Die unglaubliche Welt genialer Menschen mit Autismus - Ulrich Merkl - E-Book

Die unglaubliche Welt genialer Menschen mit Autismus E-Book

Ulrich Merkl

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Beschreibung

Warum wurde Beethoven als Landstreicher und Spion verhaftet? Warum nahm Kaiserin Sisi auf alle Reisen ihre Lieblingskuh mit? Warum war Karl Lagerfeld nie ohne Sonnenbrille zu sehen? Warum ist Greta Thunberg durch nichts auf der Welt von ihrer Klimaschutz-Mission abzubringen? All diese Persönlichkeiten haben eine Gemeinsamkeit: das Asperger-Syndrom. Sie gelten als eigenbrötlerisch, als skurrile, exzentrische oder menschenscheue Sonderlinge, doch ihr ungewöhnlicher Blick auf die Welt, ihre oft überdurchschnittliche Intelligenz und ihre erstaunlichen Talente und Spezialinteressen befähigen sie zu weltbewegenden Leistungen. Kurzweilig und kenntnisreich berichtet Ulrich Merkl aus dem Leben weltberühmter Persönlichkeiten, die gesichert oder mit großer Wahrscheinlichkeit vom Asperger-Syndrom, einer leichteren Form des Autismus, betroffen sind oder waren. Anhand verblüffender Anekdoten und nie gehörter Fakten entsteht ein umfassendes Bild autistischer Denk- und Lebensweisen, die das Schaffen vieler kreativer Genies entscheidend geprägt haben. Sein Buch ist ebenso eine Einladung, Autistinnen und Autisten nicht über ihre Schwächen zu definieren, sondern von ihren kreativen und außergewöhnlichen Lösungen zu lernen.

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Seitenzahl: 608

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Ulrich Merkl

Die unglaubliche Weltgenialer Menschenmit Autismus

Patmos Verlag

„Alles, was ich als junger Mensch vom Leben wünschte underwartete, war, ruhig in einer Ecke zu sitzen und meine Arbeitzu tun, ohne von den Menschen beachtet zu werden.Und jetzt schaut bloß, was aus mir geworden ist.“Albert Einstein

INHALT

Worum geht es in diesem Buch?

28. Oktober 1726

Der Kampf gegen den Mief

Jonathan Swift und das qualmfreie Löschen von Kerzen

Dezember 1746

Dinosaurierexkremente und andere Leidenschaften

Warum Jean-Jacques Rousseau seine Kinder aussetzte

18./19. Oktober 1752

Gibt’s was Neues im Schloss?

Jean-Jacques Rousseau verzichtet auf eine königliche Pension

8. Juni 1781

Aus dem Leben eines Taugenichts

Mozart und der Tritt in den Hintern

Sommer 1786

Rock me Amadeus

Beethoven ist wie Mozart, nur anders

16. Juli 1789

Ein Botschafter in Hausschlappen

Thomas Jeffersons Alienbonus

6. September 1797

Ehrlich währt’s am längsten

Immanuel Kants Obelix-Methode

4. März 1801

Mister Spock im Weißen Haus

Wie Thomas Jefferson trotz seines Autismus US-Präsident wurde

22. Dezember 1808

Wien sucht den Super-Star

Beethovens gefiederte Musen

Herbst 1817

Tickt der noch richtig?

Warum Beethoven immer diese Summen im Kopf hatte

September 1821

Jacke wie Hose

Ein Lump namens Beethoven

14. September 1832

Der englische Patient

Über die Entstehung von Charles Darwins Unarten

Juli 1833

Leben in Endlosschleife

Und täglich grüßt der Schopenhauer

8. Mai 1835

Das hässliche junge Dichterlein

Hans Christian Andersen schreibt das Märchen seines Lebens

Juli 1838

»Jedenfalls besser als ein Hund«

Warum Charles Darwin seine Cousine heiratete

4. Juli 1845

Das freiwillige unsoziale Jahr

Henry David Thoreaus Leben in den Wäldern

18. Juni 1858

Es lebe die Evolution!

