämmte mein langes Haar aus.

»Ich habe gar nichts vertauscht«, erwiderte sie, ohne mich anzublicken. »Und selbst wenn, ihr beide habt dieselbe Kleidergröße, also sei nicht so empfindlich, Mädchen.«

»Wir sind nicht gleich«, protestierte ich, aber ein Blick in den Spiegel genügte, um mir das Gegenteil zu beweisen; es war, als würde ich mich doppelt sehen. »Ich habe zwei unterschiedliche ­Augenfarben.«

Ich sah Carmen den Kopf schütteln, während sie mein Haar in drei Strähnen teilte.

»Vielleicht hast du das Gefühl, dass das Kleid dich beim Atmen behindert, weil du schon bald eine junge Frau sein wirst«, sagte sie.

Ich verstand nicht, was Carmen damit meinte, starrte aber auf meine Brust in der Befürchtung, meine Brüste könnten gewachsen sein, während Carmen das Kleid zuknöpfte.

»Ich weiß nicht, was du damit sagen willst«, murmelte ich ein wenig beschämt, obwohl ich nicht wusste, warum.

»Ich schon. Sie will damit sagen, dass wir uns bald entwickeln und keine Kinder mehr sein werden, stimmt’s, Carmen? Das wolltest du doch damit sagen?«, fragte Alma mit einem zufriedenen Grinsen auf den rosafarbenen Lippen. »Miss Lewis hat mir davon erzählt und mir sogar ein Buch mit ekelhaften Zeichnungen vom weiblichen Körper gezeigt, aber sie hat auch gesagt, dass eine Señorita niemals darüber spricht. Das sei ein Geheimnis.«

»Von wegen Geheimnis, Kindchen. Man merkt wirklich, dass Miss Lewis Ausländerin ist und aus guter Familie stammt. Gleich wirst du noch behaupten, dass Gebären auch ein Geheimnis ist.«

Carmen Barrio war knapp dreißig Jahre alt und unser Kindermädchen, solange ich denken konnte. Eine meiner ersten Erinnerungen war, dass sie im Turmzimmer mit uns auf dem Boden saß und das Gänse-Spiel spielte, während draußen über dem Kantabrischen Meer ein Unwetter tobte und den alten eisernen Lastenkran aus den Klippen riss, als handle es sich um ein Blatt Papier. Später erfuhren wir, dass zwei Männertrupps in Schichtarbeit vier Monate benötigten, um den neuen aufzubauen.

»Bin ich hübsch? Wirke ich älter?«, fragte ich Carmen, als ich versuchte, mich im Spiegel zu betrachten und nicht mit Alma zu verwechseln.

»Du bist sehr hübsch, Kindchen. Genau wie deine Schwester« erwiderte sie resigniert. »Und hab’s nicht so eilig mit dem Älterwerden, es ist gar nicht so schön, wie immer behauptet wird.«

Carmen hatte gebräunte Haut und rosige Wangen, als wäre ihr immer warm. Sie war eine junge Frau – selbst für ein Mädchen wie mich, für die alle Erwachsenen über zwanzig alt schienen –, aber zugleich wirkte sie irgendwie verbraucht, geschlagen vom Leben. Sie hatte warme und liebenswürdige braune Augen, obwohl sich ihr Blick bisweilen jenseits des Horizonts verlor. Manchmal weinte Carmen auch. An einem Nachmittag vor sieben Jahren – ein paar Monate bevor ihre Tochter Catalina geboren wurde – hatten Alma und ich sie weinend in ihrem Kellerzimmer angetroffen, sie saß an die Wand gelehnt auf dem Boden und hatte die Arme um die Knie geschlungen.

»Warum hat sich Großmutter Soledad umgebracht?«, fragte Alma plötzlich. »War es unsere Schuld? War sie nicht zufrieden mit uns?«

Zwei Tage zuvor hatte Mama uns erzählt, dass es ein Unfall gewesen sei, dass Großmutter Soledad zu dicht an den Klippen entlangspaziert und ins Meer gestürzt wäre.

»Wie kommst du darauf? Wer hat dir gesagt, dass sie sich umgebracht hat?«, fragte Carmen, die im Flechten innehielt und sie überrascht ansah. »Der Marquis?«

Alma schüttelte den Kopf und stand vorsichtig auf, um das schwarze Trauerkleid nicht zu zerknittern.

»Nein, Großmutter hat es mir gesagt«, sagte sie und kam zum Frisiertisch. »An dem Nachmittag, als Großmutter Soledad starb, haben wir sie am Kran gesehen, stimmt doch, oder, Estrella?«

Ich war noch nicht frisiert und nickte ungnädig.

»Ja.«

»Eigentlich habe nur ich sie gesehen, denn Estrella kann die Toten nicht sehen«, korrigierte sich Alma, als sie sich auf die Stuhllehne hinter mir stützte. »Großmutter hat gesagt, dass sie es leid ist, hier zu leben, weit weg von ihrem geliebten Land, das zu verlassen Großvater sie gezwungen hat, als sie ein junges Mädchen war. Was bedeutet das, Carmen? War sie traurig und liebte uns nicht mehr? Hat sie sich deshalb umgebracht?«

Wir beide sahen Carmen erwartungsvoll an. Sie war die einzige Erwachsene im Haus der Zuloagas – bestimmt im ganzen Tal von Basondo –, die uns wie Menschen behandelte und nicht wie lästige Porzellanpüppchen. Carmen stützte die Hände in die Hüften und sah zur gewölbten Decke unseres Zimmers hinauf, als würde sie über eine Antwort nachdenken, die wir verstünden, ohne uns anlügen zu müssen.

