Ein überfließendes Maß an Fülle - Manfred Müller - E-Book

Ein überfließendes Maß an Fülle E-Book

Manfred Müller

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Beschreibung

Mitten in einer tiefen Lebens- und Schaffenskrise begegnet der alternde Peter Pistorius der jungen, lebensfrohen Bianca. Sie kommen sich nah und glauben, seelenverwandt zu sein. Gemeinsam verbringen sie turbulente Tage am Meer. Sie scheint ihn zu verjüngen und ihm neue Lebensfreude zu geben. Er träumt von einer Liebesbeziehung mit ihr, aber sie hat wenig gute Erfahrungen mit den Spielarten der Liebe gemacht. Wie geplant, reist sie allein zurück. Wenige Tage später folgt er ihr überstürzt nach und erlebt nun einen Tiefpunkt nach dem anderen. Er will nicht resignieren und sucht auf ungewöhnlichen Wegen ein neues Leben.

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Gebt, so wird euch gegeben.Ein volles, gedrücktes, gerütteltes,überfließendes Maß wird man euch

geben.

Lk 6, 38

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN 978-3-347-13151-4 (Paperback)

ISBN 978-3-347-13152-1 (Hardcover)

ISBN 978-3-347-13153-8 (E-Book)

© 2020 Manfred Müller

Umschlagillustration: Nach einem Ölgemälde des Autors

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Manfred Müller

Ein überfließendes Maß an Fülle

Roman

Sie ist da bei ihm, im Haus, im Zimmer nebenan! Ein warmer Hauch durchweht ihn, noch bevor er die Augen öffnet. Oder ist es ein Wunschtraum, noch schnell zu Ende geträumt, bevor er ganz aufwacht? Nein, das kann nicht sein! Sie hat doch selbst gesagt:

„Bis Morgen zum Frühstück, gemeinsam wie am Meer; ich freue mich.“

Wenn er jetzt die Augen aufschlägt, wird er Gewissheit finden. Noch schreckt er davor zurück, bleibt auf dem Rücken liegen und lauscht: Stille, die vom Trällern einer Amsel im Garten durchbrochen wird. Das heitere Tirilieren und die zunehmende Gewissheit ihrer Anwesenheit erfüllen ihn mit Freude auf den neuen Tag. Da befreit er sich von der Bettdecke. Mit einem Schwung setzt er sich an die Bettkante. Hoppla! Nicht so stürmisch Junge! Sie hat ihn zwar jünger werden lassen, aber doch in Grenzen. Er wartet, bis der Kreislauf nach dem gemächlichen Zirkulieren während der Nacht, aufgeschreckt von dieser heftigen Bewegung, mitspielt und sein Herz sich beruhigt. Dann stellt er sich aufrecht, flüstert „Mit Gott“ und geht auf nackten Füßen und in Boxershorts und T-Shirt aus dem Raum, patscht auf dem kalten, glatten Holzboden über den Gang: Er sieht die Tür, hinter der sie geschlafen hat, einen Spaltbreit geöffnet: Das wundert ihn. Er erinnert, die Tür hinter sich zugezogen zu haben, nachdem sie zueinander Gute Nacht gesagt hatten. Sie ist wohl in der Nacht aufgestanden, zur Toilette gegangen und hat vergessen die Tür zu schließen? Aber bei seinem leichten Schlaf hätte er das mitbekommen müssen. Er lag ja halbwach die halbe Nacht, in Erwartung sie würde zu ihm kommen. Unschlüssig verharrt er im Gang zwischen seinem Schlafzimmer und ihrem, er will sie nicht stören, doch dann stößt er sachte die Tür auf und blickt in eine blendende Morgensonne und auf ein leeres Bett. Bettdecke und Kopfkissen, die sie gestern zur Nacht noch frisch bezogen hatten, sind nicht mehr da; das heißt, er hatte sie einen Bezug auswählen lassen, den hell geblümten oder den rosafarbenen, wobei sie immer wieder sagte, er sollte keine solche Zeremonie daraus machen, sie wäre so müde, dass sie auch auf dem Sofa sofort mit einer Wolldecke einschlafen könnte. Aber das heitere Blumenbett fand sie dann doch einladend und kuschelig und gab ihm einen Kuss auf die Wange und er ging von ihr weg, schnell mit einem Lächeln, das sie zurückgab, und er sagte:

„Schlaf gut, Liebe, solang du Lust hast! Ich warte Morgen früh auf dich.“

Und sie sagte;

„Bis Morgen zum Frühstück, gemeinsam wie am Meer; ich freue mich.“

Er ruft sich diese Erinnerungen wach, weil er nicht wahrhaben will, was er da sieht: ein leeres, abgedecktes Bett, ein Zimmer, in dem nur Sonnenstrahlen liegen.

Ach ja! Bei ihrem Bettbeziehen hatte er sie in den Überzug eingewickelt, den Stoff über sie gestülpt und an ihr herabgezogen, über ihren bekleideten Körper bis zu ihren Füßen, so schnell, dass sie sich nicht hätte wehren können, selbst wenn sie gewollt hätte. Aber sie spielte mit, breitete ihre Arme aus und flatterte mit ihnen auf und ab und hüpfte im Zimmer hin und her, als flöge sie, und sagt mit dumpfer Stimme in der Hülle, er solle die Fenstertür aufmachen, sie wolle jetzt durch den Garten fliegen. Er stellte sich ihr in den Weg, damit sie nicht an die Möbel anstieße und sagte:

„Bleib, Schmetterling, der Garten ist schwarz und in der Nacht gefährlich; ich brauche dich.“

