Die Trauer trägt Schwarz - Martha Grimes - E-Book

Die Trauer trägt Schwarz E-Book

Martha Grimes

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Beschreibung

Inspektor Jury und ein mysteriöser Mord im Herzen von London.

Mickey Haggerty, ein alter Kollege von Inspektor Jury, hat es sich in den Kopf gesetzt, eine Tragödie aufzuklären, die sich vor mehr als fünfzig Jahren innerhalb der reichen Londoner Brauerei-Familie Tynedale abgespielt hat – und er benötigt dringend Jurys Hilfe. Doch noch bevor Jury mit seinen Ermittlungen beginnen kann, ereignet sich ein mysteriöser Mord: Simon Croft, ein enger Freund der Tynedales, wird erschossen aufgefunden. Jury ahnt, dass er einen verborgenen Gegenspieler hat, der alles daran setzt, die Vergangenheit für immer ruhen zu lassen ...

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Martha Grimes

Die Trauer trägt Schwarz

Roman

Buch

Inspektor Jury ist tief erschüttert, als er von der tödlichen Erkrankung seines alten Freundes und Kollegen Mickey Haggerty erfährt. Doch Haggerty hat einen letzten Wunsch: Er möchte herausfinden, was sich an jenem 29. Dezember 1940 wirklich ereignet hat, als eine Bombe das »Blue Last«, einen legendären Londoner Pub, in Schutt und Asche legte. Haggerty hegt den Verdacht, dass die Wirren des Krieges damals genutzt wurden, um ein unsauberes Spiel zu spielen. Denn durch den Angriff fanden auch Alexandra, die Tochter des mächtigen Brauerei-Besitzers Tynedale, und das Baby des Kindermädchens Kitty den Tod. Nur Maisie, das Kind von Alexandra, überlebte wie durch ein Wunder. Haggerty ist überzeugt, dass in Wirklichkeit Maisie ums Leben gekommen ist und Kitty ihre eigene Tochter als Maisie ausgab, um sie so zur Erbin des gigantischen Tynedale-Vermögens zu machen.

Noch bevor Jury mit seinen Ermittlungen beginnen kann, ereignet sich ein mysteriöser Mord: Simon Croft, ein enger Freund der Tynedales, wird erschossen aufgefunden. Inspektor Jury ist sich sicher, dass der Mord an Croft kein Zufall gewesen ist. Doch so sehr er sich auch bemüht, einen Zusammenhang mit den Ereignissen in der Vergangenheit herzustellen: All seine Theorien verlaufen im Sande. Erst spät begreift Jury, dass er in eine böse Falle getappt ist – und er muss für diesen Irrtum beinahe mit seinem Leben bezahlen.

Autorin

Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »The Blue Last« bei Viking, a member of Penguin Putnam Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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2. Auflage Taschenbuchausgabe September 2005 Copyright © der Originalausgabe 2001 by Martha Grimes By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc. 551 Fifth Avenue, Suite 1613 New York, NY 10176-0187 USA. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München

Dark hills at evening, in the westWhere sunset hovers like a soundOf golden horns that sang to restOld bones of warriors underground,

Far now from all the bannered waysWhere flash the legions of the sun,You fade – as if the last of daysWere fading, and all wars were done.

E. A. ROBINSON

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyrightTEIL I - DIE SPUR DER ERINNERUNG
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22
TEIL II - FLORENTINER FIASKO
Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25
TEIL III - MONDSCHEINSONATE
Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46
TEIL IV - DIE ANGST TRÄGT SCHWARZ
Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55
TEIL V - DER FLUCHTPUNKT
Kapitel 56Kapitel 57

TEIL I

DIE SPUR DER ERINNERUNG

1

»›Dichter‹, steht da, ›gestorben am Stich einer Rose.‹ War wohl ein Dorn, der ihn gestochen hat. Um wen, glauben Sie, handelt es sich?«

Richard Jury hob den Kopf und sah zu Sergeant Wiggins hinüber. »Rilke. Was ist das, ein Kreuzworträtsel? Rilke, wenn ich mich nicht irre.« Das tat er sowieso so gut wie nie. Jury las gerade einen gerichtsmedizinischen Bericht durch, als Detective Sergeant Wiggins ihn unterbrach. Wiggins kam tatsächlich auf immer abstrusere Arten, aus dem Leben zu scheiden. Irgendwie hatte er es mit dem Tod, fiel Jury nicht zum ersten Mal auf. Oder zumindest mit den Leiden, die das Fleisch befallen. Denen war Wiggins, wenn man ihn so reden hörte, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

»Rilke?«, sagte Wiggins. Er zählte die Kästchen. »Das würde sogar passen. Sie könnten sicher im Handumdrehen jedes Kreuzworträtsel lösen, wenn Sie solche Sachen wissen.« Er schenkte Tee ein.

»Das ist das Einzige, was ich in der Richtung weiß.«

Wiggins löffelte vier Teelöffel Zucker in seine eigene Tasse und wollte sich schon an Jurys Tee machen.

»Einen«, wies Jury ihn zurecht, ohne von seinem Aktenhefter aufzublicken. Die Teezubereitung hatte in diesem Büro inzwischen den Status eines Rituals, das sie schon so lange vollzogen, dass Jury immer wusste, bei welchem Schritt Sergeant Wiggins gerade war. Vielleicht lag es am Löffel, der jedes Mal, wenn er gegen die Tasse klickte, ein leises Signal aussandte.

»Der war also Bluter, dieser Rilke?«

»Was weiß ich.« Selbstverständlich würde Wiggins es wieder einer Blut- oder Knochenkrankheit zuschreiben. Es entstand eine ziemlich lange Pause, während der Jury dann doch den Blick hob und Wiggins musterte. Der hatte die Hände um beide Henkelbecher geschmiegt und starrte aus dem Fenster. »Kriegt mein Henkelbecher jetzt vielleicht kleine Becherbeinchen und marschiert von selbst hier herüber?«

Wiggins fuhr hoch. »O Verzeihung, Sir.« Er stand auf und brachte Jury den Tee. Dann kehrte er wieder zu seinem Schreibtisch am anderen Ende des Raums zurück und meinte: »Ich kann mir einfach keine andere Blutkrankheit vorstellen, die zum Tod durch den Stich eines Rosendorns führen würde.«

Unwillkürlich kamen Jury ein paar Gedichtzeilen in den Sinn:

O Rose, so betrübt!Der verborgene Wurm …

William Blake. Das würde er Wiggins gegenüber aber nicht erwähnen. Ein Rosentod pro Vormittag genügte.

Wiggins ließ nicht locker. »Ein kleiner Pieks führt dazu, dass so viel Blut fließt? Ich meine, daran konnte der Kerl doch wohl kaum verbluten.« Er runzelte die Stirn, trank nachdenklich seinen Tee. »Die Antwort müsste ich eigentlich wissen.«

»Wieso? Dafür gibt es doch Polizeiärzte. Rufen Sie in der Gerichtsmedizin an, wenn Sie es unbedingt wissen wollen.«

Der die Nacht durchpflügtIm heulenden Sturm.

Jury klappte den Ordner über der Aufnahme mit den Skelettresten zu und blickte zum Fenster hinaus. Draußen fiel leichter Schnee. Es reichte kaum, um den Gehweg zu überziehen, geschweige denn für einen Skihang. Ach, hatte er vielleicht vor, in Islington Ski zu laufen? Er könnte ja nach High Wycombe fahren, dort lag das ganze Jahr über genug Schnee. Wie deprimierend! In zwei Wochen war Weihnachten. Noch deprimierender! »Fahren Sie über Weihnachten nach Manchester, Wiggins?«

»Ja, zu meiner Schwester und ihrer Brut. Und Sie, Sir?«

»Ob ich nach Newcastle fahre? Nein.« Dass er seine Cousine (und ihre Brut) in diesem Jahr nicht besuchen würde, erfüllte ihn mit einem derart köstlichen Gefühl der Genugtuung, dass er sich fragte, ob das Glück denn nicht einfach darin lag, etwas nicht zu tun, statt es zu tun.

