Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In den Übersetzungen der Romane von Proust, Balzac und Daudet durch Ernst Weiß zeigt sich sowohl sein sprachliches Talent als auch der Themengleichklang zu seinen eigenen Werken. Die Romane wurden behutsam der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst und sprachlich für ein modernes Publikum adaptiert.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 558
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Manfred Müller
Die Übersetzungen von Ernst Weiß
Proust, Balzac und Daudet übersetzt von Ernst Weiß
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Marcel Proust: Tage der Freuden (1926)
Alphonse Daudet: Tartarin von Tarascon (1872)
Honoré de Balzac: Oberst Chabert (1832)
Editorial
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Gedankenvolle Kindheit der Violante
Sinnenwelt
Liebesschmerzen
Die Weltlust
Die Geliebten des Fabrice
Die Freundinnen der Comtesse Myrto
Heldémone, Adelgise, Ercole
Der Treulose
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 1
Kapitel 2
Gegen eine Snobdame
Für eine Snobdame
Oranthe
Gegen die Freimütigkeit
Kapitel 1
Szenario
Der Fächer
Olivian
Masken und Gestalten der mondänen Komödie
Von Bouvard und Pécuchet
Weltlichkeit
Melomanie
Die Beichte eines jungen Mädchens
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 1
Nach dem Diner
Tuilerien
Versailles
Spaziergang
Die Familie hört Musik
Kapitel 5
Kapitel 6
Reliquien
Kapitel 1
Kapitel 2
Tränen fließen aus vergangenen Liebesschmerzen
Flüchtige Wirksamkeit von Kummer
Lob der schlechten Musik
Begegnung am Ufer des Sees
Der Fremde
Traum
Bilder in der Art von Erinnerungen
Meereswind in der Ebene
Die Perlen
Gestade des Vergessens
Wahre Gegenwart
Sonnenuntergang von innen betrachtet
Dem Mondschein gewidmet
Kritik der Hoffnung am Lichte der Liebe
Unterholz
Die Kastanienbäume
Meer
Marine
Segel im Hafen
Das Ende der Eifersucht
Plato
Kapitel 2
Kapitel 3
Alphonse Daudet: Tartarin aus Tarascon
I. Der Garten mit dem Baobab
II. Generalübersicht über die gute Stadt Tarascon und die Mützenjäger
III. Nöt! Nöt! Nöt! – Fortsetzung der Generalübersicht über die gute Stadt Tarascon
IV. Euch!
V. Tartarins Gang in den Klub
VI. Die zwei Tartarins
VII. Die Europäer in Schanghai – der Welthandel – Die Tataren – Tartarin aus Tarascon ein Bluff? – Die Spiegelung
VIII. Die Menagerie Mitaine – Ein Löwe aus dem Atlas in Tarascon. – Furcht- und schauervolle Begegnung
IX. Höchst sonderbare Wirkungen der Spiegelung
X. Vor der Abreise
XI. Degenstiche, meine Herren, Degenstiche, aber bitte keine Nadelstiche!
XII. Was in dem kleinen Hause mit dem Baobab gesprochen wurde
XIII. Die Abreise
XIV. Der Hafen von Marseille. – An Bord! An Bord!
I. Die Überfahrt – Die Chechia in fünffach verschiedener Positur – Der Abend des dritten Tages – Erbarmen!
II. Auf, auf, zu den Waffen! Zu den Waffen!
III. Anrufung des heiligen Cervantes – Ausgeschifft! – Die Törken, wo sind sie? Keine Törken nicht! Enttäuschung
IV. Dieses ist der erste Streich
V. Piff, paff, puff
VI. Das Weibchen zeigt sich. – Furchtbarer Kampf. – Wo sich die Karnickel »Guten Tag« sagen
VII. Ein Omnibus, ein Arabermädchen und ein Rosenkranz, geschmückt mit Jasmin
VIII. Löwen vom Atlas, ihr könnt ruhig sein!
IX. Der Prinz Gregory von Montenegro
X. Sag' an den Namen deines Vaters mir, so nenn' ich den Namen des Blümchens dir!
XI. Sidi Tart'ri ben Tart'ri
XII. Man schreibt uns aus Tarascon
I. Postkutschen in der Verbannung
II. Ein kleines Herrlein geht vorbei
III. Ein Löwenkloster
IV. Die Karawane marschiert
V. Auf dem Anstand nachts in einem Oleandergehölz
VI. Endlich!
VII. Pech und nochmals Pech
VIII. Tarascon! Tarascon!
Honoré de Balzac - Oberst Chabert
Die Werke von Ernst Weiß in chronologischer Reihenfolge
Literaturwissenschaftliche Bücher von Manfred Müller
Literaturklassiker
Marcel Proust: Tage der Freuden
Der Tod des Baldassar Sylvandre, Freiherrn von Sylvanie
Violante oder die Weltlichkeit
Emerson
Verlorene Weihekerzen
Snobs
Weltlichkeit und Melomanie
Das große Diner
Trauer und Träume in allen Regenbogenfarben
Mondscheinsonate
Erster Teil.
Zweiter Teil. Bei den Törken
Dritter Teil. Bei den Löwen
Impressum neobooks
Ernst Weiß (1882-1940) ist vor allem als Romancier und als Verfasser der Werke „Der Aristokrat“, „Der Augenzeuge“, „Georg Letham“ und „Der arme Verschwender“ bekannt. Auch als Freund und Wegbegleiter Franz Kafkas findet er immer wieder Erwähnung.
Eher unbekannt sind aber seine Arbeiten im Bereich der Dramen und der Literaturkritik. Zudem hat Ernst Weiß mehrere Bücher ins Deutsche übersetzt und somit so namhafte Schriftsteller wie Proust und Balzac den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern nähergebracht.
Die vorliegende Sammlung vereint insgesamt drei dieser Übersetzung zum ersten Mal in einem Band und stellt so eine aufschlussreiche Ergänzung zum Romanwerk diesem in weiten Kreisen leider immer noch nicht sehr bekannten Literaten dar.
Stellt man sich die Frage, warum Ernst Weiß gerade diese Texte ausgewählt hat, so kommt man bei den Inhalten der hier drei vorgestellten Texten schnell zu diese Erkenntnissen:
Eine wichtige Rolle nimmt in diesem Roman die Mutter ein. Das ist sicherlich ein Aspekt, der auch in Weiß‘ Privatleben von Bedeutung war. Ernst Weiß pflegte seine Mutter bis zu deren Tod und hatte eine enge Bindung zu ihr. In Texten wie „Nahar“ nimmt er dieses Motiv auch wieder auf und schildert die Tiger-Mutter als kämpfende Verteidigerin ihrer Jungen.
Auch die Auseinandersetzung mit einer snobistischen Gesellschaft, fehlender Anerkennung („Der arme Verschwender“) und die Darstellung von Wandel in psychischer und psychologischer Ausprägung („Franta Zlin“, „Die Feuerprobe“) sind Themen und Motive, die sich nicht nur in den hier in Klammern exemplarische genannten Werken von Ernst Weiß finden lassen.
Gerade in seiner expressionistischen Zeit in den 20er-Jahren lassen sich einige weitere Beispiele für die Darstellungsart und die thematische Aufbereitung der genannten Punkte finden („Tiere in Ketten“).
Das Motiv und die Gestalt des Don Quijote hat Ernst Weiß ebenso zeitlebens beschäftigt wie die Literatur des Cervantes überhaupt. In Daudets Roman findet diese Figur nun Eingang in die Beschreibung des Tartarin von Tarascon. Dieser Tartarin ist eine Symbiose aus Ritter Don Quichote und dem Diener Sancho Pansa aggregiert in einer einzigen Person. Das Schwanken zwischen Aufbruch zu Abenteuern und dem Rückzug in Ruhe und Beschaulichkeit zeigt dann auch die Ausprägung der beiden Charaktere.
Es gibt eine Textsammlung, in der Ernst Weiß in Anlehnung an Don Quichote, der „Ritter von der traurigen Gestalt“, als „Dichter von der traurigen Gestalt“ bezeichnet wird. Bei aller Diskussionswürdigkeit der schriftstellerischen Bewertung von Ernst Weiß in dieser Sammlung, so finde ich doch, dass der Titel etwas sehr Treffendes hat und so auch eine gute Brücke zwischen der literarischen Figur und dem Autor schlägt.
Die Bewunderung für Balzac, die Ernst Weiß empfunden hat, manifestiert sich in vielen Texten und Kritiken. Die stärkste Ausprägung dieser Wertschätzung ist sicherlich Weiß‘ Roman „Männer in der Nacht“, der ausdrücklich Balzac gewidmet ist. Weitere namentliche Widmungen ließ Weiß auch Stefan Zweig und Thomas Mann zuteilwerden, was den Stellen wert von Balzac noch einmal zusätzlich unterstreichen mag.
Die Geschichte des Oberst Chabert nunmehr zeigt vor allem die Konfrontation eines lauteren Menschen mit einer skrupellosen und gemeinen Welt. Der Untergang ist vorprogrammiert. In Teilen finden sich diese Anleihen dann auch im „Georg Letham“, der neben allem offensichtlichen Hamletischen auch die Konfrontation mit seiner Umwelt, mit dem Gelbfieber ertragen muss und der zum Ende zwar nicht untergeht, aber buchstäblich in der Menge verschwindet.