»Das bedeutet, dass eure Großmutter auch nicht tun und lassen konnte, was sie wirklich wollte, selbst als Señora Marquise de Zuloaga nicht«, sagte sie schließlich. »Das erzählt ihr aber niemandem, ist das klar? Der Marquis wäre sehr ärgerlich, wenn das Dorf erführe, dass eure Großmutter freiwillig von den Klippen gesprungen ist. Das wäre für ihn und die ganze Familie eine große Schande. Versteht ihr das?«

»Wir werden es niemandem erzählen«, versprach ich und kreuzte die Finger in meinem Schoß, damit Carmen es nicht sah.

Es war uns verboten, beim Kran zu spielen oder uns zu nah am Rand der Klippen zu bewegen, aber manchmal, wenn Carmen ihrer Tochter das Lesen beibrachte, stahlen Alma und ich uns davon, um in den Abgrund zu blicken, der nur einen halben Kilometer vom Haus entfernt war, und wetteten, wer von uns beiden sich näher an den Rand der Klippen traute. Wir schlossen die Augen und zählten laut, wir brüllten gegen das Tosen der Wellen an, die sich weit unten an den Felsen brachen. Es war eines meiner Lieblingsspiele, weil ich immer gewann, aber einmal ging ich zu dicht an die Kante und wäre fast abgestürzt, weil eine ekelhafte Möwe laut krächzend an mir vorbeiflog. Ich rutschte aus und verlor einen meiner eigens für uns angefertigten Spangenschuhe. Als ich voller Angst wieder die Augen öffnete, sah ich den Schuh gerade im Meer versinken. Zähneklappernd und schreckensstarr kehrte ich mit schmutzigem Fuß nach Hause zurück.

»Was meinte Großmutter damit, dass hier nicht ihr Zuhause ist?«, hakte ich nach, als Carmen endlich den Zopf flocht. »Die Villa war doch ihr Zuhause, sie trägt sogar ihren Namen: Villa Soledad. Hat Großvater das Haus nicht so genannt, weil er Großmutter sehr liebte?«

Die Liebesgeschichte von Großvater Martín und Großmutter Soledad war ein Epos, eine Familienlegende, die Alma und ich unzählige Male von aller Welt außer von Großmutter Soledad erzählt bekommen hatten: Sie selbst sprach nie davon, nicht einmal nach Großvaters Tod, sie erzählte auch nie von ihrer Hochzeit und wie sie sich kennenlernten oder von ihrem Leben in Mexiko, bevor Großvater in ihr Leben getreten war.

»Carmen?«

Als Carmen ihre Hand nach den Haarklemmen auf dem Frisiertisch ausstreckte, zitterte sie leicht.

»Euer Großvater Martín lernte Doña Soledad in einem winzigen Dorf in Mexiko kennen. Er war schon Marquis, doch sein Vater hatte wegen eines schlechten Geschäfts das gesamte Vermögen der Familie verloren, weshalb eurem Großvater nichts anderes übrig blieb, als nach Amerika auszuwandern«, begann Carmen zu erzählen, wobei sie meinen Zopf hochsteckte. »Sie haben schon bald geheiratet, und einige Zeit später kehrte er mit Doña Soledad nach Basondo zurück.«

Alma und ich hatten uns die Hochzeitsfotos unserer Großeltern oft angeschaut, sie hingen im Flur in der zweiten Etage. Großmutter Soledad war blutjung und sehr schön gewesen, obwohl sie selt­samerweise auf keinem der Fotos lächelte. Ihr Hochzeitskleid aus weißer Spitze brachte ihre zimtfarbene Haut wunderbar zur Geltung. Anstelle eines Schleiers trug sie einen Kranz aus roten Rosen auf dem rabenschwarzen Haar, das ihr fast bis zur Hüfte reichte. Dazu eine sündhaft teure, siebenreihige Naturperlenkette. Wir wussten genau, dass es sieben waren, weil Alma und ich sie immer wieder gezählt hatten.

»Eure Großmutter ist eine mexikanische Prinzessin, die nicht mehr in ihrem trockenen und von Gott verlassenen Land leben wollte. Deshalb kam sie hierher«, sagte Vater, wenn wir ihn nach Großmutters Herkunft oder ihrer dunkleren Hautfarbe fragten.

»Hat Großmutter Soledad denn nicht gern in Basondo gelebt?«, fragte Alma, während sie mit dem silbernen Parfümbestäuber auf dem Frisiertisch spielte. »Als wir sie auf den Klippen gesehen haben, sagte sie, sie wolle nach Hause. Ist ihr Zuhause in Mexiko? Warst du schon mal in Mexiko, Carmen? Wie ist es dort? Ist es anders als in Basondo? Regnet es dort auch die ganze Zeit wie hier?«

»In Mexiko regnet es nicht, Dummkopf«, belehrte ich sie.

»Nein, ich war noch nie in Mexiko oder an einem anderen Ort, aber eure Großmutter hatte Heimweh nach ihrem Land«, erwiderte Carmen. »Stellt euch vor, man würde euch zwingen, weit weg von diesem Haus und diesem Wald an einem anderen Ort zu leben – dann wärt ihr auch sehr traurig.«

»Aber sie wurde doch nicht gezwungen«, insistierte Alma. »Großvater hat das Haus nach ihr benannt, um allen zu zeigen, wie sehr er sie liebte, und ihr die Kette mit dem Smaragd geschenkt. Warum wollte Großmutter dann weg?«

»Weil manche Dinge auf dieser Welt, wenn auch nur wenige, nicht für Geld zu haben sind«, antwortete Carmen.

»Auch nicht für Smaragde?«, wollte ich wissen.

»Nein.« Carmen legte die restlichen Haarklemmen auf den Frisiertisch und gab mir mit einem liebevollen Klapps zu verstehen, dass ich aufstehen konnte.

»Jetzt bist du fertig. Lasst euch mal ansehen.«

Ich stellte mich neben meine Schwester, um mich zu vergewissern, dass sie uns wirklich die gleiche Frisur gemacht hatte, und betrachtete unser Spiegelbild. Abgesehen von der Augenfarbe, sahen wir uns zum Verwechseln ähnlich.