Wiggins wartete offenbar darauf, dass Jury ihn über seine Weihnachtspläne informierte. Wenn Newcastle nicht zur Debatte stand, was dann? Als Jury mit nichts Besserem aufwartete, bohrte Wiggins auch nicht weiter nach. Er kehrte einfach zum Tod und den Gegenmittelchen zurück, wovon einige Fläschchen auf seinem Schreibtisch aufgereiht standen. Wiggins begutachtete seine Sammlung in aller Ruhe, entschied sich für eine zähe, rosafarbene Flüssigkeit und drückte ein paar Tröpfchen davon in ein halbes Glas Wasser, was er sodann mit leicht kreisenden Bewegungen vermengte.

»Wir haben Weihnachten doch Dienst, zumindest am Weihnachtsmorgen«, sagte er. »Ich bin wahrscheinlich erst zum Abendessen in Manchester.«

»Mann, fahren Sie doch einfach los. Ich kann doch für Sie einspringen.«

Wiggins schüttelte den Kopf. »Nein, Sir, das wäre nicht fair. Nein, ich bleibe schon hier. Weihnachten ist vielleicht der Teufel los, wenn die Leute beschließen, sich gegenseitig die Nase einzuschlagen. Manche Kerle wissen nichts Besseres mit einem Feiertag anzufangen, als sich eine Knarre zu schnappen.«

Jury lachte. »Stimmt. Vielleicht haben wir ja am Weihnachtstag Zeit für ein tolles Mittagessen bei Danny Wu. Der hat feiertags nie geschlossen.« Ruiyi war das beste Restaurant in Soho.

Es wurde still, lautlos fiel der Schnee. Jury überlegte, was er Wiggins schenken sollte. Irgendein medizinisches Fachbuch, in dem womöglich sogar Rilkes »Blutkrankheit« beschrieben war, sofern dieser überhaupt daran erkrankt war. Ein Dornenstich. O Rose, so betrübt! Er versuchte, sich an die letzten vier Zeilen dieses kurzen Gedichts zu erinnern, doch sie wollten ihm einfach nicht mehr einfallen.

Wiggins hatte sich wieder der Zeitung zugewandt. »Jetzt wollen sie die alten Gaswerke in Greenwich abreißen. Um dieses Riesending hochzuziehen, den Millennium Dome, von dem jetzt andauernd die Rede ist.«

Jury wollte nichts davon hören und auch nicht darüber reden. Wiggins war ganz versessen auf das Thema. »Das dauert noch, Wiggins. Warten wir’s ab und lassen wir uns überraschen.«

Wiggins musterte ihn skeptisch, nicht wissend, was er von diesem rätselhaften Kommentar halten sollte.

Jury stand auf, zog seinen Mantel an und nahm den Ordner mit Haggertys Bericht vom Schreibtisch. »Ich fahre in die City. Falls Sie mich brauchen, ich bin bei Mickey Haggerty auf der Polizeistation Snow Hill.«

»Ist gut.« Wiggins trank sein rosa Zeug und wandte sich zum Fenster. Als Jury schon fast draußen war, sagte Wiggins vor sich hin: »Klingt fast wie aus einem Märchen.«

»Was denn? Der Millennium Dome?«

»Nein, nein, nein. Diesen Rilke meine ich. Wie die Prinzessin, die sich beim Spinnen in den Finger gestochen hat und in einen tiefen, tiefen Schlaf fällt. Am Stich eines Rosendorns zu sterben.« Er sah Jury an. »Irgendwie ein atemberaubender Tod, nicht?«

»Darauf könnte ich gut und gerne verzichten, Wiggins. Bis dann.«

2

In der City von London hatte an Wochenenden noch nie geschäftiges Treiben geherrscht. Hier, im Herzen der Londoner Finanzwelt, war alles wie ausgestorben.

Jury verließ die Untergrundstation Tower Hill, blieb stehen und sah zur Lower Thames Street hinüber. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal vor dem Tower von London gestanden hatte. Die Touristen knipsten Fotos, ein paar hatten Wegwerfkameras, andere etwas anspruchsvollere Apparate. Vor Weihnachten waren immer besonders viele Touristen in der Stadt. In der Fenchurch Street kam er an einem indischen Restaurant vorbei, und wenn das geschlossen war, konnte er eigentlich wetten, dass alles andere ebenfalls zu war.

Bis auf die Polizeistation Snow Hill natürlich. Ein unglücklich dreinblickender Constable hatte hinter dem Auskunftsschalter Dienst und schien beinahe dankbar, dass Jury nichts weiter wollte als die Wegbeschreibung zu Haggertys Büro. Detective Chief Inspector Haggerty? Hier durch, da entlang, dort ist seine Tür. Jury dankte ihm.

Haggerty saß an seinem Schreibtisch und betrachtete Polizeifotos, als Jury hereinkam. Mickey Haggerty stand auf und kam um den Schreibtisch herum, um Jury die Hand zu schütteln und ihn ein paarmal freundschaftlich an die Schulter zu knuffen. Es war mehr als ein Handschlag und weniger als eine Umarmung. Jury hatte Mickey Haggerty und dessen Frau Liza seit Jahren nicht mehr gesehen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich schon so lange nicht mehr bei seinem alten Kollegen gemeldet hatte. Aber das lag ja wohl nicht nur an ihm, oder? Mickey hatte es sich zum Teil selbst zuzuschreiben.

Kein Polizist (dachte Jury) war bei der Arbeit so in seinem Element wie Mickey Haggerty. Er passte so kantengenau hinein wie ein Pflasterstein auf einem frisch verlegten Gehweg. »Hallo, Mickey. Lange nicht gesehen.«

»Verdammt viel zu lang«, bekräftigte Mickey und deutete auf einen Stuhl für Jury, bevor er sich selbst wieder hinsetzte. »Wie läuft’s denn so, Rich?«

»Gut.« Diese Art von Wortwechsel hätte zwischen den meisten Leuten recht banal geklungen, doch bei Mickey steckte aufrichtiges Interesse dahinter. Sie unterhielten sich eine Weile über Liza und die Kinder, dann schob Jury ihm die mitgebrachte Akte über den Tisch. »Sieht nach einer Ausgrabung aus. Ist das ein Fall, an dem Sie gerade arbeiten? Erwarten Sie jetzt eine aufschlussreiche Antwort von mir? Mit forensischer Anthropologie kenne ich mich nicht so gut –«

Mickey schüttelte den Kopf. »Ich wollte bloß, dass Sie sich die Akte mal ansehen, damit Sie sich besser vorstellen können, wovon ich rede. Ja, es ist ein Fall, an dem ich gerade arbeite. Ich ganz persönlich. Sagen wir mal, es handelt sich um eine inoffizielle Angelegenheit. Oder sagen wir, ich will eigentlich gar nicht, dass sonst noch jemand davon erfährt. Es ist was Privates.« Er drehte ein Foto herum. Inmitten der Trümmer lagen zwei Skelette.

