Die unbewegliche Kirche - Marco Marzano - E-Book

Die unbewegliche Kirche E-Book

Marco Marzano

0,0

Beschreibung

Die Kirche erlebt eine schwere Krise und Papst Franziskus, der lange als Hoffnungsträger galt, scheint handlungsunfähig. Marco Marzano, einer der besten Vatikankenner, analysiert die Lage der Kirche und den "Mythos Franziskus". Es gebe zwar Erfolge, doch insgesamt zeichnet Marzano das Bild einer bewegungslosen Kirche: "In den fünf Jahren seines Pontifikats hat Franziskus keine einzige Reform durchgesetzt." In seinem Buch nennt Marzano zahlreiche Gründe für diese Tatsache: Franziskus sei eben kein Liberaler, sondern ein Konservativer und zudem zu sprunghaft. Zugleich deckt der Autor Strukturen und Feinde auf, die den Papst an Reformen hindern, und beschreibt ein Geflecht aus Intrigen. Das Buch ist unverzichtbar für jeden, der verstehen will, was der Papst wirklich plant und warum sich die Kirche nicht endlich bewegt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 275

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marco Marzano

Die unbewegliche Kirche

Franziskus und die verhinderte Revolution

Aus dem Italienischen

Titel der Originalausgabe:

La chiesa immobile. Francesco e la rivoluzione mancata

© 2018, Gius. Laterza & Figli

All rights reserved

 

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

Umschlaggestaltung: © Christoph Pittner (Pittner-Design)

Umschlagmotiv: © Servizio Fotografico – Vatican Media

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

 

ISBN E-Book 978-3-451-81550-8

ISBN Print 978-3-451-38751-7

Inhalt

Einleitung

Das Geheimnis eines schon heiligen Papstes

I Ein verhinderter Reformer

Die große Reform der katholischen Kirche

Die Kurie verändern

Eine nur angekündigte Reform: die Veränderung der Governance

Die Moral erneuern

Bergoglio und die »flexible Spiritualität«

Die große Ausgeschlossene: die Problematik der Frauenfrage

Franziskus und die Frauen

Die Frage des Pflichtzölibats und die Reform der Priesterrolle

Ein zölibatärer Papst und die Reform des Zölibats

Weder Revolutionär noch Reformer

II Warum die Kirche sich nicht ändert

Papst Franziskus’ institutionelle Treue

Die Krise der katholischen Kirche: echt oder eingebildet?

Der unaufhaltsame Vormarsch der Säkularisierung

Ein konkreter Albtraum für den reformierten Katholizismus: die anglikanische Gemeinschaft

III Franziskus und die Freundschaft als Politik

Franziskus, ein Feind des Kapitalismus?

Die »Politik der Freundschaft« gegenüber den anderen Christen

Die »Politik der Freundschaft« hinter den Mauern der Kirche I: die Befreiungstheologie

Die »Politik der Freundschaft« hinter den Mauern der Kirche II: die Lefebvre-Anhänger

Zu den besten Freunden des Papstes gehören seine Feinde

Schlussfolgerungen

Bibliografie

Über den Autor

Einleitung

Das Geheimnis eines schon heiligen Papstes

Die Idee zu vorliegendem Buch ist in der Hauptsache aus einem Staunen erwachsen: dem Staunen über das gesellschaftliche und mediale »Phänomen Franziskus«, das der Verfasser in den fünf Jahren, die seit der letzten Papstwahl vergangen sind, in zunehmendem Maße empfindet. Es ist überraschend zu sehen, wie die Gesten, die Worte und die Entscheidungen des argentinischen Papstes praktisch täglich und von einem vielfältigen und breit gefächerten Publikum aus Intellektuellen, Kommentatoren und Journalisten unweigerlich als erschütternd, entsakralisierend, innovativ und – um es mit einem Wort zu sagen, das in dieser sozial vergleichsweise friedlichen Zeit geradezu inflationär Verwendung findet – revolutionär dargestellt werden. Das Narrativ von einem Papst, der im Leben der jahrtausendealten Institution eine neue Phase einläutet, die Legende vom guten, menschlichen und lächelnden Papst, der ein unversöhnlicher Feind von Korruption, Konservatismus und Opportunismus ist und die authentischen Werte des Evangeliums wiederherstellt, haben sich in kürzester Zeit nahezu überall durchgesetzt und sind vom ersten Augenblick an, seit dem Abend seiner Wahl am 13. März 2013, zur gängigen Lesart, allgemeinen Überzeugung und breit akzeptierten Selbstverständlichkeit geworden. In den Bars und bei den Leuten zu Hause hört man ebenso davon reden wie in den Redaktionen der Tageszeitungen und in den Verlagen und unter Menschen jeder nur erdenklichen sozialen Kategorie oder Schicht, geografischen Herkunft und politischen Ausrichtung. Beinahe niemand besitzt die Kühnheit, die Eigenschaften oder die Entscheidungen eines durch einhelligen Volkswillen per Akklamation »de facto schon heiligen Papstes« infrage zu stellen. Diese Seligsprechung Papst Bergoglios schon zu Lebzeiten ist quasi Allgemeingut, vor allem aber Domäne und Privileg eines recht großen Kerns aus »progressiven« katholischen Prälaten und Intellektuellen, die unter den Pontifikaten der beiden Franziskusvorgänger eine lange Leidenszeit durchlebt und jahrzehntelang auf die Gelegenheit zur Revanche und darauf gewartet hatten, sich am gegnerischen Lager rächen zu können. Sie alle befinden sich heute in einer schwierigen Lage, weil sie in ihrer Ungeduld, den langen und schmerzlichen Marsch durch die kirchliche Wüste endlich beenden zu dürfen, dem Papst fast vom »Ende der Welt« einen immensen, aber nicht verbürgten Vertrauensvorschuss gewährt haben und sich jetzt gezwungen sehen – auch um ihren Ruf zu retten, den sie durch ihre an Fanatismus grenzende blinde Zustimmung zum »neuen Kurs« des argentinischen Papstes kompromittiert haben –, die kleine Flamme einer immer schwächeren Hoffnung auf Veränderungen, die vermutlich niemals eintreten werden, um jeden Preis am Brennen zu halten.