Auch Darstellungen aus der realen, teilweise banalen und trivialen Welt ist Ernst Weiß nicht fremd und findet Eingang in sein schriftstellerisches Tun. Die Kriminalreportage „Der Fall Vukobrankovics“ kann hierfür in seiner nüchternen Darstellung einer Verhandlung über eine Giftmörderin als Beispiel dienen. Auch die Umstände, die in dem Drama „Tanja“ dargestellt werden, zeigen Ernst Weiß‘ Sichtweise, dass große Veränderungen und Wirkungen aus kleinen und trivialen Dingen entstehen können.
Wie in den Belegen mit Ernst Weiß‘ eigenen Texten deutlich geworden ist, so sind die Bücher, die er ins Deutsche übersetzt hat, auch thematisch mit seinem eigenen Schaffen verbunden. Vor dem Hintergrund weiterer Übersetzungstätigkeiten von Weiß, hat hier eine Beschränkung auf diejenigen Bücher stattgefunden, die im Original auf Französisch erschienen waren.
Die hier zusammengetragenen Texte wurden behutsam der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst.
Manfred Müller, im Januar 2019
Manfred Müller ist Magister der Literaturwissenschaft und hat seine Abschlussarbeit über die Gewaltdarstellung und deren epistemologischen Dimensionen in Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ geschrieben. Seine Dissertation über „Die normative Ethik im Spätwerk von Ernst Weiß“ ist zurzeit noch nicht abgeschlossen.
Am Ende des Buches findet sich auch eine umfangreiche Bibliographie zur Primärliteratur von Ernst Weiß, die vor allem auch die Editiergeschichte einzelner Werke in mehreren, teils sehr unterschiedlichen Fassungen transparenter macht.
Apoll, so melden die Poeten, hütete jeden Tag die Herden des Admet; jeder Mensch ist auch ein verkleideter Gott, der den Narren spielt.
»Herr Alexis, weinen Sie doch nicht so! Vielleicht bekommen Sie vom Herrn Baron von Sylvandre ein Pferd geschenkt.«
»Ein ganz großes, Beppo, oder ein Pony?«
»Vielleicht wird es ein großes Pferd wie das des Herrn Cardenio. Aber weinen Sie doch nicht so ... an Ihrem dreizehnten Geburtstag!«
Die Aussicht, ein Pferd zu bekommen, und der Gedanke, dass er dreizehn Jahre alt war, machten Alexis' Augen durch die Tränen aufleuchten. Aber er war noch nicht getröstet, denn er musste seinen Onkel Baldassar Sylvandre, Freiherrn von Sylvanie, besuchen. Er hatte ihn allerdings schon öfter gesehen seit dem Tage, an dem er gehört hatte, die Krankheit seines Onkels sei unheilbar. Aber wie hatte sich alles seitdem geändert!
Baldassar hatte sich über seine Krankheit völlige Klarheit verschafft und wusste, dass er höchstens noch drei Jahre zu leben hatte. Alexis konnte natürlich nicht begreifen, dass diese kummervolle Gewissheit seinen Onkel nicht getötet oder in den Wahnsinn getrieben hatte. Er fühlte sich nicht stark genug, den Schmerz zu ertragen, wenn er ihn sah. Er war durchaus überzeugt, dass er dann mit ihm von seinem nahen Ende sprechen müsse. Wie sollte er sich die Stärke zutrauen, den Onkel zu trösten oder wenigstens das Schluchzen in seiner Kehle zu unterdrücken? Er hatte seinen Onkel immer verehrt, fast angebetet. Für ihn war er der größte, der schönste, der jüngste, der feurigste und gütigste von allen Verwandten. Er liebte seine grauen Augen, seinen blonden Schnurrbart, seine Knie; dies war für den Knaben der tiefe und wonnige Zufluchtsort, solange er noch ganz klein war. Damals waren die Knie ihm uneinnehmbar erschienen wie eine Festung, von der einen Seite belustigend wie Holzpferde, von der andern unverletzlich wie ein Tempel. Alexis, der an seinem Vater die dunkle, strenge Kleidung offenkundig missbilligte und von einer Zeit der Zukunft träumte, in welcher er, stets zu Pferde, eine Eleganz wie eine Dame und eine Pracht wie ein König entfalten wollte, sah in Baldassar das höchste Ideal, das er sich von einem Manne bilden konnte. Sein Onkel war schön, das wusste Alexis, und er selbst sah ihm ähnlich. Und dann war sein Onkel klug, großherzig, seine Macht war mindestens ebenso groß wie die eines Bischofs oder eines Generals. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er zwar aus dem Urteil seiner Eltern auch herausgehört, dass der Freiherr nicht ganz ohne Fehler war. Er hatte noch nicht vergessen, wie furchtbar zornig der Onkel hatte werden können, als sein Vetter Jean Galéas sich über ihn lustig gemacht hatte, und er dachte daran, wie das Aufflackern seiner Augen den Triumph seiner befriedigten Eitelkeit verraten hatte, als der Herzog von Parma ihm die Hand seiner Schwester anbieten ließ. (Der Oheim hatte damals, um nur ja seine Freude nicht offen zu zeigen, die Zähne zusammengebissen und eine Grimasse geschnitten, die ihm zur Gewohnheit geworden war und die Alexis missfiel.) Er erinnerte sich noch des Tons der Verachtung, mit dem er zu Lucretia sprach, als sie eingestand, seine Musik nicht zu lieben.
Des Öfteren spielten seine Eltern auf andere Handlungen seines Onkels an, die er nicht kannte, aber die er heftig tadeln hörte.
Aber jetzt waren alle Fehler Baldassars und seine banale Grimasse verschwunden. Wie sehr mussten die Spötteleien von Jean Galéas, die Freundschaft des Herzogs von Parma und seine eigene Musik einem Manne gleichgültig geworden sein, der sich dessen bewusst war, dass er in zwei Jahren vielleicht schon unter der Erde sein würde. Alexis stellte sich ihn vor, genauso schön, aber viel feierlicher und noch vollkommener, als er es vorher gewesen. Ja, feierlich und nicht mehr ganz von dieser Welt. Daher kam zu seinem trostlosen Leid noch ein wenig Unruhe und Schaudern. Die Pferde waren seit langem angeschirrt, man musste aufbrechen; so stieg er denn in den Wagen. Aber er verließ ihn wieder, um seinen Erzieher um einen allerletzten Rat zu fragen. Kaum hatte er begonnen zu reden, als er tief errötete.
»Herr Legrand, darf mein Onkel merken oder nicht, dass ich weiß, dass er sterben muss?«
»Nein, er soll nichts merken, Alexis!«
»Aber wenn er davon spricht?«
»Er wird nicht davon sprechen.«
»Er wird nicht davon sprechen?« sagte Alexis betroffen. Das war die einzige Möglichkeit, die er nicht vorausgesehen hatte. Denn sooft er sich den Besuch bei seinem Onkel in der Phantasie ausgemalt hatte, hatte er ihn über den Tod mit der Sanftheit eines Priesters sprechen gehört.
»Ja, aber wenn er doch davon spricht?«
»Dann sagen Sie ihm, dass er sich täuscht.«
»Und wenn ich weine?«
»Sie haben heute Morgen schon zu viel geweint, Sie werden in seiner Gegenwart nicht weinen.«
»Ich werde nicht weinen?« rief Alexis verzweifelt aus. »Dann muss er ja glauben, dass ich keinen Kummer fühle, dass ich ihn nicht mag... mein lieber armer Onkel...« Und er brach in Tränen aus. Seine Mutter mochte nicht länger geduldig warten, sie kam, um ihn zu holen, und die Reise ging los.
Alexis traf im Vorraum einen grün- und weißlivrierten Diener, der auf den Knöpfen der Livree das Wappen von Sylvanien trug, und übergab ihm seinen kleinen Mantel. Nun blieb er mit seiner Mutter einen Augenblick stehen und lauschte dem Geigenklang, der aus einem Nachbarzimmer drang. Dann führte man sie in einen sehr großen, runden Saal, der ganz verglast war und in dem der Freiherr sich oft aufhielt. Man sah gleich beim Eintritt das Meer vor sich; man musste nur den Kopf wenden, um Rasenplätze, Wiesen und Wälder zu erblicken. In der Tiefe des Gemaches gab es zwei Katzen, ferner Rosen, Mohnblumen und viele Musikinstrumente.
Sie warteten einen Augenblick.
Alexis stürzte sich auf seine Mutter, sie dachte, er wolle sie küssen, aber er flüsterte ihr zu, seinen Mund an ihr Ohr gepresst: »Wie alt ist mein Onkel?«
»Er wird im Juni sechsunddreißig Jahre alt.«
Er wollte fragen: »Glaubst du, dass er jemals sechsunddreißig Jahre alt wird?«, aber er wagte es nicht.