Wenigstens meinte Jury, zwei erkennen zu können. »Was ist das, Mickey?«

»Skelette, die man aus einem Ruinengrundstück geborgen hat.«

»Ruinengrundstück? Wo?«

»Hier. In der City. In der Nähe von Ludgate Circus. Wenn Sie es sich anschauen wollen, es ist nicht weit von St. Paul’s Cathedral, die Straße heißt Blackfriars Lane.« Mickey skizzierte einen kleinen Plan und reichte ihn ihm herüber. »Die letzte Kriegsruine in London.«

Fragend wanderten Jurys Augenbrauen ein Stückchen höher.

»Sie wissen schon, vom Zweiten Weltkrieg?«

Jurys Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen. »Ja, habe ich schon davon gehört.«

Mickey nahm die Zigarre, die in einem großen blauen Aschenbecher zu seiner Rechten vor sich hin geglommen hatte. Als er den Rauch ausstieß, sah Jury sehnsüchtig hinterher. Obwohl er seit fast zwei Jahren keine Zigarette angerührt hatte, war sein Verlangen danach nicht geschwunden. Das machte ihn ganz wütend. Er lächelte. »Also, weiter.«

Aus einem anderen Ordner nahm Mickey einen weiteren Bericht. »Zwei Skelette hat man dort gefunden.«

»Was ist das?«

»Das stammt von den Anthropologen an der University of London. Die haben die Skelette zu Studienzwecken mitgenommen. Sie interessierten sich natürlich dafür. Dachten wohl, die Überreste seien Funde aus grauer Urzeit.«

»Waren sie aber nicht?«

Mickey schüttelte den Kopf. »Es sind die Skelette einer weiblichen Person, Anfang zwanzig, und eines Babys, erst ein paar Monate alt, vermutlich zwei oder drei.«

»So genau können die das bestimmen? Bei einem Baby? Da werden die Knochen aber doch erst noch gebildet.«

»Die Zähne. Sie können sogar die Entwicklung eines Fötus an den Zähnen bestimmen. Die Zähne entwickeln sich im Kiefer. Das hier waren die einzigen Skelette, die man geborgen hat. Auf dem Ruinengrundstück stand früher mal ein Pub, das dann im Blitzkrieg zerstört wurde. 1940 war das, am 29. Dezember 1940, um ganz genau zu sein. Das Grundstück wurde jetzt von einem Bauunternehmer aufgekauft, der es erschließen will. Jetzt ist dort eine Baustelle.«

Jury lehnte sich wortlos zurück. Jedes Mal, wenn er über den Krieg nachdachte, überkam ihn ein gewaltiger Schmerz. Doch die intensiven Gefühle, die er mit dieser Zeit verband, verliehen ihr auch etwas seltsam und unangenehm Anziehendes.

Mickey nahm die Zigarre vom Aschenbecher und rauchte. Er dachte nach.

Das gehörte mit zu den Dingen, die Jury an ihm mochte: Er war ein Mensch, der gerne seinen eigenen Gedanken nachhing. Wie Jury selbst zog er keine voreiligen Schlussfolgerungen, handelte gleichzeitig aber auch nach Instinkt. Jury wusste, dass es schwer war, beides zu verbinden. Er erinnerte sich, wie er mit Mickey einmal in einem Pub gesessen hatte, als sie vor neun oder zehn Jahren zusammen an einem Fall gearbeitet hatten, und zehn Minuten lang kein einziges Wort zwischen ihnen gefallen war. Mickey erinnerte Jury an Brian Macalvie – alle beide brachten die Leute von der Spurensicherung mit ihrem ausgedehnten Schweigen zur Weißglut.

Im Polizeirevier war es merkwürdig ruhig. Es mutete fast wie Grabesruhe an. »Wer hat die Überreste gefunden?«

»Die Bauarbeiter. Sie haben sie nicht berührt.« Mickey drehte das Foto mit den beiden Skeletten herum, damit Jury es sehen konnte. »Was sagen Sie dazu?«

»Sieht aus, als läge das Skelett des Babys dicht neben dem der Erwachsenen – der Mutter?«

»Ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen.« Mickey hatte seine Schreibtischschublade aufgezogen und eine Hand voll Schnappschüsse herausgenommen, lauter alte Schwarzweißaufnahmen. Er griff nach der obersten und schob sie Jury hin. »Das wurde in Dagenham aufgenommen. Gleich zu Beginn der Evakuierung 1939. Die Kinder wurden mit dem Boot zu einem der Züge gebracht, die sie aufs Land bringen sollten.« Mickey schob ihm noch zwei Schnappschüsse hinüber. »Das ist in Stepney. Wieder während der Evakuierung. Mein Dad hat immer von dieser unheimlichen Stille erzählt. Lauter Kinder – und kaum ein Mucks zu hören.«

Jury betrachtete das Grüppchen, die grauen Gesichter der Mütter, auf denen sich kein Lächeln zeigte.

»Das war der Exodus 1940, während des so genannten ›Sitzkriegs‹, als London sich auf einen Krieg vorbereitete und dann eigentlich gar nichts passierte.«

Jury hasste Gespräche über den Krieg. Was wollte Mickey mit all diesen Bildern? Worauf wollte er hinaus?

Er schob ihm noch einen Schnappschuss hin. »Das hier sind vermutlich die Frau und das Kind, die in den Trümmern damals umgekommen sind. Alexandra Tynedale, ein- oder zweiundzwanzig Jahre alt, und ein etwa vier Monate altes Baby. Allerdings nicht ihr eigenes. Das Kindermädchen war mit Alexandras Baby an die frische Luft gegangen.« Mickey wirbelte wieder ein Foto auf Jurys Schreibtischseite hinüber. »Und so sieht das Baby heute aus: Maisie Tynedale.«

Jury betrachtete das Foto. Die Frau war attraktiv, Anfang fünfzig, schätzte er, allerdings mehr durch Errechnen der seither vergangenen Jahre als durch ihr Aussehen. Dem Foto nach hätte sie auch vierzig sein können. Die Aufnahme war besser als die anderen, aufgenommen mit einer anspruchsvolleren Kamera als der, aus der die Schnappschüsse stammten. Jury legte es hin. Inzwischen hatte er fünf Bilder aufgereiht vor sich liegen. »Die zwei von der Evakuierung – was ist mit denen? Was hat es damit auf sich?«

Statt einer Antwort schob Mickey ein weiteres Foto herüber. Auf ihm war eine junge Frau zu sehen, die der Kamera den Rücken zuwandte und zu einem Baby hinunterlächelte, dessen kleines rundes Kinn auf die Schulter der Frau gestützt war. Arm und Händchen lagen flach auf dem Rücken der Frau. Jury legte das Foto als Nummer sechs in die Reihe und sah Mickey fragend an.

»Kitty, das Kindermädchen. Katherine Riordin und die kleine Erin.«

Als ob er Spielkarten austeilte, schnippte Mickey ihm noch ein Foto hinüber. Zerbombte Gebäude waren darauf zu sehen, zerborstene rote Backsteine. Ein paar Leute bahnten sich mühsam einen Weg durch die Trümmer. Jury sagte: »Solche Szenen haben sich doch überall in London tausendfach abgespielt. Furchtbar, Mickey. Meine beiden Eltern sind im Krieg umgekommen.«

»Tut mir Leid, Rich. Es gibt da etwas –«

Jury sah ihn beunruhigt an. »Stimmt was nicht, Mickey?« Er glaubte in den Augen des anderen tatsächlich Tränen zu erkennen. Oder auch nicht. »Hören Sie, ich habe es nicht eilig. Wo ist das?« Er hielt die Aufnahme von dem zertrümmerten Gebäude hoch, von der ganzen, dem Erdboden gleichgemachten Straße.

