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Es ist kein Geheimnis, dass die diplomatischen Vertretungen der meisten Staaten im Ausland auch nachrichtendienstliche Aktivitäten durchführen. Allerdings besteht Uneinigkeit darüber, ob diese Aufgaben hauptsächlich von Kulturattachés und ihren Mitarbeitern wahrgenommen werden.
Doch als Janice Cramer, die stellvertretende Kulturattaché der amerikanischen Botschaft in Prag, über Nacht verschwindet, erhärtet sich der Verdacht eines nachrichtendienstlichen Hintergrunds. Deshalb entsendet Senator James Victor Campbell die US-Bundesmarshals Cliff Conroy und Judy Davenport auf eine semioffizielle Mission nach Prag, denn bei der verschollenen Diplomatin handelt es sich ebenfalls um eine verdeckte Mitarbeiterin der geheimen UFO-Akten. Und mit Andrej Garbatschow scheint auch ein alter Bekannter von Cliff und Judy in die rätselhafte Affäre verstrickt zu sein ...
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Seitenzahl: 145
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Die verschollene Diplomatin
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Marten Veit
Die verschollene Diplomatin
In den Bergen nördlich von Kunduz
Afghanistan, 12. Juli 1988, 10:25 Uhr
»Werd' nicht leichtsinnig, Dimitri«, warnte Andrej Garbatschow den jungen Soldaten, als der sich hinter der Schutzmauer aufrichtete. »Die Mudschaheddin können nicht nur sehr gut mit ihren alten Schießprügeln umgehen, sie sind von der CIA auch mit modernen Waffen ausgerüstet worden.«
Dimitri lächelte. Er war mit seinen neunzehn Jahren nicht nur theoretisch blutjung, sondern dies wurde auch von seinem Äußeren unterstrichen. »Keine Sorge, Andrej«, erwiderte er, sah sich um und schwenkte die Arme. »Ich gehe gleich wieder in Deckung. Muss mich nur mal kurz strecken, bevor ich ...«
Was auch immer er noch hatte sagen wollen, sollte für immer ungesagt bleiben, als übergangslos ein kleiner runder Kreis zwei Finger breit über seiner linken Augenbraue erschien ...
Andrej erstarrte, sein Blick saugte sich regelrecht an Dimitris Gesicht fest, das immer noch fröhlich, wenn auch vielleicht ein bisschen verblüfft wirkte.
Erstaunlicherweise gaben seine Knie nicht nach. Stattdessen kippte er mit gerade durchgedrücktem Rücken langsam vornüber. Ein gelblich-grauer, mit roten Flecken gesprenkelter länglicher Klecks an der Felswand hinter ihm, verriet Andrej, dass die Austrittswunde im Hinterkopf des jungen Soldaten deutlich größer und unregelmäßiger als das wie sauber gestanzt aussehende Einschussloch in Dimitris Stirn war. Er fing den Körper seines Kameraden auf, bevor der mit dem Gesicht voraus auf den nackten Fels schlagen konnte.
Einen Moment lang war er unachtsam gewesen, hatte sich ablenken lassen und die akute Gefahr nicht gespürt. Als rund fünf Sekunden später ein leiser trockener Knall aus der Ferne durch die klare Bergluft an seine Ohren drang, kalkulierte sein soldatisch geschultes Gehirn reflexartig die Entfernung bis zu dem afghanischen Scharfschützen auf gut anderthalb Kilometer. Vorausgesetzt, der Mudschaheddin hatte zum Beispiel eine Barrett 98 benutzt, ein gängiges amerikanisches Scharfschützengewehr, wie seine Einheit es bereits zweimal im Gebiet von Kunduz bei getöteten Afghanen gefunden hatte.
