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Würzburg, April 1525. Luzia Magdalena, Tochter des Bildschnitzers Tilman Riemenschneider, hadert mit ihrem Schicksal. Ihr Vater, ein langjähriger Ratsherr der Stadt, will sie unter die Haube bringen. Luzia indes möchte auf eigenen Füßen stehen - und das Kunsthandwerk bei ihm erlernen. Doch dann nimmt ihr Leben eine unerwartete Wendung. Wenzel, der Straßenmaler und Parteigänger der aufrührerischen Bauern, schlägt Luzia vor, ihr die Kniffe beim Anfertigen von Porträts beizubringen. Eine Offerte, die auf fruchtbaren Boden fällt …
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Seitenzahl: 383
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Uwe Klausner
Die Tochter des Bildschnitzers
Historischer Roman
Der Traum von Freiheit Würzburg, April 1525. Luzia Magdalena, die Tochter des Bildschnitzers Tilman Riemenschneider, hadert mit ihrem Schicksal. Ihr Vater, einer der angesehensten Bürger der Stadt, will sie unter die Haube bringen. Luzia indes hegt andere Pläne, sie möchte bei ihm in die Lehre gehen. Mit den Plänen seiner talentierten Tochter konfrontiert, weist Riemenschneider das Ansinnen zurück. Doch dank einer Zufallsbekanntschaft nimmt ihr Leben eine unerwartete Wendung. Wenzel Lautenschläger, Straßenmaler und Parteigänger der aufrührerischen Bauern, schlägt Luzia vor, ihr die Kniffe beim Anfertigen von Porträts beizubringen. Nach anfänglichem Zögern willigt sie ein. Nicht lange indes, und Wenzel gerät ins Visier der Obrigkeit. Für Raban von Stahleck, rechte Hand des Bischofs, die Gelegenheit, ein Exempel zu statuieren. Als bei einer Hausdurchsuchung ein Bild gefunden wird, das Luzia als Jungfrau Maria zeigt, ist das für den Kleriker, der ein Auge auf sie geworfen hat, ein Grund mehr, den Nebenbuhler auszuschalten …
Uwe Klausner wurde in Heidelberg geboren und wuchs dort auf. Sein Studium der Geschichte und Anglistik absolvierte er in Mannheim und Heidelberg, die damit verbundenen Auslandsaufenthalte an der University of Kent in Canterbury und an der University of Minnesota in Minneapolis/USA. Heute lebt Uwe Klausner mit seiner Familie in Bad Mergentheim. Neben seiner Tätigkeit als Autor hat er bereits mehrere Theaterstücke verfasst, darunter »Figaro – oder die Revolution frisst ihre Kinder«, »Prophet der letzten Tage«, »Mensch, Martin!« und erst jüngst »Anonymus«, einen Zweiakter über die Autorenschaft der Shakespeare-Dramen, der 2019 am Martin-Schleyer-Gymnasium in Lauda uraufgeführt wurde.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Albrecht_D%C3%BCrer_-_Portrait_of_Katharina_Frey_or_F%C3%BCrleger,_41_00039956.jpg; Elekes Andor; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hagyom%C3%A1nyos_vad%C3%A1szat_(29).jpg
ISBN 978-3-7349-3244-1
FÜR MEINE VIERERBANDE
Hans Bermeter (†1527 in Nürnberg), Spielmann und Agitator
Jörg Riemenschneider, Bildschnitzer und Nachfolger seines Vaters
Konrad von Thüngen (*circa 1466), Fürstbischof und Herzog von Franken (1519 - 1540)
Lorenz Fries (circa 1489 - 1550), fürstbischöflicher Sekretär, Rat und Archivar
Margaretha, vierte Ehefrau von Tilman Riemenschneider
Tilman Riemenschneider (circa 1460 - 1531), Bildschnitzer, Bildhauer und Ratsherr
Bartholomäus Häfner, Sohn des Weinhändlers
Bertradis, Luzias Amme
Pater Damian, Prior des Franziskanerklosters
Fidibus, Müllkärrner
Imelda, Hübschlerin
Lutz Plattner, Hauptmann der Stadtwache
Luzia Magdalena, Tochter des Bildschnitzers
Melchior, Tagelöhner
Melusine, Wahrsagerin, Heilerin und weise Frau
Raban von Stahleck, Domprobst und Geheimsekretär des Bischofs
Theophilus Häfner, Weinhändler und reichster Mann der Stadt
Tigran, Melusines Beschützer
Wenzel Lautenschläger, Straßenmaler
TAGESEINTEILUNG1 IM MONAT APRIL
STUNDE
UHR
01.
05.00 - 06.10
02.
06.10 - 07.20
03.
07.20 - 08.30
04.
08.30 - 09.40
05.
09.40 - 10.50
06.
10.50 - 12.00
07.
12.00 - 13.10
08.
13.10 - 14.20
09.
14.20 - 15.30
10.
15.30 - 16.40
11.
16.40 - 17.50
12.
17.50 - 19.00
SONNENAUF- UND -UNTERGANG IN WÜRZBURG AM 18. APRIL:
6.21 Uhr/20.18 Uhr
LÖHNE UND PREISE2
1. Riemenschneiders Honorare
Adam und Eva
(Marktportal der Marienkapelle)
120 Gulden
(inklusive »Aufgeld«)
Grabmal für Fürstbischof Rudolf von Scherenberg (1466 - 1495)
250 Gulden
Apostelfigur an der Marienkapelle
(Stückpreis)
240 Gulden
Zum Vergleich:
Preis für ein repräsentatives Bürgerhaus: 800 Gulden
2. Löhne (pro Tag) und Preise
Tagelöhner
12 Pfennige
Gehilfe Riemenschneiders
18 - 24 Pfennige
Fränkischer Gulden
240 Pfennige
Zum Vergleich:
Jahresgehalt eines Stadtschreibers: 100 Gulden
Eine Kuh (Marktpreis)
2-3 Gulden
Ein Maß Wein (circa 1,5 Liter)
24 Pfennige
10 Pfund getrocknete Erbsen
7 Pfennige
10 Eier
6 Pfennige
Ein Pfund Fleisch
3-4 Pfennige
1 (http://bilder.manuscripta-mediaevalia.de/gaeste//grotefend/g_s.htm#Stunden)
2 Siehe Hans Steidle / Christine Weisner, Würzburg. Streifzüge durch 13 Jahrhunderte Stadtgeschichte, Würzburg (Echter) 1999, S. 77ff.
3 https://lvrlandesmuseumbonn.files.wordpress.com/2017/07/tagesablauf_web.jpg
»Versuch bloß nicht, mich für dumm zu verkaufen«, raunte ihr die Stimme aus dem Halbdunkel ins Ohr, bedrohlich wie das Zischen einer Schlange. Aus dem Kerker, vom Burghof durch klafterdickes Mauerwerk getrennt, gab es kein Entrinnen, in die Ecke gekauert, machte sie sich auf das Schlimmste gefasst. »Du kennst ihn genau, also tu nicht so!«
»Und wenn Ihr Euch auf den Kopf stellt«, setzte sie zu einer Erwiderung an, ein Würgen im Hals, das sie zum Innehalten zwang. »Ich habe den Mann noch nie …«
Schallendes Gelächter, schmerzhafter als ein Hieb mit der Riemengeißel.