»Das habe ich doch schon gesagt. Hier ist das Pub – war das Pub –, das Francis Croft gehörte. Hier – da stand es noch. The Blue Last, hieß es. Die beiden, die davor stehen, sind Alexandra Tynedale Herrick und Francis Croft. Sehen Sie die Lichterkette am Türrahmen. Das Foto muss also entweder kurz vor oder nach Weihnachten aufgenommen worden sein. Francis Croft war der Geschäftspartner und beste Freund eines Mannes namens Oliver Tynedale, Alexandras Vater. Sie waren seit ihrer Kindheit miteinander befreundet. Francis ist tot, aber Oliver lebt noch. Erstaunlich, er muss nämlich inzwischen schon neunzig sein. Sie waren wie Brüder, er und Croft.«

»Das Baby des Kindermädchens wurde ebenfalls getötet; Erin hieß es. Kitty war Irin, kam wie Tausende von armen irischen Mädchen hierher, auf der Suche nach Arbeit und – nach ihrem Ehemann. Der hatte sie offenbar schlicht sitzen lassen. Alexandra stellte sie als Kinderfrau für Maisie ein. Kittys Tochter Erin war genauso alt wie Alexandras Baby.« Er fuhr sich seufzend mit der Hand durchs Haar.

Jury lehnte sich zurück. »Tynedale. Von der Tynedale Brauerei? Eine der größten des Landes?«

»Die gehörte eigentlich allen beiden. Tynedale und Croft.«

»Francis Croft muss ja ein ziemlich handfester Typ gewesen sein, wenn er als Teilhaber des Tynedale-Imperiums sein Pub selbst weitergeführt hat.«

Mickey lehnte sich lächelnd in seinem Schreibtischsessel zurück und verschränkte die Hände vor der Brust. »War er auch. Er war großartig, ein großartiger Mensch. Mein Dad war mit Francis eng befreundet. Als ich aufwuchs, erzählte Dad oft von ihm.« Mickey reichte ihm noch eine Aufnahme herüber.

Jury sah ein Flugfeld vor sich und ein Jagdflugzeug, vermutlich eine Spitfire oder vielleicht eine Hawker Hurricane. Der Pilot, der gerade ins Cockpit stieg oder ausstieg, blinzelte in die Sonne. »Ralph Herrick, Alexandras Ehemann. Sie waren gerade mal ein Jahr verheiratet gewesen, als er starb.«

Jury wollte schon den Blick abwenden, wäre sich dann aber schwach vorgekommen. Es kostete viel Kraft, fand er, gegen die eigene Schwäche anzukämpfen. »Im Dienst? Wurde sein Flugzeug abgeschossen?«

»Nein, er ist ertrunken. Er war gar nicht mehr in der Royal Air Force, arbeitete irgendwie auf den Orkneyinseln, als es passierte. Er war übrigens Träger des Victoriakreuzes. Ein echter Held, wie mir mein Vater sagte.«

Jury beugte sich über die Bilder – sieben waren es inzwischen, die einen etwas sprunghaften Fortgang der Ereignisse zeigten. Er betrachtete sie nacheinander eingehend. Irgendwie hatte er das Gefühl, das Haus seiner Mutter in Fulham hätte auch dabei sein sollen. Als Mickey ihn etwas fragte, hatte er nur halb zugehört.

»Entschuldigen Sie, Mickey. Ich war –« Jury zuckte die Achseln. »Wie kommt es, dass Sie sich an das alles noch erinnern?«, wollte er dann wissen.

»An manches erinnere ich mich, weil mein Dad es mir so überzeugend und detailliert geschildert hat. Dad sprach oft von Francis Croft. Simon, Francis’ Sohn, kannte ich nur flüchtig. Auch Oliver Tynedale habe ich seit meiner Kinderzeit nicht mehr gesehen. Diese Fotos entdeckte ich zusammen mit anderen Sachen in einem seiner Schreibtische. Als ich kürzlich einige Papiere durchsah, stieß ich auf die Bilder.« Er war wieder bei den Schnappschüssen und zog aus Jurys Aufreihung die von Alexandra und der kleinen Maisie heraus sowie das mit dem Kindermädchen Kitty Riordin und ihrem Baby Erin. Die Posen waren sich so ähnlich, dass man meinen konnte, es handelte sich um dieselbe Erwachsene und dasselbe Kind. Er meinte, Jury solle sich bei jedem Kind doch einmal den Arm und die Hand genau ansehen.

»Sehen Sie sich auch die Gesichter an. Beides sind Mädchen, oder habe ich Ihnen das schon gesagt?«

Jury hielt in jeder Hand eine Aufnahme und ließ den Blick hin und her wandern. »In dem Alter ist der Unterschied schwer auszumachen, nicht? Wollen Sie mir jetzt erzählen, sie hätten denselben Vater? Oder so etwas in der Art?«

»Nein, nein. Sehen Sie sich die Hände an, die Finger.« Mickey reichte ihm eine Lupe.

Jury tat es vorsichtig. »Die Hand der kleinen Herrick scheint verstümmelt zu sein. Ein paar Finger sehen verrenkt oder gebrochen aus. Die Hand der kleinen Riordin ist normal, soweit ich sehen kann.«

»Richtig. Hier ist ein Bild, das nach der Bombardierung aufgenommen wurde.« Er schob es ihm hin. »Kitty Riordin, auf dem Arm die kleine Maisie.«

»Die Hand ist verbunden. Warum?«

Mickey verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schaukelte in seinem Drehstuhl sanft vor und zurück.

Er genießt es, dachte Jury mit einem Lächeln. Gleich lässt er seinen Knaller los. Mickey liebte Geheimnisse.

»Laut Kitty hatten sie an dem Abend einen Unfall. Eine bombengeschädigte Mauer war teilweise eingestürzt, und sie waren von ein paar Ziegelsteinen getroffen worden. Kitty ist nichts passiert, aber die Hand der kleinen Maisie hatte etwas abgekriegt. War an mehreren Stellen gebrochen. Worauf ich hinaus will: Maisie Tynedale ist gar nicht Maisie Tynedale. Sondern Erin Riordin. Sie brauchen gar nicht erst zu fragen, wieso das Kindermädchen ihre eigene Tochter für das Tynedale-Baby ausgeben wollte: Maisie ist Erbin der Tynedale-Millionen. Sie nennt sich übrigens Tynedale, nicht Herrick. Und bevor Sie wieder fragen, warum – wenn ich Millionenerbe wäre, würde ich mich Mickey Mouse nennen, wenn ich glaubte, das würde was nützen.«

Jury lehnte sich zurück, ziemlich schockiert, dass damit die Geschichte zu Ende war, oder zumindest Mickeys Geschichte. »Es hätte aber doch auch anders sein können, Mickey. Und selbst wenn die Mutter des Babys dabei getötet wurde, hätten doch auch andere gemerkt, dass das Baby nicht Maisie war. Ich meine, für unsereinen sehen sie alle so ziemlich gleich aus, aber für eine Mutter – hm, nun ist die Mutter allerdings tot, aber für den Großvater, für Oliver Tynedale?«

Mickey schüttelte den Kopf. »Versetzen Sie sich mal in seine Lage. Wollen Sie wirklich in Frage stellen, dass dies Ihre Enkelin ist? Oder fällt es nicht leichter, es einfach zu glauben? Ganz zu schweigen davon, dass Kitty Riordin bestritten hätte, dass ihr eigenes Baby noch am Leben ist?«

»Aber andere –«

Mickey zuckte die Schultern. »Welche anderen? Auf Kitty Riordins Seite gab es niemanden. Francis Croft? Der ist tot. Brüder und Schwestern? Alles kleine Kinder. Es gab aber eine junge Croft in Alexandras Alter, Emily Croft. Sie hätte merken können, dass das Baby nicht Maisie war, aber weil sie nichts sagte, nehme ich an, dass sie sich auch nicht sicher war.« Er zuckte erneut die Schultern.