Und er befreite sie, und sie ließ sich aufs Bett fallen, als wäre sie erschöpft, mit gerötetem Gesicht - ihre schwarzen, zerzausten Locken auf den grünweißroten Stoffblumen - und blickte ihn von unten an mit ihren sprühenden Augen, mit gespielter Hilflosigkeit und Ergebenheit, ganz kurz, bis sie aufsprang, mit ihm das Bettzeug richtete und ihm den Kuss auf die Wange drückte. Ja, er will die Tatsache des leeren Zimmers nicht wahrhaben und sich in diese Erinnerungen verlieren. Warum ist er nicht als erstes auf den Gedanken gekommen, sie könnte längst im Garten sitzen oder in der Küche? Diese lähmende Stille und gähnende Verlassenheit des Raums, ja des Gangs in seinem Rücken und des ganzen Hauses! Noch bevor er den Gedanken umsetzt und sich aufmacht, sie zu suchen, sieht er einen Zettel auf dem Nachttischchen liegen; er liest:

„Guten Morgen, Liebster! Danke für die Nacht hier, bin sehr früh weg, wollte dich nicht wecken, nehme die S-Bahn. Wir sehen uns übermorgen, gebe dir noch Bescheid, wann und wie. Wenn es stimmt, dass der Traum der ersten Nacht im fremden Bett in Erfüllung geht, dann… Ich wünsche dir einen wunderschönen Tag“

Eine neue Variante ihrer zahlreichen Überraschungen! Sie wollten doch zusammen frühstücken. Deshalb ist er heute früher aufgewacht, um alles vorzubereiten, in Ruhe und mit Vorfreude. Was das wohl für ein Traum war, mit den drei Punkten, gut oder schlecht für ihn? Zumindest fühlt er sich ausgeschlafen, nicht verkatert, trotz der späten Heimkehr, und wird sich auf die neue Lage rasch einstellen können. Er öffnet die Fenstertür und geht im Bettgewand auf die Gartenterrasse. Er weiß, der dichte Pflanzenwuchs ringsum schützt ihn vor neugierigen Blicken der Nachbarn. Er zieht sich nackt aus und nimmt den Gartenschlauch in die Hand, lässt ihn aber wieder fallen: Er hat plötzlich keine Lust, sich kalt abzuduschen.

Dieses Duschen hat er sich angewöhnt, kurz nach ihrem ersten Treffen. Da fing er an, seinen Körper, seine Kraft und Muskeln wieder zu spüren. Er zwingt sich zu einem Rundblick durch den Garten. Die Enttäuschung über ihr Verschwinden darf ihn nicht in den Griff nehmen. Er muss jetzt ganz da sein, den Augenblick leben, denken, nicht wie es hätte sein können, sondern wie es nun mal ist. Diese Mechanik kennt er auch erst seit kurzem. Sie hilft ihm, sofern sie gelingt, leider nur selten; da muss er noch üben! Es wird schon alles werden, wie es werden soll! Er blickt nach oben zum Himmel. Der ist von einem zarten, dunstigen Blau, in das die Äste ragen, fast kahl schon, schwarze Scherenschnitte im Morgenlicht. Sonnenstreifen fallen durch das Geäst quer über die Terrasse auf seine nackte Haut. Sie wärmen ihn an der Vorderseite, aber im Rücken liegt eine feuchte Schattenkühle. Was soll er tun? Er muss sich neu programmieren. Sein Vormittag war anders geplant, ausgefüllt von ihr. Es sollte das erste Mal sein, dass sie gemeinsam, hier in seinem Haus. frühstückten. Sie fragte nicht, ob es ihm recht wäre. Sie sagte einfach, als sie nach dem stickig warmen Jazzkeller auf der Straße standen, in der feuchten Nachtluft:

„Weißt du was! Ich komm mit zu dir. Das Auto lass ich stehen. Ich bin zu müde für die Heimfahrt. Und morgen habe ich den späten Turnus. Da kann ich ausschlafen und mit dir gemütlich frühstücken.“

Es war wohl sein Herz, was da in der Brust so rumorte. Den Augenblick leben: Hier, ringsherum, gibt es einiges abzuholzen: Die ausgewachsenen Äste des Ahorns, die hochgeschossene Hasel und der Wildwuchs von Buchen und Hartriegeln in den Hecken und auf der Wiese. Das war der heiße Sommer, der hat die Pflanzen aus der Erde getrieben zusehends, übermächtig. Wann soll er das alles erledigen? Ihn fröstelt: nackt im Garten im Morgendunst. Er geht zurück ins Zimmer, in der Hand seine Kleidung, und blickt sich noch einmal um, vielleicht entdeckt er – außer diesem seltsamen Zettel - noch irgendeine Spur von ihr: Das Bettzeug hat sie ordentlich auf den Stuhl gestapelt: Auch eine Spur von ihr, denkt er. Ihn packt ein heftiges Verlangen, seine Nase, sein Gesicht in diese Wäsche, die vor kurzem ihren Körper umhüllt hat, zu vergraben; das lass besser bleiben, Masochist!

Er geht zurück in sein Schlafzimmer, das er so Hals über Kopf verlassen hat, sodass er nicht einmal die Bettdecke aufgedeckt, den Rollladen geöffnet, das Licht gelöscht und ein Morgengebet, wenigsten im Ansatz, gesagt hatte. Nun zieht er den Fensterladen hoch, öffnet die Flügeltür und stellt sich in den Türrahmen. Nochmal wärmt ihn die Sonne, von vorn, und dann dreht er ihr den Rücken zu. Sein Blick fällt auf sein Bett und dann auf die andere Bettseite, die unberührte, saubere, glatt bezogene. Er hat nicht daran gedacht - auch wenn er daran gedacht hätte - Bianca hätte er dieses Bett von Susanne nicht anbieten dürfen. Er sieht sie wieder liegen - dieses Bild wird nie mehr aus seinem Kopf gehen - tief in die Bettdecke gehüllt, auch ihr Gesicht, und ihre Kastanienhaare über das Kopfkissen verstreut. Und ein nackter Arm oder ein Bein schauen zwischen dem zerwühlten Bettzeug hervor, als wollte sie so, selbst in ihren Träumen, eine Verbindung zum Raum halten, ihre Erdgebundenheit bewahren.