Ich muss gestehen, dass Franziskus mich nie sonderlich betört hat und dass es ihm von Anfang an nicht gelungen ist, mich mit seinen Reden oder gar mit seinen Schriften zu verzaubern. Und doch habe ich mich ein paar Jahre lang und vielleicht auch länger bewusst vorsichtig über seine Handlungen geäußert und mich in Zurückhaltung geübt, wenn es darum ging, seine Taten zu bewerten.1 Eine Zurückhaltung, wie sie den meisten und insbesondere einem Großteil jener Beobachter und Katholizismusexperten unbekannt war, die seit seinem ersten Auftritt auf der Loggia des Petersdoms emsig damit beschäftigt waren, die Zeichen der angeblichen »revolutionären Heiligkeit« des argentinischen Papstes zu erkennen. Damals, in den ersten Jahren seines Pontifikats, erschien mir das Verhalten von Jorge Bergoglio noch rätselhaft und ich mutmaßte, er wisse vielleicht nicht, was zu tun sei, und werde bei der Entscheidung, welche Richtung in der Kirche eingeschlagen werden solle, womöglich ebenso von Zweifeln gequält wie ich bei der Deutung seines Vorgehens. Ich stellte mir vor, er stehe zaudernd am Scheideweg, unschlüssig, ob er wirklich eine tiefgreifende und einschneidende Reform der Institution auf den Weg bringen solle, deren Monarch er nun – nach dem Rücktritt des deutschen Papstes – unerwarteterweise geworden war, oder ob es besser sei, eine andere Strategie zu wählen und an der Oberfläche der Dinge zu bleiben, das Neue nur in seinen Predigten, nur mit Worten zu umschmeicheln, aber nie zur Tat zu schreiten. Mit der Zeit traten – während der Chor der laikalen katholischen Apologeten mit einem zuweilen peinlichen Eifer (und einer Intensität, wie sie im katholischen Kontext sonst nur noch Johannes XXIII. vorbehalten war) weiter am Kult seiner Persönlichkeit arbeitete – an die Stelle meiner Neugierde und Vorsicht Desillusionierung und ein zunehmend deutliches Bewusstsein der enormen Begrenztheit von Bergoglios Pontifikat und gleichzeitig der Kraft und Macht einer Institution – der katholischen Kirche –, die imstande ist, über Jahrtausende hinweg, zum Guten wie zum Bösen, im triumphalen Licht der durch und durch christlichen Epochen ebenso wie im Dunkel der säkularisierten Welt des 21. Jahrhunderts, beinahe immer dieselbe zu ­bleiben.

Das war der Moment, als in mir der Wunsch aufkam, mehr zu wissen, um besser zu verstehen. Und vor diesem Hintergrund ist die Idee zu diesem Buch entstanden.

Es ist das Ergebnis einer systematischen und gründlichen Durchsicht von Artikeln aus Tages- und Wochenzeitschriften2 sowie sehr heterogenen Beiträgen der historisch-biografischen, theologischen und soziopolitischen Literatur. Ergänzend zur Textanalyse habe ich 41 lange und tiefschürfende Interviews mit privilegierten Zeugen – beinahe immer »organischen Intellektuellen« des Katholizismus – geführt. Ohne ihren Beitrag hätte dieses Buch nie das Licht der Welt erblickt.

Im ersten Kapitel stelle ich den Kernbestand an institutio­nellen und strukturellen Veränderungen des Katholizismus vor, die mir und vor allem einer Vielzahl von Gläubigen als die wichtigsten und dringlichsten erscheinen – jene zentralen Punkte also, die jeder, der die katholische Kirche verändern will, unweigerlich in Angriff nehmen müsste: die Reform der Kurie, die des Zölibats, die Rolle der Frauen und die Moral- und Sexuallehre. In allen diesen Punkten habe ich sowohl die Vorschläge der Reformer als auch die von Franziskus getroffenen Grundlagenentscheidungen rekonstruiert.

Nachdem ich gezeigt habe, dass Franziskus in keiner der großen Fragen (mit der teilweisen Ausnahme der eventuellen Zulassung der wiederverheirateten Geschiedenen zur Eucharistie) nennenswerte Reformen angestoßen oder eine Saat ausgebracht hat, deren Aufkeimen für die mehr oder weniger nahe Zukunft zu erwarten steht, bin ich im zweiten Kapitel zu der Frage übergegangen, wie dieses totale Scheitern oder, besser, diese verhinderte Anbahnung eines reformerischen Handelns zu interpretieren ist, und habe eine soziologische Interpretation vorgeschlagen, die auf der Analyse einiger Merkmale der – hier als große Bürokratie verstandenen – Kirche, der unaufhaltsamen Säkularisierung der europäischen Gesellschaften und der fortschreitenden »Verdrittweltlichung« des Weltkatholizismus basiert. Dieser Teil wird durch eine bescheidene und zusammenfassende Übung in historischer Soziologie ergänzt und endet mit der Feststellung, dass eine Veränderung der Kirche – will sagen: eine Milderung ihres klerikalen, männlichen, hierarchischen und zentralistischen Charakters – weder wahrscheinlich noch aus streng funktionaler Sicht überhaupt notwendig ist.