»Ihr seid sehr hübsch. Schade, dass eure Kindheit schon bald vorbei sein wird. Eines nicht allzu fernen Tages werde ich euch in genau diesem Zimmer das Brautkleid anziehen«, sagte Carmen mit einem traurigen Lächeln.

Carmens Worte beunruhigten mich, ohne dass ich wusste, was der Grund dafür war.

»Kann ich die Kette mit dem Smaragd zu Großmutters Trauerfeier tragen?«, fragte ich plötzlich. »Es würde ihr bestimmt gefallen, mich damit zu sehen.«

Seit ich die Kette auf meinem Kopfkissen gefunden hatte, hatte Vater erfolglos versucht, sie mir wegzunehmen, um sie zu Mamas Schmuck und seinen Wertpapieren in den Safe seines Arbeitszimmers zu legen. Deshalb hatte ich die Kette in einer Hutschachtel in unserem Schrank versteckt.

»Nein, die kannst du nicht tragen, Kindchen. Diese Kette passt nicht zu einer Trauerfeier«, erklärte mir Carmen. »Schmuck ist nichts für Kinder, und diese Kette ist sehr wertvoll – du könntest sie verlieren, wenn du draußen herumrennst.«

»Aber dann erfährt ja niemand, dass Großmutter die Kette mir und nicht Alma geschenkt hat«, protestierte ich.

Mit großen Schritten ging ich zu dem großen Einbauschrank.

»Lass das sein, der Marquis kommt gleich«, warnte mich Carmen. »Wenn du deine Frisur zerstörst, werde ich dich nicht noch einmal kämmen, du weißt also Bescheid.«

Trotz ihrer Drohung riss ich alle Schranktüren auf, bis ich den Turm aus bunten Hutschachteln gefunden hatte.

»Ich kann mit der Kette machen, was ich will. Sie gehört jetzt mir, und wenn ich sie tragen will, dann tue ich das auch«, sagte ich trotzig und öffnete eine Hutschachtel. »Du bist nur unser Kindermädchen, du kannst mir gar nichts verbieten.«

Carmen seufzte ergeben und kam zu mir herüber.

»Deine Großmutter hat dir die Kette vererbt, damit du sie trägst, wenn du erwachsen bist.«

Ungerührt öffnete ich eine weitere Hutschachtel und schleuderte den Deckel unter mein Bett.

»Und was ist, wenn ich nie erwachsen werde?«, maulte ich und wühlte in dem Seidenpapier. »Was, wenn ich vor meinem fünfzehnten Lebensjahr sterbe?«

»Du wirst nicht vor deinem fünfzehnten Lebensjahr sterben, Kindchen. Wie kommst du denn darauf, wenn man fragen darf?« In Carmens Stimme schwang Furcht mit.

Ich warf Alma einen raschen Blick zu.

»Da ist sie ja!«, rief ich zufrieden. »Los, mach sie mir zu, ich will sie zur Trauerfeier tragen.«

»Nein. Auch wenn du traurig und verärgert bist, kannst du diese Kette nicht zur Trauerfeier deiner Großmutter tragen. Du willst immer deinen Kopf durchsetzen, Mädchen«, schimpfte Carmen. »Leg sie sofort wieder in die Schachtel, damit dein Vater sie nicht entdeckt, und wenn ihr in der Kapelle seid, räume ich das Durcheinander hier auf.«

»Großmutter Soledad hat mir erzählt, dass Großvater ihr diese Kette geschenkt hat, weil ihre Augen so grün wie Smaragde sind«, erinnerte ich mich. »Ich habe nur ein grünes Auge, vielleicht hat sie sie deshalb mir vermacht und nicht Alma.«

Carmen kniete sich auf den Boden und nahm mir sanft die Kette aus der Hand.

»Es ist nicht eure Schuld, dass sich die Señora Marquise umgebracht hat, Kinder. Du kannst jemanden zwingen, an einem bestimmten Ort zu leben, aber nicht dazu, sich an diesem Ort heimisch zu fühlen. Heimat ist etwas, das man immer im Herzen trägt«, erklärte uns Carmen. »Wenn ihr größer seid, werdet ihr das verstehen, aber es gibt keine Möglichkeit, die Gefühle eines anderen Menschen zu beherrschen, sie sind das Einzige, über das niemand Macht ausüben kann. Nicht einmal der Señor Marquis.«

Als hätte Vater bei diesen Worten unvermittelt Gestalt angenommen, stand José de Zuloaga in der Tür.

»Sind die Mädchen fertig?«, fragte er anstelle eines Grußes. »Ihre Mutter wartet unten, wir gehen jetzt in die Kapelle.«

Wir hatten ihn nicht kommen hören und wussten nicht, wie lange er schon in der Tür stand, aber er wirkte nicht gerade zufrieden, obwohl unser Vater nie sonderlich zufrieden wirkte. Carmen verzog den Mund, weil auch sie nicht wusste, wie viel er gehört hatte.

Der Marquis de Zuloaga hatte dasselbe schwarze Haar wie wir und unsere Großmutter, aber seine Augen waren dunkel und klein wie die eines Waldtieres. Auch wenn Alma und ich noch Kinder waren, spürten wir, dass unser Vater ein Mann war, der anderen Angst einflößte, nicht nur uns, auch den Arbeitern des Bergwerks, den Hausangestellten und unserer Mutter. Vater schüchterte praktisch alle Welt ein, weil er wusste, dass er es konnte.

»Ja, sie sind fertig«, sagte Carmen und spielte mit der Kette in ihrer Hand.

»Was hast du da?«, fragte Vater, als er das sah. »Gib mir sofort die Kette. Du hast keine Ahnung, wie man mit solchen Dingen umgeht.«

»Soledad war auch nicht von Geburt an Marquise«, entgegnete Carmen, als sie ihm das Schmuckstück aushändigte.