Nach ihrem Gutenachtlächeln lag er wach und stellte sich vor, Bianca würde im Türrahmen erscheinen und flüstern:

„Peter, schläfst du schon? Ich kann nicht einschlafen.“ Er würde dann sagen:

„Komm, liebe Bianca, leg dich ein bisschen zu mir“, und schlüge einladend seine Bettdecke zurück.

Er würde sie in die Arme nehmen, genauer er würde seinen Arm unter ihren Nacken legen und sie ihren Kopf an seine Schulter. Und so würden sie einschlafen. So weit sind sie gekommen, denkt er mit einer gewissen Bewunderung für seinen eigenen Reifeprozess, vom Körper zum Herz. Wenn er da an den Anfang ihres Zusammenseins denkt! Aber selbst diese sanften Nachtgedanken erscheinen ihm jetzt, im Licht des sonnigen Tags, als ein bisschen sehr gewagt.

Im Bad absolviert er, nach dem täglich strengen Ablauf, seine Morgentoilette. Die Routine, diese immer gleiche Abfolge seiner Handgriffe helfen ihm seine Fassung zu finden und geordnet in den Tag zu starten; besonders heute braucht er das. Er darf sich nicht hängen lassen! Er darf nicht auf jede ihrer Einfälle reagieren. Er, der Schwerblütige, der Bedachte und sie, die Leichtfüßige, Sprunghafte!

Er beginnt seine Muskeln zu massieren, von den Fußfesseln aus, langsam nach oben. Seine Waden und Oberschenkel fühlt er hart und sehnig. Vom vielen Gehen stellt er fest, wie jeden Morgen, als könnten sie über Nacht erschlaffen. Der Bauch flach, die Brustmuskeln fest, auch das gibt ihm Selbstsicherheit für seine junge Freundin. Nicht, dass er vor ihr posieren wolle; diese Begierden glaubt er überwunden. Nein, das Wissen allein genügt ihm. Er mag seinen Körper - wieder, denkt er. Altersspuren, Falten, schlaffe Haut, nichts dergleichen sieht er oder übersieht er geflissentlich; lang genug hat er seinen Körper vergessen, ja vernachlässigt, verabscheut sogar: Dieses Fleischbündel lebt und Susanne ist tot! Aber nun ist er ihm dankbar: Er spürt eine neue Kraft in ihm und er ist gut zu ihm, sind sie doch von einander abhängig. Die Morgengymnastik jedoch lässt er ausfallen. Dazu ist er nicht in rechter Stimmung. Das fehlte noch, dass sein Schwung in wechselseitige Beziehung gerät zu der Zuneigung oder Abneigung von Bianca, wie eine Pflanze, die sich im Wasser reckt und im Trockenen erschlafft.

Und dann das Anziehen! Er ist erleichtert, dass er sich gedankenlos seine schwarzen Klamotten überziehen kann. Er muss nicht entscheiden, welche Farben zu seiner Stimmung und Tagesrolle passen: Ob Grün zu Grau oder Braun zu Schwarz seinen Zustand heute besser widerspiegeln würden, Schwarz auf jeden Fall nicht; so finster und ablehnend sieht er seine Verfassung nun doch nicht. Fantastereien! Er hat nur schwarze Kleidung; und das seit seinem Eintritt in die Künstlergilde: Kostümierung für seine neue Rolle als Maler. Paulchen Kuhn fällt ihm ein, der Kleine mit der großen Stimme:

„Statt Weiß trag Rot – das ist die Farbe der Liebe, dann weiß der Mann gleich Bescheid. Trag Blau, statt Grün – das ist die Farbe der Treue, dann spricht für dich dein Kleid. Wenn du eifersüchtig bist, trage Gelb, wenn er dich küsst, oder zieh mal Lila an, dass er nichts erraten kann. Statt Weiß, trag Rot…“

Er singt es nach, laut, wiederholt: Sein Gesang hallt in dem Kachelbad und verjagt die Reste seiner Enttäuschung. Aber Schwarz wird ihm zunehmend leid. Den Herbst und Winter will er noch durchhalten und im Frühling sich vollkommen neu einkleiden, mit Unterstützung von Bianca. Allein ihr Dabeisein wird helfen, seine Kaufunfähigkeit zu überwinden. Er wird sich ihr etwas anpassen, farblich, nicht als Springinsfield! Sie hat einen guten Geschmack: gedeckte Töne und ein kräftiges, meist rotes, lila Accessoire. Er sieht sie in ihrer dunkelrotlila Lederweste mit ihren schwarzen zerzausten Locken und dem weißen Lächeln. Ach, wäre sie doch hiergeblieben!

In der Küche trinkt er dann Tee und isst Brot mit dem Aufstrich aus Erdbeermarmelade, die von Susanne. Jeden Morgen stellt er erleichtert fest, wie lange die Fruchtmasse hält, die ihm so kostbar wurde; isst er doch auch etwas von ihrer Zuneigung, ihrer Hingabe mit, die sie allem widmete, was sie in die Hand nahm, ihn eingeschlossen. Während er den Aufstrich bedächtig auf die Brotscheibe verteilt, fühlt er ihre warme Nähe. Die letzten zwei, drei Gläser wird er aufbewahren müssen, für harte Zeiten. Halt! Keine unnötigen Gedanken in die Zukunft. Wenn es soweit kommen sollte, was keiner weiß, wird er handeln. Das ist seine eherne Verhaltensregel: Gedanken in die Zukunft abschalten. Er wird sich nicht an den Tisch setzen, den er für sie beide richten wollte. Ihre Abwesenheit säße ihm gegenüber wie ein Loch im Raum. So stellt er sich zur Anrichte ans Fenster. Die Hecke zum Nachbarn gegenüber müsste geschnitten werden. Auch die unsinnig hohen Baumkronen dahinter nehmen ihm das Licht, vor allem seiner Kletterrose, die von Jahr zu Jahr dünner geworden ist. In diesem Sommer hatte sie nur noch ein paar vereinzelte Blüten, die vorzeitig ihre Köpfe hängen ließen. Er muss Susannes Pflanzen hegen; sie dürfen nicht auch noch vergehen. Sie hätte schon längst den Nachbarn gescheucht, seine rücksichtslose Bepflanzung zu stutzen, das heißt, sie hätte ihn so weit gebracht, mit ihrer sanften Hartnäckigkeit, bis er zum Nachbarn gegangen wäre. Jetzt vermeidet er Auseinandersetzungen, grüßt freundlich und fragt, wie es geht. Das war eine gute Idee, die Einladungen für alle ringsum zu seiner Ausstellung; sie hat Wunder an Liebenswürdigkeit bewirkt.