»Kitty Riordin machte sich die Bombardierung zunutze und erzählte allen, die sich danach erkundigten, ihr eigenes Baby sei in dem Bombenhagel umgekommen und sie hätte damals die kleine Tynedale bei sich gehabt.«

Mickey nickte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Das sage ich ja.«

»Dafür haben Sie aber nicht genügend Anhaltspunkte. Was ist mit Ihrem gerichtsmedizinischen Bericht?«

»Der konnte es nicht bestätigen, weil die Knochen einfach zu klein waren. Ich brauche einen forensischen Anthropologen. Ich bin mir ganz sicher, dass ich Recht habe.«

Kopfschüttelnd lehnte Jury sich zurück und schwieg. Alle beide schwiegen, während die Standuhr tickte und der graue Tag noch düsterer wurde. Jury sagte: »Die Sache ist faszinierend, Mickey, aber wie kommen Sie auf mich? Warum wollten Sie es ausgerechnet mir erzählen? Wollten Sie etwas von uns, ich meine, von Scotland Yard?«

»Ja. Ich will, dass Sie es beweisen.«

Jurys Lachen klang abrupt, es hörte sich eher nach einem Ausruf ungläubigen Erstaunens an. »Ich? Soll das ein Witz sein? Selbst wenn es sich beweisen ließe – Sie sind ein genauso guter Bulle wie ich, wahrscheinlich sogar besser.«

Mickey lächelte dünn. »Kann sein, aber ich bin ein toter Bulle. Werde ich jedenfalls in ein paar Monaten sein.«

Jury war plötzlich, als hätte ihm jemand mit voller Wucht einen Schlag in die Magengrube versetzt. »Was? Menschenskind, was ist los?«

»Leukämie. Genauer gesagt, chronisch-myeloische Leukämie oder etwas gefälliger abgekürzt: CML. Ist nicht sehr verbreitet, kommt aber bei Leuten in meinem Alter vor – vielleicht eine andere Form von Midlife-Crisis? Leider gibt es keine frühzeitig erkennbaren Symptome. Ich habe es erfahren, als es schon zu spät war. Diese Krankheit ist sehr, sehr aggressiv.«

Jurys Mund war so trocken, dass er nichts sagen konnte, als wären Worte flüssiger, lindernder Balsam, der ihm just in diesem Moment verweigert wurde.

»Die ganze Chemo-Scheiße habe ich hinter mir, aber nicht die Knochenmarktransplantation, vorausgesetzt, ich finde überhaupt einen Spender. Die Beweismittellage, sagen wir mal so, hält eingehender Begutachtung nicht stand. Die Überlebensquote liegt fast bei null. Noch zwei bis drei Monate geben mir die Ärzte, also im Klartext etwa ein bis zwei, weil die ja immer lügen. Es ist so, Richie – selbst wenn ich den Fall in ein paar Wochen lösen könnte, bin ich einfach viel zu scheißmüde, dafür und für meine andere Arbeit auch noch.«

Völlig irrational, so wie man aus einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit heraus auf jemanden wütend wird, der einem dieses Gefühl vermittelt, brauste Jury auf. »Warum zum Teufel nehmen Sie sich dann nicht frei? Verbringen die Zeit mit Liza und den Kindern?«

Mickey schien von Jurys Reaktion enttäuscht. »Weil ich nicht so viel freie Zeit haben will, um darüber nachzudenken, deswegen.« Mit ernstem Blick beugte er sich über seinen Schreibtisch. »Also, was ist, machen Sie es? Versuchen Sie, es herauszukriegen? Mir liegt sehr daran, und für meinen Dad wäre es auch wichtig, wenn er noch am Leben wäre.«

Jury schob die Fotos zusammen. »Ja. Sie wollen schließlich nicht, dass die Crofts und Tynedales betrogen werden. Kann ich die ein Weilchen behalten?« Jury hielt die Bilder hoch. Als Mickey nickte, meinte Jury: »Andererseits …« Er machte eine Pause, während er überlegte, ob er jetzt, wenn er einen moralisierenden Ton anschlug, ebenso selbstgefällig klingen würde wie zuvor, »andererseits gehört diese Maisie, beziehungsweise Erin, schon so lange zur Familie und wird für die Enkelin des Mannes gehalten –«

»Sie meinen, ob es dann nicht besser wäre, man würde die alten Geschichten ruhen lassen?«

»So ähnlich. Überlegen Sie mal, nach einem halben Jahrhundert stellt sich heraus, dass Maisie gar nicht Maisie ist.« Jury hielt inne. »Na gut, ich will sehen, was ich tun kann.« Er steckte die Bilder in eine Innentasche seines Mantels und stand auf. Mickey erhob sich ebenfalls. Jury ging um den Schreibtisch herum und umarmte ihn. »Alles, was Sie wollen, Mickey, jederzeit, Tag oder Nacht. Das meine ich ganz ernst.«

»Danke, Rich.« Tränen standen in Mickeys Augen. »Es bedeutet mir sehr viel.«

Mickey im Sterben. Mickey tot.

Jury betrachtete die Pflastersteine zu seinen Füßen, während er Ludgate Hill hinaufging. Er schritt langsam voran, fast zögernd, bestimmt sah es aus wie der unsichere Gang eines Greises, dachte er. Liebe Güte, dafür, dass er sich schon alt fühlte, war er doch noch zu jung.

Abgesehen von den Polizisten, Feuerwehrleuten und dem Krankenhauspersonal, die in der City ihren Dienst versahen, schien alles wie entvölkert zu sein, und Jurys Stimmung war teilweise dieser Leere zuzuschreiben.

Plötzlich wusste er, woran es ihn erinnerte: an ein Niemandsland. Allerdings kannte er es nicht aus erster Hand, dieses neutrale Territorium im Schlachtgebiet, das weder Vormarsch noch Rückzug markierte und von keiner Seite beansprucht wurde. Sein Vater hatte es allerdings gekannt, er hatte davon erzählt. Nein, seine Mutter war es gewesen. So anschaulich hatte sie es geschildert, dass es ihm vorgekommen war, als stammte der Bericht von seinem Vater.

Ich dachte, es sei das Werk der Erinnerung. Das hatte Mickey gesagt.

In der Nähe von St. Paul’s Churchyard hielt er Ausschau nach Blackfriars Lane und der Baustelle. Wegen der vielfach gewundenen, schmalen Straßen stieß er beinahe zufällig darauf. Man hatte die Stelle noch nicht mit Planen abgedeckt, und Kräne, Planierraupen und andere Maschinen standen wie prähistorische Spielzeugmaschinen im ausgehöhlten Erdreich herum.

Irgendwie verspürte er den Drang, seine wenigen Erinnerungen wie einen Mantel oder eine Decke um sich zu raffen. Er fragte sich, wie verlässlich sein Gedächtnis, oder überhaupt irgendein Gedächtnis, eigentlich war.

Wie Sterben war, konnte man einem anderen nie vermitteln, ganz egal, wie nahe man dem Menschen stand. Ganz egal, wie fähig, wie bereitwillig, wie mitteilsam der Kranke war. Allein er kann es wissen, kann es einschätzen, es ausmalen, die Grenzen erkennen.

Es fühlte sich vielleicht an, wie wenn man um zwei Uhr morgens im menschenleeren Finanzdistrikt auf Streife geht. Vielleicht – oder vielleicht auch nicht. Woher sollte er es wissen? Der Einzige, der es wusste, war Mickey selbst. Kein Wunder, dass der Mann so krank aussah.