Warum Charles Darwin keine Lust hatte, einen Mord zu gestehen

4. Juli 1862

»Keine Ahnung, wie man erwachsen wird.«

Lewis Carrolls Abenteuer im Kinderland

1864/65

»Ich nehme mein Schneckenhaus immer mit.«

Lewis Carroll auf Reisen

8. Juni 1867

Schicksalsdiagnose einer Kaiserin

Warum Sisi plötzlich nur noch Ungarisch sprach

26. November 1872

Who is Who?

Charles Darwin und der Ausdruck der Gemütsbewegungen

23. Dezember 1880

Behindertenwerkstätten für Außerirdische

Bernard Shaws Bibliotheks-Asyl

Sommer 1881

Nicht schießen, Darling, ich bin’s!

Thomas Alva Edisons Pakt mit dem Kreativitäts-Teufel

29. August 1885

Reden ist Silbe, Schreiben ist Gold

Ein Sprücheklopfer namens Edison

November 1886

Der Apfel fällt nicht weit vom Stammbaum

Kaiserin Sisi wünscht, nicht gestört zu werden

November/Dezember 1886

Eine Fotomorgana in Paris

Warum Vincent van Gogh nicht so gut aufgenommen wurde

Juni 1889

Ein Sommernachtstrauma

Warum Vincent van Gogh diesen Wirbel um seine Gemälde machte

Anfang 1891

Genie vs. Geschäftsmann

Wie Nikola Tesla ein paar Milliarden Dollar vernichtete

Juli 1898 – Juli 1902

Die selbsttröstende Einheit

Marie Curies Leben im Vakuum

Juni 1905

Wer reitet so schnell durch Raum und Zeit?

Albert Einstein auf dem Lichtstrahl

13. August 1912

Der Blick durchs Mikroskop

Franz Kafka und die schwarze Hutkrempe

Oktober 1912

»Gestern hat der Mieter zweimal gehustet.«

Franz Kafka im Hauptquartier des Lärms

16. Oktober 1913

Für mich soll’s Katzen und Hunde regnen

Bernard Shaw erfindet ein neues Alphabet

Juli 1914

Aliens ohne Gebrauchsanweisung

Einsteins List mit der Liste

4. November 1915

Ich kam, sah und siechte

Die Abenteuer des braven Soldaten Rilke

Dezember 1917

Kein Anschluss unter diesem Menschen

Warum Franz Kafka nicht telefonierte

April 1919

Ich sehe was, was du nicht hörst

Tesla, der Fledermausmann

November 1925

Sehnsucht nach Symmetrie

Ludwig Wittgensteins Haus für die Götter

7. Februar 1926

Leben im Zwei-Welten-Modell

Hermann Hesse und die verlorene Autistengeneration

18. Juni 1929

Nicht gesellschaftsfähig

Wittgenstein im Porzellanladen

Winter 1933/34

Verschollen im Hörsaal

Warum Einstein sein Haus nicht wiederfand

2. Oktober 1950

»Beethoven klingt eben lustiger als Brahms.«

Wie Charles Schulz den ersten autistischen Comic der Welt schuf

14. März 1951

Die berühmteste Zunge der Welt

Einstein albert

30. November 1955

»Nichts ist mir so unähnlich wie ich selbst.«

Die talentierte Miss Highsmith

8. Dezember 1959

Unangenehm berÜhrt

Glenn Gould und die Schulterklopf-Attacke

Mai 1964

Als Baby habe ich vielleicht was erlebt

Wie aus Alfred Hitchcock wurde

Frühjahr 1967

Ökosystem Pausenhof

Wie Steve Jobs zu seiner Garage kam

September 1974

Ist das Kunst oder kann das weg?