Eine Tür ging auf, Alexis zitterte, ein Diener sagte: »Der Herr Baron erscheint sofort.«
Bald kam der Diener wieder und ließ zwei Pfauen und ein Zicklein herein, die der Freiherr immer bei sich hatte. Dann hörte man wieder Schritte, die Tür öffnete sich noch einmal. Es ist nichts, sagte sich Alexis. Sein Herz schlug jedes Mal höher, sooft er ein Geräusch hörte. Es ist wahrscheinlich nur ein Diener, ja, es kann nichts anderes sein als ein Diener. Aber in diesem Augenblick hörte er eine sanfte Stimme: »Guten Tag, mein kleiner Alexis, ich wünsche dir Glück zum Geburtstag.« Aber sein Onkel machte ihm Angst, als er ihn umarmte, was unvermeidlich war. Nachher beschäftigte er sich nicht weiter mit dem Knaben, er wollte ihm Zeit lassen, sich zu beruhigen, und begann nun lustig mit Alexis' Mutter, seiner Schwägerin, zu plaudern. Seit dem Tode seiner Mutter war sie der Mensch, den er am meisten auf der Welt liebte.
Jetzt hatte sich Alexis gefasst und fühlte nur noch eine große Zärtlichkeit für diesen jungen Mann, der immer noch so bezaubernd war, der kaum blasser schien als zuvor und der sein Leiden so heldenhaft trug, dass er in dieser tragischen Minute eine Komödie der Lustigkeit spielen konnte. Er hätte sich ihm gern an den Hals geworfen, aber er wagte es nicht. Denn er fürchtete, er könne die Energie seines Onkels lähmen, und wie sollte er sich dann noch beherrschen? Vor allem war es der traurige, sanfte Blick des Freiherrn, der ihm Sehnsucht nach Tränen gab. Alexis wusste, diese Augen waren nie anders als traurig, und selbst in den glücklichsten Augenblicken schienen sie um einen Trost zu flehen für Schmerzen, die lange schon vergangen waren. Aber in diesem Augenblick war sich Alexis bewusst, die Traurigkeit seines Onkels (mit aller Tapferkeit aus dem Gespräch verbannt) habe sich in die Augen geflüchtet, die mit seinen abgemagerten Wangen allein die Wahrheit sprachen.
»Ich weiß, dass du gern einen Wagen mit zwei Pferden fahren würdest, mein kleiner Alexis«, sagte Baldassar, »man wird dir morgen ein Pferd bringen. Zum nächsten Jahr werde ich das Paar vervollständigen, und in zwei Jahren werde ich dir den Wagen schenken. Aber vielleicht könntest du dieses Jahr immerhin das Pferd reiten, wir werden es nach meiner Rückkehr ausprobieren. Denn ich bin entschlossen, morgen zu reisen«, sagte er, »aber nicht auf lange. In kaum einem Monat will ich zurück sein, und wir werden zusammen in die Vormittagsaufführung gehen, weißt du, und das Schauspiel ansehen, wie ich es dir versprochen habe.«
Alexis wusste, dass sein Onkel einige Wochen bei einem Freunde verbringen wollte, auch wusste er, dass es jenem noch erlaubt war, ins Theater zu gehen; aber wenn er vor diesem Besuch bei dem Onkel von niederschmetternden Todesgedanken durchdrungen war, so empfand er doch jetzt bei seinen Worten ein tiefes und schmerzliches Erstaunen.
Ich will nicht hingehen, sagte er sich. Denn nur unter Qualen würde sein Onkel das Witzereißen der Schauspieler und das Lachen der Zuschauer anhören können.
»Was war denn das für eine hübsche Melodie, die du spieltest, als wir hereinkamen?« fragte Alexis' Mutter.
»Ah, findest du sie hübsch?« sagte Baldassar freudig erregt. »Es ist die Romanze, von der ich dir sprach.«
Ist das echt? fragte sich Alexis. Kann der Beifall, den man seiner Musik zollt, ihm noch Freude machen?
In diesem Augenblick nahm das Gesicht des Freiherrn den Ausdruck tiefen Schmerzes an; seine Wangen erblassten, er zog die Lippen und Brauen zusammen, seine Augen füllten sich mit Tränen.
Mein Gott, schrie es in Alexis, diese Rolle geht über seine Kraft. Mein armer Onkel! Aber warum hat er solche Angst, uns traurig zu machen? Warum bezwingt er sich so sehr?
Aber schon war der Anfall der allgemeinen Lähmung verflogen. Manchmal konnten diese Schmerzen Baldassar mit einer eisernen Rüstung von derartiger Gewalt zusammenpressen, dass sein Körper Wundmale trug und dass unter ihrer Wucht sein Gesicht sich unwillkürlich zur Fratze verzerrte, wie eben jetzt.
Trotzdem trocknete er die Augen und begann sich von neuem gutgelaunt zu unterhalten.
»Es scheint, der Herzog von Parma ist seit einiger Zeit nicht mehr so liebenswürdig gegen dich«, bemerkte Alexis' Mutter ungeschickt genug.
»Der Herzog von Parma«, rief Baldassar wütend aus, »der Herzog von Parma und weniger liebenswürdig als vorher? Aber, meine Liebste, wohin versteigen sich deine Gedanken? Noch heute Morgen hat er mir geschrieben und mir sein Schloss in Illyrien zur Verfügung gestellt, falls die Gebirgsluft mir wohltun sollte.« Er erhob sich schnell, aber damit erweckte er von neuem den schauderhaften Schmerz und musste einen Augenblick stehenbleiben; kaum hatte sich der Schmerz beruhigt, als er rief: »Bringen Sie mir den Brief, der neben meinem Bette liegt.« Nun las er eilig und voller Leben: »Mein lieber Baldassar, ich kann gar nicht sagen, wie sehr Sie mir fehlen usw. usw.« In dem Maße, als sich dann die Liebenswürdigkeit des Prinzen strahlender enthüllte, wurde auch Baldassars Gesicht friedlich, und es begann sogar aufzuleuchten in glücklicher Zuversicht. Plötzlich fiel es ihm offenbar ein, es sei besser, eine Freude zu verbergen, die ihm nicht viel Ehre machte, deshalb presste er die Zähne zusammen und machte die hübsche, banale, kleine Grimasse, die Alexis für immer aus diesem todbeschatteten Antlitz verbannt glaubte.
Diese kleine Grimasse, die ganz so wie früher den Mund Baldassars kräuselte, diese Grimasse öffnete Alexis' Augen. Denn er hatte, seit er bei seinem Onkel war, geglaubt (und er wollte es auch so), er werde das Gesicht eines Sterbenden vor sich sehen, das aller vulgären Wirklichkeit entrückt war und dessen Mund nur noch ein Lächeln hätte umschweben dürfen, ein Lächeln, heldenhaft sich selbst abgezwungen, traurig und liebevoll, himmlisch und entzaubert zugleich. Jetzt zweifelte Alexis nicht mehr daran, dass die Neckereien eines Jean Galéas seinen Onkel ganz ebenso wie früher in Wut bringen konnten, er war überzeugt, dass in der Heiterkeit des Kranken, in seinem Wunsch, ins Theater zu gehen, weder Heuchelei noch Heroismus zum Ausdruck kamen und dass selbst in der unmittelbaren Nähe des Todes Baldassar nicht einen Augenblick aufgehört hatte, an das Leben zu denken.
Auf dem Heimweg war Alexis tief betroffen bei dem Gedanken, auch er würde eines Tages sterben; und wenn er persönlich auch sehr viel mehr Zeit vor sich hatte als sein Onkel, so würden doch keinesfalls der alte Gärtner Baldassars und seine Base, die Herzogin von Aléncourt, diesen lange überleben. Und doch: obwohl Rocco, der Gärtner, reich genug war, um sich zurückzuziehen, arbeitete er doch ununterbrochen weiter, um noch mehr Geld zu verdienen, und bemühte sich, einen Preis in der Ausstellung für seine Rosen zu gewinnen. Die Herzogin (trotz ihrer siebzig Jahre) gab sich große Mühe, sich zu schminken, und bezahlte den Zeitungen Artikel, worin man die Jugendlichkeit ihres Ganges, die Eleganz ihrer Empfänge und die Gepflegtheit ihres Tisches und ihres Geistes in den höchsten Tönen feierte.
Diese Beispiele waren nicht dazu angetan, das Staunen zu mindern, in das die Haltung seines Onkels ihn versetzt hatte: sie ließen ihn vielmehr noch viel tiefer betroffen sein, dies Staunen griff immer weiter um sich, steigerte sich zur massiven Verblüffung über den allgemeinen Skandal all dieser Existenzen (wobei er seine eigene nicht ausnahm), denn es waren Existenzen, die im Krebsgang dem Tode näher rückten, ohne das Leben aus den Augen zu lassen. Er war entschlossen, eine so empörende Verirrung nicht nachzuahmen, und entschied sich dahin, nach dem Beispiel der alten Propheten, von deren Ruhm man ihm erzählt hatte, sich mit einigen seiner kleinen Freunde in die Wüste zurückzuziehen. Bald machte er hiervon seinen Eltern gebührende Mitteilung. Doch zu seinem großen Glück bot ihm das Leben, dessen kräftige und milde Milch stärker war als aller Spott, die Brust, um ihn davon abzubringen. Er sog in vollen Zügen, mit freudenvoller Gier, während seine leichtgläubige und reiche Phantasie naiv die Klagen anhörte und großzügig den schlechten Nachgeschmack wieder abzuschwächen strebte.