Und was verschaffte einem Zutritt zu diesem Museum der verwüsteten Porträtfotografie? Nichts. Bis man selbst der Sterbende war, kam man nicht hinein. Nichts, nada, nil.

Er blickte hinunter auf die Stelle, an der einmal das Blue Last gestanden hatte. Wie immer, wenn er zu dem Schauplatz eines Verbrechens kam, versuchte er sich vorzustellen, was sich hier abgespielt hatte. Die Gäste im Pub, die paar Extrabiere, mit denen sie sich Mut antranken, die Kameradschaftlichkeit.

Jury konnte sich mühelos vorstellen, wie ein Gebäude um ihn herum einstürzte. Nicht vorstellen konnte er sich, weshalb es ihn verfehlt und dafür seine Mutter begraben hatte. Dabei war das damals nichts Ungewöhnliches.

Und die junge Kitty, die an den wie Streichhölzer aufragenden Gebäuderesten vorbeihastete. Hier ein halbes Haus wegrasiert, dort eins, so dass man in der gelegentlich stehen gebliebenen anderen Hälfte wie in einem Puppenhaus türlose Räume oder ein frei einsehbares Treppenhaus erkennen konnte. Und doch gab es hier und da ein intakt gebliebenes Gebäude, wie zum Trotz unzerstört. Daraus schöpfte das Mädchen die Hoffnung, dass das Pub noch einmal Glück gehabt hatte und auch davongekommen war.

War es aber nicht, und so machte Kitty sich nun daran, ihr eigenes Glück zu schmieden.

3

Auf der Ludgate Hill blieb Jury vor einem Restaurant stehen, das für seine Cappuccino-Bar Reklame machte. Unschlüssig sah er von draußen hinein und dachte dabei an Mickey. Wenn er herausfand, was passiert war und ob Tynedales Enkelin tatsächlich die war, für die sie sich ausgab, würde Mickey dann wieder Bodenhaftung fühlen?

Er ging in das Lokal. Es war leer bis auf die Bedienung und eine dunkelhaarige Frau mit kalten Augen, die an einem Tisch am Fenster saß. Jury nahm am Tresen Platz. Vor dem riesigen Spiegel waren Glasregale angebracht, auf denen sich ein Sortiment an Spirituosen befand, das jedem Pub Ehre gemacht hätte.

Eine hübsche Kellnerin mit großen, dunklen, gefühlvollen Augen kam zu ihm herüber und nahm seine Bestellung auf: Kaffee, einfach schwarz. An wen erinnerte sie ihn? An irgendeine Schauspielerin? Sie brachte den Kaffee, und er nahm einen kleinen Schluck, ein starkes Gebräu, schwarz wie die Sünde, und ließ die Ereignisse des Vormittags noch einmal Revue passieren. Wäre es ein anderer als Mickey gewesen – nein. Hätte Mickey oder sonst jemand ihn unter anderen Umständen darum gebeten, er hätte abgelehnt. Er wollte nicht mehr über den Krieg nachdenken.

»Zu stark, der Kaffee?«, erkundigte sich die Kellnerin mitfühlend, als wäre es allein ihre Schuld.

»Ein bisschen schon, ja.« Er ersetzte seinen vermutlich kaffeeschwarzen Gesichtsausdruck durch ein Lächeln.

»Der steht noch gar nich lang. Ich mein, der is ganz frisch, grade erst gebrüht.« Sie zuckte unmerklich die Achseln. »Unser Kaffee, der is eben so.« Sie starrte die schlimme Tasse an. »Ich könnte ’n bisschen heißes Wasser reintun.« In ihrem Gesicht regte sich leise Hoffnung.

»Nein, aber wissen Sie, was? Geben Sie mir einen Schuss von dem Zeug da.« Er deutete auf das Regal mit den Spirituosen. »Von dem Glen Grant.«

Sie nahm die Flasche herunter, holte ein Whiskyglas unter der Theke hervor und schenkte ein. »Das peppt ihn auf«, sagte sie, während sie ihm das Whiskyglas hinschob.

Jury kippte den Inhalt in die Tasse, nahm einen Schluck und erklärte es für viel besser. Dann fragte er: »Ist es an den Wochenenden immer so leer hier?« Der einzige andere Gast war die Brünette mit dem eisigen Blick. Für Jury sah es so aus, als rauchte sie die letzte Zigarette auf der Welt.

»Ja, das liegt daran, dass hier in der Gegend niemand wohnt, wissen Sie. Ich mein, außer in den Docklands, aber die gehören ja nich richtig zur City.«

»Noch nicht, aber bald. All die neuen Eigentumswohnungen.«

Die Brünette am Fenster machte ihr ein Zeichen, und die Kellnerin ging an ihren Tisch hinüber.

Jury nahm den Umschlag aus der Tasche und legte die Fotos nacheinander auf dem Tresen aus. Er ordnete sie möglichst chronologisch an: das Pub, Kitty Riordin, die junge Alex. Er lächelte. An sie erinnerte ihn die Kellnerin! Er betrachtete Alexandra Herrick mit ihrem Baby Maisie, dann das Jagdflugzeug und den in die Sonne blinzelnden jungen Piloten. Er hielt inne und dachte an seinen Vater. Der war auch bei der Royal Air Force gewesen, hätte diese Spitfire fliegen, sogar ein Freund von Ralph Herrick sein können. Die Gesichter selbst sagten ihm nichts. An das Gesicht seines Vaters konnte Jury sich nicht erinnern – wie alt war er damals gewesen? Aber das Flugzeug, das in Richtung Erde trudelte, hatte er immer vor sich. In Wirklichkeit hatte er es natürlich nicht gesehen, doch im Kopf hatte er es so vor sich, und nichts und niemand hätte an diesem Bild etwas verändern können.

Nachdem seine Mutter gestorben war, kam das Jugendamt, allzeit bereit, wie ein Raubvogel herabzustoßen und wieder ein Kind unter seine Fittiche zu nehmen. Dann kam die Zeit im Waisenhaus – Good Hope, hieß es, Gute Hoffnung. Komisch, dass er sich an dieses Detail erinnerte, so viel anderes aber vergessen hatte. Zuerst hatte ihn ein gütiger Onkel aufgenommen. Nachdem der gestorben war, kam Good Hope. Irgendwie erinnerte er sich, fünf oder sechs Jahre dort gewesen zu sein. Doch als er jetzt versuchte, sich diesen Zeitabschnitt wieder in Erinnerung zu rufen, war er sich absolut nicht mehr sicher – es hätten auch fünf oder sechs Monate gewesen sein können. Er sah eine Reihe schmaler Betten vor sich, deren Laken so straff gespannt waren, dass ein Kind darauf herumhopsen konnte. Er hopste jedoch nicht, sondern saß bloß still in einer Ecke auf seinem eigenen Bett. Er versuchte sich zu entsinnen, ob er mit den Füßen bis zum Boden gereicht hatte, denn das hätte ihm verraten, wie alt er damals war. Wie lang war er dort gewesen?

Er dachte an seine Cousine in Newcastle, die Tochter des freundlichen Paars, der es damals nicht so recht gepasst hatte, dass er zu ihnen kam. Ob seine Cousine, heute wie früher ein verbitterter Mensch, ihm das mit den sechs Jahren eingeredet hatte? Er könnte sie anrufen und fragen. Er könnte auch nach Newcastle fahren und versuchen, Auskunft von ihr zu bekommen. Ihr Mann war der enormen Arbeitslosigkeit in jener Gegend zum Opfer gefallen (»Nietenbude« nannten sie dort das Arbeitsamt), und seine Cousine hatte aus irgendeinem rätselhaften Grund Jury mit dafür verantwortlich gemacht, denn er war ja Superintendent bei New Scotland Yard. Wieso sollte Richard erfolgreich sein und ihr Bert nicht?