Andy Warhols Messie-Syndrom

März 1976

Man ist, was man isst

Steve Jobs erfindet den Apfel-Computer

April 1981

Autoismus

Warum Glenn Gould beim Autofahren Scheuklappen trug

15. Dezember 1990

Der Trick mit dem Nasenblick

Das Geheimnis um Karl Lagerfelds Sonnenbrille

4. Februar 2004

Barrierefreie Kommunikation

Warum Mark Zuckerberg Facebook erfand

12. Oktober 2007

»Als ob ein Weltkrieg stattfände«

Wie Al Gore beinahe den Planeten gerettet hätte

März 2010

Wikilix gegen den Rest der Welt

Der Fall Julian Assange

20. August 2018

Stille Wasser sind kreativ

Greta Thunbergs Durchführmechanismus

ANHANG

Bekannte Persönlichkeiten unter Asperger-Verdacht oder mit einerAsperger-Diagnose, die in diesem Buch auftreten

Zur Diagnoseproblematik

Anmerkungen

Bildnachweise

Zitierte Literatur

Besonders empfehlenswerte Bücher zumThema Asperger-Autismus

Danksagung

Bemerkung zum Thema Gendern:

Es wurden geschlechtsneutrale Bezeichnungen, männliche und weibliche Formen sowie die »klassische« Form des generischen Maskulinums im Wechsel verwendet, um Konstruktionen mit Doppelpunkt, Sternchen oder Ähnlichem zu vermeiden, die in erzählerischen Texten oft den Lesefluss stören. Selbstverständlich gelten sämtliche Personenbezeichnungen immer gleichermaßen für alle Geschlechter und Geschlechtsidentitäten.

WORUM GEHT ES IN DIESEM BUCH?

Als einmal ein Interviewer den Pop Art-Künstler Andy Warhol nach dessen Herkunft fragte, bekam er eine überraschende Antwort. »Ich stamme von einem anderen Planeten und weiß nicht, wie ich auf die Erde gelangt bin«1, meinte der Maler und Grafiker, von dem das Einwohnermeldeamt bis dahin immer gedacht hatte, er stammte aus Pittsburgh, Pennsylvania.

Warhol war nicht der einzige Prominente, den der Storch in der falschen Galaxie abgeliefert hatte. Viele bekannte Persönlichkeiten aller Zeiten und Länder behaupteten, nicht etwa von der Erde, sondern aus dem Weltall oder von einem fremden Planeten zu stammen:

Der Komponist Anton Bruckner, laut Taufbucheintrag geboren am 4.9.1824 im oberösterreichischen Ansfelden, beklagte sich mehr als einmal: »Ich weiß nicht, wie ich auf diesen miserablen Planeten gelangt bin.«2

Der Dramatiker Bernard Shaw, laut Wikipedia geboren am 26.7.1856 in Dublin, sprach von einer »Fremdheit, die mich mein Leben lang mehr zu einem Gast als zu einem Einwohner unseres Planeten gemacht hat.«3

Albert Einstein, nach Angaben seiner Eltern zur Welt gekommen am 14.3.1879 in der Bahnhofstraße B135 in Ulm, »stand der Gesellschaft gegenüber, als sei er auf einem anderen Planeten geboren.«4

Auch der Philosoph Ludwig Wittgenstein war »wie aus einer fremden Welt herabgeschneit«.5

Ebenso Bill Gates, der einem Journalisten zufolge »als Marsmensch« auf die Erde kam.6

Und Elon Musk war die Frage, ob er womöglich ein Alien sei, nur ein »Selbstverständlich!« wert.7

Wenn aber alle diese Personen nicht von der Erde stammten, woher kamen sie dann?

Seit wenigen Jahren wissen wir es: Sie stammen vom Planeten Asperger.

Im Jahr 1944 beschrieb der österreichische Kinderarzt Hans Asperger (1906–1980) eine psychische Besonderheit: eine leichte Form von Autismus, die man heute »Asperger-Autismus«, »Asperger-Syndrom« oder »Hochfunktionaler Autismus« nennt.8Obwohl mindestens ein Prozent der Bevölkerung betroffen ist, in Deutschland also 800.000 und weltweit achtzig Millionen Menschen9, ist Asperger-Autismus in der öffentlichen Wahrnehmung noch zu wenig bekannt oder wird oft falsch verstanden.