Vaters Augen sprühten unter den dichten Augenbrauen Funken. Ich spürte seine Gewalttätigkeit und war davon überzeugt, dass er Carmen gleich ohrfeigen würde.

»Vater …«, wagte ich mich vor.

»Steht endlich auf, Kinder. Nur Barbaren und Lumpengesindel sitzt auf dem Boden«, sagte er und steckte die Kette in seine Jackentasche. »Beeilt euch, eure Mutter wartet unten im Vestibül auf euch.«

Obwohl der Marquis zur Trauerfeier für seine Mutter einen schwarzen Anzug angezogen hatte, trug er zumeist maßgeschneiderte Jagdgarderobe: wasserfeste Regenmäntel, grüne oder beige Tweed-Jacken, Hosen mit Schildpattknöpfen am Schlitz, Lederstiefel, die ihm bis zu den Waden reichten und die Beine vor Dornengestrüpp schützen sollten, sowie elegante Baskenmützen. Vater liebte es, sich wie ein englischer Lord zu kleiden – oder was er sich darunter vorstellte –, weshalb er sich ausschließlich von einem bekannten Herrenschneider in der Regent Street in London ausstatten ließ, der Grafen, Fabrikanten, Bankiers und Herzöge in ganz Europa belieferte. Doch mit seinem gewellten schwarzen Haar, seinen kleinen unsteten Augen unter buschigen Brauen und seinen schlechten Manieren wirkte der Marquis eher animalisch und provinziell, was wenig mit dem distinguierten Erscheinungsbild des von ihm bewunderten britischen Adels gemein hatte.

»Geht schon mal vor, ich muss noch was mit Carmen besprechen.«

Alma und ich liefen aus dem Zimmer, drehten uns aber noch einmal um und sahen, dass Carmen am Frisiertisch saß und still weinte.

Die Trauerfeier für Großmutter Soledad fand in der Familienkapelle statt, die in einiger Entfernung zur Villa am westlichen Rand des Anwesens stand. Der Weg aus grauen Steinplatten führte am Teich mit den leuchtenden japanischen Fischen vorbei zu einer Gruppe Feigenbäume mit grüngelblicher Rinde, wo permanent der süße Duft reifer Früchte in der Luft hing. In der Kapelle wurden sämtliche Taufen, Trauerfeiern, Kommunionen und Hochzeiten der Familie de Zuloaga begangen. Dahinter war auf einem Felsvorsprung ein kleiner Friedhof angelegt, auf dem Großvater Martín und ein als Kind verstorbener Bruder unseres Vaters begraben waren.

»Die Kapelle hat euer Großvater zusammen mit der Villa bauen lassen«, erklärte uns Mama, als wir an den Feigenbäumen mit ihrem betörenden Duft vorbeigingen. »Großvater Martín war ein sehr gläubiger Mann, ein wahrer Christ. In den Jahren, die er auf Kuba und in Mexiko verbrachte, wurde er von einem Priester begleitet, der ihm half, die richtigen Entscheidungen für seine Geschäfte und sein Leben zu treffen. Deshalb hat er hier, auf seinem Grundstück in Basondo, diese Kapelle errichten lassen.«

Vater ging ein Stückchen voraus. Wir hatten je eine Hand von Mama ergriffen, die mit ihrem kastanienbraunen, wassergewellten Bob sehr schön aussah. Sie trug ein wadenlanges schwarzes Seidenkleid, das trotz des Angora-Mantels darüber ihre Figur betonte. Dessen Kragen und Ärmel waren mit flauschigem, ebenfalls schwarzem Hermelin besetzt, und auf dem Kopf trug sie ein schwarzes Hütchen mit Schleier, der ihre Augen bedeckte.

»Werden wir Großmutter auch auf dem Friedhof begraben?«, fragte Alma, die vorsichtig den Steinweg entlangging, um sich nicht die Lackschuhe schmutzig zu machen. »Vielleicht will sie gar nicht hierbleiben.«

»Kinder, ich habe euch doch schon erklärt, dass man den Körper eurer Großmutter nicht aus dem Meer bergen konnte. Es gibt nichts, was man begraben könnte, das Kantabrische Meer hat sie verschlungen«, antwortete unsere Mutter lauter als beabsichtigt. »Wir tun nur so, als würden wir sie begraben, damit wir um sie weinen können, versteht ihr das?«

Mama hatte uns erklärt, dass wir für Großmutter eine Trauerfeier ohne Sarg abhalten würden. Deshalb war sie ja von den Klippen gesprungen: damit das Meer ihren Körper verschlang und wir sie nicht auf dem Friedhof der Zuloagas begraben konnten.

Am Ende des Weges stand die Kapelle, vor der sich eine beachtliche Menschentraube gebildet hatte.

»Haben all diese Leute Großmutter gekannt?«, fragte ich.

Mama ließ uns los und rückte sich das Hütchen zurecht.

»Nein, natürlich nicht. Du weißt doch, dass eure Großmutter zuletzt das Haus nur verlassen hat, um im Dorf Likör zu kaufen. Die Arme hat den Tod eures Großvaters nie verwunden, sie liebten sich sehr und waren ein so schönes Paar …«, erwiderte meine Mutter und strich über ihren Angora-Mantel. »Diese Leute sind wegen eurem Vater hier, weil sie ihm kondolieren wollen, viele von ihnen sind aus Madrid oder England angereist, sie machen Geschäfte mit ihm und kaufen das Erz aus unserem Bergwerk, um Schiffe, Eisenbahnen oder Waffen zu bauen.«

»Wenn sie Großmutter gar nicht kannten, warum sind sie dann gekommen? Ihre Trauerfeier kann ihnen doch egal sein«, insistierte ich stur.