Das dritte Kapitel hingegen ist ganz Papst Franziskus und der Untersuchung der wichtigsten und typischsten Merkmale seines Pontifikats gewidmet, die – wie sich an diesem Punkt von selbst verstehen dürfte – nicht die Arbeitsweise der kirchlichen Struktur, die der Papst völlig unangetastet gelassen hat, sondern eher die Ausübung des Papsttums, Franziskus’ persönliche Botschaft betreffen. In unserer von der enormen Macht der Kommunikationsmittel gekennzeichneten Zeit ist der Papst nämlich nicht mehr nur ein gewählter absoluter Monarch an der Spitze einer gewaltigen Weltorganisation, sondern auch ein geistlicher und politischer Leader, der imstande ist, seine Gedanken und Überlegungen tagtäglich bekannt zu machen und durch Bilder, Worte und Gesten mit einem über die ganze Welt verteilten riesigen Publikum aus Gläubigen, Neugierigen und Beobachtern zu teilen. Franziskus hat diese Möglichkeit auf bewundernswerte Weise genutzt, und es ist ihm mit der tatkräftigen Unterstützung des medialen Systems, das immer verzweifelt nach konsumierbaren »Persönlichkeiten« sucht, gelungen, die Bühne der Kommunikation erfolgreich in Beschlag zu nehmen und dabei nicht nur den Eindruck zu erwecken, er verfüge über eine originelle und zeitgemäße politische und soziale Botschaft, sondern habe darüber hinaus eine Institution, die sehr oft mit Unbeweglichkeit und Bewahrung gleichgesetzt wird, auf den Weg tiefgreifender und dauerhafter struktureller Veränderungen gebracht.

So gesehen war das bemerkenswerteste Element der Aktivität des Pontifex sicherlich die von mir so bezeichnete »Politik der Freundschaft«, die er nach allen Seiten hin praktiziert: mit anderen Worten die Tendenz, die ideologischen und kulturellen Unterschiede als belanglos und die Morallehre als nebensächlich zu betrachten und stattdessen einem Irenismus den Vorzug zu geben, der letztlich sowohl der Form als auch der Substanz entbehrt. In Franziskus’ Kirche gibt es keine Schranken, weil es an echten Grundoptionen fehlt; alle Heterodoxien können ihren Platz finden, solange sie nur bereit sind, die Rolle des Hirten und Oberhaupts der gesamten Christenheit anzuerkennen, die der moderne römische Herrscher für sich in Anspruch nimmt.3 Meiner Ansicht nach hat diese Politik in der Hauptsache dazu geführt, die öffentliche Meinung vom Thema der verhinderten Reformen abzulenken und gleichzeitig die Popularität und Legitimität der ganzen Institution zu steigern. Und die kleine, aber wehrhafte Schar der unversöhnlichen Bergoglio-Gegner hat diesen Eindruck, wenn auch ungewollt, noch verstärkt: Dadurch, dass sie Papst Franziskus’ bescheidene Neuerungen großreden und ihre Reichweite und ihre Folgen systematisch überbewerten, haben sie letztlich nur dazu beigetragen, Franziskus’ Image als das eines (in ihren Augen gefährlichen) Revolutionärs zu festigen. So gesehen steht die Arbeit, die sie als Franziskus’ ›Feinde‹ geleistet haben, in perfekter Symmetrie zu der seiner glühendsten Apologeten.

Im Schlussteil des Buches versuche ich, das zukünftige Szenario zu entwerfen und mir vorzustellen, welche unerwarteten Folgen Bergoglios Neuerungen – insbesondere die, die er im Zuge seiner Politik der Freundschaft eingeführt hat – womöglich zeitigen könnten.

Ehe ich diese Einleitung beende, ist eine letzte Klarstellung notwendig: Das vorliegende Buch ist großenteils das Ergebnis eines Versuchs, das kirchliche Geschehen aus einem organisationssoziologischen Blickwinkel der Wahrheit und Objektivität zu betrachten. Bei diesem Bemühen konnte ich – wie schon in der Vergangenheit, zu Beginn meiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Gesellschaft und dem Katholizismus4 – oft nicht umhin, Entscheidungen und Werte, die mir nicht gefallen und die nicht die meinen sind, dennoch als angemessen und vernünftig anzuerkennen. Mich schmerzt die Vorstellung, dass der eine oder andere Konservative meine Thesen benutzen könnte, um seine Interessen und seine Weltsicht, die so weit von meiner eigenen entfernt ist, zu verteidigen, und ich hege im Gegenteil große Sympathie für die Thesen und die Hoffnungen der progressiven Katholiken. Gleichwohl bin ich – das kann ich nicht leugnen – mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass die Schlachten, die Letztere ausfechten, kräftezehrende Kämpfe gegen Windmühlen und mithin zur Erfolglosigkeit verdammt sind.