»Dimitri, mein Freund«, sagte er leise, während er den Toten in den Armen hielt. Noch war der Geist des jungen Mannes nicht vollständig aus seinem verletzten Kopf gewichen, obwohl sein Herz schon nicht mehr schlug und ein EKG garantiert keine Gehirnaktivitäten mehr aufgezeichnet hätte. »Ich bleibe hier bei dir, so lange es dauert. Hab' keine Angst. Du gehst jetzt heim. Für dich ist der Krieg zu Ende. Kein Töten mehr. Keine Angst mehr, keine Trauer, kein Bedauern. Keine weiteren sterbenden Kameraden, die nach ihren Müttern rufen. Für dich gibt es jetzt nur noch Frieden.«
Er lauschte auf das Flüstern von Dimitris lautloser Stimme in seinem Kopf, das wie ein schwacher Lufthauch durch sein Gehirn wehte, während der Körper seines Kameraden, steif von den Nachwirkungen des Nervenschocks, in seinen Armen erschlaffte. Das Licht in den schiefergrauen Augen des jungen Soldaten erlosch.
»Wir werden dich heimbringen, Dimitri«, flüsterte er. »Du kehrst heim zu deiner Mutter, deinem Vater und deinen Geschwistern. Du wirst in der Erde deiner Heimat ruhen. Das verspreche ich dir.«
Er bettete den Toten vorsichtig auf dem nackten Felsboden ihres Unterstandes in einem Loch in der steilen Bergflanke, das sie mit einer niedrigen Mauer aus aufgeschichtetem Geröll gesichert hatten, und versuchte, das glitschige Gefühl an seinen Fingern der rechten Hand zu ignorieren, die Dimitris zerplatzten Hinterkopf hielten.
Die Schutzmauer war zu niedrig gewesen, wie sich gezeigt hatte. Zu niedrig, um sich dahinter auch nur einmal für wenige Sekunden völlig aufzurichten, kurz zu strecken oder die verkrampften Muskeln zu dehnen.
Zu niedrig für einen jungen, warmherzigen und lebenslustigen Russen, der diesen Krieg nicht gewollt und nie richtig verstanden hatte.
Dann griff er nach dem Funkgerät und drückte dreimal die Sprechtaste hinunter, bevor er sie festhielt und mit ruhiger Stimme meldete: »Hier Andrej aus dem ›Vogelnest‹. Dimitri Borisowitsch ist tot. Ein Scharfschütze. Etwa anderthalb Kilometer nordöstlich von unserer Position. Andrej, Ende.«
Malá Strana, Amerikanische Botschaft
Prag, Tschechien, 16. Oktober 2023, 15:44 Uhr
»Und?«, fragte Cliff, den Blick auf die Fassade des großen Gebäudes gerichtet, über dessen wuchtiger Eingangstür der Sternenbanner wehte. »Kommen da Erinnerungen auf?«
Judy schüttelte den Kopf. »Nicht besonders viele«, erwiderte sie. Sie klang beinahe ein wenig enttäuscht. »Was aber auch nicht allzu ungewöhnlich ist. Ich war damals fünfzehn Jahre alt und hatte wie alle Mädchen meines Alters andere Dinge als Architektur im Kopf. Außerdem war ich nur für ein paar Wochen während der Sommerferien hier, um meinen Vater zu besuchen, der kurzfristig für den erkrankten Wirtschaftsattaché eingesprungen ist. Und, wie gesagt, es war Sommer. Das Wetter war besser als heute.«
Wie um ihre Worte zu unterstreichen, zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn hoch. Ein Windstoß von der nahen Moldau her fegte durch die schmale Kopfsteinpflastergasse auf der Malá Strana, der »Kleinseite« Prags, die das Botschaftsviertel beherbergte. Es hatte am Morgen geregnet und war recht kühl für Mitte Oktober. Oben am Himmel jagten sich die Wolken.
»Fällt inmitten des Overkills an beeindruckender klassischer Architektur gar nicht sonderlich auf«, kommentierte Cliff, den Kopf noch immer in den Nacken gelegt. »Ich habe es mir allerdings größer und mondäner vorgestellt.« Im Gegensatz zu seiner Partnerin war er noch nie in Prag gewesen. Überhaupt hielten sich seine Erfahrungen mit Europa in Grenzen. Abgesehen von einer dreiwöchigen Reise nach dem Ende seiner Collegezeit durch Frankreich und Italien sowie seines kürzlichen Einsatzes mit Judy in Spanien, war Europa für ihn in großen Teilen Terra incognita1.