Darauf das Phantom: »Na schön, wie du willst. Wir erfahren die Wahrheit auch so. Bisher haben wir noch jeden zum Sprechen gebracht, mach dir da mal keine Gedanken!«
»Und was habt Ihr mit ihm vor?«
»Wir werden ihn einer peinlichen Befragung unterziehen. Streng nach Vorschrift. Das versteht sich ja wohl von selbst«, ließ sich die hohntriefende Stimme vernehmen, deren Echo wie ein Warnruf von den Wänden widerhallte. »Ich nehme an, du weißt darüber Bescheid?«
»Woher denn, ich hatte doch nie mit Euch zu tun!«
Eine Notlüge, die ihr niemand abkaufen würde. Was hinter dem Wort steckte, das wusste doch jedes Kind. Nämlich Gräuel jenseits der Fantasie, so schrecklich, dass einem das Blut in den Adern gefror. Besser, sie hielt jetzt den Mund. Wer zu viel redete, der lebte gefährlich.
Erst denken, dann sprechen.
Wohl wahr.
Und auch wieder falsch. An einem Ort wie diesem ging es nur um eines, nämlich ums nackte Überleben. Und nicht darum, sich um Kopf und Kragen zu reden. Tatsache war, sie musste mitansehen, wie ein Mensch gemartert wurde. Außerstande zu reagieren, als trüge sie unsichtbare Fesseln am Leib.
Sie hasste Gewalt, hasste es, wenn die Fürsten das Land mit Krieg überzogen. Wenn Menschen wie Vieh auf die Schlachtbank geführt wurden, wenn sie wegen nichts und wieder nichts starben. Ein Holzschnitt in Vaters Werkstatt, der vier Reiter in wildem Galopp zeigte, brachte es auf den Punkt. Die Wurzel allen Übels, so die Botschaft des Artefakts, war der Krieg, und seine Gefährten, nicht minder furchteinflößend, hießen Pest, Teuerung und Gevatter Tod.
Sie fand, dem war nichts hinzuzufügen.
Ein Verhör in ihrem Beisein, mit dem Ziel, eine Verschwörung aufzudecken. Bis dato schier undenkbar. Wäre da nicht auf einmal diese Stimme gewesen, tief in ihr drinnen, mal fordernd, mal suggestiv, mit femininem Timbre. Sie duldete keinen Widerspruch, wischte ihre Bedenken beiseite.
Wie vor neun Jahren, als das Verhängnis seinen Anfang nahm.
In jenen Tagen war sie noch ein halbes Kind gewesen, gerade einmal 15 Jahre alt. Am Anfang hatte sie die Wisperstimme nicht ernst genommen, mit den Gedanken stets woanders, ein Spielball ihrer blühenden Fantasie. Dann aber, ebenso plötzlich und unaufhaltsam, war die Flut der Bilder über sie hinweggerollt, mit der Stimme einer Frau im Hintergrund, die sich wie eine Diebin in ihre Gedanken stahl.
Nur von kurzer Dauer, traten die Visionen eher sporadisch auf, dazwischen konnten Wochen oder sogar Monate vergehen. Zum Glück bekam niemand etwas mit, und das war auch gut so. Ihr Leben ging weiter, als sei nichts geschehen, und es schien, als gleiche ein Tag dem andern.
Am liebsten sah sie ihrem Vater bei der Arbeit zu, mucksmäuschenstill, um ihn nicht zu stören. Es sei denn, ein Kind aus der Nachbarschaft kam vorbei, um mit ihr zu spielen, oder sie verkroch sich in ihre Kammer und las ein Buch. Belächelt von ihren Geschwistern, die sie für grillenhaft hielten, blieb sie oft stundenlang für sich, schrieb Gedichte oder blätterte ihr Diarium durch. Die Eltern hatten sich daran gewöhnt, was blieb ihnen auch anderes übrig. Und was die Nachbarn sagten, war ihr ohnehin egal. Mit Stickrahmen hatte sie nichts am Hut, mochte sich ihre Amme auch noch so sehr darüber mokieren. Sie war eben anders als die Mädchen aus dem Viertel, von denen etliche bereits versprochen waren. Der Gedanke, mit einem Mann das Lager zu teilen, er war ihr im Innersten zuwider. Und ob eine Heirat das Wahre war, wer wusste das schon genau. »Gute Ehen werden im Himmel geschlossen«, pflegte ihre Amme im Scherz zu sagen, einen teils wehmütigen, teils resignierten Blick im Gesicht. »Oder sie werden arrangiert.«
Aus Liebe heiraten, welch absurde Idee. Je vermögender und prominenter, desto größer das Bestreben, eine vorteilhafte Liaison einzufädeln. Und wer sich widersetzte, dem wurde die Hölle heißgemacht. Ächtung war noch das Mindeste, was einem im Fall der Fälle blühte, verglichen mit einem Zwangsaufenthalt im Kloster. Für sie, der die Freiheit über alles ging, das Albtraumgebilde schlechthin.
Einerlei, im Moment hatte sie genug mit sich selbst zu tun. Ein Glück, dass niemand ahnte, was in ihr vorging, fürchtete sie doch nichts mehr, als für toll erklärt zu werden. Eins war nämlich gewiss, den Einflüsterungen der Stimmen zum Trotz: Ein Fall für den Narrenturm war sie nicht – und hatte auch nicht vor, einer zu werden.
»Sieh genau hin – und erkenne, wozu die Menschen fähig sind.«Anders als sonst, wo das Phantom mit rauem Timbre sprach, schlug es einen moderaten, nachgerade weichen Tonfall an. Merkwürdig, um nicht zu sagen suspekt. Vor ein paar Wochen hatte sich das noch ganz anders angehört. Ein Grund mehr, aufs Schlimmste gefasst zu sein. Davon abgesehen, wer war sie, dass sie es gewagt hätte, Schicksal zu spielen. Sie hatte zu gehorchen, ohne Wenn und Aber, wie die Figur auf einem imaginären Schachbrett. Bevölkert mit Menschen, die vom Schicksal nach Belieben aus dem Spiel genommen wurden.
Sie war zum Zuschauen verdammt, wie all die Male zuvor.
Wie die Marionette in der Hand eines Puppenspielers.
Doch nicht nur die Stimme klang anders, mit der Szene vor ihren Augen verhielt es sich ähnlich. Wahrhaftig, dies war kein Produkt einer überbordenden Fantasie, kein Albtraum und schon gar kein Hirngespinst. Fast schien es, als tue sich der Siebte Kreis der Hölle vor ihr auf, bewohnt von den Sendboten Luzifers, gekommen, um die Menschen unter ihre Knute zu zwingen. Stand doch geschrieben: Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen ward Macht gegeben, zu töten das vierte Teil auf der Erde mit dem Schwert und Hunger und mit dem Jenseits und durch die Tiere auf Erden.
Und so tat sie, wie geheißen – im Bann einer Vision, die sie das Fürchten lehrte. Einer Vision, die selbst Dante, ihren Heroen, an den Rand des Wahnsinns getrieben hätte.
»Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!«
Wie recht die Stimme doch damit hatte.
Vorhang auf. Der Gang durch die Hölle konnte beginnen.