Am Tage nach Alexis' Besuch war der Freiherr von Sylvanie nach einem Nachbarschloss verreist, in welchem er drei Wochen verbringen wollte und wo die Anwesenheit zahlreicher Gäste die Traurigkeit, die seinen Krisen folgte, zerstreuen konnte.
Bald erschienen ihm alle Freuden des Lebens vereinigt in der Gesellschaft einer jungen Frau, die sie ihn doppelt tief empfinden ließ, indem sie diese mit ihm teilte. Es war ihm, als empfände er etwas wie Liebe für sie, doch blieb er ihr gegenüber zurückhaltend. Er kannte sie als vollkommen tugendhaft, und im Übrigen erwartete sie ungeduldig die Ankunft ihres Gatten; und dann war er nicht sicher, ob er sie wahrhaft liebe, er ahnte in der Tiefe seines Herzens, wie sündhaft es wäre, sie zum Bösen zu verführen. Von wann an ihre Beziehungen zueinander sich gewandelt hatten, konnte er sich niemals entsinnen. Doch jetzt küsste er ihr wie nach einer gemeinsamen Übereinkunft (deren Ursprung er nicht feststellen konnte) die Handgelenke und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie schien so glücklich, dass er eines Abends mehr tat: er begann sie zu küssen, dann streichelte er sie lange, um sie dann von neuem zu küssen, ihre Augen, ihre Wange, ihre Lippen, ihren Hals und die Flügel ihrer Nase. Der Mund der jungen Frau kam seinen Küssen lächelnd entgegen, und ihre Augen leuchteten in den Tiefen wie stilles Wasser in der Sonne. Die Liebkosungen Baldassars wurden kühner: nun blickte er sie einen Augenblick an; er erschrak vor ihrer Blässe, vor der grenzenlosen Verzweiflung, die ihre tote Stirn ausdrückte, vor ihren herzzerreißenden, müden Augen, vor den Blicken, die trauriger als Tränen weinten, denn es war, als wenn sie die Tortur der Kreuzigung erlitte oder unwiderruflich ein geliebtes Wesen verlieren sollte. Er betrachtete sie einen Augenblick; und da, in der höchsten Anspannung, erhob sie ihre flehenden Augen zu ihm, während gleichzeitig ihr gieriger Mund in einer unbewussten, krampfhaften Bewegung nach neuen Küssen wieder verlangte. Beide wurden von der Woge der Lust fortgerissen, die zwischen ihnen, in dem Duft ihrer Küsse und der Erinnerung ihrer Liebkosungen schwebte, nun stürzten sie sich aufeinander, von jetzt an schlossen sie die Augen, die die Verzweiflung ihrer Seelen enthüllten: sie wollten einander nicht sehen. Er war der erste, der die Augen schloss, mit aller Kraft, wie ein Henker, der von der Reue gepackt wird und der fühlt, dass sein Arm mitten im Schlage zittern müsste, wenn er seinem Opfer (statt es in seiner Wut noch aufreizender sich zu denken und dann mit aller Gewalt diese Wut an ihm zu befriedigen), wenn er seinem Opfer einen Augenblick ins Antlitz blicken und einen Augenblick lang den Schmerz dieses Wesens teilen müsste.
Die Nacht war gekommen, und noch war die Geliebte in seinem Zimmer, die Augen traurig und tränenlos. Wortlos ging sie, seine Hand mit leidenschaftlicher Traurigkeit küssend.
Doch er konnte nicht schlafen. Hatte er sich auf einen Augenblick beruhigt, dann fasste ihn ein neuer Schauer, wenn er die flehenden, verzweifelten Augen des sanften Opfers auf sich gerichtet fühlte. Plötzlich sah er sie vor sich, wie sie schlaflos dalag und sich unsagbar einsam fühlte. Er kleidete sich an, ging leise bis zu ihrem Zimmer, wagte kein Geräusch zu machen, um sie nicht zu wecken, wenn sie schliefe; aber ebenso wenig fand er den Mut, in sein eigenes Zimmer zurückzukehren, wo Himmel und Erde und seine Seele ihn mit ihrem Gewicht erdrückten. Er blieb da, an der Schwelle des Zimmers der jungen Frau, und fühlte in jedem Augenblick, nun sei seine Kraft am Ende, und er müsse zu ihr. Dann erschreckte ihn der Gedanke, dass er dieses sanfte Vergessen zerstören sollte (denn sie schlief mit tiefem Atmen, dessen sanftes Gleichmaß er fühlte). Weshalb sie grausam der Reue und Verzweiflung ausliefern, während sie jetzt sich in den Schlaf geflüchtet hatte? So blieb er denn an der Schwelle, er saß, er kniete, manchmal lag er da. Am Morgen kehrte er in sein Zimmer zurück, verfroren und beruhigt; schlief lange und erwachte ausgeruht und voller Wohlbefinden.
Sie sannen beide auf Mittel, um ihr Gewissen zu beruhigen, sie gewöhnten sich an die Reue, die schwächer und schwächer wurde, an die Freude, die auch an Glanz abnahm, und als er nach Sylvanien zurückkehrte, blieb ihm wie ihr von diesen brennenden und grausamen Augenblicken nur noch ein sanftes, etwas kühles Gedenken.
Seine Jugend macht so viel Lärm;
er hört nichts.
Mme. de Sévigné
Als Alexis an seinem vierzehnten Geburtstag seinen Onkel Baldassar besuchte, fühlte er nicht, wie erwartet, noch einmal das heftige Ergriffensein des vergangenen Jahres.
Die vielen langen Ritte auf dem Pferd, welches der Onkel ihm geschenkt hatte, hatten seine Körperkräfte straff entwickelt, seine Schlaffheit überwunden. Jetzt durchströmte ihn die ununterbrochene Empfindung von Gesundsein, die sich der Jugend hinzugesellt als das unklare Bewusstsein der unermesslichen Tiefe ihrer tausend Quellen und der Macht ihrer frischen Freude. Er fühlt im Winde, den sein Galopp erweckt, die Brust einem Segel gleich sich spannen, sich ausweiten, er fühlt den Körper aufglühen, gleich einem Winterfeuer. Wie kühl streicht es um die Stirn, wie sanft berühren die fliehenden Blätter den Vorbeijagenden! Er fühlt, wie dieser Körper dann daheim unter dem kalten Wasser stramm wird – um dann zu schlafen, lange, in genießerischem Verdauen. So steigerte er in sich die lebendigen Kräfte des Daseins, die einst auch Baldassars unruhvoller Stolz gewesen waren. Nun aber hatten sie sich von jenem auf immer geschieden, um jüngere Seelen zu erfreuen, welche sie doch auch eines Tages verlassen mussten.
Keine Faser in Alexis konnte mit der Schwäche seines Onkels zugrunde gehen, nichts in ihm konnte mitsterben bei Baldassars baldigem Tod. Das Blut sauste zu freudevoll in seinen Adern, seine Wünsche brausten zu jugendfroh in seinem Kopfe. Wie sollte er das Klagen, das Verlöschen des Kranken hören? Alexis war mitten in der glutvollen Periode, wo der Leib mit so kräftiger Energie daran arbeitet, seine Paläste zwischen dem Ich und der Seele aufzubauen, bis diese Seele endlich ganz verschwunden zu sein scheint. Aber verschwunden bloß bis zu dem Augenblick, da Krankheit oder Leid in langsamer Arbeit die schmerzhafte Spalte gebohrt haben, an dessen Ende sie wiedererscheint. Er hatte sich an die tödliche Krankheit seines Onkels gewöhnt, wie an alles, was rings um uns dauert. Obwohl Baldassar noch lebte, hatte er Alexis einmal zu Tränen gerührt, wie uns die Toten weinen lassen. So spielte er in Alexis' Dasein nur die Rolle eines Abgeschiedenen, denn Alexis begann ihn zu vergessen.
Als sein Onkel ihm an diesem Tage sagte: »Mein kleiner Alexis, ich schenke dir den Wagen gleichzeitig mit dem zweiten Pferd«, hatte er verstanden, dass sein Onkel dachte: »Denn sonst kann es so werden, dass du den Wagen niemals bekommst«, und er wusste, dass es ein sehr trauriger Gedanke war. Aber er empfand ihn nicht so, denn im gegebenen Augenblick gab es in ihm keinen Raum für tiefen Schmerz.
Einige Tage danach machte beim Lesen folgende Szene großen Eindruck auf ihn: Es war die Schilderung eines Bösewichts, den auch die ergreifendsten Zärtlichkeiten eines Sterbenden, der anbetend zu ihm empor sah, nicht rühren konnten.
Am Abend hatte er Angst, er selbst sei der Bösewicht, in dessen Gestalt er sich wiederzuerkennen glaubte; diese Angst ließ ihn nicht einschlafen. – –
Der Freiherr von Sylvanie konnte nun nur noch mit Mühe gehen, er entfernte sich gar nicht mehr aus dem Schloss. Seine Freunde und Verwandten verbrachten den ganzen Tag mit ihm; nun konnte er die tadelnswertesten Tollheiten bekennen, die dümmste Verschwendung gestehen, die widersprechendsten Paradoxien loslassen, das abscheulichste Laster aufweisen, ohne dass seine Verwandten ihm Vorwürfe zu machen oder seine Freunde sich einen Witz, einen Widerspruch zu erlauben wagten. Es schien, als sei man stillschweigend übereingekommen, ihn von jeder Verantwortlichkeit für seine Handlungen zu entbinden. Vor allem machte es den Eindruck, als wollte man ihn verhindern, das letzte Knarren und Ächzen seines sterbenden Körpers mit eigenen Ohren zu vernehmen, und deshalb hüllte man ihn fast mit Gewalt in Watte oder versuchte durch Liebkosungen dies Schwere zu überwinden.