Die wirkungsvollsten Reformen des Katholizismus werden meiner Meinung nach aus dem rasanten Vormarsch der Säkularisierung und aus jener Massenflucht vor dem klerikalen und »vertikalen« Autoritarismus erwachsen, die just vor 500 Jahren, nämlich mit Luthers Reformation, einen ersten großen, entscheidenden Impuls erhalten hat. Die großen Bürokratien »von innen heraus« zu reformieren, ist ein nahezu unmögliches Unterfangen, und die Gesamtsituation der katholischen Kirche zeigt leider besser als jede andere, welche Hindernisse sie jedweder Veränderung in den Weg legen können, mit welchem Einfallsreichtum ihre besten Leader Manöver erdenken, die den Eindruck vermitteln, Veränderungen zu bewirken, die in Wirklichkeit niemals eintreffen werden. Dieses strenge historische Gesetz ist in seiner schmerzlichen Notwendigkeit nicht ohne Tragik, wie der wichtigste Vorläufer des modernen organisatorischen Institutionalismus, Robert Michels, einmal geschrieben hat.5 Ich habe dieses Gesetz, wie mir scheint, lediglich auf den katholischen Fall angewandt, und zwar in einem Geist der Parrhesie, den Franziskus, zumindest seinen Worten nach zu urteilen, gutheißen würde und den ich in Foucaults Spätwerk6 wunderbar beschrieben gefunden habe: dort nämlich, wo der große Philosoph in Anlehnung an die Mahnungen der antiken Stoiker daran erinnert, dass es keinen größeren Akt der Liebe gibt, als einem Freund die Wahrheit zu sagen, der sie nicht hören will, weil sie ihn schmerzt. Das ist der Sinn meiner Arbeit. Zumindest nach meiner Überzeugung.

Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die ­vielen Menschen, die mir Ratschläge erteilt und Vorschläge ge­macht, ihren Standpunkt erklärt und mir geholfen haben, den Blickwinkel der Reformer und viele Aspekte des Pontifikats von Franziskus oder einem seiner Vorgänger zu verstehen (vor allem solche, die sich durch die bloße Analyse der Dokumente und Quellen nicht eindeutig herausarbeiten ließen).

Ein besonderer und tief empfundener Dank gilt – neben Asher Colombo, der einen großen Teil der Arbeit gelesen und kommentiert und mich mit freundlicher Fürsorge den gesamten Entstehungsprozess hindurch begleitet hat – Mauro Castagnaro, der mir nicht nur zwei lange Interviews gegeben, sondern in einer fortgeschrittenen Phase überdies den gesamten Text gelesen und kommentiert und mir damit wertvolle Hilfe geleistet hat. Ich danke auch Francesca Pasquali für die Lektüre und für ihre Kommentare zum Schlussteil des Buches.

Die letzte Verantwortung für das, was Sie auf den folgenden Seiten erwartet, liegt natürlich allein bei mir.

1 Belege hierfür finden sich in den Archiven der beiden Zeitungen Il manifesto und vor allem Il Fatto Quotidiano, die meinen Kommentaren zu den Maßnahmen und Worten des argentinischen Pontifex regelmäßig eine Plattform geboten haben.

2 Als besonders nützlich hat sich dabei die mit äußerster Sorgfalt zusammengestellte Presseschau auf der Webseite Incontri di Fine Settimana erwiesen: www.finesettimana.org.

3 Dieser Zug ist auch einem so aufmerksamen und zumindest scheinbar nicht mit den Dynamiken der kirchlichen Auseinandersetzung vertrauten Wissenschaftler wie dem Historiker Loris Zanatta nicht entgangen, der Bergoglios soziale und politische Botschaft en détail analysiert und dabei zu folgendem Ergebnis kommt: »Es lässt sich nicht leugnen, dass Jorge Mario Bergoglio gerne zu vielen weltlichen Themen seine Meinung sagt. Seine Äußerungen sind sogar so zahlreich, dass man die ebenso vielsagenden Momente des Stillschweigens darüber vergisst. Seine Weltanschauung zu entwirren, wird zudem noch durch weitere Umstände erschwert: Seine Ansprachen passen sich üblicherweise der jeweiligen Zuhörerschaft an und verändern sich je nach Ort und Publikum; und zudem handelt es sich entweder um geschriebene Texte, die durch hundert Hände gegangen und tausendfach überarbeitet worden sind, oder um improvisierte, nicht von der Kurie gefilterte Äußerungen; ganz davon zu schweigen, dass niemandem, der auch nur ein wenig mit seiner Sprache vertraut ist, entgeht, mit welchem Geschick er die verschiedenen Register bedient. Vor dem diplomatischen Korps sagt er beispielsweise, man müsse jedem Menschen das Recht garantieren, ›in andere Staaten auszuwandern‹, ohne dass das betreffende ›Sozialgefüge […] seine eigene Sicherheit, seine kulturelle Identität und sein sozialpolitisches Gleichgewicht gefährdet sieht‹; was im Grunde der Quadratur des Kreises gleichkommt. Dann aber geht er vor wohlwollenderen Zuhörern sofort wieder dazu über, die Einwanderung ohne Wenn und Aber zu verteidigen. Er packt den Stier des Populismus bei den Hörnern: ›Ein Feind des Friedens ist die Ideologie, welche soziale Notstände ausnützt, um Verachtung und Hass zu schüren und den anderen als Feind zu betrachten, der vernichtet werden muss‹; eine Ideologie, die sich als Heilsbringerin für das Volk verkleidet und ›stattdessen Armut, Gräben, soziale Spannungen, Leid und nicht selten auch Tod zurück[lässt]‹. [...] Vor den Spitzen von Confindustria erkennt Papst Franziskus die soziale Rolle des Unternehmertums an, und im Interview mit ›El Pais‹ schießt er aus allen Rohren gegen den ›wirtschaftlichen Liberalismus‹ und lässt seiner tief empfundenen Aversion gegen den Markt freien Lauf. Die Liste mit Beispielen für dieses verbale und gedankliche Pingpong ließe sich nach Belieben verlängern. Ein wohlwollender Beobachter könnte darin das ewige und ungelöste Dilemma dessen erkennen, der versucht, die Werte des Evangeliums in soziale Wirklichkeiten zu übersetzen; oder man könnte boshaft sein und sagen, dass Franziskus’ Lehramt nicht weniger flüchtig ist als die Welt, an die es sich wendet. An beiden Deutungen ist etwas Wahres. Doch alles in allem kann man – wenn man einmal die Spreu vom Weizen trennt und den Nebel zerreißt, den all dieses Reden und Treiben erzeugt hat – nicht behaupten, dass ein stimmiges Bild entstünde« (L. Zanatta, Il papa populista, in Il Foglio, 8. Mai 2017).