Die Frage hängt im Raum, während er zu Nachbars Hecke blickt, was sie bewegt hat, so sang- und klanglos wegzugehen; war es der Traum mit den drei Punkten auf ihrem Zettel? „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“: Dazwischen bewegt sie sich; müßig, sich den Kopf zu zerbrechen, er fände keine Antwort. Sie wird’s ihm sagen. Aber neue Fragen tauchen auf, wie das mit ihnen ist und wie es weitergeht. Nein nicht die Zukunft vorwegnehmen! Auch eine eherne Regel! Das Heute ist Frage genug: Ihr Treffen ein Überfall der Empfindungen, ihr Zusammensein ein leichtes, heiteres Jetzt! Wenn er mal ernst wird und ihr Verhältnis ausloten will, sagt sie:

„Peter, mach es nicht kompliziert.“

Sie hatte ihm einmal am Anfang geschrieben:

„Ich bin glücklich. Es ist so leicht und unkompliziert mit dir.“

Er sollte ihr eine SMS schicken, vielleicht erfährt er so den Grund ihrer Flucht. Er schreibt:

„Liebste Bianca, ich sitze allein am Frühstückstisch. Du hast es unerwartet eilig gehabt. Ist alles in Ordnung?“ Nein, so nicht! Das wirft Probleme auf. Es darf nicht kompliziert klingen. Neu schreibt er:

„Liebste, ich danke dir auch für die Nacht mit dir unter einem Dach. Geht’s dir sooo gut wie mir? Ich freue mich auf unser Wiedersehen. Melde dich.“

Nein, das ist nicht gut. Sie müsste antworten, wie es ihr ginge. Außerdem gäbe er dieser Nacht, so weit auseinander verbracht, zu viel Gewicht. Es hat ihm gutgetan, sie bei sich zu wissen, sehr gut sogar, aber das will sie sicher nicht wissen. Das könnte sie belasten. Das klingt nach Verpflichtung.

So schreibt er;

„Liebste, schön wars. Ich sehe dich. Herzlichst Peter.“? Was war schön? Dass sie im Nachbarzimmer schlief wie jeder andere Besuch und früh verschwunden war?

„Liebste, hab einen leichten, wunderschönen Tag. Peter.“

Das schickt er weg. Immer erwidern sie die Post. So kann er zumindest auf ihre Antwort warten, wenn sie schon nicht da ist. Wieso? Sie hat doch auf dem Zettel hinterlassen, sie würde sich melden, wie und wann sie sich treffen werden. Ob sie jetzt zweimal schreiben müsste? Setzt er sie damit unter Druck? Unter Druck gesetzt zu werden von ihren Leuten, ihrem Kaffeehausbesitzer, ihren Gästen, ihrer Familie, das fürchtet sie wie eine Krankheit. Dinge, die von ihr erwartet werden, die sie nicht mag, die sie nicht kann, tun müssen und nicht Nein sagen können, weil sie es allen recht machen möchte, gut sein möchte zu allen, ja sie glücklich sehen möchte, kurz gesagt, weil sie hohe Ansprüche an sich selbst stellt. Sie nimmt das Leben leicht, sie nimmt das Leben ernst, glaubt er. Zwischen diesen Gegensätzen sieht er sie flattern wie einen farbenprächtigen Schmetterling, der mal hier auftupft und dort, in einem federleichten Tanz der Empfindungen. Weil sie weich und nachgiebig erscheint, aber auch hart und stur sein kann, gerät sie leicht unter Handlungsdruck. Sieht er das richtig, dass sie sich verströmt und dann nach dem Alleinsein sehnt, um ihren Akku wieder aufzuladen? Zu kurz noch ihr Zusammensein, als dass er sie so tief ergründen könnte in ihren Extremen von Leichtsinn und Ernst, Güte und Härte, Feuer und Kälte, alles in ihr versammelt, in einer Schatzkiste. Da braucht es noch viel Zeit und Einfühlung und Feinfühlung und Zuneigung und… und… und, auf das er sich so freut. Ihr Sport, obwohl sie ihm so viel Zeit widmet, kann sie nicht unter Druck setzen. Natürlich! Er verlangt ihr nichts ab, was sie nicht bereitwillig geben will. Kilometer um Kilometer läuft sie in der Woche, durch den Wald, weit außerhalb der Stadt, allein. Seit sie ihm das erzählt hat und ihn dabei angefunkelt hat mit schwarzen, leuchtenden Augen, macht er sich Sorgen, was ihr alles zustoßen könnte. Zu seinen Bedenken sagte sie:

„Ach, was soll mir schon passieren! Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, mit jedem Schritt der Natur näher zu kommen, den Pflanzen, der Luft, den Farben und sich selbst zu spüren mit seiner Kraft und seinem Herz und seinem Atem und sich immer näher zu kommen und dann ganz bei sich zu sein. Nur noch ich, nur noch da!“

Das kann er nachvollziehen; schließlich sind sie seelenverwandt, wie sie sagt. Er will sie nicht verunsichern, ihr keine Angst machen, und sagte nur:

„Hast du wenigstens dein Handy dabei, falls etwas sein sollte?“

„Nein, das störte mich beim Laufen. Mach dir keinen Kopf. Das mache ich schon lange so.“

Da kann er doch nicht an sich halten;

„Eine so schöne, junge Frau allein im Wald… hm!“

„Das ist kein Problem. Schlimm ist es, wenn ich mich verlaufe. Ich bin einmal durch den Wald gelaufen, Richtung Forsthaus. Das war so stark!! Ich bin ausgerastet. War nur noch ich und glaubte, gleich am Ziel zu sein und merkte, dass ich nicht mehr wusste, wo ich bin. Ich war total desorientiert und schon ziemlich müde. Ich bin lange umhergeirrt und war fix und fertig, als ich endlich heimkam.“

Sie unterhielten sich dann über das Orientieren im Wald nach den Himmelsrichtungen und dem Moosbefall an den Baumstämmen und das Kartenlesen zur Vorbereitung - da kennt er sich aus, Er wollte glänzen mit seiner Erfahrung, aber das wäre ihr alles zu kompliziert und würde ihr die Freude und Freiheit nehmen, die sie mit ihrem Laufen suche.

