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Fast zwei Jahre ist es nun her, dass die NSA in Gestalt von Jeremy McKay dem NASA-IT-Spezialisten Cliff Conroy und der Polizeipsychologin Judy Davenport aufgrund von fingierten Beweisen die Karriere und bürgerliche Existenz zerstört hat. Seither ermitteln die beiden im Auftrag von Senator Campbell als US-Bundesmarshals unauffällig im Bereich von UFO-Verschwörungen und paranormalen Phänomenen. Ein trügerisches Terrain, in dem es nur eine Gewissheit zu geben scheint: Die Gegenspieler sind in den Reihen der NSA zu suchen!
Doch nun bietet ausgerechnet ihr vermeintlicher Erzfeind McKay ihrem Vorgesetzten ein Zweckbündnis auf Zeit an, da angeblich die Sicherheit der gesamten Menschheit bedroht ist.
Können sich Cliff und Judy auf das Angebot einlassen, oder handelt es sich nur um einen weiteren perfiden Trick ihres undurchsichtigen Kontrahenten, um sie endgültig auszuschalten?
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Seitenzahl: 151
Cover
Die Macht im Hintergrund
UFO-Archiv
Vorschau
Impressum
Marten Veit
Die Macht im Hintergrund
Cahokia Mounds Site
Collinsville, Illinois, 02. August 2023, 13:47 Uhr
Das schwache Flirren in der Luft oberhalb des Monks Mounds war nur dann im hellen Tageslicht zu sehen, wenn man gute Augen hatte und zufällig in diese Richtung blickte.
Auf den elfjährigen Richard Brenston, genannt Richy, traf genau dies zu, denn er starrte bereits seit Minuten fasziniert auf die abgeflachte Spitze der alten indianischen Erdpyramide.
»Was ist das da, Dad?«, fragte er und deutete mit dem Zeigefinger der rechten Hand schräg in die Höhe.
David Brenston kniff die Augen im grellen Sonnenlicht zusammen und folgte dem ausgestreckten Arm seines Sohnes.
»Keine Ahnung«, murmelte er. »Wahrscheinlich eine Luftspieglung, so eine Art Fata Morgana.«
Im nächsten Augenblick nahm das Flirren auf einmal an Intensität zu. Ein verschwommener, leicht oval geformter Fleck schimmerte nun in matten Farben vor dem blauen Himmel ...
Was ist das?, fragte David sich nun ebenfalls. Polarlichter? Am helllichten Tag? So tief im Süden?
Nein, das war unmöglich. Zumal Polarlichter in den oberen Schichten der Atmosphäre auftraten und auch keine leuchtenden Kugeln ausspuckten ...
Die Kugel, ein silbrig-graues Objekt – David schätzte ihren Durchmesser auf einen knappen Meter –, wirkte im Gegensatz zu dem rot-grün-gelb flirrenden Oval, das sie ausgespien hatte, wie ein Kirschkern. Und gleich darauf erhielt sie Gesellschaft von einem zweiten, identisch aussehenden Objekt.
»Mini-UFOs!«, rief Richy aufgeregt. »Sieh doch, Dad, zwei Mini-UFOs!«
Dem konnte David nur beipflichten, denn so lange er nicht wusste, worum es sich bei den beiden Kugeln handelte, die einander jetzt eng umkreisten wie zwei Fliegen beim Paarungstanz, war das »U« wie unidentifiziert das zutreffende Adjektiv für die fliegenden Objekte.
Sharona, seine Frau, an deren Arm ihre vierjährige Tochter Becky wie ein junger Jagdhund zerrte, weil sie gerade einen besonders großen Grashüpfer entdeckt hatte, starrte nun ebenfalls in die Höhe.
»Jesus«, murmelte sie verblüfft. Die Kugeln wirbelten nun umeinander wie zwei Bolas eines argentinischen Gauchos, der die südamerikanische Version eines Lassos über seinem Kopf kreisen ließ. »Was ist das, David?«
David zuckte ratlos mit den Achseln, zog sein Smartphone aus der Gesäßtasche und richtete es auf das seltsame Phänomen.