Der Gewölbekeller vor ihren Augen wirkte echt. Auf dem Schandstuhl im Zentrum kauerte ein Mann, nicht mehr der Jüngste, aber stattlich und ohne Fettpolster am Leib. Er war übel zugerichtet, der Kopf hing nach unten, aus den Mundwinkeln sickerte Blut. Keine Frage, der Folterer hatte ganze Arbeit geleistet. Der Gefangene war kaum noch bei sich, dem Tod näher als dem Leben.
Sie kannte den Mann. Woher genau, vermochte sie jedoch nicht zu sagen. Einerlei, aus der Masse stach er dennoch heraus, hatte etwas an sich, das man nicht vergaß. Selbst jetzt nicht, im Angesicht des Todes.
Im Angesicht der Handlanger Satans.
»Erinnere dich!«, insistierte die Stimme im Hinterkopf. »So schwer kann das doch nicht sein.«
Leichter gesagt, als getan!, dachte sie bei sich. Und pumpte den Brodem des Kerkers in die Lungen, ein Gemisch aus Schweißdunst, versengter Haut und Fäkaliengestank. Aus dem Kohlebecken stiegen rußfarbene Qualmfäden empor, vermischt mit dem Rauch der Fackeln, die das Gewölbe in obskures Halbdunkel tauchten. »Na los, wie lange soll ich denn noch warten!«, meldete sich die Stimme erneut zu Wort, ungleich herrischer als zuvor, aufrüttelnd wie die Posaunen von Jericho. Doch so sehr sie sich das Gehirn zermarterte und jeden Winkel in wilder Hast durchforstete, die Leere in ihrem Kopf blieb bestehen. Der Schock, an einem Ort wie diesem zu weilen, hatte die Erinnerung ausgelöscht. Gerade so, als habe sich ihr Vorleben in Rauch aufgelöst.
Und so nahm die Befragung ihren Lauf. Der Mann saß noch nicht richtig auf dem Stuhl, die Arme mit Lederriemen festgezurrt, da trat auch schon der Inquisitor auf den Plan. Ein Dominikaner, wie konnte es anders sein. Die Hunde des Herrn waren überall. Stets zur Stelle, wenn es darum ging, Renegaten aufzuspüren. Kein Wunder, dass sie so verhasst waren, kam doch der Ruf, der ihnen vorauseilte, nicht von ungefähr.
Der Mönch, weißhaarig, schmalgesichtig, von hagerer Gestalt und schätzungsweise so alt wie sein Opfer, trug ein wie festgefroren wirkendes Lächeln zur Schau, sprach mit bayerischem Duktus und behandelte ihn wie ein ungezogenes Kind, als genüge ein Machtwort, um es zur Räson zu bringen.
Die Szene machte ihr Angst. Doch was sie auch tat, um sie herauszuschreien, die Zunge klebte am Gaumen fest. Zu mehr als einem Röcheln, schrill wie ein panikartiger Schrei, reichten ihre Kräfte nicht aus. Ihr war, als stecke ihr Hals in einem Würgeeisen fest, brüchig wie wurmstichiges Holz, das bei der leisesten Berührung auseinanderbrach.
Tod durch Ersticken oder weiterleben.
Die Entscheidung lag bei ihr.
Mit der Kraft am Ende, gab sie den Widerstand auf. Nicht so der Mann auf dem Folterstuhl, der sich die Furcht, so er sie spürte, nicht anmerken ließ. Das Kinn wie zum Trotz in die Höhe gereckt, ließ er die Fragen des Inquisitors über sich ergehen, weit davon entfernt, sich einschüchtern zu lassen. Dies alles ohne eine Miene zu verziehen, im Visier des vierschrötigen Foltermeisters, der darauf brannte, den Gefangenen das Fürchten zu lehren.
Den Dominikaner, dessen Lächeln zu einem zynischen Grinsen mutierte, ließ die Attitüde kalt. Mit Umstürzlern kannte er sich aus, je renitenter, umso willkommener die Chance, seine Allmacht hervorzukehren. Im Namen Gottes, als dessen Wegbereiter er sich verstand. Seine Devise war denkbar einfach: Wer nicht für ihn war, der war gegen ihn. So hatte er es stets gehalten. Im Klartext: Wer sich erdreistete, die Obrigkeit durch den Kehricht zu ziehen, dessen Leben war verwirkt. Ob Bürgermeister oder Bettelmönch, ob Hure oder Himmelsbraut, ob Handelsherr oder Henkersknecht, vor ihm, dem Spürhund des Herrn, waren alle Renegaten gleich.
Auf ewig dazu verdammt, in der Hölle zu schmoren.
»Es nützt nichts, wenn Ihr den Helden spielt«, nahm der Dominikaner den Gesprächsfaden wieder auf, trat neben den Stuhl und trug eine wohleinstudierte Mitleidsmiene zur Schau. »Vorschlag zur Güte: Ihr rückt mit den Namen Eurer Mitverschworenen heraus, und ich verspreche Euch, beim Bischof ein gutes Wort einzulegen.«
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. »Für wie töricht haltet Ihr ich mich eigentlich?«, spie der Greis auf dem Schandstuhl die Worte nur so aus, rang nach Luft und ergänzte mit heiserer Stimme: »Gebt Euch keine Mühe, aus mir bekommt Ihr nichts heraus.«
»Das werden wir ja sehen«, gab der Mönch amüsiert zurück, rieb sich die Hände und durchmaß das stickige Verließ. An der Schmalseite, wo die Konturen einer Streckbank aus dem Halbdunkel ragten, machte er auf dem Absatz kehrt, ohne Blick für die langschwänzige Ratte, die bei seinem Anblick quiekend das Weite suchte. »Anderes Thema. Im Grafeneckart wimmelt es zwar nur so von Platzhirschen, aber wenn es um Euch geht, ist man voll des Lobes. Auch darüber, was Eure Fähigkeiten als Magistrat betrifft. Zwei Dezennien in Amt und Würden, wo Gezänk und Ränke an der Tagesordnung sind, das will schon etwas heißen.« Vor dem Lichtschacht postiert, wo sich ein Stehpult aus furnierter Schwarzeiche befand, schlug der Mönch die bereitliegende Kladde auf, lächelte in sich hinein und murmelte: »Kommissär während der Weinernte, verantwortlich für das Bauwesen, Fischereimeister, Kapellenpfleger, städtischer Fiskal, Beauftragter für das Wehrwesen, Spitalpfleger, das Amt des Bürgermeisters als krönender Abschluss nicht zu vergessen: Wie mir scheint, habt Ihr es zu was gebracht.«
»Ist das etwa verboten?«
Der Inquisitor lächelte schief. »Natürlich nicht. Verboten, um nicht zu sagen ruchlos, ist es jedoch, mit Mordbrennern und hergelaufenem Pöbel zu paktieren und sich zu erdreisten, die gottgewollte Obrigkeit mit Krieg zu überziehen. Steht doch geschrieben: Das Reich Gottes auf Erden ist dreigeteilt. Die einen beten, die anderen kämpfen und der gemeine Mann bestellt das Feld – oder arbeitet im Schweiße seines Angesichts.«
»Auf dass der Rest die Hand aufhalte, um seinen Anteil zu kassieren.«
Das Lächeln des Dominikaners erstarb. »Ihr gebt es also zu?«
»Ich gebe überhaupt nichts zu, wie oft denn noch.«
»Zu Eurer Information: Was Ihr da gerade von Euch gegeben habt, genügt vollauf, um Euch dem Henker zu überantworten.«
»Dafür sehe ich keinen Grund.«
»Jetzt tut nicht so, als könntet Ihr nicht bis drei zählen!«, zischte der Mönch und ließ die Zunge wie eine Giftnatter aus der Mundhöhle schnellen. »Ihr seid durchschaut, also versucht gar nicht erst, mich aufs Glatteis zu führen. Und noch etwas: Ich bin es, der hier die Fragen stellt, haben wir uns verstanden?«
Der Greis blieb die Antwort schuldig.