Er machte der Kellnerin ein Zeichen, wozu er mit dem Finger erst über dem Whiskyglas, dann über der Kaffeetasse einen Kreis beschrieb. Mit einem Schuss Whisky schmeckte der Kaffee erstaunlich gut, aber was schmeckte damit nicht gut?

Seine Cousine hatte vier Kinder. Er wusste nicht mehr, wie alt sie waren, denn er hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Das letzte Mal war auch an Weihnachten gewesen. Er hatte sie gar nicht besuchen wollen. Nicht weil sie ihn mit ihren Sorgen belasten würde, sondern weil er nur höchst ungern daran erinnert werden wollte, dass ausgerechnet sie seine einzige Verwandte auf der ganzen weiten Welt war. Er beneidete Wiggins um seine Schwester in Manchester.

Die Kellnerin kam mit frischem Kaffee und Whisky. Sie schien sich zu freuen, dass Jury hier eingekehrt war und ihre Zuvorkommenheit ein wenig geschätzt wurde. Jury lächelte sie bestätigend an, obwohl ihn der Whisky eigentlich, was bei Whisky üblicherweise der Fall ist, noch niedergeschlagener und grüblerischer machte und an unschöne kleine Kindheitsszenen denken ließ.

Er sah sich mit acht bis zehn weiteren Kindern an einem großen Esstisch sitzen, an dessen Kopfseite die alte Dame aus Oxfordshire (oder war es Devon?) thronte und alle dazu ermahnte, sich beim Essen wie feine kleine Damen und Herren zu benehmen. Sie hatte soeben das Tischgebet gesprochen, und Jury hatte beim Zuhören den Teller voll bleicher Wurst und Sauerkraut angestarrt, bei dem ihm wie immer schlecht wurde. Er würde sich übergeben müssen, wenn er es aß.

»Richard isst nicht, Richard isst nicht, Miss –«

Wer verspottete ihn da?

»Isst nicht, isst nicht«, tönte die Stimme weiter, und der gesamte Tisch stimmte ein – »Richard isst nicht, isst nicht.« Gewaltiges Löffelklappern schwoll zu voller Lautstärke an, bis die alte Dame schließlich mit der Hand auf den Tisch hieb, um sie zum Schweigen zu bringen (wozu sie ziemlich lange gebraucht hatte) und ihn höchstselbst zum Essen aufforderte. Wer war sie eigentlich? Seine Tante war es nicht, die ihn bei sich und dem Onkel aufgenommen hatte, nachdem seine Mutter bei der Bombardierung ihres Wohnblocks umgekommen war.… Nein … Damals hatte Jury mit Kopf und Schultern kaum über den Tisch gereicht. Er musste also noch sehr klein gewesen sein.

Sein Blick fiel auf die mittlere Aufnahme, die von der Evakuierung. So viele Kinder! Er meinte sein Kindergesicht zu sehen. Das Kind blickte über die Schulter einer unbekannten Frau, während sie es davontrug.

Zwei oder drei andere Jungen waren auch noch dabei gewesen und ein Mädchen – er erinnerte sich noch lebhaft an ihr leuchtendes Haar. Sie war älter als die anderen, vielleicht neun oder zehn, und schien die Anführerin zu sein. Sie marschierten gerade über ein Feld. Die überall aufgestellten Schilder konnte er zwar nicht lesen, doch erkannte er an dem Totenschädel und den gekreuzten Knochen auf einem davon, dass es ein gefährlicher Ort war. Das Mädchen hatte ihnen gesagt, es seien lauter Warnschilder, GEFAHR stünde darauf. Das Feld sei voller Bomben, die noch nicht hochgegangen waren, sagte sie.

»Gehen wir ans Meer!«, schlug sie vor.

Dort lagen sie in der Ferne, das unerbittliche graue Meer und die niedrigen Klippen. Oxfordshire hatte es nicht sein können, sie mussten also im West Country sein – in Devon oder Dorset oder vielleicht in Cornwall. Er fiel zurück, blieb vor einem schiefen Zaun aus Drahtgeflecht und Holz stehen, der in einem langen Stück heruntergebrochen war. Der sollte einen eigentlich von der Gefahrenzone fernhalten, doch sie marschierten einfach darüber. Dort stand er, klein und stämmig, während die anderen zurückschrien: »Richard ist ein Angsthase!«

Er überlegte, wieso seine Mutter ihn bloß dort zurückgelassen hatte. Überall lauerten Gefahren – die Stoppelfelder, das Meer, der lange Esstisch, die grauen Würste, die Spiele. Das rothaarige Mädchen.

Insgeheim hatte er sie wohl beneidet. Sie schien vor nichts Angst zu haben, nicht vor dem Bombenfeld, nicht vor der alten Dame, der das Haus gehörte. »Altes Hutzelweib!«, hatte sie die alte Dame genannt. Das rothaarige Mädchen versetzte ihn in Angst und Schrecken. In Angst und Schrecken.

Auch der Salon der alten Dame – denn dort standen überall Fotos von toten Soldaten. Er wusste, dass einige tot waren, denn um zwei Rahmen hatte sie schwarze Samtbänder drapiert und vor anderen kleine Kerzen aufgestellt. Er verbrachte viel Zeit damit, die Gesichter dieser Männer eingehend zu betrachten, die alle in Uniform und alle jung waren. Ob von den anderen, denen, die noch am Leben sein mussten, wohl einer sein Vater war, fragte er sich. Zumindest einer hätte es sein können, denn er trug die Uniform eines Piloten der Royal Air Force. Vielleicht hatte seine Mutter es hier aufstellen lassen, wo Richard es betrachten konnte, wann immer er wollte.

Der Wildfang, das rothaarige Mädchen, hatte ihnen von den Fotos erzählt, hatte sie sich hinsetzen lassen, während sie sie nacheinander hochhob und ihnen erzählte, wer der Abgebildete war. Als sie zu dem kam, der sein Vater hätte sein können, rutschte er vom Stuhl und erzählte allen, wer dieser Jagdflieger war. Sie lachten und lachten.

»Dann ist er tot! Piloten sterben viel öfter, weil es gefährlicher ist!«

Nicht wahr, schrie Richard. Er steuerte immer noch sein Flugzeug.

»Es ist abgestürzt –« Ihre Hand beschrieb eine Spiralbewegung in Richtung Boden.

Richard war außer sich. Er hätte die Wut, die nun in ihm hochstieg, genauso wenig beherrschen können, wie er die Hurricane hätte fliegen können – er ging auf sie los. Das laute Geschrei alarmierte die alte Dame. Das Mädchen kreischte, und die alte Dame stürzte sich auf die beiden ineinander verkeilten Gestalten, riss Richard weg und hätte ihn um ein Haar in den kalten Kamin geschleudert.

»Was geht hier vor? Was ist los?«

»Nichts«, hatte das rothaarige Mädchen gesagt. »Wir spielen bloß.«

Immerhin, dachte er jetzt, hatte es damals einen gewissen Ehrenkodex gegeben. Untereinander mochten sie streiten, gegen die alte Dame standen sie jedoch zusammen. Von Schluchzern und Wut geschüttelt, hatte er im Bett gelegen. Später hatte er sich in den Salon geschlichen, das Foto des Fliegers geschnappt, der vielleicht sein Vater war, und es mit hinauf in sein Zimmerchen genommen. Er hatte an seinem Dachgaubenfenster gestanden und in den schwarzen, mit Sternen übersäten Himmel geschaut. Dabei hatte er sich ausgemalt, wie sie explodierten und sich in silberne Trümmerstücke verwandelten, und sich gefragt, ob das Flugzeug seines Vaters jetzt wohl dort oben war. Die Spiralbewegung fiel ihm wieder ein, die die Hand des rothaarigen Mädchens gemacht hatte, bis auf den Fußboden hinunter. Seinem Vater würde das nicht passieren. Manche Menschen werden von Gott wie an Strippen hochgehalten, und sein Vater war sicher einer davon.