Da es sich um einen regulären Arbeitstag handelte, war die Cahokia Mounds Site, ein beliebtes Ausflugsziel am Rande der City von St. Louis auf der anderen Seite des Mississippis, trotz des guten Wetters um diese Uhrzeit nicht übermäßig stark besucht. Bisher schien niemand sonst in Davids Nähe den flirrenden Fleck über der indianischen Erdpyramide entdeckt zu haben, doch die beiden Kugeln begannen allmählich, die Aufmerksamkeit anderer Besucher auf sich zu ziehen.
Einige Arme deuteten in die Höhe, hier und da wurde ein Smartphone auf die kreiselnden Kugeln gerichtet.
»Das gefällt mir nicht, David«, sagte Sharona leise, aber mit Nachdruck. »Komm, verschwinden wir von hier!«
»Wieso?«, entgegnete David. Er filmte unbeirrt weiter, und Richard nickte zur Unterstützung seines Vaters eifrig. »Die Dinger tun doch niemandem was. Wahrscheinlich eine neue Generation von Kamera-Drohnen, die 3D-Aufnahmen vom Monks Mound machen. Völlig harmlos und ...«
Was er sonst noch hatte sagen wollen, blieb ihm im Halse stecken, als sich eine der beiden Kugeln unvermittelt aus dem »Paarungstanz« löste, direkt auf ihn und Richy zuschoss und nur knapp drei Meter entfernt in Kopfhöhe vor ihnen in der Luft verharrte.
Von irgendwoher drang eine Art Quietschen an Davids Ohr, und es dauerte einen Moment, bis er registrierte, dass es nicht etwa von seiner Frau, sondern von ihm selbst stammte. Zeitgleich spürte er, wie Richy eine Hand in sein Hemd krallte.
Obwohl die Kugel vor seinen Augen wie matt poliertes Blech im hellen Sonnenlicht schimmerte und ansonsten keine weiteren Konturen aufwies, hatte David das unheimliche Gefühl, wie von einem überdimensionalen Auge angestarrt zu werden, und er fragte sich wie betäubt, ob das Ding wirklich so harmlos war, wie er noch vor wenigen Sekunden behauptet hatte.
Langsam, ohne eine bewusste Entscheidung getroffen zu haben, wich er Schritt für Schritt zurück, wobei er seinen Sohn, der sich weiter an seinem Hemd festhielt, mit sich zerrte. Sein Herz schlug jetzt so heftig, dass das Blut in seinen Ohren rauschte. Sharona rief irgendetwas, das er nicht verstand.
Die Kugel zögerte einen Moment, dann hüpfte sie ein Stück in seine und Richys Richtung, als wollte sie ihre Studienobjekte nicht aus den Augen lassen.
David erstarrte. Seine Beine fühlten sich beinahe wie zwei Fremdkörper an, die beschlossen hatten, die Verbindung zu seinem Gehirn zu lösen. Die Hand mit dem Smartphone sank wie von selbst herab und richtete sich auf die glänzende Kugel, die den alten Abstand wieder hergestellt hatte.
Bevor David irgendetwas tun oder sagen konnte, klang erneut ein quietschendes Geräusch auf, das diesmal tatsächlich von Sharona stammte.
Das Flirren in der Luft über dem Monks Mound intensivierte sich für einen kurzen Moment, bevor es langsam matter wurde, so als würde ein Dimmer eine Leuchte herunterregeln.
Die zweite fliegende Kugel, die ihre alte Position beibehalten hatte, fast so, als wollte sie ihrer Partnerin Rückendeckung geben, schoss auf das farbige Oval in der Luft zu und wurde regelrecht von ihm verschluckt, sodass sie innerhalb eines Sekundenbruchteils verschwand.
Die andere Kugel reagierte offenbar einen Augenblick zu spät. Obwohl sie übergangslos wie von einem straffen Gummiseil gezogen auf das schnell verblassende Gebilde zuschnellte, erreichte sie es nicht mehr rechtzeitig, bevor es sich mit einem leisen Plopp auflöste, das David an das Geräusch erinnerte, wie es das Segment einer Luftpolsterschutzfolie erzeugte, wenn man es zerquetschte.