Er durfte jetzt lange und reizvolle Stunden tête-à-tête mit sich selbst verbringen, mit dem einzigen Gast, den er während seines Lebens zum Abendessen einzuladen vergessen hatte. Er fand seine melancholische Freude daran, seinen leidenden Körper aufzuputzen, seine Ergebung an das Fenster zu lehnen und das Meer zu betrachten. Rings um seine Todesszene setzte er einen Kreis von Bildern dieser Welt, von der er noch ganz erfüllt war, welche ihm aber die Entfernung (die ihren Scheidestrich dazwischen gesetzt hatte) schon mit unbestimmter Schönheit schmückte; und so glich diese Todesszene, im Voraus ausgedacht, aber andauernd weiter retuschiert, einem Kunstwerk, ganz erfüllt von der heißesten Trauer. Schon erstand in seiner Phantasie sein Abschied von der Herzogin von Oliviane, seiner großen platonischen Freundin, deren Salon er beherrschte, obwohl die größten Herren, die berühmtesten Künstler und Literaten Europas dort versammelt waren. Es war ihm, als läse er schon die Beschreibung ihrer letzten Unterhaltung: »... Die Sonne war schon untergegangen, und das Meer, das man durch die Zweige der Apfelbäume erblickte, war malvenfarbig. Kleine rosenrote und blaue Wölkchen schwebten am Horizont, so zart wie lichte welke Kränze, immer wechselvoll wie Klagen. Eine melancholische Reihe von Pappeln tauchte im Dunkel unter, ihre ergebenen Wipfel versanken, in einem Rosa leuchtend, wie es die Scheiben alter Kirchen haben. Die letzten Strahlen konnten nicht bis zu ihren Stämmen durchdringen und färbten bloß ihre Äste, die schattenhaften Balustraden mit Lichtgirlanden behängend. Die Brise vereinte den Duft von Meer, von feuchtem Blattwerk und von Milch. Nie war die Landschaft von Sylvanien tiefer mit wollüstiger Glut und mit der Wehmut des sanften Abends durchtränkt.«
»Ich habe Sie sehr geliebt, aber ich habe Ihnen wenig gegeben, mein armer Freund«, sagt sie zu ihm.
»Was sagen Sie, Oliviane? Sie mir wenig gegeben? Sie haben mir tausendmal mehr gegeben, als ich je erbeten habe, und wahrhaftig unvergleichlich mehr, als wenn die niederen Sinne ihren Anteil an unserer Zuneigung gehabt hätten. Sie waren nicht von dieser Welt, waren hoch wie eine Madonna, sanft wie eine Amme, so habe ich Sie angebetet, so haben Sie mich auf Ihren Armen gewiegt. Ich habe Sie mit einer Zuneigung geliebt, deren zartfühlende Klarheit durch keine Hoffnung auf Sinnenfreude getrübt wurde. Sie brachten mir dafür eine unvergleichliche Freundschaft, einen auserwählten Tee, ein Gespräch voll natürlicher Schönheit und frische Rosen – weiß ich noch, wieviel? ... Sie allein haben mit mütterlich beredten Händen meine im Fieber brennende Stirn kühlen können, haben Honig zwischen meine vertrockneten Lippen geflößt und schöne, edle Bilder in mein Leben gebracht.
Liebe Freundin, geben Sie mir Ihre Hände, ich möchte sie küssen ...«
Es gab für ihn nichts mehr auf der Welt als die Gleichgültigkeit Pias, einer kleinen Syrakuser Prinzessin, die er mit allen Sinnen und von ganzem Herzen liebte (sie aber war in unversiegbarer, toller Leidenschaft zu Castruccio entbrannt), diese Gleichgültigkeit war es, die ihn von Zeit zu Zeit an eine rauere Wirklichkeit erinnerte. Er bemühte sich, diese Wirklichkeit schnell zu vergessen. Noch in den letzten Tagen hatte er sich mit ihr auf Festen gezeigt, so glaubte er seinen Rivalen zu demütigen; aber auch dort sah er, wenn sie an seinem Arme ging, in ihren tiefen Augen nur den Widerschein einer Liebe zu dem andern; und wenn sie sie ihm verbarg, so war es nur aus Mitgefühl mit dem Kranken. Und nun konnte er sogar das nicht mehr. Seine Beine gehorchten ihm so wenig, dass er sich nicht mehr öffentlich zeigen konnte. Doch besuchte sie ihn oft, und als sei sie in die große Sanftheitsverschwörung der andern eingeweiht und aufgenommen, wandte sie sich stets zu ihm mit besonderer, sinnreich ausgedachter Zärtlichkeit, die niemals, wie früher sonst, vom Schrei ihrer unwilligen Kälte oder von dem Geständnis ihres Zornes Lügen gestraft wurde. Ihre Sanftheit war anders als die aller übrigen Menschen, er fühlte sie als tiefe Beruhigung über sich dahinströmen, und so wurde er von ihr beglückt.
Als er sich aber eines Tages von seinem Stuhl erhob, um zu Tisch zu gehen, sah sein Diener in höchstem Erstaunen ihn viel besser gehen. Der Kranke ließ den Arzt kommen, der sich noch nicht entscheiden wollte. Am nächsten Tage ging er gut. Nach acht Tagen erlaubte man ihm auszugehen. Grenzenlose Hoffnung erfüllte seine Eltern und Verwandten. Der Arzt glaubte, eine einfache, heilbare Nervenkrankheit habe die Merkmale der allgemeinen Lähmung vorgetäuscht, und nun seien sie im Schwinden begriffen. Er teilte Baldassar seine Ansicht (noch zweifelte er im Grunde) als Gewissheit mit und sagte ihm: »Sie sind gerettet!« Der zum Tode Verurteilte war freudig ergriffen, als man ihm das Leben schenkte. Nach einiger Zeit hatte sich sein Befinden noch mehr gebessert, und eine scharfe Unruhe begann unter seiner Freude durchzubrechen, die durch diese kurze Gewohnheit schon abgeschwächt war.
Er war geschützt gewesen vor den Unbilden des Lebens, er hatte in einer gütigen Atmosphäre von Liebe und Wärme gelebt, von willensstarker Ruhe und frei schweifenden Gedanken, und da war im tiefsten, dunkelsten Seelengrunde die Sehnsucht nach dem Tode emporgekeimt. Noch ahnte er dies nicht, er fühlte nur eine unbestimmte Angst bei dem Gedanken, er müsse wieder zu leben beginnen, er müsse von neuem die Schläge des Schicksals, die er nicht mehr gewöhnt war, auf sich nehmen und müsse auf die Zärtlichkeiten, mit denen man ihn umgeben hatte, verzichten. Auch begriff er unklar, wie schlecht es war, sich in Freude oder in Taten zu verlieren, nun, da er sich kennengelernt hatte, sich, den brüderlichen Fremden. Während er die Boote das Meer durchfurchen sah, hatte er viele unbeschreibliche Stunden mit diesem Ich verplaudert, so weit entfernt, aber immer im Zauberkreise dieses »Ich« befangen. Es war ihm, als fühle er jetzt die Nostalgie, die Heimatsehnsucht nach dem Tode, und doch war der Tod ihm damals als ewige Stätte der Verbannung erschienen, als er sich damals dorthin gerufen fühlte.
Er äußerte bei irgendeiner Gelegenheit einen Gedanken, und Jean Galéas, der ihn als geheilt ansah, widersprach ihm heftig, lachte ihn aus. Seine Schwägerin, die ihn zwei Monate lang morgens und abends besucht hatte, kam zwei Tage lang nicht. Das war zu viel! Er war schon zu sehr des normalen Lebenslaufes entwöhnt, er wollte ihn nicht wiederaufnehmen! Denn dies Leben hatte ihn nicht mit seiner reizvollsten Seite zurückerobert.
Aber seine Kräfte kehrten wieder und mit ihnen alle seine Lebenslust: er ging aus, begann wieder zu leben, und seiner Existenz stand ein zweites Sterben bevor. Nach einem Monat erschienen die Symptome der allgemeinen Lähmung wieder. Nach und nach, wie schon das erste Mal, wurde ihm das Gehen erst schwerer und dann unmöglich, und alles schritt so deutlich fort, dass er sich an seine Rückkehr zum Tode gewöhnen und nur Zeit gewinnen konnte, den Kopf zu wenden. Der Rückfall hatte nicht die Wirkung des ersten Anfalles; denn am Ende des ersten Anfalles hatte er begonnen, sich vom Leben zu lösen, nicht, um es in seiner Wirklichkeit zu umfassen, sondern um es anzusehen wie ein Bild. Jetzt war alles ins Gegenteil gewandelt; er zeigte sich immer eitler, aufbrausender, denn unerträglich brannte in ihm das Verzichtenmüssen auf Freuden, die er nicht mehr genießen konnte.