»Aber bleiben wir beim Thema. Wie ein Blick in Eure Vita beweist, blicken die Leute zu Euch auf. Will heißen: Einer wie Ihr braucht nur mit dem Finger zu schnippen, und das Stadtvolk tanzt nach seiner Pfeife. Die Aasgeier im Rat mit eingeschlossen. Denn wenn sie zu etwas imstande sind, dann dazu, ihr Fähnlein nach dem Wind zu drehen.« Der Dominikaner lachte verächtlich auf. »Heute katzbuckeln sie noch vor dem Bischof, und morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus. Dann schmieden sie ihre Ränke, als sei nichts geschehen. Aber damit ist es jetzt vorbei. Mit dem Schlangengezücht im Rathaus wird aufgeräumt, und zwar ein für alle Mal. Pardon wird nicht gegeben. Vulgo: Wer sich dazu hergibt, mit Insurgenten zu konspirieren, der bilde sich nicht ein, sein Fähnchen nach dem Wind drehen zu können. Den Kopf aus der Schlinge ziehen und so tun, als sei nichts gewesen, um mit einem Achselzucken in den Schoß der Mutter Kirche zurückzukehren: Das würde den Intriganten so passen. Jetzt werden andere Saiten aufgezogen, so wahr ich hier stehe!«
»Es sei denn, ich nenne Namen.«
»Wie ich bereits sagte: Es führt zu nichts, wenn Ihr den Helden spielt. Damit schadet Ihr Euch nur selbst. Ihr seid doch ein kluger Mann, oder? Und darum: Nennt mir Ross und Reiter, und die Marter bleibt Euch erspart. Glaubt mir, Eure Komplizen würden das Gleiche tun, keine Ehre im Leib, aber große Reden schwingen, zu mehr sind sie nicht imstande. Und über eins solltet Ihr Euch im Klaren sein: Egal um wen es sich dreht, die Halunken würden nicht zögern, Euch ans Messer zu liefern. Jetzt schaut mich nicht so an, das ist nun mal der Lauf der Welt. Wenn es brenzlig wird, ist sich jeder selbst der Nächste, das war schon immer so, machen wir uns nichts vor. Homo homini lupus est, das haben schon die alten Römer gewusst. So leid es mir tut, Euch auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, aber die Welt ist nun mal so, wie sie ist, will heißen, Gut und Böse liegen oft nah beieinander. Hier die Guten und dort drüben all jene, die des Satans sind, so einfach, wie ihr Weltverbesserer euch das vorstellt, liegen die Dinge leider nicht. Auch wenn es nicht in Euer Weltbild passt: Idealismus zahlt sich nicht aus, je eher Ihr auf den Trichter kommt, desto besser.« Der Inquisitor atmete hörbar durch. »Also, was ist: Wie lautet Eure Entscheidung?«
»Gebt Euch keine Mühe, von mir werdet Ihr nichts erfahren«, erwiderte der Greis mit fester Stimme, kniff die geschwollenen Augenlider zusammen und blickte auf, um dem Widersacher die Stirn zu bieten. »Tut meinetwegen, was Ihr wollt, ich habe Euch nichts mehr zu sagen.«
»Euer letztes Wort?«
Der Mann auf dem Schandstuhl sah zur Seite.
»Na schön, wie Ihr wollt«, versetzte der Mönch, schlug die Kladde zu und legte sie zurück aufs Pult. Dann verkündete er in markigem Ton: »Foltermeister, waltet Eures Amtes!«
Der Peiniger von Amts wegen, untersetzt, stiernackig und die muskelbepackten Schultern mit Schweißperlen übersät, ließ sich nicht lange bitten, nahm eine Fackel aus dem Zylinder und durchmaß den Raum. An der gegenüberliegenden Wand, vom Stuhl aus gut sichtbar, waren die Instrumente seiner schaurigen Profession aufgereiht, darunter auch ein Holzgerüst mit Winde, von der aus ein Seil bis zur Decke führte. Dort angekommen, nahm der Kahlkopf Habachtstellung ein.
Ein knappes Nicken, und das Unheil nahm seinen Lauf.
Der Dominikaner machte den Anfang. »Erlaubt daher, dass ich mich kurz fasse, umso mehr, da das Prozedere hinlänglich bekannt sein dürfte. Nur eine Formalität – nichts weiter.«
»Erinnere dich!«, zischte die Stimme in ihrem Kopf, bestimmend und harsch wie ehedem, so schrill, dass ihr Gehirn zu explodieren drohte. »Denk nach, so schwer kann das doch nicht sein!«
Doch so sehr sie sich auch ins Zeug legte, sie mühte sich vergebens.
Und so harrte sie der Dinge, die da kamen, die Augen auf den statuesk anmutenden Inquisitor gerichtet. Der da sprach: »Wie hinlänglich bekannt, setzt sich die Tortur aus fünf Graden zusammen. Ist der Delinquent verstockt – wie dies im laufenden Verfahren der Fall zu sein scheint –, dann steht der Gebrauch von Daumenschrauben an. Ans Werk, Meister Hildebrand, der Worte sind genug gewechselt.«
Kaum hatte der Dominikaner geendet, hielt der Foltermeister dem Greis das Requisit vors Gesicht.
Dann kehrte er zu seinem Platz zurück.
»Was den zweiten Grad der Tortur betrifft«, dozierte der Dominikaner blasiert, »so wäre zu bemerken, dass einen das Anlegen der Beinschrauben zum Krüppel macht, fragt sich nur, ob Ihr so töricht seid, es darauf ankommen zu lassen. Einmal angenommen, Ihr würdet die Tortur überstehen – unwahrscheinlich genug, aber im Bereich des Möglichen – dann wollte ich nicht in Eurer Haut stecken. Ein Lebtag von Almosen und den Knochenresten leben, die einem von den Betuchten dieser Welt zum Fraß vorgeworfen werden, wer möchte das schon. Sei’s drum: Verstockt ist nun mal verstockt. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Gibt es doch Dinge, die selbst ich nicht ändern kann.«
Der Mönch breitete die Arme aus, zuckte mit den Achseln und fuhr fort: »Seht Ihr das Gerüst da drüben? Vorausgesetzt, Ihr wärt noch bei Bewusstsein, sieht Grad drei die sogenannte Elevatio vor, will heißen, dem Beschuldigten werden die Hände gefesselt, hinter dem Rücken, versteht sich, um die Wirkung zu erhöhen. Dann wird er per Seilwinde in die Höhe gehievt. Das Prozedere läuft darauf hinaus, ihm die Arme auszurenken, aber was rede ich, so weit wird es bestimmt nicht kommen. Die meisten geben schon auf, wenn sie das Instrumentarium sehen, was das betrifft, kann mein wackerer Gehilfe aus dem Vollen schöpfen. Ergo: Verbohrtheit zahlt sich nicht aus. Überlegt Euch also gut, ob Ihr Euch das antun wollt. Apropos: Im Extremfall nehmen wir uns die Freiheit, die Füße zu beschweren, mit Gesteinsbrocken oder Gewichten, je nach Situation. Mit welchem Effekt, bedarf keiner Erläuterung. Den vierten Grad, gemeinhin Streckung genannt, überleben nur die Wenigsten, aber das nur am Rande. Grad fünf schließlich, auch das sei der Vollständigkeit halber erwähnt, sieht den abermaligen Gebrauch von Daumenschrauben vor, ein Blick auf die Utensilien an der Wand, und Ihr wisst Bescheid. So es denn dazu kommt.« Mit sich und seiner Profession im Reinen, setzte der Dominikaner ein affektiertes Lächeln auf, tippte die Fingerkuppen aneinander und sagte: »Was mich betrifft, wäre es das gewesen. Noch Fragen, der Herr? Wenn nicht, würden wir zur Tat schreiten.«
Der Greis zeigte keine Reaktion.