Nachdem sie die Stelle durchquert hatte, an der die Luft gerade noch geflirrt hatte, verharrte die Kugel eine Sekunde lang auf der Stelle, als sei sie ratlos, was sie nun tun sollte, dann zuckte sie scheinbar unkontrolliert hin und her, so schnell, dass man ihren Bewegungen unmöglich mit den Augen folgen konnte. Schließlich verharrte sie erneut auf der Stelle, bevor sie mit irrwitziger Geschwindigkeit in die Höhe schoss und bereits einen Herzschlag später im Blau des Himmels verschwunden war.
Es waren zwei Dinge, die David durch den Kopf gingen, als das Gefühl in seine Beine zurückkehrte und seine Knie leicht zu zittern begannen: Trotz der unglaublichen Geschwindigkeit, mit der die zweite Kugel verschwunden war, hatte sie nicht das geringste Geräusch verursacht, was ihm völlig unmöglich erschien. Ein Antrieb, der sie zu einer solchen Geschwindigkeit befähigte, musste einfach Geräusche erzeugen. Und selbst wenn nicht, ein Gegenstand, der sich so schnell durch die Luft bewegte, musste ein Pfeifen oder Heulen verursachen, wenn nicht gar einen Überschallknall. Als Flugzeugtechniker war David mit den Gesetzen der Physik und der Aerodynamik bestens vertraut.
Die andere Beobachtung, die sein analytisch arbeitender Verstand automatisch gemacht hatte, betraf das Leuchten der Kugel. Das Schimmern, das er anfangs für Reflexionen der Sonnenstrahlen gehalten hatte, musste von dem Objekt selbst ausgegangen sein, denn es war im selben Moment verblasst, in dem sich das flirrende ovale Gebilde über der Erdpyramide aufgelöst hatte. So als hätte es von dort seine Energie bezogen, oder zumindest einen Teil davon.
Vielleicht helfen mir die Aufnahmen auf dem Smartphone weiter, dachte er und spürte, wie seine technische Neugier die Oberhand über seine Verwirrung gewann, während er sah, wie sich Sharona und Becky Schutz suchend an ihn drängten, als fürchteten sie, der Spuk könnte jederzeit zurückkehren und sich als gefährlich erweisen.
Doch seine Hoffnung zerstob genau wie das flirrende Oval über dem Monks Mound, als ihm am Ausgang der Cahokia Mounds Site zwei, in dunkle Anzüge gekleidete Männer mit dunklen Sonnenbrillen entgegentraten. David hätte beinahe aufgelacht, so sehr bestätigten die beiden jedes Klischee von Geheimdienstagenten oder der berüchtigten Men in Black.
Deshalb war er auch alles andere als überrascht, als der jüngere der beiden Männer eine Hand hob und der Familie Brenston unmissverständlich den Weg versperrte.
»Ma'am, Sir!«, sagte er höflich, aber bestimmt. »Ich muss Sie bitten, uns Ihre Kameras oder Smartphones auszuhändigen, die Sie selbstverständlich nach einer kurzen Überprüfung von uns zurückbekommen werden.«
»Ähm ...«, begann David, obwohl er sofort ahnte, dass jeder Widerspruch vergeblich sein würde. »Meine Frau und ich haben keine Kameras, nur jeweils ein Smartphone, aber die sind unser persönliches Eigentum und enthalten nur private Aufnahmen und Daten.«
»Natürlich, Sir, ich verstehe«, erwiderte der zweite schwarz gekleidete Mann, während sein Kollege den Brenstons weiterhin wie ein Bulldozer mit unbewegter Miene wortlos den Weg versperrte. »Wir beabsichtigen auch keineswegs, Ihr Eigentum zu beschlagnahmen. Aber wir sehen uns im Interesse der nationalen Sicherheit gezwungen, die Datenspeicher Ihrer Telefone einer kurzen Überprüfung zu unterziehen. Danach erhalten Sie sie unverzüglich zurück.«
Resigniert übergab David dem Mann sein Mobiltelefon und bedeutete Sharona mit einem Nicken, seinem Beispiel zu folgen.