4 Marzano (1996).

5 Michels (1925/1970).

6 Foucault (2012).

IEin verhinderter Reformer

Die Wahl von Jorge Mario Bergoglio auf den Stuhl Petri wurde als eine Neuheit von immenser Tragweite wahrgenommen.1 Zu dieser Wahrnehmung trugen mehrere Faktoren bei: zunächst die große Überraschung über den Rücktritt seines Vorgängers, sodann die Tatsache, dass er fast vom »Ende der Welt«, nämlich aus Lateinamerika und nicht, wie viele während des Konklaves erwartet hatten, aus dem reichen Nordamerika kam, und schließlich vor allem einige seiner persönlichen Eigenschaften und einige unerhörte und irritierende Maßnahmen: angefangen bei der mutigen und ehrgeizigen Entscheidung, zum ersten Mal in der Geschichte des Papsttums den Namen des Heiligen von Assisi – des größten katholischen Symbols für kirchliche Erneuerung und wahrhafte Armutsverkündigung – anzunehmen, bis hin zu der Tatsache, dass er sich nicht in erster Linie als Hirten der Weltkirche, sondern als Bischof von Rom bezeichnete; dass er die Gläubigen mit einem schlichten »Guten Abend« begrüßte und dass er sie aufforderte, mit ihm und für ihn zu beten. Vom ersten Augenblick an legte Franziskus einen »Stil« an den Tag, der sich entschieden von dem seiner Vorgänger abhob: Er entschloss sich, in Santa Marta zu wohnen (das heißt gewissermaßen auf die Benutzung der »päpstlichen Residenz«2 zu verzichten), auf Reisen dieselbe alte Tasche zu benutzen wie schon als Bischof von Buenos Aires, statt kostbarer Schuhe abgetragene Treter an die Füße zu ziehen, in einer einfachen und zugänglichen Sprache zu predigen und viele vorbereitete Ansprachen zu verwerfen, weil er es vorzog, zu improvisieren und aus dem Stegreif zu reden.

Papst Bergoglio hat in den vergangenen Jahren alle oft überrascht: zum Beispiel mit seinen aufsehenerregenden Pressekonferenzen auf dem Heimflug von diesem oder jenem Pastoralbesuch (auf der berühmtesten hat er die Worte ausgesprochen: »Wenn einer homosexuell ist – wer bin ich, ihn zu verurteilen?«); wenn er leidenschaftliche Gespräche mit berüchtigten Nichtglaubenden wie Eugenio Scalfari, dem Gründer der Tageszeitung La Repubblica, führte; mit seiner spontanen Reise nach Lampedusa, wo er die Unmenschlichkeit der Nichtaufnahme von Migranten an unseren Küsten anprangerte; oder damit, dass er ein Gefängnis aufsuchte, um einer muslimischen Insassin die Füße zu waschen. Das »gute« und papsttreue Rom war bestürzt, als er kaum mehr als drei Monate nach seiner Wahl einem Konzert fernblieb, das ihm zu Ehren in der großen Audienzhalle des Vatikans gegeben wurde, und viele sahen es mit Befremden, wie er sich bei der Essensausgabe in Santa Marta mit dem Teller in der Hand in die Reihe der Wartenden stellte oder die Rechnung in dem Hotel bezahlte, wo er vor dem Konklave, das ihn zum Papst wählte, gewohnt hatte.3

Was die spirituelle und politische Botschaft und die (sprachlichen) Mittel betrifft, mit denen er diese Botschaft kommuniziert, stellt Papst Franziskus auf der religiösen und politischen Weltbühne also mit Sicherheit eine nicht unbedeutende Neuerung dar.4 Kann man über Bergoglios Aktivität als Reformer seiner Organisation, als Initiator jenes großen Wandels in der Kirche, auf den viele katholische Reformer und ein Teil der öffentlichen Meinung so sehnsüchtig warten, ein ebenso günstiges Urteil fällen?

Die große Reform der katholischen Kirche

Die katholische Kirche könnte die großen Reformforderungen, die von innen und von außen, von den katholischen Gläubigen und von der globalen Zivilgesellschaft an sie gestellt werden, mit großen Reformen beantworten – damit also, dass sie sich daranmacht, einige ihrer strukturellen Merkmale von Grund auf zu verändern. Ob dies geschieht, hängt, bedingt durch ihren organisatorischen Aufbau und die Tatsache, dass es sich um eine Wahlmonarchie handelt, in hohem Maße vom Willen ihres Leaders, also des Papstes, ab, der in praktisch allen Bereichen des kirchlichen Lebens die Reforminitiative ergreifen kann. Damit stellt sich für uns folgende Frage: Was genau hätte Franziskus unternehmen müssen oder was genau müsste er noch unternehmen, um den Reformforderungen Genüge zu tun und die Physiognomie der katholischen Kirche zu verändern? Diese Frage ist nicht banal, denn sie zwingt uns, über die Oberflächlichkeit so vieler journalistischer Überschwänglichkeiten und über die Unbestimmtheit der Apologetik-Übungen hinauszugehen, die hinter jedem Seufzer von Papst Bergoglio sogleich enorme Umwälzungen vermuten.