Er spült seine Tasse und den Teller ab, räumt Brot und Marmelade weg, vermeidet nochmal aus dem Fenster auf den Pflanzenwuchs zu schauen und geht die Treppe hoch ins Atelier. Das Gemälde, das er heute seiner Galeristin zeigen wird, steht auf der Staffelei. Er prüft, ob es inzwischen getrocknet ist und betrachtet es nochmals kritisch, nachdem er es mehrere Tage nicht gesehen hat. Das Meer, unter dem tiefblauen Himmel, wirkt traumhaft, endlos und federleicht, der weibliche Akt im Sand, wie eine Erscheinung, die sich jeden Augenblick auflösen könnte. Ein Bild sollte es werden keine Abbildung. So hat er rechteckige Aussparungen über die Bildfläche verteilt, mit Fischen, Muscheln und einem männlichen Kopf mit einem Fernglas vor den Augen. Den Venushügel der Wassernymphe hat er mit einem Rechteck aus Jakobsmuscheln abgedeckt.

Das hätte Susanne gefallen! Wie hat sie sich geärgert über seine Aktbilder. Seine seitenlangen Erläuterungen über den Akt in der Kunstgeschichte als höchste Fertigkeit des Malers und als Ausdruck des wahren Lebens, ließ sie nicht gelten. Mit engen, schrägen Blicken schaute sie ihn von der Seite an. Mit dem Aktzeichnen war es das gleiche. An manchen Abenden saß er in der Kunsthalle, im grellen Neonlicht, vor den Nackten und mühte sich ernsthaft, sie aufs Papier zu bannen. Zuhause beschrieb er ihr die Modelle, vor denen er gesessen war, die schönen, schlanken, dürren, dicken, hässlichen weiblichen und männlichen Gestalten und zeigte ihr seine Arbeiten. Auch das gefiel ihr nicht. Sie wollte nicht glauben, dass es Schwerarbeit bedeutete, einen Akt - stimmig und ausdrucksvoll - zu zeichnen. Auch da schaute sie ihn ungläubig und misstrauisch von der Seite an, wenn er zitierte, Aktzeichnen sei das Latein des Malers. Da malte er sie eines Tages selbst nackt - was musste er sie bitten - auf einem Schemel sitzend, von vorn, von rechts und von hinten. Das war noch in seiner neugotischen Periode. Schöne Bilder - was er selten zu seinen eigenen Werken sagt - in zarten, hellen Farben und liebevollen Konturen. Sie war nicht abgemalt, sondern ihr Wesen hatte er gestaltet, ihr erdgebundenes Dasein. Wie eine starke Pflanze, die emporstrebt und sich entfaltet und einfach da ist, ungefragt und zweifelsfrei und trotzdem so verletzlich, so leicht zu zerstören. Das hatte sie wohl gespürt und bat ihn:

„Solange ich lebe, bitte zeige niemandem diese Bilder.“

Als sie tot war, zerriss er die drei Leinwände. Dann kamen seine sämtlichen Aktbilder dran: die drei Grazien, die vier Mannequins, die hurennackte Göttin der Konsumenten, die Werbefigur mit den großen Brüsten und…und. Die mit feinen Pinseln minutiös erschaffenen Körper, in mehreren Farbschichten übereinandergelegt, wodurch ihre Haut durchscheinend und blutvoll wurde, malträtierte er mit groben Farben, die wie Krebsgeschwüre seine lieblichen Körper zerfraßen, wie ihr schleichender Tod. Ihm war, als würde er Tierchen zertreten, als würde er liebe Gegenstände an die Wand werfen. Diese Gewaltaktionen befreiten ihn nicht von seinem Entsetzen über ihr plötzliches Entschwinden und seiner Verzweiflung. Mit niemandem wollte er noch etwas zu tun haben, zog sich zurück, verfiel in einen hektischen Aktionismus, konnte sich kaum noch im Haus aufhalten und kam dann auf die Idee, in seinen Ort, dem altehrwürdigen, in diese karge Hochebene zu flüchten, wo er vor langer Zeit schon einmal friedlich und glücklich geworden war. Tatsächlich fand er dort einen Weg zu einem neuen Zusammensein mit ihr; in der geistigen Welt.