»Na schön, Ihr habt es so gewollt. Kommen wir zum Präludium, die Pflicht ruft.« Im Begriff, dem Mann fürs Grobe das Feld zu überlassen, blieb der Mönch wie festgewurzelt stehen, auch dies eine kalkuliertes Manöver, bereits mehrfach mit Erfolg praktiziert. »Ich sehe gerade, Ihr habt so schöne schlanke Finger, wüsste ich es nicht besser, ich würde auf eine Frauenhand tippen, oder was meint mein wackerer Adlatus dazu?«
»Wenn Ihr mich so fragt, ich auch«, hieb der Maskierte in die gleiche Kerbe, ein Grinsen im schrundigen Gesicht. Dann leckte er die aufgeplatzten Lippen, wie eine Hyäne beim Taxieren des Kadavers, öffnete die Truhe neben dem Stehpult und sah hinein. »Na also, wer sucht, der findet. Rechte oder linke Hand?«
»Die rechte, mehr wird nicht nötig sein«, gab der Mönch mit gönnerhaftem Gestus zurück, ließ sich das Tranchiermesser aushändigen, das in einem Etui aus Hirschleder steckte, und ließ den Finger über die gezackte Klinge gleiten. »Von mir aus, den Zweck wird es hoffentlich erfüllen. Wie Volkes Stimme sich auszudrücken geruht: Wer nicht hören will, muss fühlen.« An den Greis gewandt, der ihn keines Blickes würdigte, fügte er hinzu: »Und Ihr habt mir wirklich nichts mehr zu sagen?«
»Ich wüsste nicht, was.«
Anstatt zu antworten, schlug der Mönch ein Kreuz, trat beiseite und überließ dem Schlächter das Feld.
»Sieh genau hin!«, bohrte die Stimme, schwankend im Ton, der zwischen Unbehagen und Gereiztheit hin und her pendelte. »Ihr kennt Euch, da bin ich mir …«
Die Stimme erstarb.
Stattdessen erhob sich ein Schrei, nicht enden wollend, schrill und dissonant, vergleichbar mit demjenigen eines Rehs, das in die Fänge eines marodierenden Grauwolfs gerät. Ein Schrei, dessen Echo sich wie ein Stilett ins Bewusstsein bohrte, so peinigend, dass sie über sich selbst erschrak.
Der Handlanger verzog keine Miene, machte weiter, als sei nichts geschehen. Das Messer in der Hand, schlenderte er auf den Schandstuhl zu, überprüfte den Sitz der Lederriemen und ging in Position, den Blick auf die Hand zu seiner Linken geheftet. »Die Sehnen, Herr – wie immer?«
Der Dominikaner nickte knapp.
Meister Hildebrand, gelernter Bader und in Heilkunde bewandert wie kaum ein Zweiter, stieß die von Weingeruch durchtränkte Atemluft aus. Dann drehte er die Handfläche nach oben, beäugte die Stelle neben der Handwurzel, an der er die Klinge anzusetzen pflegte, und bleckte die aufgeplatzten Lippen. Dem Greis, der geradeaus blickte, als bemerke er ihn nicht, schenkte er keine Beachtung. Für ihn war die Tortur Routine, und was die verabredete Provision betraf, nahm er sich vor, in Zukunft den doppelten Lohn zu fordern.
Einen halben Gulden. Und keinen Pfennig weniger.
Oder die Pfaffen mussten sich einen anderen suchen, der die Drecksarbeit machte.
Das Messer im Blick, traf es Luzia wie der Blitz. Diese Hand, schlank, feingliedrig und nahezu faltenlos, die Form würde sie unter Tausenden wiedererkennen.
Nicht hinsehen!, schärfte sie sich ein, während ihr der Angstschweiß in Strömen über den Körper rann, verzweifelt bemüht, den Abgründen ihrer Seele zu entfliehen. »Heilige Muttergottes, steh mir …«
Irritiert über den Klang der Stimme, die sich als ihre eigene erwies, brach sie mitten in ihrer Rede ab. Das Bild verschwamm ihr vor den Augen, und ehe sie es sich versah, hatte sich der Ort des Schreckens in Luft aufgelöst. Was blieb, war eine gähnende Leere, eine Einöde zwischen Traum und Wirklichkeit, in der sie wie von Sinnen umherirrte, auf der Suche nach einem Weg aus der Drangsal, die ihr Herz wie ein Beutestück umklammert hielt. Abermals begann sie zu schreien, doch so verzweifelt der Hilferuf auch klang, sie war und blieb auf sich allein gestellt.
Und so torkelte sie hilflos umher, bald gestikulierend, bald dumpf vor sich hinstarrend.
So lange, bis ihr die Sinne schwanden.
Ein kurzes Aufseufzen, dann breitete die Dunkelheit ihr Bahrtuch über ihr aus.
»Heiliger Franziskus, wie siehst du denn aus!« Noch halb benommen, horchte Luzia auf. Blitze zuckten vor ihren Augen, geradeso, als kehrten die Schreckensbilder zurück. Nicht lange jedoch, und die Züge der jungen Frau entspannten sich.
Gerettet.
Die Andeutung eines Lächelns im Gesicht, drehte sie sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Eine Stimme, die wie ein Lichtstrahl in ihre Ohnmacht drang, vertrauenerweckend und voller Wärme, die Rettung aus schier auswegloser Lage. »Du bist ja gar nicht richtig bei dir, was ist denn los?«
Bruder Damian kam wie gerufen, immer dann zur Stelle, wenn ihr Böses widerfuhr. »Bei Nacht und Nebel noch unterwegs, du machst vielleicht Sachen. Nun rede schon, Luzia, was ist geschehen?«
Kaum imstande, ihre Gedanken zu ordnen, schnappte die 23-Jährige nach Luft, unterdrückte das Würgen in ihrer Kehle und hob den Kopf. Ringsum Grabstelen, so weit das verschwommene Blickfeld reichte, die einen windschief, morsch und vom Wurmfraß befallen, die anderen aus Rosengranit und mit Blütenranken verziert. Dazwischen ein Engel aus dunklem Marmor, den Blick wie verzückt zum Firmament gerichtet, flankiert von einem zerzausten Kolkraben, der auf dem Podest einer verwitterten Urne hockte.