Noch weniger bekannt als das Phänomen selbst ist, dass auch viele bedeutende Künstler, Wissenschaftlerinnen, Politiker und andere Prominente von dieser Art der Gehirnprogrammierung betroffen sind oder gewesen sein müssen: Isaac Newton, Thomas Jefferson, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Kaiserin Elisabeth von Österreich (»Sisi«), Vincent van Gogh, Marie Curie, Albert Einstein, Franz Kafka, Alfred Hitchcock, Andy Warhol, Karl Lagerfeld, Bill Gates, Steve Jobs, Julian Assange, Elon Musk, Mark Zuckerberg, Greta Thunberg und viele andere, die uns in diesem Buch begegnen werden.

»Autismus«, abgeleitet vom griechischen Wort autós (›selbst‹), bedeutet »Selbstbezogenheit« oder »Selbstgenügsamkeit« oder »Ganz-bei-sichsein«. Gemeint ist ein auf sich selbst bezogenes Verhalten und die mangelnde Befähigung zu sozialer Interaktion.

Wer sich heute mit Autismus beschäftigt, muss mit vielen falschen Vorstellungen aufräumen, vor allem mit der, Autismus sei immer gleichbedeutend mit einer geistigen Behinderung. Die Wahrheit ist viel komplizierter: Kein Autist gleicht dem anderen und die Symptome innerhalb des weiten autistischen Spektrums könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Spannbreite reicht von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung bis hin zu außerordentlich Begabten.10

Asperger-Autismus, mit dem sich dieses Buch befasst, ist eine leichte Form von Autismus am äußeren »hellen« Rand des autistischen Spektrums. Keine schwere Krankheit, keine schwere Behinderung im klassischen Sinn, sondern eine ungewöhnliche Art, zu denken, zu fühlen, zu leben11, immer einhergehend mit einer sozial-kommunikativen Störung, die gravierende Auswirkungen auf die Betroffenen hat, oft aber auch mit außergewöhnlichen Talenten auf bestimmten Spezialgebieten.

Das Hauptproblem von Asperger-Autisten und -Autistinnen liegt darin, dass ihr Gehirn zwar nicht schlechter, aber anders funktioniert. Sie haben viele Talente, aber meist nicht diejenigen, die für das »echte« Leben entscheidend sind. Außerdem nehmen sie die Welt ganz anders wahr als »normale« Menschen und ihr Verhalten wirkt für Nicht-Autisten oft befremdlich. Von solchen autistischen Besonderheiten werden wir in diesem Buch immer wieder hören: zwanghafte Fixierung auf kuriose Spezialinteressen zum Beispiel, starres Festhalten an Routinen und Ritualen, rein logisch-rationales Denken, Fokussierung auf Details zulasten des Gesamtbildes, Egozentrik und Nonkonformität, Hypersensibilitäten und körperliche Schwächen. Aus diesen und vielen anderen Gründen ecken Autisten und Autistinnen überall an, gelten als eigensinnig, arrogant, kompliziert, verpeilt, weltfremd, als Sonderlinge, Exzentrikerinnen, Außenseiter, »wie von einer gläsernen Mauer umgeben«, eben wie von einem anderen Planeten.

Trotzdem sind Menschen mit Asperger-Autismus etwas völlig anderes als ›Rain Man‹. Der Protagonist des gleichnamigen Films ist für die meisten Menschen noch immer die einzige Assoziation zum Thema Autismus, obwohl nur etwa ein Drittel aller Betroffenen an diesem äußersten »dunklen« Ende des Spektrums liegt, wo sich Autismus als schwere geistige Behinderung manifestiert. Mit der leichteren Art von Autismus, die in diesem Buch besprochen wird und von der etwa zwei Drittel aller Autisten betroffen sind, hat Rain Man nichts zu tun.12