Er stellt sich an die Glasfront und schaut auf den Garten hinunter, schon vom Herbst gefärbt, auf den gelben Ahorn und die kahle Kirsche und den jetzt tiefblauen Himmel mit den gleißend weißen Wolkenhaufen. Diesen grünen Wildwuchs hat Susanne begründet. Er sieht sie tief über die Erde gebeugt, selbst ein Teil der Pflanzen, selbstvergessen Stängel und Blätter ordnen. Ihre Liebkosungen, mit sanften Händen und zärtlicher Geduld, ließen auch die kümmerlichsten Gewächse aufgehen und gedeihen. In zeitloser Hingabe widmete sie sich den dürftigsten Sprösslingen und verhalf ihnen zu prachtvoller Blüte. Wenn er mal eine solche Entdeckung im Garten machte und ins Haus eilte, um ihr voller Stolz seine Entdeckung zu berichten, wusste sie schon längst Bescheid. Sie verlor keine Pflanze aus den Augen und ihn auch nicht. Strahlend stand sie vor ihm, wenn sie nach der Gartenarbeit ins Haus zurückkam. Eine tiefe Befriedigung leuchtete aus ihren Augen; und ihre Hände und Arme bis zu den Ellbogen mit Erde beklebt und nass ihr Gesicht vom Schweiß oder vom Regen, den sie über sich rieseln hat lassen, hingebungsvoll, und die Haare in Strähnen oder zerzaust vom Wind, den sie so mochte. Dem Wind, noch lieber den Sturmböen und der heißen Sonne und dem Regen gab sie sich hin mit elementarer Lust. Einmal sah er sie verborgen zwischen Hartriegel und Buche tanzen; im Regen und Wind drehte sie sich mit ausgebreiteten Armen im Kreis. Dann kam sie zu ihm und umarmte ihn, schlang ihre nackten, erdigen Arme um seinen Hals und drückte sich an ihn und machte ihn nass, als wollte sie ihre Erregung, die sie von ihren Gartengeistern empfangen hat: dem wilden Faun, den zarten Pflanzenelfen, den Najaden in den funkelnden Wassertropfen und den Sylphen im Wind, als wollte sie diese Erregung mit ihm teilen. Er wendet sich brüsk ab vom Fenster: seine Stirn gerunzelt, seine Augen feucht.

Er nimmt das Gemälde von der Staffelei, will es in Folie einpacken, sucht nach der Rolle vergeblich. Ach ja! Für die fünfundzwanzig Bilder seiner Ausstellung hat er sie restlos verbraucht. In die Ausstellung muss er auch noch gehen, heute: Da ist ein Künstlergespräch vereinbart: „Der Künstler ist am 16. Oktober ab 14 Uhr anwesend.“ Wie er das hasst! Bilder sind zum Betrachten da, nicht zum Bequatschen. Was will uns der Künstler damit sagen? Nichts! Schaut, fühlt, empfindet! Entdeckt euere eigenen Empfindungen. Macht´s euch nicht zu bequem, euch etwas vorkauen zu lassen! Er wickelt die Arbeit in eine Wolldecke. Für den kurzen Transport zur Galeristin sollte das genügen. Er wird es verkaufen. Sie hat gesagt, das höre sich interessant an, was er da gemacht habe. Er hat ihr nicht gesagt, dass es sich um ein altes Bild handle. Er hat es noch in der Zeit mit Susanne gemacht, aber jetzt ergänzt mit den Aussparungen, den Abdeckungen, den keuschen. Dadurch hat es eine andere Wirkung bekommen, weshalb er zu Recht sagt, es sei neu. Ach, hat er wenig gemalt seit Susanne. Die Muse war weg! Nur die Übermalungen, die jetzt ausgestellt sind, und die sieben Kreuzwegbilder - mit ihnen versuchte er sein eigens Elend zu verarbeiten - und die Serie Genesis, sieben Bilder, mit denen er auf dem Boden wieder Fuß fassen wollte.

Neue Lust blüht auf zu einer Serie „Das Meer und die Seele“. Da gedenkt er, das Meer zu malen, nicht wie es ist, sondern wie er es erlebt. Die Tage mit Bianca am Meer haben ihn dazu angeregt, haben die glimmende Glut in ihm, die matt vor sich hin funzelnd am Erlöschen war, neu entfacht. Sie wird wohl seine neue Muse werden! Ist das Glück, was ihn bei diesem Gedanken so durchströmt?

Sie hat noch nicht auf seine Nachricht geantwortet. Wird sie erst zur Nacht auf dem PC schreiben, wie jeden Abend oder tagsüber per SMS? Sie wird beschäftig sein; zu dieser Zeit ist meist Sturm und Drang im Café. Sie gehört auch nicht zu denen, die immer am Handy hängen. Sie hat es auch ihren Frauen untersagt, während der Dienstzeit zu simsen, nur in Ausnahmefällen. Er freut sich über sein neues Wissen von ihrer Arbeitswelt. Sie gibt ihm Einblicke in ihr Tun, teilt mit ihm eine so gänzlich andere Welt als alle, die er bisher kannte. Er hört sie gern von ihrer Arbeit erzählen. Und es scheint sie zu erleichtern, wenn sie ihm ihre Probleme, ihre Ideen und Absichten erklären kann. Da ist sie Feuer und Flamme und sprüht vor Einfällen. Ein Problem glaubt er schon entdeckt zu haben: ihre Hemmungen andere für sich arbeiten zu lassen, ihnen Arbeiten anzuschaffen. Lieber macht sie alles selbst. Aber als Chefin ist das ihr tägliches Brot zu delegieren. Das versucht er ihr zu erklären, aber das nimmt sie ebenso wenig an wie seine Bedenken zu ihren einsamen Läufen im Wald. Wenn er sie anspornt, sich ihrer Fähigkeiten, ihrer Einmaligkeit und ihrer Würde bewusst zu werden, hängt sie an seinen Lippen und hat einmal geschrieben, damit würde er ihr helfen und sie bestärken. Sie erzählt ihm, wie sie mit Engelsgeduld neue Mitarbeiterinnen einweist, sich in deren Lage versetzt und Mitleid für diese Unbedarften empfindet. Er hat den Verdacht - dem muss er noch nachgehen - ihr Selbstbewusstsein stehe nicht auf so festen Füßen wie ihr stolzer Gang vermuten lässt. Es ist schön, sie so aufgerichtet, mit hoch erhobenem Kopf und den feingliedrigen und gleichzeitig kraftvollen Bewegungen einer geübten Sportlerin umherschreiten zu sehen. Aber manchmal meint er, eine seltsame Unsicherheit zu entdecken, die sie mit leichten Gesten und lockeren Worten überspielt. Noch kann er sich diesen Eindruck nicht recht erklären. Vielleicht hat es damit zu tun, dass intelligente Menschen, mit der Fähigkeit andere zu durchschauen, leicht ein Gefühl der Überlegenheit haben, aber gleichzeitig ihre eigenen Schwächen und Fehler entdecken müssen und so zwischen Stolz und Demut hin und her schwanken? Mit der Zeit wird er hinter ihre Geheimnisse kommen; dieser Gedanke erfüllt ihn mit einer freudigen Erwartung. Die Zukunft lacht ihm zu!