Nur seine Schwägerin, an der er zärtlich hing, brachte seinem Ende etwas Freude. Sie kam mehrmals am Tage und Alexis mit ihr.
Als sie eines Nachmittags zum Freiherrn fuhr, gingen kurz vor dem Ziele ihre Pferde durch: sie wurde heftig zu Boden geschleudert, von einem vorbeigaloppierenden Mann überritten und bewusstlos, mit einer riesigen Schädelwunde, zu Baldassar getragen.
Der Kutscher, der nicht verwundet war, brachte sofort die Nachricht des Unfalles dem Freiherrn, der sie erblassend empfing. Er hatte die Zähne zusammengebissen, seine Augen brannten und traten aus den Höhlen, und in einem fürchterlichen Wutausbruch beschimpfte er den Kutscher lange; doch es schien, als wollten diese brutalen Ausbrüche nur ein schmerzvolles Rufen verbergen, das sich, sobald die Ausbrüche schwiegen, leise vernehmen ließ. Es war, wie wenn ein Müder, ein Kranker neben dem wutentbrannten Vicomte sein Leid klagte. Bald deckte diese Klage, die so schwach begonnen hatte, ihren Mantel über das Schreien seiner Wut, und er brach schluchzend auf einem Stuhl zusammen.
Er wollte sich das Gesicht waschen lassen, um seine Schwägerin nicht durch die Spuren seines Schmerzes zu beunruhigen. Der Diener schüttelte traurig den Kopf; die Kranke hatte das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Der Freiherr verbrachte zwei verzweifelte Tage und Nächte bei seiner Schwägerin. Sie konnte jeden Augenblick sterben. In der zweiten Nacht unternahm man einen äußerst kühnen Eingriff. Am Morgen des dritten Tages war das Fieber gesunken, und die Kranke lächelte Baldassar an, der seine Tränen nicht mehr halten konnte und vor Freude sich ausweinte. Als der Tod nach und nach zu ihm gekommen war, hatte er ihn nicht sehen mögen. Nun war er Angesicht zu Angesicht vor ihm gestanden. Der Tod hatte ihn mit Grauen erfüllt, als er das bedrohte, was Baldassar am teuersten war; doch dieser hatte ihn angefleht und hatte ihn gerührt.
Er fühlte sich stark und frei, stolz in dem Bewusstsein, sein eigenes Leben sei ihm nichts gegen das seiner Schwägerin, und er wusste in sich ebenso viel Verachtung für den Tod wie Mitleid mit der geliebten Frau.
Jetzt war es der Tod, dem er ohne Schleier ins Auge sah, und nicht die Szenen, die sein Ableben umgaben. So wollte er bis zum Ende bleiben, wollte nicht von der Lüge wiederergriffen werden, die ihm für den Preis einer schönen und feierlichen Sterbeszene alles entweiht und in den Staub gezogen hatte, die Geheimnisse seines Todes beschmutzend, wie sie ihn um die Geheimnisse seines Lebens betrogen hatte.
Morgen, und morgen, und dann wieder morgen,
Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag
Zur letzten Silb' auf unserm Lebensblatt;
Und alle unsre Gestern führten Narrn
Den Pfad des stäub'gen Tods. – Aus! kleines Licht! –
Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild,
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühn' und dann nicht mehr
Vernommen wird; ein Märchen ist's, erzählt
Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,
Das nichts bedeutet. –
Shakespeare, Macbeth
Die Aufregung und die Ermüdung Baldassars während der Krankheit seiner Schwägerin hatten den Lauf seines Leidens beschleunigt. Er hatte soeben von seinem Beichtvater erfahren, dass er nur noch einen Monat zu leben habe; es war zehn Uhr morgens, und es regnete in Strömen. Ein Wagen hielt vor dem Schloss. Es war die Herzogin Oliviane. Einst hatte er sich kunstvoll die Szene seines Todes ausgeschmückt:
»... Es wird ein heller Abend sein. Die Sonne ist gerade untergegangen, und das Meer, welches man durch die Zweige der Apfelbäume erblickt, wird malvenfarben sein. Kleine rosenrote und blaue Wölkchen werden am Horizont schweben, so zart ...«
Es war zehn Uhr morgens, der Himmel niedrig und schmutzig, der Regen goss in Strömen, als die Herzogin Oliviane kam. Er war ermüdet durch seine Krankheit, bereits einer höheren Welt ganz hingegeben; da fühlte er die Anmut der Dinge nicht, die ihm früher als der höchste Preis, als der Zauber und der feinste Triumph des Lebens erschienen waren. So ließ er der Herzogin sagen, er sei zu schwach. Sie wollte darauf bestehen, aber er mochte sie nicht empfangen. Es geschah nicht einmal aus dem Gefühl der Pflicht; sie bedeutete ihm nichts mehr. Schnell war es dem Tode gelungen, diese Sklavenbande zu lösen, die er vor einigen Wochen noch gefürchtet hatte. Er versuchte an sie zu denken, aber sah nichts vor sich erscheinen; denn die Augen seiner Phantasie und seiner Eitelkeit waren geschlossen.
Trotzdem konnte kurz vor seinem Tode eine Bemerkung über einen Ball bei der Herzogin von Bohême seine wütende Eifersucht erwecken. Denn auf diesem Ball sollte Pia mit Castruccio, der am folgenden Tag nach Dänemark fuhr, den Kotillon führen. Er bat, man möge Pia kommen lassen; seine Schwägerin war nicht ganz dafür. Er glaubte, man wolle ihn verhindern, sie zu sehen, man verfolge ihn, er geriet in Wut, und um ihn nicht zu quälen, ließ man sie sofort holen.
Als sie ankam, war er vollkommen ruhig, aber tief traurig. Er zog sie an sein Bett und sprach sofort von dem Ball der Herzogin von Bohême. Er sagte ihr:
»Wir beide waren nicht verwandt, Sie werden nicht um mich Trauer tragen, aber ich habe doch eine Bitte an Sie: Gehen Sie nicht zu diesem Ball, versprechen Sie mir das.« Sie sahen sich in die Augen, zeigten einander ihre Seelen, die aus den Kreisen ihrer Augensterne strahlten, ihr leidenschaftliches Gefühl, das auch der Tod nicht hatte vereinen können.
Er verstand ihr Zögern, zog die Lippen schmerzlich zusammen und sagte sanft: »Bitte, versprechen Sie nichts! Sie müssen ein Versprechen halten, wenn Sie es einem Sterbenden gegeben haben. Wenn Sie Ihrer nicht sicher sind, versprechen Sie nichts!«
»Ich kann es Ihnen nicht versprechen, ich habe ihn seit zwei Monaten nicht gesehen und werde ihn vielleicht nie wiedersehen; ich werde mich in Zeit und Ewigkeit nicht darüber trösten können, dass ich nicht auf diesem Ball war.«
»Sie haben recht, da Sie ihn lieben, da man sterben kann ... und da Sie noch in Ihrer ganzen Jugendkraft leben ... Aber – doch sollen Sie etwas für mich tun; von der Zeit, die Sie auf diesem Ball verbringen, sparen Sie für mich die Minuten ab, die Sie, um nicht aufzufallen, mit mir dort hätten verbringen müssen. Laden Sie meine Seele ein, ein paar Augenblicke Ihrer zu gedenken, und ich bitte Sie um einen Gedanken an mich.«
»Ich wage kaum, es Ihnen zu versprechen, der Ball ist so kurz. Ich will ihn nicht einen Augenblick verlassen, kaum reicht die Zeit für mich, ihn zu sehen. Ich werde Ihnen an allen folgenden Tagen einen Augenblick schenken.«
»Sie können es nicht, Sie werden mich vergessen; aber wenn ... nach einem Jahr, oder vielleicht schon früher, ein trauriges Buch, ein Regenabend Sie an mich erinnert, welche Wohltat würden Sie mir damit erweisen. Ich werde Sie nie, nie mehr wiedersehen können ... nur in meiner Seele, und dann müssen wir in der gleichen Minute aneinander denken. Ich werde immer an Sie denken, damit die Tore meiner Seele Ihnen immer offenstehen, wenn Sie eintreten wollten. Aber wird die Erwartete lange auf sich warten lassen? Die Blumen auf meinem Grabe werden im Novemberregen verfault sein, und der Juni wird sie verbrannt haben, und noch immer wird meine Seele vor Ungeduld weinen. Ach, ich hoffe, dass eines Tages der Anblick eines Erinnerungszeichens oder die Wiederkehr eines Jahrestages oder der natürliche Fluss Ihrer Gedanken Ihr Gedächtnis in die Nähe meiner Zärtlichkeit leiten wird. Dann wird es sein, als hätte ich Sie gehört, erblickt, eine Zauberhand wird rings Blumen streuen, um Sie zu empfangen. Denken Sie an den Toten. Aber ach! Wie kann ich hoffen, dass der Tod und Ihr Ernst das fertig bringen, was das Leben mit seinen Gluten, was unsere Tränen und unsere guten Einfälle, was unsere Lippen nicht vermocht haben.«
»Sieh hier das edle Herz, das
bricht.«
»Gut Nacht, du liebenswerter Prinz!