»Es geht um diese merkwürdigen Phänomene über dem Monks Mound, nicht wahr?«, fragte er. »Bastelt Uncle Sam mal wieder an irgendwelchen technischen Wunderdingen herum, die die Bevölkerung nichts angehen?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Sir«, versicherte der Mann ungerührt, immer noch höflich aber unterkühlt, während er die Smartphones einsammelte und nach einem kurzen prüfenden Blick darauf verzichtete, an David und Sharona eine Leibesvisitation vorzunehmen. Dann deutete er auf den Parkplatz am Ende des Kiesweges, wo David eine kleine Gruppe anderer Besucher entdeckte, die vor einem Klapptisch neben einem schwarzen Van mit geöffneter Seitentür standen, eingerahmt von einer Handvoll weiterer dunkel gekleideter Gestalten. »Es dauert nicht lange, wir müssen nur Ihre Personalien aufnehmen, damit wir Ihnen Ihr Eigentum nach der leider erforderlichen Untersuchung zurückgeben können.«
»Ohne uns anschließend zu blitzdingsen?«, erkundigte sich David mit einem Anflug hilflosen Humors.
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Sir«, wiederholte der Schwarzgekleidete, ohne auf Davids sarkastischen Seitenhieb zu reagieren. Dann machte er eine einladende Handbewegung in Richtung des Klapptisches vor dem Van. »Bitte, folgen Sie mir.«
Drei Tage zuvor ...
Crypto City
Fort Meade, Maryland, 30. Juli 2023, 15:43 Uhr
Jeremy McKay saß mit geschlossenen Augen vor dem Computermonitor an seinem Schreibtisch. Die Nachricht, die er vor einem Tag per E-Mail erhalten hatte, ohne den Server ausfindig machen zu können, über den sie ursprünglich verschickt worden war, konnte er auch mit geschlossenen Lidern klar und deutlich sehen, als hätte sie sich in seine Netzhaut eingebrannt.
»Die Einschläge kommen näher, Jay-Boy. Sei auf der Hut. Der Feind eskaliert. Die nächste Phase steht bevor. Orte von Interesse, nicht nur in den USA. Deine Priorität: Cahokia Mounds Site. Genaues Datum: Unbekannt. Zeitrahmen: Ungefähr zwei Wochen, beginnend mit dem heutigen Tag. Weitere Orte siehe Anhang. Erinnere dich an den Atlantis-Mythos. Dort liegt der Schlüssel. Wenn ich mich nicht getäuscht habe, wirst du es auch erkennen. Wenn doch, hoffe ich, dass du meinen Irrtum entdeckst.
Du weißt, was du zu tun hast.
Enttäusch mich nicht.
Jay-Boy.«
Es war nicht so sehr der Inhalt der kurzen Mail und die angehängte Liste mit den Koordinaten der »Orte von Interesse«, bei denen es sich vornehmlich um alte indianische Stätten in Amerika und andere antike Siedlungen überall auf der Welt handelte. Es war vielmehr der Spitzname Jay-Boy, den der Absender nicht nur für sich selbst, sondern auch für den Empfänger benutzt hatte.
Ein Spitzname für Jeremy McKay, den außer ihm selbst nur sein alter Jugendfreund Boy-Boy, kannte. Boyd Krasnik.
Doch Boyd war seit nunmehr gut dreißig Jahren tot ...
Und auch die Art, wie die Nachricht formuliert war, trug eindeutig McKays Handschrift. Was nur den Schluss zuließ, dass die Nachricht tatsächlich von ihm selbst stammen musste. Denn die andere Möglichkeit, dass irgendjemand aus seiner fernen Vergangenheit, dem Boy-Boy –also Boyd – dieses intime und peinliche Geheimnis anvertraut hatte, sich ausgerechnet nach mehr als dreißig Jahren auf diesem Weg bei ihm meldete und damit ein nicht unerhebliches Risiko für Leib und Leben, zumindest aber für seine Freiheit einging, war verschwindend gering.
Jeremy McKay war kein Fantast, aber seit er im Jahr 2001 in einer Art kaltem Handstreich das bis zu diesem Zeitpunkt von »Buzz« geleitete Project GhostRider übernommen hatte, die geheime Fortführung des Anfang 1970 offiziell eingestellten Project Bluebook, war sein altes, auf den klassischen Naturgesetzen beruhendes Weltbild, mehr als nur leicht ins Wanken geraten. Experimente wie die Quantenverschränkung hatten bereits bewiesen, dass es doch möglich war, Informationen ohne Zeitverlust über größere Entfernungen hinweg zu übermitteln. Und wer die Barriere umgehen konnte, die die Lichtgeschwindigkeit dem Zeit-Raum-Kontinuum setzte, konnte theoretisch irgendwann auch in der Lage sein, Informationen in die Vergangenheit zu schicken.