»Die meisten amerikanischen Botschaften in Europa machen äußerlich nicht so viel her, wie man glauben würde«, murmelte Judy. Ihr schulterlanges dunkelbraunes Haar, das sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, flatterte im Wind. »Zumindest die, die ich von Fotos kenne. In dem Punkt sind wir bescheidener als viele europäische Nationen, die häufig kleiner als Texas sind und mit prachtvollen Immobilien protzen. Vielleicht müssen die ja was kompensieren.«
Cliff grinste flüchtig und näherte sich dem Eingang. Irgendwie hatte er zwei kernige junge Marines in Uniform erwartet, die den Eingang flankierten, aber das einzige Wachpersonal, sofern man es so nennen konnte, bestand aus zwei gelangweilt wirkenden tschechischen Polizisten, die an ihrem Dienstwagen lehnten.
In Kopfhöhe neben der Tür befand sich eine Gegensprechanlage. Cliff drückte die Sprechtaste und gab seinen und Judys Namen an. Dabei bemerkte er, dass die beiden Polizisten sich ihnen jetzt zugewandt hatten und sie beobachteten, ohne allerdings Anstalten zu machen, sich dem Botschaftsgebäude zu nähern.
Die schwere, mit massivem Holz verkleidete Eingangstür sprang einen Spalt weit auf. Bei dem jungen Mann, der ihn kurz prüfend musterte, bevor er ihn und Judy hereinbat, handelte es sich offensichtlich um einen Profi, wie seine knappen sparsamen Bewegungen und die sichtbare Auswölbung in der Jacke unterhalb seiner linken Achsel verrieten. Ein zweiter Mann, der ihm in Alter, Statur und unauffälliger Kleidung ähnelte, stand ein paar Meter hinter einer aus wenigen Stufen bestehenden Treppe im Eingangsflur vor einer zweiten verschlossenen Tür.
»Guten Tag, Sir«, grüßte der junge Mann höflich und nickte Judy zu. »Ma'am. Sie werden erwartet, Marshals.«
Er behielt die Außentür genau im Auge, bis sie sich ohne sein Zutun beinahe lautlos wieder geschlossen hatte, bevor er sich umdrehte und seine Besucher die kurze Treppe zu der nüchtern gestalteten zweiten Innentür führte.
Seine Kollege nickte Cliff und Judy stumm mit reglosem Gesichtsausdruck zu und betätigte den Türöffner. Die zweite Tür glitt ebenso leise und flüssig wie die wuchtige Eingangstür auf.
Cliff wusste nicht, was er eigentlich erwartet hatte. Vielleicht geschwungene freischwebende Treppen über zwei Etagen und Podeste mit antiken Büsten sowie schwere Kronleuchter an den Decken, nicht aber die nüchterne, zweckmäßige Ausstattung des Barockpalais, das seit mehr als hundert Jahren die amerikanische Botschaft beherbergte. Andererseits verströmte das Eingangsfoyer mit seinem glänzenden Marmorboden, den hohen Decken und riesigen Türbögen eine zeitlose Eleganz, die durchaus beeindruckend war.
Der Mann, ein Angehöriger des botschaftsinternen Sicherheitsdienstes DSS, der vermutlich eine mehrjährige Spezialausbildung bei den Marines oder Navy Seals absolviert hatte, geleitete sie zielstrebig zu einem großen Büroraum am anderen Ende des Foyers, dessen Tür offen stand.
»Sir, die Lady und der Gentleman vom Marshals Service«, meldete er, ohne das Büro selbst zu betreten.
»Danke, David«, erwiderte ein grauhaariger Mann vor einem der hohen Fenster, die auf einen weiträumigen Garten hinausführten. »Sie können gehen. Ich kümmere mich um unsere Gäste.«
»Sir«, gab der Sicherheitsbeamte knapp zurück und verschwand.