Es fing so harmlos an. Ein paar Worte von ihr, so im Vorbeigehen an seinem Tisch, auf ihn herabfallen lassen, ob alles in Ordnung wäre, ob der Kaffee so recht wäre, ob er noch einen Wunsch hätte, so professionell liebenswürdig dahingesprochen, am Anfang. Dann fiel ihm auf, dass sie bei ihren Rundgängen durch die Tischreihen, mit jedem seiner Besuche, öfter bei ihm vorbeikam, etwas auf seinem Tisch zurechtrückte, etwas dazustellte, etwas wegnahm und dabei lächelte, direkt in sein Gesicht hinein, mit einem weißen Lächeln, das ihr ernstes Gesicht leuchten ließ und ihre Worte warm und sanft machte. Er wusste nichts Rechtes zu sagen. Er gab sich cool, wie er glaubte: Sie war so jung! Aber er ging immer häufiger ins Café, Außerhalb des Cafés begann er an sie zu denken und freute sich darauf, bald täglich sie zu sehen, sie zu beobachten, wie sie selbstbewusst, hoch aufgerichtet, den Kopf ganz oben, mit eleganten und gleichzeitig kraftvollen Bewegungen ihre Rundgänge absolvierte und ihn hoffentlich ansprach und dabei eine Energie und Hingabe ausstrahlte, die ihn traf und die sich in ihm ausbreitete und das verrückte Verlangen entstehen ließ, sie möge immer in seiner Nähe sein.

Dann kam es so weit: Ein Tag, an dem er sie nicht sah, weil sie im Turnus arbeitete, war verloren. Sie fragte ihn nicht, wo er geblieben wäre, aber sie schaute ihm tief in die Augen, als erwarte sie eine Erklärung. Ihm fiel wenig ein, was er ihr sagen könnte; er gab sich recht einsilbig, vielmehr meine er, er müsse sich zurückhalten; sie sollte seine unpassende Zuneigung nicht bemerken: Sein Alter! Er wollte sich nicht lächerlich machen und sie nicht verunsichern. Nicht, dass er sich alt fühlte, im Gegenteil eher alterslos; vielleicht sah sie in ihm zwar einen sympathischen Gast, der sich zum Stammgast entwickelte, aber eben einen alten.

Es war wohl im Mai: An einem wahren Frühsommertag trat er ins Café ein, sah sie angelehnt an der Theke stehen, ihm entgegensehen, lächeln - was für weiße, ebenmäßige Zähne - und ging auf sie zu, ganz nahe zu ihr und sagte:

„Schön, Sie zu sehen! Sie passen so gut zu dem herrlichen Tag draußen.“

Er hatte sich das vorher nicht ausgedacht und war über seine Spontanität überrascht, sie offensichtlich auch, denn sie blickte ihn amüsiert an:

„Hier ist es ja auch schön. Ich bin gern hier und schaue nach draußen in die Sonne, besonders wenn es ruhig ist und die Gäste auf der Terrasse sitzen, so friedlich und zufrieden.“

Zum ersten Mal stand er so nahe vor ihre. Er war ganz betroffen. Sie wendete ihm ihr Gesicht zu. Er fühlte sich hypnotisiert von ihrem tiefen, dunklen Blick: ihr Gesicht so klar und großflächig! Ihre Stirn, leicht gewölbt und schimmernd wie Perlmutt, von einem schwarzen, zerzausten Haarkranz im Halbrund umrahmt und die Nasenspitze: Er hatte noch nie eine so feine, lustige Nasenspitze gesehen.

„Sie haben eine schöne Arbeit: Für die Menschen da sein, ihnen etwas Gutes tun. Aber es ist denke ich, auch anstrengend immer freundlich zu sein, immer lächeln, immer hilfsbereit die Wünsche zu erfüllen; manche sind, was ich so mitbekomme, schon recht kompliziert und anspruchsvoll.“

„Ja, es ist nicht jeder so leicht zufriedenzustellen wie Sie: Immer den gleichen Café americano: das weiß die Thekerin schon, bevor Sie hereinkommen.“

„Dafür bin ich vielleicht auch gern gesehen“

„Oh ja, sehr gern.“

„Leider nicht mehr lang. Ich fahre für vier Wochen ans Meer.“

„Sie machen Urlaub?“

„Nein, ich arbeite. Ich bin Maler und Schriftsteller. Da kann ich hier und dort arbeiten.“

„Was machen Sie, was malen und schreiben sie?“

„Ich werde Ihnen mal einen Prospekt von mir geben.“

„Aber bitte noch vor Ihrer Abreise.“

„Gleich morgen, falls Sie da sind.“

„Bis vierzehn Uhr, den Frühturnus.“

Das war sozusagen ihre erste Verabredung, und es waren ihre ersten Sätze, die er wörtlich in Erinnerung behalten hat. Eine leichte Plauderei, aber er war höchst angespannt. Sie bewegte ihre Hände und Schultern bei jedem ihrer Worte, als würde sie dem Rhythmus einer leichten Musik folgen, und lächelte fortwährend und ihre Augen, so schwarz, leuchteten. Ob er das damals schon bemerkt hat oder erst später: ihre zwei Gesichter? So ernst, mit einem scharfen Fältchen um die Lippen und dann, mit einem Lächeln bis in die Augenwinkel, so strahlend und ansteckend!