Verzweifelt bemüht, die Nachwehen ihrer Vision aus dem Kopf zu verbannen, unternahm sie den Versuch, auf die Beine zu kommen. Vergebens. In der Hocke kauernd, wurde sie von einem plötzlichen Schwindel befallen, begleitet von einem schrillen Pfeifton, der dafür sorgte, dass sie vor Schreck zusammenzuckte. Aus dem Halbdunkel, wo die Außenwand des Doms in die Höhe ragte, klang das Geläut zur Nacht über die Grüfte hinweg, stieg zum Himmel auf und verlor sich wie ein Trugbild in der Ferne.
Es war ein Windstoß, der sie wieder zur Besinnung brachte, Vorbote des heraufziehenden Unwetters, das sich unweit der Stadtmauern zusammenbraute. Und dann war da auch noch Bruder Damian, ein Windlicht in der Hand, dessen Kegel einen lodernden Bannkreis um sie zog. »Und überhaupt: Was führt dich spätabends hierher? Kannst du mir das verraten?«
Leider nein.
Das konnte sie nicht.
Und wollte es auch nicht, kein Gedanke daran. Schweigen war das Gebot der Stunde, auch gegenüber Damian, dem sie ansonsten blind vertraute. Und darum: kein Wort über die ominöse Stimme, die gerade eben erst verklungen war. Und keinen Ton über das Schreckensbild von vorhin, als ihr dämmerte, um wen es sich bei dem Gemarterten handelte. Noch so ein Schock, und sie würde den Verstand verlieren. Und ihre Tage damit verbringen, verhöhnt zu werden.
»Jetzt sag schon, was dir widerfahren ist«, drängte der Franziskanerpater verstimmt, väterlicher Freund, Lehrer und Beichtvater in einem. »Nur frisch von der Leber weg geredet, vor mir brauchst du keine Geheimnisse zu haben.«
»Es ist nichts, Pater«, log sie ihrem Mentor ins Gesicht, dem die Skepsis deutlich anzumerken war. Gerade einmal fünf Fuß groß, schmächtig und von den Fährnissen des Alters heimgesucht, ging eine ehrfurchtgebietende Aura von ihm aus, ein Blick aus den lichtblauen Augen, und die Seele gab ihre Geheimnisse preis. »Alles halb so wild, macht Euch um meinetwillen bloß keine …«
Einen Kloß im Hals, brach Luzia betroffen ab. Sie war durchschaut, brachte es jedoch nicht über sich, die Wahrheit zu sagen. »Eine Unpässlichkeit, das ist alles. Passiert mir nicht zum ersten Mal, das ist nun mal leider so. Als Frau hat man es eben nicht leicht.«
»Wohl wahr.«
»Keine Sorge, Pater, das vergeht schon wieder.«
»Wenn du es sagst, wird es ja wohl stimmen«, lenkte der Vorsteher des Franziskanerklosters ein, schob den Arm unter ihre Achsel und half ihr auf. »Hoffen wir, dass sich das Malheur nicht wiederholt, aus der Ferne sah das wirklich bedenklich aus.«
»Heißt das, Ihr habt mitbekommen, wie ich …«
»Ich kam zufällig hier vorbei, von einem Besuch beim Kantor des Neumünsterstifts. Schachenthusiasten unter sich, da vergisst man leicht, wie spät es ist. Um die Komplet nicht zu verpassen, habe ich dann die Abkürzung über den Friedhof genommen. Glück im Unglück für dich, würde ich sagen. Schließlich weiß man nie, wer sich hier herumtreibt, darum Vorsicht, lichtscheue Gestalten gibt es zuhauf. Höchste Zeit, dass der Rat sich dazu ermannt, ihnen das Fell zu gerben. Sonst werden wir der Lage nicht mehr Herr, Nachtwache und Patrouillen hin oder her.« Bruder Damian sah prüfend zu ihr auf. »Diese …«
»Unpässlichkeit.«
»Von der Wortwahl einmal abgesehen: Das Missgeschick von vorhin, wie oft hat es dir schon zu schaffen gemacht?«
»Ich sagte es doch bereits, mir war nicht gut«, versetzte Luzia knapp, bemüht, das Thema herunterzuspielen. »Es gibt Schlimmeres, also was soll’s.«
»Ich bin immer für dich da, das weißt du doch.«
»Natürlich, Vater.« Wieder halbwegs bei Kräften, ordnete sie ihr rotblondes Haar, verknotete es hinter dem Kopf und dachte nach. Was, wenn jemand anderes sie so sehen würde? Wenn jemand Zeuge wurde, wenn es über sie kam? Am Ende redete sie womöglich wirr, schnitt Grimassen oder tobte herum, als sei der Teufel in sie gefahren.
Luzia runzelte die Stirn. Ein paar Jahre zuvor, nach seiner Ernennung zum Aufseher über das Bürgerspital, hatte ihr Vater sie zu einer Inspektion mitgenommen. Die Visite hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen, sowohl im Guten als auch anderweitig. Denn auch dort waren die Insassen nicht alle gleich, frei nach der Devise: Hast du was, dann bist du wer. Kaum verwunderlich, dass die Herrenpfründner den Ton angaben, besaßen sie doch das nötige Kleingeld, um sich einzukaufen. Gemessen daran fehlte es ihnen an nichts, reichliche Mahlzeiten und Schlafkammer mit eingeschlossen. Die Armenpfründner konnten davon nur träumen, nächtigten auf Strohsäcken und mussten mit anpacken, wenn es der Spitalmeister befahl.
Besonders schlimm erging es den Wirren im Geiste, die getrennt von den Pfründnern beherbergt wurden. Etliche davon, so der Aufseher beim Rundgang durch das Narrenhaus, befänden sich im Zustand der Tobsucht, unter Gelehrten als Delirium hystericum bekannt. Der Grund, weshalb man die Randalierer in Ketten zu legen pflege. Ein Blick in die Zellen im Kellergeschoss, wo sich ein Gezeter wie am Jüngsten Tag erhob, und Luzia hatte Bescheid gewusst. Ganz gleich, was aus ihr wurde, in einem Kellerloch würde sie nicht enden, weder jetzt noch am Ende ihrer Tage. »Kein Grund zur Besorgnis, mir geht es wieder gut.«
»Das hoffe ich doch.«
Luzia sagte nichts dazu, schlang den Umhang um den fragilen Leib und zog die Schultern zusammen. Denunzianten gab es hier in rauen Mengen, und was wäre, wenn man ihr auf die Schliche käme, daran wagte sie nicht zu denken. Die Flinte ins Korn zu werfen, das kam jedoch nicht infrage. Alles, was es brauchte, war ein Quäntchen Glück. Dann würde sich ihr Schicksal zum Guten wenden.