Im nächsten Augenblick drehte sich der Mann, der bisher durch das dreifach verglaste Fenster geschaut hatte, hinter dem der Herbstwind bunte Blätter über einen akkurat gepflegten Rasen trieb, um und machte eine einladende Handbewegung.
»Ms. Davenport, Mr. Conroy, nicht wahr?«, begrüßte er die beiden U.S. Marshals freundlich mit einem offenen Lächeln. »Bitte, treten Sie ein.« Dann deutete er in Richtung seines großen Schreibtisches, neben dem ein deutlich kleinerer und niedrigerer Rauchglastisch stand, um den sich einige Sessel gruppierten. »Der Botschafter ist zurzeit zusammen mit dem Kulturattaché unterwegs, weshalb Sie mit mir vorliebnehmen müssen. Mein Name ist Charles Norland. Ich bin der Kanzler dieser Botschaft. Was auch immer Sie benötigen, ich bin Ihr Ansprechpartner. Zögern Sie nicht, sich direkt an mich zu wenden.«
»Danke, Sir«, erwiderte Cliff, der automatisch die Rolle des Wortführers übernommen hatte. Denn auch wenn Judy behauptete, keine genaueren Erinnerungen mit der Botschaft zu verbinden, spürte er genau, wie sehr sie die Rückkehr an diesen Ort aus ihrer Vergangenheit beschäftigte. Seit sie das barocke Gebäude betreten hatten, gingen ihre Blicke auf Wanderschaft.
Kurz darauf nahmen sie in den Sesseln vor dem niedrigen, wie aus der Zeit gefallenen Rauchglastisch Platz, der nicht so recht zum Rest des mondänen Interieurs passen wollte.
»Kaffee?«, fragte der Kanzler. »Oder vielleicht Tee? Oder etwas anderes?« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Sofern Sie nicht zurzeit im Dienst sind, könnte ich Ihnen auch ein gutes tschechisches Bier anbieten. Wie die Deutschen zu pflegen sagen: ›Kein Bier vor vier‹, und vier ist gerade vorbei. Und wie die Deutschen sind auch die Tschechen berühmt für ihr Bier. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass das tschechische Bier das beste der Welt ist. Manche würden dieses Prädikat eher an die Deutschen oder die Belgier vergeben, aber ich schwöre auf die Tschechen.«
Er ließ erneut sein strahlendes Lächeln aufblitzen, und Cliff konnte nicht anders, als es zu erwidern. Genau wie Judy.
Norland war der geborene Diplomat. Er verströmte eine entwaffnende Freundlichkeit, die geradezu ansteckend wirkte. Doch auch wenn diese echt und nicht gespielt war, ließ sich Cliff nicht davon täuschen. Genauso wenig wie er auf den Gedanken gekommen wäre, Norlands Angebot anzunehmen, ein Bier zu trinken. Der kurze Bierdiskurs hatte lediglich dazu gedient, die Atmosphäre zu lockern. Norland war kein oberflächlicher charmanter Dampfplauderer, er wusste genau, was er tat.
»Ein Kaffee wäre wirklich nicht schlecht«, sagte Judy. »Das Gebräu, das sie uns im Flieger serviert haben, war kaum genießbar.«
Cliff schloss sich ihr an.
Der Kanzler hob eine Hand, und eine Ordonanz, die sich wie aus dem Nichts materialisiert hatte, erschien neben der Besuchersitzecke.
»Kaffee für meine Gäste«, sagte Norland. Es klang mehr wie eine Bitte als wie eine dienstliche Anweisung. »Und bringen Sie bitte ein paar von Laras Brownies mit. Danke.«
Die Ordonanz verschwand genauso geräuschlos wie sie angerückt war.