»Was du immer für Fragen stellst, Estrella! So macht man das eben bei wichtigen Leuten, man geht zu ihrer Beerdigung, auch wenn man sie nicht kannte«, erklärte Mama geduldig und lächelte. »Wenn jemand Wichtiges oder ein Familienmitglied stirbt, gehen anständige Leute zu dessen Beerdigung und drücken den Angehörigen ihr Mitgefühl aus. So etwas nennt man Höflichkeit. Deshalb müsst ihr beide euch während der Feier anständig benehmen und stillsitzen, ja? Ihr wollt doch nicht bei diesen Leuten, die von weit her kommen, einen schlechten Eindruck hinterlassen, oder?«

Alma und ich schüttelten gleichzeitig den Kopf.

»Schön«, schloss Mama. »Jetzt lasst euch mal anschauen, ihr seht sehr hübsch aus. Ich wusste doch, dass sich schwarze Seide für diesen Schnitt am besten eignet. Benehmt euch, und redet nicht mit den Erwachsenen, es sei denn, sie sprechen euch zuerst an, und denkt daran, Mädchen: immer lächeln. Ich werde mich zu eurem Vater gesellen, der Arme ist sehr traurig über den Tod von Großmutter.«

Dann betrat Mama langsam, damit ihre schwarzen samtbezogenen Pumps keinen Schaden nahmen, die Kapelle.

»Wie schön Mama ist und immer so elegant. Hoffentlich sehen wir genauso schön aus, wenn wir groß sind«, sagte ich, als ich sah, wie sie von unbekannten Menschen lächelnd begrüßt und mit Komplimenten bedacht wurde.

»Wir beide ähneln Großmutter Soledad, nicht Mama. Wir haben die gleiche helle Haut wie Mama, mehr nicht, alles andere haben wir von Großmutter«, erwiderte Alma und strich sich eine unsichtbare Falte am Rock glatt. »Vor allem du.«

In der Kapelle roch es nach Weihrauch und Wachskerzen, aber auch nach Feuchtigkeit und einer Mischung aus teuren Parfüms. Padre Dávila wartete, bis alle Platz genommen hatten. Er stand vor dem Altar aus geschnitztem Holz, den Großvater Martín seinerzeit von einem venezianischen Kunsttischler hatte anfertigen lassen und der zu Ehren unserer Großmutter mit weißen Lilien und brennenden Kerzen geschmückt war. Die Kapelle war gut besucht, aber uns grüßte niemand, als wären wir beide unsichtbar. In der ersten Bank­reihe kniete unser Vater neben Mama auf einem Mahagonibänkchen mit rotem Samtbezug, das aus einer sehr alten Kirche in Italien stammte. Er hatte die Augen geschlossen und die Hände zum Gebet gefaltet.

»Hast du gesehen, wie elegant alle gekleidet sind?«, fragte ich Alma leise.

»Ja. Mama hat gesagt, einige Gäste seien aus London angereist. Dort hat man gewiss mehr Stil als in Basondo«, flüsterte Alma.

Zum Schutz gegen die hohe Luftfeuchtigkeit am Meer, die durch sämtliche Ritzen in die Kirche drang, trugen die Frauen Samt-Jäckchen oder Chinchilla-Stolen über den schwarzen Kleidern. Und alle hatten ihren Kopf bedeckt, um die Kirche betreten zu können, manche mit Schleierhütchen wie unsere Mutter, andere trugen zarte Mantillen aus wunderschönen handgeklöppelten Spitzen.

»Ich habe noch nie so elegante Menschen gesehen«, flüsterte ich meiner Schwester ins Ohr. »Nicht mal, als wir uns hinuntergeschlichen haben, um die Gäste von Mamas Neujahrsfeier zu sehen, erinnerst du dich?«

Meine Mutter liebte es, in Villa Soledad Feste zu veranstalten: zu Silvester, zu Karneval, zum Geburtstag des Marquis … Jeder Vorwand war willkommen, um das Haus mit Menschen, Musik und Cocktails zu beleben, aber Alma und ich mussten immer mit Carmen in unserem Zimmer ausharren, wenn unten die Gäste tanzten, im kleinen Salon spirituelle Sitzungen mit einem falschen Medium abhielten oder auf der Veranda russischen Kaviar schlemmten. Vor zwei Jahren hatte Carmen uns ein Märchen vorgelesen und war darüber eingeschlafen, was wir genutzt hatten, um zur Treppe zu schleichen und die Gäste zu beobachten, aber Mama hatte uns erwischt und wieder in unser Zimmer geschickt. Wir bekamen zwei Wochen Stubenarrest, aber schon wegen der Kleider der Gäste hatte es sich gelohnt.

»Wenn ich sterbe, möchte ich auch, dass alle so elegant zu meiner Beerdigung kommen«, sagte ich zu Alma, fasziniert von den in Seide und Spitzen gehüllten Frauen in den vorderen Bänken. »Hast du gehört, Alma? Ich will auch, dass meine Beerdigung wie ein Silvesterfest wirkt.«

Wir saßen in der letzten Bank gleich neben dem Seitenausgang, der zum Friedhof führte. Ich hatte hinübergeschielt und überlegt, aus der Kapelle zu verschwinden, wenn Padre Dávila mit der Andacht begann.

»Sollen wir abhauen?«, fragte Alma, ohne den Blick vom Priester abzuwenden. »Wenn du ganz leise bist, könnten wir uns rausstehlen, ohne dass es jemand merkt.«

»Und selbst wenn, das ist mir egal, ich will nicht hierbleiben, es riecht nach Weihrauch und ist so kalt.«

Leise stand ich auf und schlich zu der Tür. Alma folgte mir wie eine Tänzerin. Mein Seidenkleid raschelte bei jedem Schritt, doch die Aufmerksamkeit der Trauergemeinde war auf Padre Dávila gerichtet, weshalb niemand unser Verschwinden bemerkte.