Die Fokussierung dieses Buches auf berühmte Persönlichkeiten unter Asperger-Verdacht oder mit einer Asperger-Diagnose könnte den Eindruck entstehen lassen, dass diese Art der Gehirnprogrammierung immer automatisch mit Hochbegabung oder Genialität oder beruflichem Erfolg einhergeht. Das wäre genauso einseitig und falsch wie die Tendenz der Filmindustrie, Menschen mit Autismus als »gestört« oder »leidend« darzustellen.13 Wie immer liegt die Wahrheit in der Mitte. Die meisten Asperger-Autisten erbringen keine revolutionären Leistungen und gewinnen keine Nobelpreise. Sie sind unauffällige, introvertierte Einzelgänger, oft überdurchschnittlich intelligent, oft hochbegabt, aber meist vom Berufs- und Sozialleben ausgeschlossen, immer aufgrund ihrer sozialen und kommunikativen Defizite, zusätzlich häufig auch noch aufgrund von Begleiterkrankungen wie Angststörungen, Zwangsstörungen, Sozialphobie, Depressionen, Störungen des Immunsystems.14

Unumstritten ist aber auch, dass viele autistische Züge dem wissenschaftlichen oder künstlerischen Erfolg dienlich sein können. So hatten die in diesem Buch vorgestellten prominenten Personen das Glück, meist nicht von schweren Begleiterkrankungen betroffen zu sein und im Randbereich des autistischen Spektrums zu liegen, wo sich die Störung nicht als schwere Behinderung, sondern als Anderssein manifestiert. Die enormen kreativen Leistungen dieser Menschen basierten auf einer Kombination typisch autistischer Stärken, dazu gehören zum Beispiel Zähigkeit, Askese und Perfektionismus, fehlender Respekt vor Autoritäten und gesellschaftlichen Normen, überdurchschnittliche Fähigkeiten im logischen und sprachlichen Bereich, ein Blick für versteckte Systeme und Muster.

Von den skurrilen, traurigen und großartigen Lebenswegen, die sich aus dieser ungewöhnlichen Art der Gehirnstrukturierung ergeben haben, handelt dieses Buch.

Der Verdacht, dass manche bekannte Persönlichkeiten von einer leichten Form von Autismus betroffen gewesen sein könnten, ist nicht neu. Wer die Autismus-Literatur durcharbeitet, stößt immer wieder auf Sätze wie »Angeblich war auch Ludwig van Beethoven von Autismus betroffen«, oder »Auch Albert Einstein soll auf dem autistischen Spektrum gelegen haben«. Dass es in dieser Frage bis heute keine klare Antwort gibt, liegt daran, dass jeder Forscher- und Autorengruppe ein Teil des Gesamtbildes fehlt:

Die Menschen mit Autismus beschreiben in ihren Autobiografien immer nur ihre eigenen Erfahrungen. Nicht ohne Grund bedeutet Autismus »Selbstbezogenheit«.

Die Verfasser historischer Biografien, die eigentlich dankbar wären für jede neue Facette ihrer Hauptfigur, wissen nichts von Autismus.

Und die Psychotherapeutinnen und Psychologen befassen sich nicht mit historischen Persönlichkeiten, weil sie Ferndiagnosen skeptisch gegenüberstehen. Sie halten es für unseriös, einen Menschen zu diagnostizieren, dem sie nie persönlich begegnet sind.

Alle forschen und publizieren aneinander vorbei.

Dass bei Beethoven und Einstein zu Lebzeiten nie Autismus diagnostiziert wurde, liegt auf der Hand, weil damals weder das Wort noch das Konzept »Autismus« existierten. Niemand achtete auf die Symptome, weil sie unbekannt waren. Zweihundert Jahre später geboren, müsste Beethoven heute aber – auf der Basis all der zufällig überlieferten Indizien – zwingend die Diagnose »Asperger-Autismus in geradezu lehrbuchartiger Ausprägung« bekommen. Auch Einstein, etwas weniger stark betroffen als Beethoven, bekäme heute von jeder deutschsprachigen Psychotherapeutin mit Sicherheit die Diagnose »Asperger-Autismus« beziehungsweise in den USA (wo er die letzten 22 Jahre seines Lebens verbrachte) die Diagnose »High-Functioning Autism«.