Ohne die Augen zu öffnen, griff er nach dem Whiskeyglas auf dem Schreibtisch vor sich und trank einen winzigen Schluck, einen Luxus, den er sich um diese Uhrzeit nur gönnte, wenn er allein war. Die zweite seltene Schwäche, der er nachgab, bestand darin, während der Dienstzeit in Erinnerungen zu schwelgen. Und nach Jeremy McKays Verständnis befand er sich quasi rund um die Uhr im Dienst.
Er war ein eher schwieriges Kind gewesen, hochintelligent, aber impulsiv, ungeduldig und mit einem Mangel an Empathie gestraft. Nicht vorsätzlich grausam oder sadistisch, aber häufig unfähig, die Konsequenzen seiner Handlungen einzuschätzen, was die Gefühle von anderen betraf. Und so hatte er sich, das Einzelkind von arbeitswütigen Eltern, schon früh zu einem Einzelgänger entwickelt.
Bis er Boyd Krasnik begegnet war. Einem anderen Außenseiter wie er selbst. Ebenfalls hochintelligent und impulsiv, doch im Gegensatz zu ihm auch mit einer sadistischen und bösartigen Ader versehen.
Boyd hatte bereits als Zehnjähriger ein seltsames Hobby entwickelt und immer weiter perfektioniert. Es bestand darin, Menschen unauffällig zu verfolgen und auszuspionieren. Und dann das so über sie gewonnene Wissen zu benutzen, um ihnen Streiche zu spielen und sie subtil zu manipulieren. Jeremy war völlig fasziniert gewesen, als er erkannt hatte, welche Auswirkungen kleine Anstöße haben konnten, wenn man sie nur zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen Stellen anbrachte, vorausgesetzt, man kannte die Schwachpunkte seiner Opfer.
So hatten sie gemeinsam dafür gesorgt, dass in ihrem Umfeld alte Freundschaften zerbrachen, neue entstanden, Musterschüler bei ihren Lehrern in Ungnade fielen und bisherige Underdogs plötzlich an Beliebtheit gewannen.
Boyd war bisweilen sogar weiter gegangen. Ein Lehrer, den er gehasst hatte, hatte von heute auf morgen seinen Job verloren, ein anderer war versetzt worden. Die Ehe seiner Biologielehrerin war zerbrochen, kurz nach einer an sich harmlosen Bemerkung gegenüber Boyd, durch die er sich verletzt gefühlt hatte.
Jeremy hatte Boyd irgendwann nach einem besonders gelungenen Streich scherzhaft Boy-Boy genannt, worauf Boyd mit Jay-Boy gekontert hatte, Jay für den Anfangsbuchstaben von Jeremy.
Diese Spitznamen hatten sie nur untereinander benutzt, und auch das nur ziemlich selten. Es war ihre Art gewesen, einander ihre Sympathie und ihren gegenseitigen Respekt zu bekunden. Gewissermaßen waren sie zwei emotional gehemmte Jungen, die sich ihrem Umfeld einerseits grenzenlos überlegen fühlten, sich andererseits aber auch nach Zuneigung und Wärme sehnten, die sie bei den anderen nie finden konnten.
Und dann, einen Tag vor dem Abschlussball am Ende der Highschool, war Boyd von Jack Bower, dem Captain des Football-Teams, überfahren worden.
Ein tragischer Unfall? Es schien so, aber Jeremy war überzeugt davon, dass Boyd seinen eigenen Tod inszeniert hatte. Alle Umstände sprachen dafür. Besonders die Auswirkungen, die der »Unfall« hatte. Die Beziehung des angehenden Football-Stars und seiner bildhübschen Freundin Nicky war zerbrochen, sie wurden nicht, wie allgemein erwartet, am Ende des Schuljahrs zur Ballkönigin und zum Ballkönig gekrönt. Jacks hoffnungsvolle Karriere als NFL-Profi endete, noch bevor sie begonnen hatte, nachdem im Handschuhfach seines Wagens, der Boyd überrollt hatte, Kokain gefunden wurde und er in der Psychiatrie landete, und seine gertenschlanke Freundin fraß sich vor Kummer innerhalb kürzester Zeit dreißig Kilo Übergewicht an und begann zu trinken.