»Wurde auch Zeit, mir ist schon ganz schlecht von dem Weihrauchgestank«, log ich und rieb meine Schläfen, als hätte ich Kopfschmerzen, um es dramatischer wirken zu lassen. »Sollen wir zum Friedhof gehen? Ich habe Großmutters Grab noch nicht gesehen.«

Angeblich hatte man Großmutter Soledad an Vortag beerdigt, obwohl nur ein leerer Sarg in die Erde versenkt und eine Grabplatte mit ihrem Namen daraufgelegt worden war.

»Ich auch noch nicht. Mama sagt, Kinder hätten an einem Grab nichts verloren, sie könnten Angst und schreckliche Albträume bekommen.«

»Ich habe keine Angst vor den Toten«, erwiderte ich, doch je ­näher wir dem Friedhof kamen, desto stärker schnürte sich mir die Kehle zu.

Der kleine Friedhof der Familie Zuloaga lag ein wenig versteckt hinter der Kapelle auf einem Felsvorsprung über dem Meer und war umgeben von einer Mauer aus unbehauenem Stein.

»Hier draußen ist es noch kälter als in der Kirche«, meinte Alma. Dann kicherte sie albern, als wollte sie mutig wirken und die Toten verjagen.

Ich wich einer Pfütze aus und entdeckte eine einzelne Blume auf dem Rasen. Sie war blau.

»Sie sieht aus wie die kürzlich im Wald«, sagte ich und bückte mich, um sie zu pflücken. »Ich habe hier noch nie Blumen gesehen, ich dachte immer, hier könne nichts wachsen, weil der hohe Salpetergehalt der Luft die Wurzeln abtötet und den Boden vergiftet.«

Abgesehen von dem kurzen Rasen gedieh auf dem Familienfriedhof nur ein Baum, eine reizlose Trauerweide, deren tief hängende Äste über den Boden strichen.

»Ich habe auch noch nie Blumen hier gesehen. Vielleicht ist das die Blume von unserer Lichtung, die dir gefolgt ist, damit du sie wieder tanzen lässt«, überlegte Alma und sah mich mit glänzenden gelben Augen an.

»Das glaube ich nicht.«

Dennoch starrte ich auf die Blume in meiner Hand und spürte, wie mein Blut unter der Haut zu brodeln begann und mich innerlich versengte.

»Da hinten steht Großmutter Soledad, gleich neben dem Grab«, sagte Alma plötzlich.

Ich vergaß die Blume und das Brennen und sah zu dem frischen Grab. Auf dem Stein lag ein großer Kranz aus roten Rosen.

»Fang nicht schon wieder damit an, Alma. Ich will deine Gespenstergeschichten jetzt nicht hören.«

»Es ist keine Geschichte. Großmutter ist wieder blutjung und trägt ihr Brautkleid wie auf den Fotos im Flur«, fuhr Alma mit starrem Blick auf den Stein fort. »Und darüber ihre siebenreihige Perlenkette.«

Genau in dem Augenblick ließ eine Brise die Äste der Trauerweide erzittern, sie scharrten über den Boden wie die Krallen eines Tieres.

»Ich glaube dir kein Wort«, murmelte ich, aber das war gelogen.

»Großmutter sagt, sie möchte, dass wir die Wahrheit über sie und Großvater Martín erfahren, obwohl es eine hässliche Wahrheit ist, eine, über die man nur spricht, wenn die Betroffenen tot sind.« Alma verzog den Mund und versuchte die Tränen zurückzuhalten. »Nein …«

»Was ist? Was sagt sie?«, schrie ich über das Heulen des Windes hinweg.

»Großmutter Soledad war als kleines Mädchen so hübsch, dass alle im Umfeld ihres mexikanischen Dorfes über ihre Schönheit ­redeten. Es hieß auch, sie sei eine Zauberin, eine Hexe, die sich mit der Erde auskenne und vorhersagen könne, wann es Gewitter oder Unglücksfälle in den Familien gebe. Deshalb haben wir beide auch magische Kräfte, wir haben diese Gabe von ihr«, erklärte Alma. »Schließlich kam das Gerede über ihre Schönheit und ihre magischen Kräfte dem Spanier zu Ohren, der auf der Suche nach seinem Glück nach Mexiko gekommen war: Großvater Martín.«

»Das denkst du dir alles aus. Großmutter war eine mexikanische Prinzessin, das erzählt Vater doch immer«, widersprach ich.

»Der Spanier wurde neugierig und lud den Vater mit dem Mädchen auf seine Hacienda ein. Er war nicht der erste Mann, der sich für Soledad interessierte, aber der erste reiche. Großvater verliebte sich Hals über Kopf in sie«, fügte sie hinzu. »Sie heirateten an dem Tag, als Großmutter Soledad fünfzehn Jahre alt wurde.«

»Fünfzehn?« Ich betrachtete die blaue Blume in meiner Hand und dachte über Almas Worte nach.

Großmutter Soledad verfügte tatsächlich über magische Kräfte, sie redete in einer Geheimsprache mit den Vögeln, sie wusste, wann die Rosen im Garten blühen würden, und ließ die Bäume die besten Äpfel tragen. Sie spürte das Feuer in sich, genau wie ich.

Ich erinnerte mich daran, wie Großmutter im Dezember mit einem Korb in den Garten gegangen war, um von dem amerikanischen Apfelbaum, den Großvater gepflanzt hatte, Äpfel zu pflücken. Auch außerhalb der Saison kam Großmutter mit einem Korb voller roter glänzender Äpfel zurück.

Alma winkte ihr zum Abschied.

»Jetzt ist sie fort«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Großmutter ist für immer gegangen, wir sind allein.«

Ich legte die blaue Blume auf Großmutters Grab. Sie wurde augenblicklich vom Nordwind davongetragen.

»Hat Großmutter dir gesagt, wer von uns beiden zuerst stirbt?«

»Nein«, antwortete Alma und ergriff meine Hand. »Sei nicht böse mit mir, Estrella. Wer weiß, wie lange wir noch zusammen sein können, bis eine von uns den Toten Gesellschaft leisten muss.«

Ich drückte ihre Hand, die so kalt war wie meine.