Charles Norland beugte sich in seinem Sessel vor, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, die Hände verschränkt. »Also, Marshals«, begann er, noch immer freundlich, aber längst nicht mehr so unverbindlich. »Sie sind gekommen, um dem Grund für das spurlose Verschwinden unserer Janice Cramer nachzugehen. Das weiß ich sehr zu schätzen. Jede Unterstützung ist uns natürlich sehr willkommen. Aber ich muss gestehen, dass mich das Erscheinen des U.S. Marshals Service hier in Prag doch ein wenig irritiert. Zumal sich bereits neben dem FBI und unseren eigenen Leuten vom DSS in Kooperation mit der hiesigen Polizei auch die für derartige Belange zuständigen Institutionen unseres Landes um den Fall kümmern.«
Die wortreiche Umschreibung für die CIA wäre gegenüber Mitarbeitern des U.S. Marshals Service eigentlich unnötig gewesen, aber Diplomaten waren so geübt darin, sich einer unverfänglichen Wortwahl zu bedienen, dass Norland den Auslandsnachrichtendienst der USA automatisch nicht namentlich erwähnte.
»Wir sind auf eine Bitte Senator Campbells hin nach Prag geflogen«, erwiderte Cliff. »Natürlich setzt der Senator vollstes Vertrauen in die Fähigkeiten der zuständigen Dienste, aber da die Stellvertreterin des Kulturattachés bereits mehrfach dienstlich für ihn tätig war, möchte er einen persönlichen Beitrag für ihre Auffindung und die Gewährleistung ihrer Sicherheit leisten.«
Norland nickte beifällig, und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Cliffs Antwort war in ihrer Unverbindlichkeit und Gespreiztheit der eines Vollblutdiplomaten würdig gewesen. Judy, die durch den Beruf ihres Vaters mit den diplomatischen Gepflogenheiten bestens vertraut war, hatte ihn im Vorfeld entsprechend instruiert.
Obwohl die zuständigen tschechischen Behörden über ihre Stellung informiert waren und wussten, dass die beiden U.S. Marshals nicht rein zufällig genau zu diesem Zeitpunkt nach Prag gekommen waren, ermittelten Cliff und Judy nicht offiziell in der Causa Janice Cramer. Technisch gesehen waren sie Touristen, die ihre Reise nach Prag mit dienstlichen Belangen innerhalb der Botschaft verbanden, wo sie sich nach internationalem Recht auf amerikanischem Hoheitsgebiet befanden. Außerhalb des Botschaftsgeländes hatten sie keinerlei polizeiliche Befugnisse.
Zumindest nicht offiziell. In der Realität würden sie sich in einer vom tschechischen Staat geduldeten juristischen Grauzone bewegen, solange sie die ungeschriebenen Regeln befolgten.
»Es ist beruhigend zu wissen, dass sich unsere Senatoren persönlich für unsere Bürger im Ausland einsetzen«, sagte Norland geschmeidig, »und selbstverständlich werden auch wir unser Möglichstes tun, seine Mitarbeiter dabei zu unterstützen. Also, wie können wir Ihnen behilflich sein?«
In den Bergen nördlich von Kunduz
Afghanistan, 12. Juli 1988, 15:25 Uhr
Oberleutnant Vadim Gratschow maß Andrej Garbatschow mit einem langen durchdringenden Blick, den letzterer ruhig erwiderte.
»Andrej Nikolajewitsch«, schnarrte er schließlich in einem eisigen Tonfall. »Es gehörte zu deinen Aufgaben, dich um Dimitri zu kümmern und für seine Sicherheit zu sorgen. Er war noch ein halbes Kind und hatte noch keine Kampferfahrung. Du bist unserer Einheit wegen deines angeblich besonderen unfehlbaren Gespürs zugeteilt worden, aber du hast versagt.«
Er legte eine sorgfältig bemessene Kunstpause ein, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. Wenn er gehofft hatte, den etwas älteren Andrej, der als Unterleutnant zwei Stufen im Rang unter ihm stand, damit einschüchtern zu können, hatte er sich getäuscht. Im Gegensatz zu Andrejs Kameraden. Auch wenn die zwölf Männer nicht angesprochen worden und gar nicht in der Nähe des vorgeschobenen Beobachtungspostens gewesen waren, wirkten sie nervös und angespannt. Sie hatten die rücksichtslose Härte ihres Zugführers schon zur Genüge kennengelernt. In knapp sechs Wochen hatte ihre Gruppe sechs Kämpfer verloren, die Hälfte davon aufgrund zu riskanter Operationen auf Befehl Gratschows.