Bruder Damian schien ihre Gedanken zu erraten, vermied es jedoch, weiter nachzuhaken. »Ach so, jetzt verstehe ich!«, rief er mit hintergründigem Lächeln aus, sein Windlicht auf Augenhöhe, während er mit dem Finger in die hereinbrechende Finsternis wies. Am fraglichen Punkt, vom Geäst einer uralten Esche überragt, zeichneten sich die Umrisse einer Marmorplatte ab, umrankt von dichtem Efeu, an dem sich das Mondlicht brach. »Wie konnte ich das nur vergessen, heute ist ja ihr Geburtstag.«
Luzia nickte betrübt. »Mutters Tod war ein großer Schock für mich«, fügte sie beim Nähertreten hinzu, mit Blick auf die in Sandstein gemeißelte Frauengestalt, deren Züge einen seelenvollen Charakter verrieten. Die per Kinnriemen festgezurrte Haube auf dem Kopf, hielt die Frau im wallenden Gewand einen Rosenkranz umklammert und blickte am Betrachter vorbei nach rechts, als verharre sie in stillem Gebet. Am Fußende, aufgrund der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen, befand sich ein gemeißeltes Wappenschild, verziert mit gekreuzten Riemen, deren Enden akkurat zurechtgeschnitten waren. Die Inschrift lautete: Anno MDVII im Monat April wurde die ehrsame, fromme und allzeit genügsame Anna Riemenschneider, geboren allhier zu Würzburg, zum Schöpfer des Himmels und der Erde berufen. Möge sie in Frieden ruhen, bis zur fröhlichen Auferstehung.
»Über den Verlust bin ich nie hinweggekommen.«
»Du warst erst sechs damals, erinnere ich mich richtig?«
Luzia stimmte schweigend zu. »Außer ihr hat sich niemand um mich gekümmert – Anwesende selbstredend ausgeschlossen. Meine Brüder und Schwestern waren sich selbst genug – und obendrein wesentlich älter.«
»Und dein Vater, was war mit ihm?«
Die abwehrende Handbewegung folgte auf dem Fuße. »Auf ihn lasse ich nichts kommen, wo denkt Ihr hin! Ein Findelkind bei sich aufzunehmen, wenn man eine Horde hungriger Mäuler zu stopfen hat, allen voran drei Stiefsöhne und vier leibliche Kinder, das nenne ich wahre Nächstenliebe.«
»Und worin liegt dann das Problem?«
Luzia lächelte matt. »Jetzt tut doch nicht so, Ihr wisst es ja schon.«
»Drücken wir es mal so aus: Ich bilde es mir ein.«
»Vater war immer ein Vorbild für mich – und ist es immer noch. Er ist ein Mensch, zu dem man aufschaut, mit natürlicher Autorität.«
Bruder Damian schloss die Augen und nickte. »So wie dir geht es vielen in der Stadt, ich selbst mache da keine Ausnahme.«
»Aber manchmal …« Ein verdorrtes Blatt in der Hand, um es von der Grabplatte zu entfernen, geriet Luzia unvermittelt ins Stocken.
»Kommt er einem ein wenig seltsam vor?«
»Ihr sagt es, Pater.«
Der Adressat setzte ein wissendes Lächeln auf. »Falls es dich tröstet, mein Kind: Meister Tilman war schon immer so, seit ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Und wie du weißt, ist das schon ziemlich lange her. Er ist eben ein Künstler – und gehört als solcher einer besonderen Spezies an. Jemand wie er sieht die Welt mit anderen Augen, anders als du oder ich. Das ist nun mal so. Besser, man findet sich damit ab. Tut man es nicht, kann es leicht zu Missverständnissen kommen.« Damian hielt abwartend inne. Als eine Reaktion ausblieb, bemerkte er: »Du solltest dankbar sein, dass es ihn gibt, Menschen wie ihn trifft man nicht so oft. Um sie zu finden, muss man lange suchen.« Der Franziskaner deutete himmelwärts, einen Ausdruck kindlicher Unschuld im Gesicht. »Es sei denn, der da oben hilft ein wenig nach. Dann bleibt einem die Mühe erspart.«
»Ihr missversteht mich, Pater.«
»So, tue ich das?«
»Jetzt kommt schon, Ihr wisst doch genau, was ich meine.«
»Falls du auf deinen Wunsch anspielst, ihm nachzueifern: In dem Punkt kann ich meinen Jugendfreund verstehen«, machte Damian seinen Standpunkt klar. Das Thema war überaus heikel, nichts schädlicher für ihn, als zwischen die Fronten zu geraten. »Na schön, du möchtest Bildschnitzerin werden, ein naheliegender Wunsch. Und wie ich deinen Vater kenne, erfüllt ihn das mit Stolz.«
»Ich denke schon.«
»Ich weiß, was du jetzt gleich sagen wirst, Luzia: Davon kann ich mir nichts kaufen.« Bruder Damian seufzte tief. »Versetz dich doch mal kurz in seine Lage, mein Kind. Selbst wenn er bereit wäre, dir den Wunsch zu erfüllen: Welchen Nutzen würde dir sein Plazet bringen?«
»Was geht es denn die Zunftoberen an, wenn er eine Frau in seiner Werkstatt be…«
»Eine Menge, mein Kind – und das weißt du auch«, fiel der Franziskaner der jungen Frau ins Wort, verstärkte den Griff um seinen Gehstock und ergänzte: »Ad eins: Laut Statut der Maler-, Glaser- und Bildhauerzunft ist es untersagt, eine Frau als Mitglied in die Korporation aufzunehmen und ihr damit die Möglichkeit zu eröffnen, bei einem ortsansässigen Meister in die Lehre zu gehen.«
»Ihr haltet das doch nicht etwa für gerecht?«
»Meine Meinung spielt hier keine Rolle«, ließ sich der Vorsteher nicht dem Konzept bringen. »Zum Zweiten: Einmal angenommen, dein Vater wäre bereit, dir den Wunsch zu erfüllen, und nähme dabei das Risiko in Kauf, wegen Missachtung der Statuten relegiert zu werden: Wer von euch beiden hätte einen Nutzen davon? Antwort: keiner. Deinem Vater wäre es verboten, seine Werkstatt weiterzuführen und innerhalb der Stadt seiner Profession nachzugehen, und was dich betrifft, nun ja, mit ein wenig Glück kämst du mit Arrest davon. Wenn nicht, müsstest du damit rechnen, per Ratsbeschluss zum Verlassen der Stadt gezwungen zu werden. Mit der Aussicht auf eine ungewisse Zukunft, um es schonend zu formulieren. Was ich damit sagen möchte, ist: Mit dem Kopf durch die Wand zu wollen führt zu nichts, besser, du findest dich mit den Gegebenheiten ab. Es sei denn, du bist darauf aus, deinen Vater in Schwierigkeiten zu bringen. Nach meinem Befinden hätte er das nicht verdient, allein schon aus Respekt gegenüber seiner Person.«
»Ich verehre meinen Vater, das wisst Ihr genau.«
»Aber du liebst ihn nicht, hab ich recht?«
»Weit gefehlt.«
»Mit Verlaub, womit haderst du dann?«
»Manchmal redet er tagelang kein Wort mit mir. Behandelt mich wie Luft. Dann frage ich mich, was ihm durch den Kopf geht.«
»Die Schnitzerei, was hast du denn gedacht.«
Luzia schloss bekümmert die Augen, verhakte die Fibel an ihrem Umhang, um sich gegen die Kühle zu wappnen, und zupfte die weinrote Bordüre zurecht. »Zu Hause sagen sie alle das Gleiche, wenigstens da sind wir einer Meinung. Und da wäre noch etwas.«
»Nämlich?«