»Wir werden noch viel Zeit zusammen verbringen, denn sollte ich vor unserem fünfzehnten Geburtstag sterben, wirst du mich immer sehen können, wie die anderen Toten. Es wird sein, als wäre ich nie gestorben«, flüsterte ich.

Alma lächelte und hob unsere Hände.

»Ich werde dich niemals verlassen. Wir sind verbunden durch ein unsichtbares Band, das so stark ist, dass ich es spüren kann, genau hier, an meinem Handgelenk«, sagte sie leise. »Ein Ende ist an mein Handgelenk geknüpft und das andere an deins, so können wir nie getrennt werden, ganz egal, wer von uns beiden zuerst stirbt. Für immer verbunden. Unzertrennlich.«

Ich schaute noch einen Moment auf unsere Hände und konnte das unsichtbare Band, das Alma um mein Handgelenk geschlungen hatte, ebenfalls spüren.

»Schwörst du?«, fragte ich mit zittriger Stimme. »Und denk dran, dass wir uns auf einem Friedhof dieses Versprechen geben.«

»Ich schwöre. Und will auf der Stelle tot umfallen, wenn ich lüge.«

Die Sternenhöhle

Wir konnten erst eine Woche nach Großmutters Beerdigung wieder in den Wald. Das Haus mit ihrem Namen trug Trauer, weshalb uns verboten war, die Fenster zu öffnen oder in den Garten zu gehen, und wir mussten sieben Tage lang, in denen Mama auch ihr Grammofon nicht spielte, schwarze Kleidung tragen. Vater war zwar nicht abergläubisch, hatte aber trotzdem angeordnet, die Spiegel mit großen Tüchern zu verhängen, um zu verhindern, dass Großmutters Seele in ihnen gefangen bliebe. Nur wir Schwestern wussten, dass sie schon längst gegangen war.

»Es wird was Schlimmes passieren«, sagte Alma, als sie mit ihren Honigaugen in den Wald starrte.

»Es ist schon was Schlimmes passiert. Großmutter Soledad ist tot, reicht das nicht?«

Doch Alma schüttelte den Kopf, den Blick noch immer auf die Bäume gerichtet.

»Nein, das ist es nicht. Von heute an beginnt alles zu verfaulen, ich kann spüren, wie sich die Wurzeln im Waldboden zersetzen«, flüsterte sie, ohne mich anzublicken. »Schon bald wird der Tag kommen, an dem wir beide bedauern, dass wir heute Nachmittag in unseren Wald gegangen sind.«

Im Rücken spürte ich die Wärme des Hauses, aber die feuchte Waldluft strich mir schon zur Begrüßung über die Wangen wie die Pfote einer unsichtbaren Kreatur.

»Bei Dunkelheit wirkt der Wald anders, irgendwie wilder«, murmelte ich, als wir die erste Baumreihe hinter uns gelassen hatten, welche die Grenze zu Basondo markierte.

»Vielleicht sollten wir zurück, so spät waren wir noch nie im Wald.«

»Angsthase«, sagte ich, während ich den Waldboden nach blauen Blumen absuchte. »Wenn du Angst hast, kannst du ja zurückgehen, ich komme gut allein zurecht, vielen Dank auch.«

»Ich habe keine Angst.«

»Natürlich hast du Angst, du verirrst dich nicht gern im Wald, ich auch nicht«, sagte ich zufrieden grinsend. »Im Grunde bist du wie ich, auch wenn du allen immer die Gute vorspielst, aber ich bin deine Zwillingsschwester, mich kannst du nicht täuschen. Ich weiß, was in deinem Kopf vorgeht.«

Ich wusste es wirklich und war manchmal richtig erschrocken. Ich kannte den Abgrund, der das Mädchen Alma von der Person trennte, die sie zu sein vorgab. Andere Male – eigentlich die meisten – war Alma nur meine kleine Schwester, und ich tat so, als wüsste ich nicht, was ihr im Kopf herumspukte. So wurde das ­familiäre Gleichgewicht aufrechterhalten – die gute Alma, die böse Estrella.

»Ich bin nur äußerlich wie du, Estrella. Du bist aus Stein und Feuer, ich nicht«, sagte sie ernst. »Wir beide tragen die Namen, die wir verdienen.«

»Das ist Blödsinn. Du hast doch nur grässliche Angst davor, dass die anderen dich behandeln könnten, wie sie mich behandeln. Du würdest keine Woche in meiner Haut stecken wollen«, erwiderte ich. »Deshalb tust du so, als wärst du besser.«

Als ich noch etwas hinzufügen wollte, hörte ich plötzlich eine Stimme. Alma hatte sie auch gehört, denn sie legte mir eine Hand auf die Schulter, und ich spürte eine Kälte durch den Stoff meines Kleides, als hätte mich ein Gespenst angefasst und nicht meine Schwester.

»Was war das? Ist das der schwarze Wolf, der dir überallhin folgt?«, flüsterte Alma heiser. »Hast du ihn gerufen, Estrella?«

»Wölfe können nicht sprechen, nur im Märchen, Dummkopf«, zischte ich. »Sei still.«

Ich versuchte herauszufinden, woher die geheimnisvolle Stimme kam, aber bei den vielen nächtlichen Geräuschen im Wald war das gar nicht einfach.

»Vielleicht kann dein Wolf doch sprechen«, flüsterte Alma und ergriff meine Hand. »Ich habe dich im Schlaf mit dem Wolf reden hören.«

»Das ist kein Wolf, da ruft jemand um Hilfe. Los, komm.«

Es war eine menschliche Stimme, und sie kam aus dem Jagdrevier unseres Vaters. Ohne Almas Hand loszulassen, damit wir uns in der Dunkelheit nicht verloren, ging ich zwischen den Bäumen weiter. Das Sternenfunkeln drang nicht durch die dichtbelaubten Baumwipfel, weshalb ich kaum etwas sehen konnte.