Was natürlich keiner der Männer in seiner Gegenwart laut ausgesprochen hätte. Der Oberleutnant neigte dazu, seine Untergebenen mit drastischen Strafen in Schach zu halten. Und aufgrund seiner unbestreitbaren militärischen Erfolge in diesem unseligen Krieg gegen die Mudschaheddin in den schroffen Bergen Afghanistans genoss er trotz der hohen Verlustzahlen der Einheiten, die er befehligte, die Rückendeckung seiner Vorgesetzten.
»Was hast du dazu zu sagen?«, fragte er, nachdem Andrej weiterhin schwieg.
»Ich bedaure Dimitris Tod so wie den aller anderen Kameraden, die wir bisher verloren haben, Genosse Oberleutnant«, antwortete Andrej, ohne jedes Anzeichen von Angst. Seine Stimme klang beinahe sanft und damit irgendwie fehl am Platz. »Aber ich war nicht sein Kindermädchen. Er hat sich gegen meinen Rat aufgerichtet, um sich kurz zu strecken. Dass ihn ein Afghane innerhalb weniger Sekunden anvisieren und aus großer Distanz tödlich treffen konnte, habe ich nicht vorhergesehen. Das ist traurig und tragisch, aber es ist eine Realität dieses Krieges. Und es wird nicht der letzte Tote unseres Zuges bleiben, den wir zu beklagen haben werden.«
»Soll das deine Entschuldigung sein?«, zischte Gratschow.
»Das ist keine Entschuldigung, das ist eine Tatsache«, erwiderte Andrej nüchtern, ohne dass sich sein Tonfall veränderte.
Der erst 22-jährige Oberleutnant starrte ihn erneut feindselig an, als versuchte er, irgendeine Reaktion bei seinem Unterführer zu provozieren, dann knirschte er hörbar mit den Zähnen und spuckte aus. »In Ordnung, Andrej Nikolajewitsch, du wirst eine Gelegenheit bekommen, Wiedergutmachung für dein Versagen zu leisten. Du behauptest, das Versteck der Feinde aufgrund der Schussbahn und der Schalllaufzeit identifiziert zu haben. Dann wirst du die Ehre haben, einen Stoßtrupp anzuführen, um den gegnerischen Posten auszuschalten oder zumindest seine Mannschaftsstärke in Erfahrung zu bringen. Du wirst diese Aufgabe bis zum Einbruch der Dunkelheit erledigen. Ich gebe dir drei Männer mit. Wir werden die Afghanen von hier und dem ›Vogelnest‹ aus in Schach halten.«
»Wenn sie dort liegen, wo ich sie vermute, haben sie gute Deckung und können durch Felsspalten hindurchschießen, ohne dass wir sie zu Gesicht bekommen werden«, gab Andrej zu bedenken. »Ihr werdet sie also nicht mit gezieltem Sperrfeuer eindecken können. Wir sollten entweder die Nacht abwarten oder einen Bogen um den Bergrücken schlagen, um uns ihnen von hinten zu nähern. Sonst laufen wir direkt in ihr Feuer. Und wie wir wissen, haben sie zumindest einen guten Scharfschützen in ihren Reihen.«
»Hast du etwa Angst, Garbatschow?«, fragte der Offizier gefährlich leise. So, wie er Andrejs Nachnamen aussprach, klang er wie Gorbatschow, was kein Zufall war. Jeder hier wusste, wie sehr Vadim Gratschow den neuen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion verachtete, den er für einen Schwächling und einen heimlichen Befürworter des kapitalistischen Systems hielt. »Bist du ein feiger Hund, Unterleutnant?« Auch die Betonung von Andrejs Dienstrang triefte vor Geringschätzung, als wäre die Tatsache, dass sein Untergebener – obwohl zwei Jahre älter als er – in der militärischen Hierarchie unter ihm stand, Beweis für seine Minderwertigkeit.