Ehe ich auf das eigentliche Thema zu sprechen komme, möchte ich klarstellen, dass ich es im vorliegenden Kontext vorziehe, anstelle der im öffentlichen Diskurs mit Bezug auf Papst Bergoglio geradezu inflationär gebrauchten Wörter »Revolution« und »Revolutionär« die Begriffe »Reform« und »Reformer« zu verwenden. Es mutet doch ein wenig seltsam an, einen der mächtigsten Männer auf dem Planeten, Oberhaupt der ältesten und konservativsten Institution der Welt, als »Revolutionär« zu bezeichnen. Bei diesem Substantiv denkt man unvermittelt an einen Saint-Just oder Danton, an Lenin, Trotzki, Bakunin, Che Guevara, Mao Zedong oder Rosa Luxemburg, kurz: an eine Schar subversiver Elemente, die einen guten Teil ihres Daseins darauf verwendet haben, die herrschende Ordnung zu bedrohen, die Regimes ihrer jeweiligen Epoche zu stürzen, radikal und endgültig mit der Vergangenheit, der Tradition und den eingefahrensten Sitten und Denkmustern zu brechen und so die Menschheit in eine neue Welt zu katapultieren.

Noch nie hat man es erlebt, dass ein beinahe 80-jähriger »Revolutionär« friedlich an die Spitze einer überaus mächtigen und (an Geld, Immobilien und menschlichen Ressourcen) reichen jahrtausendealten Institution gewählt worden wäre – und zwar von einer großen Schar betagter Hierarchen, die genau wie er selbst am Ende einer ehrenvollen, gänzlich im treuesten Dienst an besagter Institution verbrachten Laufbahn stehen. Selbst wenn wir nicht im engeren Bereich der Politik, sondern auf dem Feld der christlichen Spiritualität nach Revolutionären suchen wollten, die man für einen Vergleich mit Papst Franziskus heranziehen könnte, würden wir dort auf Gestalten wie Franz von Assisi, Luther und natürlich vor allem Jesus selbst stoßen – will sagen: auf Außenseiter aus den Peripherien der damaligen Reiche, die aufsehenerregende Entscheidungen getroffen haben und ausgezogen sind, um den Lauf der Menschheitsgeschichte zu verändern.

Robespierre war, als er in die verfassunggebende Versammlung gewählt wurde und nach Paris kam, ein obskurer Landadvokat; Martin Luther war, als er in der Kleinstadt Wittenberg seine Thesen in Umlauf brachte, ein unbekannter Augustinermönch und nicht sonderlich renommierter Professor aus der Provinz. Ich habe nicht den Eindruck, dass es unter den Päpsten jemals Revolutionäre gegeben hat. Der Einzige, der wirklich eine spektakuläre »revolutionäre Tat« vollbracht hat, war Cölestin V. (und in gewisser Hinsicht auch sein Nachahmer Benedikt XVI.) mit seiner letzten Amtshandlung: dem freiwilligen Machtverzicht.

Bergoglio müsste also, um sich dieses anspruchsvolle Etikett wirklich zu verdienen, allermindestens einen wirklich aufsehenerregenden Bruch vollziehen: eine zerstörerische Tat, mit der er irgendeinen Aspekt der alten katholischen Ordnung »revolutioniert«. Da dies bislang nicht geschehen ist (und in Anbetracht des Alters des Subversionskandidaten und der seit seiner Wahl zum Papst vergangenen Zeit von fünf Jahren wahrscheinlich auch nicht mehr geschehen wird), würde ich vorschlagen, dass wir uns auf das in diesem Fall entschieden angemessenere Substantiv »Reformer« konzentrieren. Der Reformer verfolgt im Unterschied zum Revolutionär nicht die Absicht, die alte Ordnung aufzuheben und durch eine neue zu ersetzen, sondern will in der von ihm geleiteten Organisation diejenigen Veränderungen vornehmen, die unentbehrlich sind, damit diese reibungsloser, effizienter und zeitgemäßer arbeitet oder von einigen strukturellen Mängeln befreit wird. Zweifelsohne kann es mit Reformern in manchen Fällen ein böses Ende nehmen, sie können scheitern und ihr Amt verlieren, doch ebenso kann es geschehen, dass sie ihr Ziel erreichen und dass es ihnen gelingt, die von ihnen geleitete Organisation von Grund auf umzugestalten. Nehmen wir die kommunistischen Reformer: Einige von ihnen wie Dubček und Gorbatschow haben ihre historische Schlacht verloren und – durch Waffengewalt oder weil das Volk sie nicht länger unterstützte – eine vernichtende Niederlage erlitten; andere dagegen – man denke etwa an die chinesische Führung, an Deng Xiaoping und seine Nachfolger – hatten Erfolg und haben das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ihres Landes triumphal reformiert. Der reformerischste unter den jüngeren Päpsten – vielleicht der Einzige, der den Titel eines Reformers wirklich verdient – war Johannes XXIII., der drei Monate nach seiner Wahl auf den Stuhl Petri die Einberufung eines großen ökumenischen Konzils beschloss, das die größten Neuerungen im Leben der Kirche des letzten halben Jahrhunderts herbeigeführt hat.

Ist Papst Franziskus wirklich ein Reformer? Und wenn ja, was will er reformieren? Und wo will er die Struktur der Kirche unangetastet lassen? Um diese Fragen zu beantworten, sollten wir zuallererst klären, was eine Reform eigentlich ist, sodann festhalten, welche Reformen auf der To-do-Liste der katholischen Kirche stehen, und schließlich untersuchen, was Bergoglio getan hat, um sie durchzuführen oder zumindest anzubahnen.