Beflügelt fuhr er nach Hause, zum ersten Mal nach so langer Zeit, federleicht! Und auch auf dem Gartenweg wars ihm so leicht, als schwebte er auf das Haus zu. Da war nicht, wie sonst, diese Enge in der Brust, mit jedem Schritt enger. Und als er die Haustür aufschloss und in diese Leere trat, lauschte er zum ersten Mal nicht, ob er nicht doch Susanne rufen hörte: „Schön, du bist wieder da“, oder suchte nicht mit irren Augen nach einem Notizzettel von ihr, den sie ihm immer schrieb, wenn sie nicht da war: Immer die ersten Sekunden nach seinem Eintreten war das so, bis ihn dieser Stich traf, der ihn ächzen ließ: Sie ist nicht da, sie wird nie mehr da sein, nicht in alle Ewigkeit. Nein, nicht so unerträglich war es dieses Mal! Er nahm ihr Foto in die Hände. Zeitlos lächelt sie ihn immer an, mit ihrem Sommergesicht, und da musste er nicht um Fassung ringen wie sonst, sondern fühlte einfach nur ihre Nähe und fühlte ihr Wohlwollen zu seiner Geschichte mit Bianca, so als habe sie das alles selbst mit den Himmlischen eingefädelt.

Jetzt in der Erinnerung ist ihm, als habe er den Abend, die Nacht und den ganzen Vormittag nur mit Warten auf ihr zweites Treffen verbracht. Endlich war es soweit; er ging ins Café, durch die Flügeltüren, die weit für die Wärme auf der Straße geöffnet waren. Er sah sie nicht. Die Bedienung schaute ihn fragend an und er nickte und setzte sich an irgendeinen Tisch und sie brachte ihm den üblichen Kaffee, und er konnte nicht fragen, ob sie schon weggegangen wäre, denn er kannte nicht einmal ihren Namen. Von seinem Sitzplatz aus schaute er durch die hohe Glasfront zur Terrasse, die von einer weit vorgezogenen Markise beschattet und von einem bunten Völkchen belegt war. Auch dort konnte er sie nicht entdecken. Da legte sich eine Hand auf seinen Arm:

„Hallo, ich habe jetzt Zeit. Ich setze mich ein bisschen zu Ihnen, ja?“ Sie setzte sich nahe an seine Seite, so nahe, dass sie ihre Hand auf seinem Arm lassen konnte, als habe sie sie vergessen. Er nahm sie, legte sie behutsam auf den Tisch und behielt sie zwischen seinen Fingern. Sie war fest und seltsam sehnig, nicht kalt, sondern erfrischend und gleichzeitig wärmte sie sein Inneres. Sie zog sie nicht zurück. Es war selbstverständlich: Sie hielten ihre Hände lange, während des Gesprächs, das sie an diesem Tisch führten und die Zeit vergaßen. Sie unterhielten sich drei Stunden. Er konnte es kaum glauben, als sie auf die Uhr schauten und beide in ein Lachen ausbrachen, wohl weil sie sich bestätigt fanden, seelenverwandt zu sein. Aber das weiß er jetzt erst. Die ganze Zeit konnte er seine Augen nicht von ihrem Gesicht nehmen. Er streichelte ihre Haut mit seinen Blicken und ihre Hand streichelte er mit seinen Fingerspitzen, als wären sie schon lang eng vertraut, und sie ließ es sich gefallen.

Sie erzählte ihm ihr halbes Leben, besser gesagt, lustige und traurige Geschichten aus ihrem halben Leben, wobei sie ihre Wörter auf ihn rieseln ließ, bis er ganz gefangen war in einem dichten Netz aus Zuneigung und Vertraulichkeit. In was für eine Welt ließ sie ihn schauen, so entgegengesetzt seinen einsamen, aufgeräumten, stillen Tagen! Sie erzählte ihm von ihren jungen Tagen und von ihren steinigen, kurvenreichen Wegen, bis sie zu ihrem Café kam. Sie ließ ein buntes Volk vor seinen Augen aufmarschieren, von dem sie gequält oder geliebt wurde: ihren Vater, den Exmann, ihre Freundinnen, Verwandte und Bekannte, ihren Sohn und ihre Mutter, die beide bei ihr wohnen. Sie ließ ihn eine Wärme spüren zu allen, auch zu denen, die ihr übel mitgespielt hatten, eine Zuneigung, die nur einer tiefen Lebensfreude und Lebensbejahung, kurz einem großen Herzen entspringen kann. Sie brachte ihn zum Lachen, wenn sie hinter die Masken dieser Leute blickte und ihr Seelenleben aufdeckte, mit heiterer Gelassenheit und erstaunlichem Einfühlungsvermögen.

Nach dem Blick auf die Uhr stand sie auf, nahe vor seinem Gesicht und schaute ihm tief in die Augen, als wollte sie das Echo ihrer Bekenntnisse entdecken, und er schaute ihr in die Augen, stumm und ihm war, als würden sie alle die Worte austauschen, die sie nicht gesagt hatten, die ihre junge Beziehung betrafen und die noch zu zart waren, um ausgesprochen zu werden. Er gab ihr seinen Prospekt. Sie warf einen flüchtigen Blick darauf, immer noch wortlos und dann verabredeten sie sich für den nächsten Tag, gleiche Zeit, gleicher Ort.

Alles das hat sich ihm unauslöschlich eingeprägt, glaubt er. So viele Einzelheiten, scheinbar unwichtige! Beim Weggehen von ihr, die noch am Tisch stand, als er sich umdrehte, bevor er ins Freie trat – die Hand hatte sie auf die Tischplatte aufgestützt – folgten ihm ihre Augen mit einem verschleierten Blick, müde oder verträumt. Da fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, nach ihrem Namen zu fragen. Morgen dachte er, und es war ungewohnt und schön, an Morgen zu denken in freudiger Erwartung. Zuhause - wieder konnte er ins Haus kommen ohne diesen eiskalten Schauer der Verlassenheit über sich ergehen lassen zu müssen - nahm er das Foto von Susanne in beide Hände und flüsterte ihr zu:

„Hast du dabei deine Hand im Spiel? Habt ihr sie mir über den Weg laufen lassen?“