Ein Ergebnis, wie es nur Boyd in dieser niederschmetternden Konsequenz geplant haben konnte. Boyd, der im Verborgenen für Nicky geschwärmt und im Gegensatz zu seinem einzigen Freund Jeremy keine Partnerin für den Abschlussball gefunden hatte. Weil er keine Lust auf eine derart »verlogene und schleimige Looser-Veranstaltung« hätte, wie er abfällig behauptet hatte, aber McKay wusste es besser. Denn anders als Boyd besaß er trotz aller emotionaler Defizite genug Menschenkenntnis, um seinen Freund zu durchschauen. In Wahrheit wäre Boyd nämlich gern mit einem hübschen Mädchen auf den Abschlussball gegangen, aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte er darauf verzichtet, seine manipulativen Fähigkeiten dazu einzusetzen, eine seiner Mitschülerinnen dazu zu bringen, ihn auf den Ball zu begleiten.
Boyds Tod hatte McKay schwer getroffen, auch wenn er ihn eher für eine rücksichtslose Art von Selbstmord als für einen Unfall hielt. Aber es war nicht leicht, seine einzige Bezugsperson zu verlieren.
Die ersten Tage nach Bodys Tod hatte er, wie in Gedenken an seinen verstorbenen Freund, damit begonnen, seine Eltern auszuspionieren, die wie immer keine Zeit für ihn hatten. Und er war nicht einmal sonderlich überrascht gewesen, als er herausfand, dass sie einander betrogen. Wie es schien schon seit Langem.
Danach war es ihm nicht schwergefallen, seine von Boy-Boy erworbenen Fähigkeiten dafür zu verwenden, die Ehe seiner Eltern in kürzester Zeit in die Brüche gehen zu lassen und ihnen zusätzlich ein so schlechtes Gewissen ihm gegenüber zu geben, dass er das elterliche Zuhause mit zwei äußerst großzügig bemessenen Geldgeschenken für immer verlassen konnte. Und als er während einer längeren einsamen Wanderung durch die Rockies sein bisheriges Leben Revue passieren ließ, war er zu dem Schluss gekommen, dass seine Talente und Neigungen ihn geradezu für einen Job in der Geheimdienstbranche prädestinierten.
Nach einer kurzen Zeit bei der CIA war er mit den besten Empfehlungen zu der damals noch recht geheimnisumwitterten NSA übergewechselt, wo er sich schnell hochgearbeitet hatte. Und mittlerweile eine der geheimsten Abteilungen dieses undurchsichtigsten aller Geheimdienste der USA leitete.
Natürlich auch dank seines alten Freundes Boy-Boy, der letztendlich Jay-Boy zu dem gemacht hatte, was Jeremy McKay heute war. Einer der einflussreichsten Strippenzieher hinter den Kulissen, der die Leitung der NSA als ihr offizieller Direktor schon vor Jahren hätte übernehmen können. Wenn ihm danach zumute gewesen wäre. Wenn er das Bedürfnis verspürt hätte, seine weitgehende Anonymität aufzugeben und ins Licht der Öffentlichkeit zu treten.
Er blinzelte, löschte die Erinnerungen an die Vergangenheit wie das Licht einer Nachttischlampe, leerte das Whiskeyglas und griff nach dem Telefon.
Es wurde nämlich Zeit, eine ungewöhnliche Entscheidung mit weitreichenden Auswirkungen zu treffen. Ungewöhnliche Umstände erforderten nun einmal ungewöhnliche Maßnahmen.
Seine Stimme klang ruhig, beherrscht und emotionslos wie immer, als er sagte: »Sheila, bringen Sie in Erfahrung, wo sich Senator Campbell gerade aufhält. Und dann stellen Sie mich bitte zu ihm durch. Nicht zu einem seiner Mitarbeiter, sondern direkt zu ihm.«
Luftraum nordöstlich von Mexico City, nahe Teotihuacán
02. August 2023, 14:07 Uhr