Eine Reform ist eine absichtliche Veränderung der Struktur einer Organisation.5 Sie kann eine überaus große Menge von symbolischen Objekten betreffen: die Riten und Rituale der Organisation beispielsweise, ihre hierarchischen Formen, die Auswahlkriterien und Modalitäten bei der Einstellung von Personal, die Gliederung und die internen Zuständigkeiten, die Arbeitsverteilung unter den verschiedenen Ressorts der Organisation, die Ausbildung der Funktionäre, die Organisationsideologie.

Reformen werden in der Regel von oben, vom Top-­Management angestoßen und auf den Weg gebracht. Sie sind das radikalste, aber nicht das einzige Mittel, die Organisation zu verändern: Es gibt andere wie zum Beispiel personelle Wechsel insbesondere auf den höheren Ebenen; eine selektive Aufmerksamkeit für bestimmte Projekte und Praktiken und für andere nicht; eine veränderte Ressourcenverteilung.6

Der Startschuss zu einer Reform bringt die Machtverhältnisse, die Routinen und die Praktiken einer Organisation immer in Gefahr oder meist sogar durcheinander, und deshalb kann es geschehen, dass sie von manchen leidenschaftlich verfochten, von anderen dagegen behindert, insgeheim hintertrieben, nicht umgesetzt und boykottiert wird. Um eine Reform zu rechtfertigen, werden beinahe immer rationale Argumente angeführt, die auf die Notwendigkeit verweisen, neuen Schwung in die Organisation zu bringen, ihre ­Effizienz zu erhöhen, ihre Kosten zu reduzieren oder ihre Produktivität zu steigern. Gleichzeitig berufen sich die Reformer jedoch vor allem in den Non-Profit-Organisationen – also jenen mit einer ausgeprägt ideellen und wertebezogenen Ausrichtung – eigentlich immer auch auf die ursprünglichen Ideale der Organisation, die man besser verwirklichen könne, wenn eine Reform erst einmal die Verkrustungen, die Auswüchse von Opportunismus und Trägheit und, ganz allgemein, den Bodensatz aus Absurditäten ausgeräumt habe, die sich im Lauf der Zeit abgelagert hätten. Aus diesem Grund sind Reformen unweigerlich Ausdruck einer Hoffnung: der Hoffnung, dass die Organisation sich von den nach und nach angehäuften Mängeln befreien kann; dass sie in der Lage ist, in einer erneuerten, besser an die veränderten historischen Umstände angepassten Form zu überleben; oder dass die derzeitigen Schwierigkeiten durch eine tiefgreifende, organische und strukturelle Erneuerung überwunden werden können. Solche Hoffnungen nähren und tragen die Bemühungen der Reformer und geben ihrer Gegenwart einen Sinn, indem sie sie auf eine vorgestellte und idealisierte Zukunft hin ausrichten. Die Hoffnung – die man auch Glauben nennen könnte – ist Voraussicht und Sehnsucht zugleich und das beste Mittel gegen Verzweiflung und Apathie.7 Erstere entsteht, wenn man glaubt, dass die eigenen Hoffnungen nie Wirklichkeit werden; Letztere, wenn man sich nicht einmal mehr nach einer anderen Zukunft sehnt – was aber nicht heißt, dass man sich deshalb in der Gegenwart weniger fremd fühlen würde.

Beinahe fünf Jahrhunderte lang war schon das bloße Wort »Reform« in der Kirche ein Tabu: Man nahm es nicht in den Mund, weil es de facto mit der protestantischen Ketzerei gleichgesetzt und deshalb gänzlich aus dem katholischen Sprachgebrauch gestrichen worden war.8 In den Dokumenten des I. Vatikanischen Konzils wird es an einer einzigen Stelle – und nicht im positiven Sinne – verwendet; und sogar in den Texten des II. Vaticanums hat man es vorgezogen, weniger problematische Begriffe wie »Aggiornamento« oder »Erneuerung« zu gebrauchen.

Wie dem auch sei: Die Kirche zu erneuern bedeutet vor allem, ihre Strukturen zu modifizieren und zu verändern. Ohne eine strukturelle Veränderung läuft jede Reform Gefahr, an der Oberfläche haltzumachen, sich auf die Rhetorik zu beschränken und als bloßer sprachlicher Kunstgriff angesehen zu werden. Wie Myriam Wijlens geschrieben hat: »Eine Gemeinschaft, die im Einklang mit der ihr eigenen Lehre leben will, profitiert von Strukturen, die die Lehre, nach der sie leben will, aufrechterhalten, fördern und beschützen. Eine Reform und Reformen der Kirche, die nicht die Strukturen betreffen, werden möglicherweise nicht von Dauer und langfristig nicht von Erfolg gekrönt sein«.9

Es ist vor allem ein harter Kern aus »progressiven« katholischen Intellektuellen und kirchlichen Würdenträgern in aller Welt, der sich für die Zweckmäßigkeit von Reformen in der Kirche ausspricht. Diese Gruppe ist schon an sich recht groß, vor allem aber aufgrund ihrer ausgeprägten Übereinstimmung mit einigen der wichtigsten Werte der modernen westlichen Gesellschaften (der Gewissensfreiheit, der Gleichberechtigung, dem demokratischen Geist) bei weiten Teilen der öffentlichen Meinung sehr populär. Mit anderen Worten, die katholischen Modernisierer fungieren als eine Art Relais, als eine Schnittstelle zwischen der kirchlichen Institution und einigen in der westlichen Welt verbreiteten kulturellen und politischen Tendenzen. Ihre Ambition ist eine zweifache: einerseits die Kirche zu verändern, indem man sie an den »Zeitgeist« anpasst und auf diese Weise befähigt, in der Gegenwart zu überleben; und andererseits dafür zu sorgen, dass der besondere kulturelle und spirituelle Beitrag der katholischen Religionserfahrung gesellschaftliche Wertschätzung genießt.