»Weißt du, wo wir hingehen?«, fragte Alma und sah sich nach allen Seiten um. »In diesem Teil des Waldes waren wir noch nie.«

»Ich glaube schon. Vaters Jagdrevier ist nicht weit, vielleicht ist dort jemand und hat sich verletzt«, antwortete ich keuchend. »Wäre nicht das erste Mal, dass jemand aus dem Dorf dort Kaninchen jagt, sich verirrt oder Schlimmeres.«

Zu unserer eigenen Sicherheit hatte man uns verboten, das Jagdrevier zu betreten. Ein paar Jahre zuvor waren ein paar Burschen aus dem Dorf in das Revier eingedrungen, weil sie glaubten, niemand würde es merken, wenn sie ein paar Kaninchen jagten, aber Vater hatte sie für Wildschweine gehalten und auf sie geschossen. Er hatte sie zwar nicht getötet, aber einem der Jungen hatten die Schrotkugeln den Arm zerfetzt, der amputiert werden musste, weshalb der Junge nicht mehr im Bergwerk arbeiten konnte.

»Wir dürften nicht hier sein, Estrella, es ist verboten. Dieser Ort ist gefährlich«, sagte Alma mit bebender Stimme.

»Ich weiß, aber Vater ist im Augenblick nicht da, und er wäre hier die einzige Gefahr.«

»Es gibt auch wilde Tiere«, entgegnete sie. »Und du behauptest, die seien nicht gefährlich, aber ich wette, dass die Wilderer das damals auch glaubten, und du weißt ja, was passiert ist.«

»Die Wilderer haben es sich selbst zuzuschreiben, wenn sie verbotenerweise hier eindringen und uns bestehlen, denn die Kaninchen, Wildschweine und alles andere gehören Vater«, sagte ich überzeugt. »Und uns.«

»Kaninchen gehören niemandem, Estrella. Und schon gar nicht Vater.«

In diesem Teil des Waldes standen die Bäume weniger dicht. Das Gelände war uneben, mit vielen Hügeln und Mulden, und man konnte auf dem feuchten Boden leicht ausrutschen und hinfallen. Zwischen den Kronen der Eichen und Kiefern schimmerte der Sternenhimmel. Etwas weiter vorn, keine hundert Schritte von uns entfernt, sah ich plötzlich einen Schatten, vor dichtem Buschwerk lag etwas auf dem Boden.

»Hallo!«, rief ich und erschrak selbst über meine Stimme. Dann lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Alma neben mir zuckte zusammen, vielleicht war der Schauer auf sie übergesprungen. Plötzlich fiel mir wieder ein, was meine Schwester gesagt hatte, und mir wurde klar, dass dies der Moment sein würde, den wir unser ganzes Leben lang bereuen sollten.

»Wer ist da?«, rief ich trotzdem.

Der Schatten bewegte sich.

»Hilfe, bitte«, erklang eine schwache Stimme aus den Büschen, die Stimme eines Jungen.

Alma stieß laut Luft aus, weil sie den Atem angehalten hatte, und ließ meine Hand los, um näher zu gehen.

»Was tust du hier? Das Jagdrevier gehört unserem Vater, hier darf sonst niemand jagen«, sagte sie zu dem Jungen.

Als ich ebenfalls näherging, sah ich etwas Metallisches im Laub aufblitzen. Es war eine der Fallen, die der Marquis für Rehböcke auslegte. Ein Fangeisen.

»Was für ein Glück, dass ihr gekommen seid, ich stecke schon seit Stunden fest und sterbe vor Kälte. Es tut sehr weh«, stammelte der Junge. »Als ich eure Stimmen hörte, wusste ich nicht, ob ich vor Hunger und Schmerzen verrückt werde oder ob der Teufel kommt, um mich zu holen.«

Ich schätzte den Jungen ungefähr auf unser Alter, hatte ihn aber noch nie in Basondo gesehen. Sein kastanienbraunes Haar war schmutzig, und auf seinen Wangen waren Spuren von getrockneten Tränen und Blut zu erkennen.

»Wir sind nicht der Teufel«, erklärte ich im Brustton der Überzeugung.

»Ich wollte nur ein paar Äpfel einsammeln, dabei bin ich in die Falle getreten«, jammerte der Junge und wies auf seinen Fuß im Fangeisen. »Dann habe ich stundenlang um Hilfe gerufen und hatte mich schon damit abgefunden, die Nacht hier verbringen zu müssen, bis der Marquis mich morgen gefunden und erschossen hätte. Oder der Wolf, den ich vorhin gehört habe, hätte sich einen Festschmaus aus mir gemacht.«

»Das wäre aber ein armseliger Festschmaus für ihn gewesen«, sagte ich scharf. Sein ausgemergelter, dünner Körper ließ darauf schließen, dass er schon länger nicht genug zu essen bekam.

»Du Armer.« Alma lächelte ihn mitleidig an, und ihre Stimme klang, als hätte sie ein verwundetes Vögelchen im Garten gefunden.

Ich ging neben dem Jungen in die Hocke, um mir die Wunde an seiner Fessel genauer anzusehen. Die Zähne des Fangeisens hatten die Hose zerfetzt und sich in sein Fleisch gebohrt, weshalb um die gezackte Wunde herum alles rot gefärbt war. Auch auf den Blättern war getrocknetes Blut zu erkennen.

»Du hattest Glück, dass die Waldtiere nicht dein Blut gerochen haben, sonst hätten sie dich bei lebendigem Leib gefressen«, sagte ich, während ich nach einem Stock suchte, um das Laub beiseitezuschieben und das Fangeisen besser inspizieren zu können. »Vater legt diese Fallen wegen der Rehböcke, die hier durchziehen, denn er ist kein guter Jäger, auch wenn er sich das einbildet. Deshalb muss er ein bisschen nachhelfen.«