»Es steht mir zwar nicht zu, mich einzumischen, aber wenn ich mir anschaue, wie Margaretha mit Vater umspringt, dann packt mich die blanke Wut.«
»Mit anderen Worten: Deine Stiefmutter ist ein rotes Tuch für dich.«
»Und gerade mal neun Jahre älter, aber das nur nebenbei.«
»Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.«
»Was Ersteren betrifft, nichts lieber als das.«
Pater Damian hob warnend den Zeigefinger. »Du bist dabei, dich in etwas zu verrennen, mein Kind. Nimm dir ein Beispiel am Heiligen Franziskus, von dem Mann kann man wirklich lernen. Der da sprach: Oh Herr, gib mir die Kraft, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenheit, das Unabwendbare zu ertragen, und die Weisheit, mich …«
»Im Zweifel für einen der beiden Wege zu entscheiden. Zitat Ende.«
»Von mir aus wäre dem nichts hinzuzufügen«, vollendete der Klostervorsteher knapp, dämpfte den Ton und sagte: »Dessen ungeachtet: Ich wünschte, sie weilte noch unter uns. Kaum zu glauben, wie schnell es mit ihr zu Ende ging. Und wie machtlos man gegen die Krankheit ist. Eine Unze Schlafmohn, um ihre Qualen zu lindern, mehr konnte der Medicus nicht tun. In ihrer Haut hätte ich nicht stecken wollen, die Frau konnte einem leidtun.«
»Reden wir nicht mehr drüber. Es ist besser so.«
Pater Damian seufzte gequält. »Es ist zwar nicht meine Art, Moralpredigten zu halten, aber lass mich dir einen gut gemeinten Rat geben.«
»Aber gern.«
»Wenn du dir einredest, die Kirche sei an allem schuld, dann machst du dir etwas vor. Wahr ist, Annas Bruder wurde der Ketzerei und der Anstachelung zum Aufruhr bezichtigt und im Anschluss hochnotpeinlich befragt. Danach verliert sich seine Spur.«
»Behauptet wer?«
»So begreif doch, Luzia: Die Behörden mussten so handeln. Der Inkulpat war kein unbeschriebenes Blatt, das kam erschwerend hinzu.« Damian wiegte das greise Haupt. »Dass die Vorschriften nicht eingehalten wurden, steht außer Frage. Insofern kann ich deinen Unmut verstehen. Annas Tod mit dem Renegatentum ihres Bruders in Verbindung zu bringen halte ich jedoch für gewagt, wenn nicht gar für abwegig.«
»Sie hat sich zu Tode gegrämt, das lasse ich mir nicht ausreden.«
Der Vorsteher hörte über die Replik hinweg. »Vergessen wir nicht: Das Gericht hat sich die Entscheidung nicht leicht gemacht und dem Heißsporn eine goldene Brücke gebaut, um ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren.«
»Von wegen Heißsporn!«, platzte es aus Luzia heraus. »Er war erst 15, oder habt Ihr das schon vergessen? Bitte seid mir nicht gram, wenn ich es so hart formuliere, aber wer auch immer für sein Verschwinden verantwortlich ist, er hat große Schuld auf sich geladen. Wenn ich sehe, wie viel Unheil in Christi Namen angerichtet wurde, dann graut mir vor dem, was noch kommen wird. Das Maß ist voll, das wisst Ihr so gut wie ich. Im Volk beginnt es zu gären, so wie bisher kann es einfach nicht weitergehen. Die Leute haben die Drangsal satt, und wenn der Bischof schlau ist, zieht er seine Lehren daraus.«
»Genau darin liegt das Problem. Klar ist, der hohe Herr denkt nicht im Traum daran, auf die Forderungen der Gemeinen einzugehen. Wie ich ihn kenne, wird er so weitermachen wie bisher – und sich keinen Deut um die Nöte des Volkes scheren. Eins dürfte uns beiden klar sein: Wer bis über beide Ohren in Schulden steckt, hat nichts zu verschenken.«
»Und wird alle Hebel in Bewegung setzen, um an Geld zu kommen. Auf Kosten der kleinen Leute, wie gehabt.« Luzia atmete bekümmert aus. »Ich bin mir sicher, das geht nicht mehr lange gut, ein paar Jahre noch, und den Schindern wird die Rechnung präsentiert.«
»Um mir vorzustellen, was dann geschieht, dazu reicht meine Fantasie nicht aus.«
»Wenn wir gerade dabei sind: Ich bin in Sorge, Vater könnte ein Ungemach widerfahren.«
Bruder Damian stutzte. »Wie das? Soweit ich weiß, erfreut er sich bester Gesundheit. Ich will ja nichts sagen, aber siehst du da nicht ein wenig …«
»Kurz und gut: Wenn er nicht aufpasst, mit wem er sich abgibt, wird es ein böses Erwachen für ihn geben«, fiel Luzia dem Minderen Bruder ins Wort, zog die Kapuze mit einem Ruck über den Kopf und machte eine finale Geste. »Ich schlage vor, wir wechseln das Thema, was mich betrifft, gibt es nichts mehr zu sagen.«
»Einverstanden«, stimmte Damian mit nachdenklicher Miene zu, wie kaum ein anderer mit den Gedanken seines Schützlings vertraut. Und vollendete mit Blick auf die Unwetterfront: »Höchste Zeit, dass wir uns auf den Weg machen, dort droben braut sich einiges zusammen.«
Luzia nickte, bot ihrem Mentor den Arm, damit er sich bei ihr unterhaken konnte, und steuerte auf die schmiedeeiserne Seitenpforte zu, von wo aus man direkt zum Kloster gelangte. Dort angekommen, drückte sie die Klinke herunter, ließ Damian den Vortritt und schickte sich an, zu ihm aufzuschließen.
Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Unweit des Pfaffentors, nur wenige 100 Schritte vom Domfriedhof entfernt, hatte sich ein Blitzbündel in die Erde gebohrt, begleitet von ohrenbetäubendem Krachen, wie bei den Feuergarben einer todbringenden Geschützbatterie.
Luzia blieb wie angewurzelt stehen. Weniger aus Angst, auf der Flucht vor dem Unwetter vom Blitz getroffen werden, sondern aufgrund des Knirschens, das dem Grollen des Donners auf dem Fuß folgte.
Und dann stand sie auch schon vor ihr auf dem Kiesweg. Die Gestalt hielt sich eine Stabmaske vors Gesicht, bekleidet mit einem dunklen Umhang, an dem die Sturmböen zerrten. In den Widerschein des spinnenförmigen Blitzbündels getaucht, verharrte sie wie in Erz gegossen auf der Stelle. Auch dann noch, als Luzia den Blick erwiderte.
Etliche Atemzüge später, nach schier endlosem Zaudern, die unerwartete Geste: Die Spukgestalt, der Statur nach zu urteilen ein Mann, fiel vor ihr auf die Knie, senkte das Haupt und reckte ihr sehnsuchtsvoll die Hand entgegen.
Luzia indes blieb stehen, bemüht, ihre Beklommenheit zu unterdrücken. Fürwahr, dies war keine Erscheinung, kein Hirngespinst, keine Vision mit einer Wisperstimme im Hintergrund.
Der Mann war real, ein Blick auf die dunkle Maske, und sie erschauderte bis ins Mark.
Fest entschlossen, den Vermummten nach seinem Namen und dem Woher und Wohin zu fragen, machte Luzia einen Schritt nach vorn.
Doch da war der Fremde bereits verschwunden.
Was blieb, war der Geruch nach versengtem Fleisch, gerade so, als sei er vom Blitz in Stücke gerissen worden.