Für die katholischen Reformer erwächst die Notwendigkeit struktureller Veränderungen in der Kirche aus der inzwischen offenkundigen Überalterung des »tridentinischen Modells«10 der kirchlichen Bürokratie – so genannt nach dem Konzil, auf dem dieses Modell im 16. Jahrhundert eingeführt wurde, um sich zur tragenden Architektur der Kirche zu entwickeln. Sein Organisationsprinzip beruht, stark vereinfacht gesagt, neben der territorialen Pfarrei und der allgemeinen religiösen Praxis auf einer Leitungsstruktur, die ausschließlich in den Händen eines Klerus aus ledigen, männlichen Vollzeitfunktionären liegt, und auf einem zentralen Apparat (der römischen Kurie) im Dienst eines absoluten Oberhaupts (des Papstes), das mit immensen normativen und politischen Befugnissen ausgestattet ist.

Dieses Modell ist nach Meinung derer, die es abschaffen wollen, heute nicht mehr funktionstüchtig, was vor allem von den gewaltigen Veränderungen herrührt, die sich im letzten Jahrhundert in den westlichen Gesellschaften ereignet haben: die grassierende Säkularisierung und die daraus erwachsene tiefgreifende Krise der Religionsvermittlung sowie das unumkehrbare Bekenntnis zu Religionsfreiheit und religiösem Pluralismus. Daher, so die Reformer, laufe die Kirche, »wenn sie ihre sichtbaren Strukturen nicht aktualisiert, Gefahr, in ihrer sichtbaren Institutionalisierung für ein riesiges historisches Fossil gehalten zu werden, das die kostbare Erfahrung, die es der Menschheit schenken will, unter dem Gewicht seiner äußeren Schale zu zerquetschen droht«.11 Deshalb müssten, so die Reformbefürworter weiter, im Namen einer radikalen und läuternden Rückkehr zur Botschaft des Evangeliums wie auch einer immer unaufschiebbareren Anpassung des Katholizismus an die Moderne die Wahrnehmung der kirchlichen Gemeinschaft verändert, der Autoritarismus und die gnadenlose Vertikalisierung der Macht in der Institution bekämpft und stattdessen – auch mittels einer tiefgreifenden Umgestaltung der Pfarrgemeinden – die vollumfängliche Beteiligung aller Gläubigen am kirchlichen Leben begünstigt werden. Kurzum, die Reformer wünschen sich eine weniger machistische, synodalere und weniger hierarchische Kirche.

Um deutlich zu machen, wie plausibel und realistisch ihre Vorschläge sind, führen die Reformer an, dass es in der Kirchengeschichte zahlreiche Präzedenzfälle für große Veränderungen gebe und dass das, was man anstrebe, keine absolute Neuheit sei, weil die kirchliche Institution schon zu anderen Zeiten im Lauf ihrer Geschichte ihre Normen und ihre Strukturen verändert habe. So sei die Ohrenbeichte, ehe sie zur verbindlichen Praxis wurde, lange verboten gewesen; der Klerikerzölibat sei erst von einem bestimmten Zeitpunkt an verpflichtend geworden; Diakoninnen habe es, auch wenn sie heute verschwunden seien, jahrhundertelang gegeben und so weiter. Diese Forderung nach Veränderung sei im letzten Jahrhundert mehrfach aufgekommen: besonders lautstark mit dem Modernismus Anfang des 20. Jahrhunderts und dann, wie schon erwähnt, in den 60er-Jahren mit dem II. Vatikanischen Konzil, einem Moment großer Diskontinuität in der Kirchengeschichte, auf den eine lange Welle der Reaktion, der Verängstigung und Desorientierung und der Rückkehr zum Altbekannten folgte. Es gehe also im Großen und Ganzen darum, jenen unterbrochenen Weg wiederaufzunehmen, jenes noch unvollendete Projekt zum Abschluss zu bringen, jenen Enthusiasmus wiederzubeleben, der in der ersten Hälfte der 60er-Jahre einen Großteil der Katholiken glauben machte, sie könnten die Kirche erneuern.

Das Konzil versetzte den müden und matten kirchlichen Organismus in helle Aufregung: Es stellte den lateinischen, römischen und westlichen Charakter des Katholizismus infrage und förderte die Vorstellung von der Inkulturation, also dem Pluralismus in den Formen des Gemeindelebens und in den katholischen Liturgien; es ermutigte zu katechetischen Experimenten, theologischen Innovationen und einem auch quantitativen Wachstum der katechetischen Bewegung; es unterstützte den Bedeutungszuwachs der Laien und ihrer Organisationen sowie den direkten Zugang zur Schrift und ihrer kritischen Auslegung für alle Gläubigen; es führte den Diakonat der Männer ein, bereitete die Liturgiereform und, in der Folge, die Aufwertung der verschiedenen Volkssprachen auf Kosten des Lateinischen vor; es ließ Frauen zum Theologiestudium zu und setzte die Synoden und die Bischofskonferenzen ein. Einen ersten Rückschlag erlitt der Reformprozess unter Paul VI., der in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre, aufgeschreckt durch die Wendung, die die Veränderungen in der Kirche womöglich nehmen würden, in vielen Belangen den institutionellen Rückwärtsgang einlegte.