Mögen Schwärme von Engeln unter
himmlischem Gesang deinen Schlaf in
Ruhe wiegen!«
Shakespeare, Hamlet
Ein heftiges Fieber, von Delirien begleitet, verließ den Freiherrn nicht mehr; man hatte sein Bett in dem großen runden Gemach untergebracht, in welchem Alexis den Kranken an seinem dreizehnten Geburtstage gesehen hatte; damals war er noch so lustig gewesen. Von hier aus konnte er gleichzeitig auf das Meer und die Hafenmole und von der andern Seite her auf die Wiesen und Wälder blicken. Manchmal begann er zu sprechen, aber seine Worte trugen nicht mehr das Siegel der hohen Gedanken, die ihn während der letzten Wochen heimgesucht und geläutert hatten. Unter gewaltigen Verwünschungen gegen ein unsichtbares Wesen, das seiner spottete, wiederholte er ununterbrochen, er sei der größte Tonkünstler des Jahrhunderts und der mächtigste Grandseigneur der ganzen Welt. Dann, plötzlich beruhigt, befahl er seinem Kutscher, ihn in eine Kneipe zu führen oder seine Pferde zur Jagd zu satteln. Er bat um Schreibpapier, um alle Machthaber Europas zu seiner Hochzeit mit der Schwester des Herzogs von Parma zu Tisch zu laden; er war außer sich vor Schreck, weil er eine Spielschuld nicht begleichen konnte, er nahm das neben seinem Bett liegende Papiermesser und zückte es gegen sich, wie einen Revolver. Er sandte Boten aus, um sich zu erkundigen, ob der Schutzmann, den er in der vergangenen Nacht niedergeschlagen hatte, nicht gestorben sei, und rief lachend einer Person, deren Hand er zu halten glaubte, unzüchtige Worte zu. Die mächtigen, wachehaltenden Engel, die man Wille und Gedanke nennt, waren nicht mehr da, um die bösen Geister seiner Sinnlichkeit und die schmutzigen Dünste seines Gedächtnisses in den Schatten zurückzuzwingen. Nach drei Tagen erwachte er gegen fünf Uhr wie aus einem bösen Traum, für den man nichts kann, dessen man sich aber dumpf erinnert. Er erkundigte sich danach, ob Freunde oder Verwandte bei ihm gewesen seien in diesen Stunden, in denen er nur dem niedersten Teil seines Selbst, dem ältesten und totesten, Ausdruck gegeben hatte, und bat, falls er nochmals vom Fieberwahn befallen würde, alle sofort hinauszuschicken und nur dann wieder hereinzulassen, wenn er das Bewusstsein wiedererlangt habe.
Er blickte um sich durch das Zimmer und betrachtete lächelnd seine schwarze Katze, die, auf eine Chinavase geklettert, mit einer Chrysantheme spielte und an der Blume roch mit der Geste eines Komödianten. Er ließ alle hinausgehen und unterhielt sich lange mit dem Priester, der bei ihm wachte. Doch weigerte er sich, das heilige Sakrament zu nehmen, und bat den Arzt, dem Priester zu sagen, der Magen sei nicht mehr imstande, die Hostie zu vertragen. Nach einer Stunde ließ er seine Schwägerin und Jean Galéas herbeirufen. Er sagte: »Ich habe mich in Gottes Willen ergeben, ich bin glücklich, zu sterben und vor ihm zu erscheinen.« Die Luft war so milde, dass man die Fenster öffnete, die auf das Meer hinausgingen, ohne dass sie es spiegeln durften, und da der Wind zu heftig war, ließ man die gegenüberliegenden geschlossen, vor denen die Wiesen und die Wälder sich ausbreiteten.
Baldassar ließ sein Bett an das offene Fenster schieben. Ein Boot lief aus, gezogen von Matrosen, die auf der Mole das Schleppseil hinter sich her zerrten. Ein hübscher Schiffsjunge von ungefähr fünfzehn Jahren stand vornübergebeugt am äußersten Rande; bei jeder Welle dachte man, er müsste ins Wasser fallen, doch er stand fest auf seinen kräftigen Beinen. Er spannte das Netz, um die Fische heranzuziehen, und klemmte eine Pfeife zwischen seine Lippen, die der Wind mit Salz würzte. Und derselbe Wind, der die Segel spannte, kühlte Baldassars Wangen und wirbelte ein Stück Papier im Zimmer umher. Baldassar wandte den Kopf fort, um das fröhliche Bild der Freuden nicht mehr sehen zu müssen, die er leidenschaftlich geliebt hatte und nun nicht mehr genießen sollte. Er sah nach dem Hafen; ein Dreimaster machte sich segelfertig.
»Das ist das Schiff, das nach Indien geht«, sagte Jean Galéas.
Baldassar konnte die Menschen nicht erkennen, die auf dem Verdeck mit Tüchern winkten, aber er ahnte die Sehnsucht nach Unbekanntem, die in ihren Augen leuchtete; sie hatten noch so viel Leben vor sich, sie konnten noch so vieles erkennen und fühlen. Man lichtete den Anker, ein Schrei brach los, und das Boot bewegte sich wiegend auf dem dunklen Meer, hin nach dem Okzident, wo eine goldene Dämmerung kleine Boote und Wolken in einer gemeinsamen Hülle umfasste und von wo dem Reisenden unwiderstehliche, geheimnisvolle Versprechen zugeflüstert wurden.
Baldassar ließ die Fenster auf dieser Seite des runden Saales schließen und die andern öffnen, die auf Wiesen und Wälder blickten. Er betrachtete die Felder. Immer noch hörte er den Abschiedsschrei, den die Leute auf dem Dreimaster ausgestoßen hatten, und sah den Schiffsjungen, die Pfeife zwischen den Zähnen, der seine Netze auswarf.
Die Hand Baldassars bewegte sich im Fieber.
Plötzlich hörte er einen silbernen Ton, kaum recht zu vernehmen und tief heimlich wie das Schlagen eines Herzens. Es war das Läuten der Glocken in einem sehr weit entfernten Dorfe, das dank der an diesem Abend außergewöhnlich klaren Luft und der günstigen Brise viele Meilen weit über Täler und Flüsse hierher geschwebt war, um bis zu ihm zu gelangen und von seinem sicheren Ohr aufgenommen zu werden. Es war eine alte und doch sehr nahe Stimme; und nun hörte er sein Herz in tiefstem Einklang mit ihrem harmonischen Aufschwung schlagen, stockend, wenn sie den Ton einzuziehen schien, dann ausatmend mit ihm, schwer und getragen erst und dann schwächer und schwächer. Zu allen Zeiten seines Lebens hatte ihn, seitdem er einmal den fernen Klang der Glocken gehört hatte, ihr sanftes Tönen bezwungen, er erinnerte sich der milden Weise des Abends; wieder war er ein kleiner Junge, der durch die abendlichen Felder in das Schloss zurückkehrt.
In diesem Augenblick ließ der Arzt alle ans Bett treten und sagte:
»Es ist das Ende!«
Baldassar ruhte mit geschlossenen Augen. Sein Herz lauschte den Glocken, die seine vom nahen Tode verschlossenen Ohren nicht mehr vernahmen. Er sah seine Mutter, wie sie ihn küsste, wenn er heimkam, und ihn dann abends ins Bett legte, die seine Füße zwischen ihren Händen wärmte und bei ihm blieb, wenn er nicht einschlafen konnte; er erinnerte sich seines Robinson Crusoe und der Abende im Garten, wenn seine Schwester sang, der Worte seines Erziehers, der voraussagte, er würde ein berühmter Musiker werden, und der Rührung seiner Mutter, die sie vergebens zu verbergen suchte. Nun war keine Zeit mehr, die leidenschaftlichen hohen Erwartungen seiner Mutter und seiner Schwester, die er grausam getäuscht hatte, zu verwirklichen. Er sah die große Linde wieder, unter der er sich verlobt hatte, und den Tag, an dem er seine Verlobung gelöst – und nur seine Mutter hatte es verstanden, ihn zu trösten. Er glaubte seine alte Pflegerin zu umarmen und seine erste Geige im Arm zu haben. Dies alles sah er in einer lichterfüllten, traurigen, sanften Ferne wieder, es war eine Ferne wie die, auf welche die Fenster nach dem Felde blickten, ohne sie zu sehen.
Er sah dies alles wieder, und trotzdem waren noch nicht zwei Sekunden vergangen, seitdem der Arzt sich über sein Herz gebeugt und gesagt hatte: »Es ist das Ende!«
Er richtete sich auf und sagte:
»Es ist zu Ende!«
Alexis, seine Mutter und Jean Galéas und der Herzog von Parma, der eben gekommen war, knieten nieder. Die Dienstboten weinten im Vorraum hinter der offenen Tür.
[Oktober 1894]
»Habt wenig Umgang mit jungen Leuten und mit Personen aus der großen Welt ... sehnt euch nicht danach, vor den Großen dieser Welt zu erscheinen.«
Nachfolge Christi 1, 8. V.