An das alles hatte Jury schon lange nicht mehr gedacht. Mickey hatte es ihm mit seinen Fotos wieder ins Gedächtnis gerufen – und mit dem Rätsel um Maisie Tynedale. Er nahm die Aufnahme mit dem Jagdgeschwader und erinnerte sich an die Abwärtsspirale ihrer Hand. Was wohl aus ihr geworden war, fragte er sich, aus dem Mädchen mit dem flammend roten Haar.

Er spürte eine hauchzarte Berührung an der Wange und blickte auf. Die Kellnerin hatte sein Gesicht mit einer Serviette oder vielleicht ihrem eigenen Taschentuch berührt.

»Es is bloß die eine Träne.« Mit einem unsicheren Lächeln streckte sie ihm das Taschentuch hin.

Er erwiderte ihr Lächeln. »Ich weine doch nicht etwa, oder?«

Sie hob die Flasche Glen Grant in die Höhe, die sie zusammen mit der Kaffeekanne gebracht hatte, und er nickte und hielt ihr sein Whiskyglas hin, dann schob er die Tasse hinüber. »Danke.«

Mit einer leichten Kopfbewegung zu den Fotos vor ihm auf dem Tresen sagte sie: »Es sind wahrscheinlich die traurigen Bilder. Sehen aus, wie wenn sie alt wären, die Fotos.«

»Sind sie auch.« Er drehte das von Alexandra Tynedale und ihrem Baby herum, damit die Kellnerin es sehen konnte. »Ich überlege schon die ganze Zeit, an wen Sie mich erinnern.« Er tippte mit dem Finger auf den Schnappschuss. »An sie.«

Die Kellnerin lächelte. »Man sagt mir immer, ich seh aus wie Vivien Leigh. Das war so eine Schauspielerin, is schon lang her. Ich kenn bloß Fotos von ihr, ihre Filme hab ich nie gesehen. Erinnern Sie sich an sie? War sie wirklich so schön?« Sie errötete, weil sie damit nicht hatte sagen wollen, sie selbst sei schön.

»O ja, ich erinnere mich gut an sie. Ja, sie war so schön. Wie Sie.«

Das Mädchen errötete noch mehr. »O …« Mit einer lässigen Handbewegung wischte sie das Kompliment beiseite. Dann fragte sie: »War es eine Freundin von Ihnen?« Sie deutete mit dem Kopf auf die Aufnahmen.

»Nein. Das sind nicht meine Bilder.«

Oho, und ob.

Jury leerte die Kaffeetasse in einem Schluck, legte mehr als genug Geld auf den Tresen und wandte sich zum Gehen. Die Brünette mit dem eisigen Blick saß immer noch da und steckte sich gerade wieder eine Zigarette zwischen die Lippen. Die von vorhin war also erst die vorletzte Zigarette auf der ganzen Welt gewesen.

Und diese war nun die letzte.

4

Der Hund Stone war noch vor Carol-Anne Palutski in Jurys Wohnzimmer, legte sich vor Jurys Ohrensessel nieder und schlief ein. Jury fand Hunde schon erstaunlich.

Allerdings nicht so sehr, wie Carol-Anne Palutski ihn erstaunte. Sie stand in der Tür, angetan mit einem kurzen Kleidchen in knalligem Blau. Wortlos hielt er die Tür ein Stückchen weiter auf. Sie trat ein.

Er wusste nicht, wieso sie auf seiner Schwelle gezögert hatte, denn sie ließ sich umgehend auf sein Sofa plumpsen. Unsichtbare Fäden schienen Carol-Anne von Ort zu Ort zu ziehen, als wollte jeder Raum ein Kostpröbchen von ihr haben.

»Es ist Samstagabend, und ich glaub kaum, dass Sie ins Neun-Eins-Neun runter wollen?«

Dort hatte Stan Keeler immer seinen Gig, wenn er zu Hause war. Zu Hause hieß, in der Wohnung direkt über Jury. »Warum denn so defätistisch? Seit wann ist Stan wieder da?«

»Seit gestern Abend. Sie waren aber nicht hier«, fügte sie vorwurfsvoll hinzu.

Die Wohnung im zweiten Stock hatte aufgrund von Carol-Annes hausmeisterlichen Fähigkeiten jahrelang leer gestanden. Sie hatte den Eigentümer überredet, sie mit der Vermietung zu betrauen, um Gesindel fernzuhalten, wobei sie unter Gesindel weibliche Wesen verstand, verheiratete Paare und sämtliche Männer, die ihren Maßstäben nicht entsprachen. So war es im Oberstock also still gewesen, bis Stan Keeler mit seiner Gitarre und seinem Hund Stone eingezogen war, einem karamellfarbenen Labrador, der sich nun über Jurys Füße drapierte und von endlos weiten Feldern träumte.

Carol-Anne erinnerte ihn ein wenig an das rothaarige Mädchen, obwohl das Rot von Carol-Annes Haar mehr mit Gold durchmischt war. Außerdem saß das Herz in ihrem herrlichen Körper genau am rechten Fleck.

Sie legte die Füße auf den mit Zeitungen und Zeitschriften übersäten Beistelltisch, nahm sich ein Exemplar von Time Out und begann es durchzublättern. Dann meinte sie gähnend: »Soll ich das ›nicht so defätistisch‹ als Ja auffassen?«

Er fand ihre zur Schau gestellte Gleichgültigkeit einfach köstlich. »Ja.«

»Gut. Also etwa um elf?« Das Neun-Eins-Neun kam immer erst kurz vor Mitternacht richtig in Fahrt. Sie schaute wieder stirnrunzelnd in das Veranstaltungsmagazin. »Ich weiß gar nicht, warum Sie es kaufen. Sie gehen ja sowieso nirgendwo hin.«

»Tu ich doch. Ich gehe sogar viel weg. Sie sind eben nicht dabei, wenn ich was unternehme.« Den Kopf an die Rückenlehne seines Sessels gestützt, war er sich wohl bewusst, dass sie ihn eingehend musterte. Ein geheimes Leben?, dachte sie wohl. Das machte ihr nämlich zu schaffen.

»Wohin denn?«

»In die City, zum Beispiel, wo ich übrigens heute war. Um einen alten Freund zu besuchen, in den Pubs vorbeizuschauen, den Coffeeshops. Überall. Habe eine nette Kellnerin getroffen, wirklich hübsch.« Sie musterte ihn neugierig. Jury lächelte. Carol-Anne schien sich manchmal nicht sicher zu sein, ob dieser Jury vor ihren türkisblauen Augen vielleicht einmal einfach verschwinden würde. »Sie würden staunen, was ich manchmal alles anstelle. Auch wenn Sie jenseits dieser vier Wände kein Leben für mich sehen« – im Starrdust in Covent Garden hatte Carol-Anne einen Job als Wahrsagerin – »führe ich doch ein recht ereignisreiches.« Daraufhin tischte er ihr eine wilde Geschichte von einem Fall auf, den er gerade aufgeklärt hatte, wobei er seine eigene Rolle heftig überzeichnete. Ihrem erschrockenen Blick nach hätte es ihn nicht gewundert, wenn er für sie allmählich mehr Mythos als Mensch war.

»Was für eine Kellnerin?«, sagte sie.

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