Die Gräfin von Steyer war eine vornehme und zärtliche Seele; ihr ganzes Wesen war durchdrungen von einer unbeschreiblich bezaubernden Anmut. Der Graf, ihr Herr Gemahl, war geistig außerordentlich lebhaft, und die Züge seines Gesichts musste man in ihrer Regelmäßigkeit bewundern. Aber der erstbeste Grenadier von der Straße verfügte über mehr Zartgefühl und weniger Banalität. Diese Eltern erzogen nun fern von der Welt auf ihrem bäuerlichen Gute von Steyer ihre Tochter Violante, die, schön und voller Leben wie ihr Vater, warmherzig und geheimnisvoll berückend wie ihre Mutter, alle Eigenschaften ihrer Eltern in der vollendeten Harmonie ihres Wesens zu vereinen schien. Aber die wechselnden Wünsche ihres Herzens und ihrer Gedankenwelt begegneten in ihrer Seele keiner gleichstarken Willenskraft, und diese allein hätte sie sicher leiten können, ohne sie zu hemmen. Eine solche Willenskraft hätte verhindert, dass diese Regungen des Herzens und des Kopfes aus ihr nur ein charmantes und zerbrechliches Spielzeug machten. Dieser Mangel machte der Mutter Violantes viel Unruhe, die mit der Zeit hätte gute Früchte tragen können, wenn nicht die Gräfin durch einen Jagdunfall zugleich mit ihrem Gatten zugrunde gegangen wäre und Violante im Alter von fünfzehn Jahren als Waise zurückgelassen hätte. Nun lebte Violante fast allein, unter der zwar wachsamen, aber doch recht schwerfälligen Aufsicht des alten Augustin, der ihr Hofmeister und zugleich der Intendant des Schlosses von Steyer war. Violante, der die Freunde fehlten, machte aus ihren Träumen wundersame Gefährten, denen sie dann ihr ganzes Leben treu zu bleiben versprach. Sie führte sie denn auch spazieren in den Alleen des Parkes, ließ sie durch die Landschaft streifen und hieß sie sich mit den Ellbogen auf die Terrasse stützen, die als Abschluss des Gutes auf das Meer hinausging. Sie wurde von diesen Träumen wie über sich selbst herausgehoben, von ihnen in den geheimen Kreis eingeweiht, und so fühlte sie das Sichtbare in seiner ganzen Fülle und ahnte ein wenig das, was die irdischen Augen nicht sehen. Ihr Frohsinn kannte keine Grenzen, von Zeit zu Zeit schwebte Traurigkeit über sie hin und milderte die helle Freude in süße Wehmut.
»Stützet euch ja nicht auf ein Rohr, das der Wind bewegt, noch auch bauet darauf; denn jegliches Fleisch ist wie die Pflanze, und sein Ruhm vergeht wie das Kraut der Felder.«
Nachfolge Christi
Außer Augustin und einigen Dorfkindern sah Violante keine Menschenseele. Nur eine jüngere Schwester ihrer Mutter, die in Jolianges (das Schloss war einige Stunden weit entfernt) wohnte, erschien manchmal, um Violante zu besuchen. Bei solcher Gelegenheit kam eines Tages einer ihrer Freunde mit. Er nannte sich Honoré und war sechzehn Jahre alt. Er hatte nicht das Glück, Violante zu gefallen, aber er kam wieder. Während er mit ihr durch eine Allee des Parkes promenierte, brachte er ihr höchst unanständige Dinge bei, über die sie noch sehr im Unklaren gewesen war. Was sie dabei empfand, war sehr gut und angenehm, doch schämte sie sich dessen sofort. Später dann, als die Sonne schon untergegangen war und sie einen weiten Weg hinter sich hatten, nahmen sie auf einer Bank Platz, zweifelsohne nur, um den Widerschein des rosenroten Himmels im gesänftigten Meer zu betrachten. Honoré näherte sich Violante, und damit sie ja nicht unter der Kälte litte, knöpfte er den Umhang auf ihrem Halse mit einer raffinierten Langsamkeit fest und schlug ihr vor, mit seiner Hilfe die Theorien praktisch zu erproben, über die er ihr im Park Unterricht erteilt hatte. Er wollte ganz leise mit ihr sprechen und brachte seine Lippen dem Ohr des Mädchens, das sich nicht zurückzog, immer näher. Violante hörte ein Geräusch im Gebüsch.
»Aber es ist nichts«, sagte zärtlich Honoré.
»Meine Tante ist es«, sagte Violante; es war der Wind. Aber Violante hatte sich schon erhoben. Sehr im rechten Augenblick durch den Wind ernüchtert, wollte sie sich durchaus nicht wieder setzen und sagte Honoré trotz seiner Bitten Adieu.
Sie hatte Gewissensbisse, eine Nervenkrise, konnte zwei Tage lang schwer einschlafen. Ihre Erinnerung war ein glühendes Kopfkissen, das sie unablässig hin und her wendete. Zwei Tage nachher wollte Honoré sie sehen; sie ließ antworten, sie sei spazieren gegangen. Honoré glaubte es nicht und wagte nicht wiederzukommen. Im nächsten Sommer dachte sie mit Zärtlichkeit an Honoré zurück, freilich auch mit Betrübnis, denn sie wusste, dass er als Matrose zu Schiff fortgereist war. Wenn die Sonne im Meer untergegangen war, saß sie auf der Bank, zu der er sie damals (es war gerade ein Jahr) hingeführt hatte, und gab sich alle Mühe, die suchenden Lippen Honorés in die Gegenwart zurückzurufen, seine grauen Augen zwischen den halb gesenkten Lidern, seine wie Strahlen umherirrenden Augen, die plötzlich über sie ein heißes, helles, lebensvolles Licht ausschütteten. Und in den milden Nächten, in den weiten, von aller Welt abgeschlossenen Nächten, wenn die Gewissheit, allein zu sein, ihr Verlangen ins Unermessliche steigerte – da hörte sie Honorés Stimme, die ihr verbotene Dinge ins Ohr flüsterte. Er stand da, der Mittelpunkt des Zauberkreises, quälend und lockend gleich einer teuflischen Versuchung.
Eines Abends sagte sie seufzend beim Diner dem Intendanten, der ihr gegenübersaß:
»Ich bin sehr traurig, mein Augustin. – Niemand hat mich lieb« – fügte sie hinzu.
»Und doch«, erwiderte Augustin, »sind es keine acht Tage – es war, als ich in Jolianges die Bibliothek in Ordnung brachte –, da hörte ich von Ihnen sagen: ›Ach, ist die schön!‹«
»Und wer war es?« fragte Violante sehr betrübt. Ein zartes Lächeln kräuselte unmerkbar die Winkel ihrer Lippen, als versuchte man einen Vorhang zu lüften, um gutes Sonnenlicht hineinzulassen.
»Der junge Mann vom letzten Jahr, Herr Honoré.«
»Ich dachte, er sei auf See«, sagte Violante.
»Er ist zurück«, sagte Augustin.
Violante erhob sich sofort und ging mit sehr unsicheren Schritten in ihr Zimmer, um Honoré zu schreiben, er möge sie besuchen kommen. In dem Augenblick, als sie die Feder ergriff, hatte sie ein Gefühl von Glück, eine Empfindung von ungeahnter Macht. Sie fühlte tief im Innern, dass sie ihr Leben doch ein wenig nach ihrer Laune und ihrem Sinnenglück sich gestalten könne; dass sie dem Räderwerk ihrer beider Geschicke, das sie mechanisch fern voneinander einzuschließen schien, allem zum Trotz einen kleinen Stoß geben könne, dass er nachts erscheinen würde auf der Terrasse, ganz anders als in der schrecklichen Ekstase ihres nie gestillten Wunschtraumes. Dass seine unerwiderten Zärtlichkeiten (ihr ewiger innerer Roman) und die Wirklichkeit Straßen hatten, die sich trafen und auf denen man sich zum Unmöglichen emporschwingen konnte, und dass sie das Unmögliche möglich machen würde durch ihren Glauben.
Am nächsten Tage empfing sie eine Antwort, und sie las sie voll Zittern auf der Bank, wo er den Arm um sie gelegt hatte:
»Gnädiges Fräulein! Ich empfing Ihren Brief eine Stunde vor der Abfahrt meines Schiffes. Wir hatten Landurlaub nur auf acht Tage, und ich komme erst in vier Jahren zurück. Wollen Sie, bitte, nicht ganz vergessen Ihren Ihnen herzlich und aufrichtig ergebenen Honoré.«
Nun, im Angesicht dieser Terrasse, wohin er nie wieder kommen sollte und wo niemand ihre Sehnsucht erfüllen würde, angesichts dieses Meeres, das ihn ihr entführte und ihr dafür zum Entgelt (in der Phantasie dieses jungen Mädchens) ein wenig von seinem großartigen, geheimnisvollen und schaurigen Zauber gab (wie zauberhaft sind die Dinge, die uns nicht gehören, denn sie strahlen so viel vom Himmel wider und landen an so vielen Gestaden) – hier brach Violante in Tränen aus.
»Mein armer Augustin«, sagte sie abends, »mir ist ein großes Unglück widerfahren.« Der erste Wunsch nach Mitteilung entstand in ihr nach der ersten Enttäuschung ihrer Sinnlichkeit, genauso selbstverständlich, wie es gewöhnlich aus der ersten Befriedigung der Liebe entsteht. Noch kannte sie die Liebe nicht, aber kurze Zeit danach begann sie unter ihr zu leiden, und das ist die einzige Art, wie man sie im tiefsten Grunde kennenlernt.