Ähnliches gilt für alle in diesem Buch vorgestellten Persönlichkeiten. Während die zeitgenössischen Vertreter und Vertreterinnen dieser Form von Gehirnprogrammierung oft eine offizielle Diagnose haben, wie zum Beispiel Anthony Hopkins, Philippe Starck, Julian Assange, Elon Musk oder Greta Thunberg, weisen auch die historischen Persönlichkeiten, die unter dringendem Asperger-Verdacht stehen, eine überwältigende Vielzahl der typischen Symptome auf, die eine deutliche Sprache sprechen. Detaillierte Belege und Hinweise zu den einzelnen porträtierten Personen in Bezug auf den Autismusverdacht oder die Autismusdiagnose finden sich im Anhang.

Zugegebenermaßen ist die posthume Ferndiagnose einer psychischen Besonderheit ein heikles Unterfangen. Es ist schon kompliziert genug, einen lebenden Menschen zu diagnostizieren. Eine Diagnose ist auch keine mathematische Formel, die entweder ganz richtig oder ganz falsch ist, und natürlich werden die Biografen und die Autismus-Forscherinnen nie einen vollständigen Einblick in Beethovens und Einsteins Seelenleben haben – den diese vermutlich nicht einmal selbst hatten. Entsprechend heftig wird um diese Fragestellung gestritten. Jeder »Einstein war Autist«-Aufsatz wird umgehend mit einem »Einstein war kein Autist«-Aufsatz beantwortet, auf jeden »Bill Gates ist Autist«-Artikel folgt sofort ein »Undiagnosing Bill Gates«-Artikel.

Niemand will, dass Autismus als Massenphänomen entwertet wird, zum Schaden der schwerer Betroffenen. Wenn man aber die typischen Symptome verstanden hat, wenn man das Gesamtpaket kennt, wenn man weiß, wonach zu suchen ist, dann ist Autismus gar nicht so schwer zu erkennen. Tatsächlich liegen bei kaum einer anderen psychischen Besonderheit die Symptome so deutlich auf dem Tisch. Es sind immer die gleichen Muster, es ist immer der gleiche Typus Mensch: Mozarts kindisches Benehmen. Immanuel Kants durchgetakteter Tagesablauf. Alfred Hitchcocks Pokerface. Mark Zuckerbergs ewig graues T-Shirt. Für jemanden, der das Phänomen Autismus kennt, beginnen diese Fakten im Kontext zu leuchten, fügen sich mit unzähligen anderen Puzzleteilchen zu einem Bild, aus dem sich etwas Größeres ablesen lässt. Und wenn man mit Autismus-Wissen die Biografien von Thomas Jefferson, Ludwig van Beethoven, Vincent van Gogh, Nikola Tesla, Marie Curie, Franz Kafka, Patricia Highsmith, Andy Warhol durchkämmt, dann ist offensichtlich, dass hier Asperger-Autisten und Asperger-Autistinnen beschrieben werden. Es kann überhaupt kein Zweifel bestehen.

Autismus wird heute glücklicherweise viel früher diagnostiziert als noch vor einigen Jahren. In den vergangenen 25 Jahren sind Hunderte von Büchern zum Thema Asperger-Autismus erschienen. Viele Erzieher und Lehrerinnen wissen inzwischen Bescheid, Betroffene und ihre Familien können sich im Internet informieren. Bis um 1995/2000 jedoch war Asperger jenseits psychologischer Fachkreise praktisch unbekannt, weshalb die meisten vor 1990 geborenen Betroffenen, wenn überhaupt, erst in ihrem fünften oder sechsten Lebensjahrzehnt diagnostiziert werden. Dabei wäre es für diese Menschen und ihre Umwelt unendlich wichtig gewesen, so früh wie möglich zu verstehen, dass sie ein riesiges Problem haben. Die Information »Achtung, du bist von Autismus betroffen und darum anders programmiert!« hätte ihnen geholfen, ihre Einschränkungen zu erkennen, den inneren autistischen Schweinehund auszubremsen, besser zu kommunizieren, sich selbst und ihre Mitmenschen besser zu verstehen, es hätte ihr Leben sehr viel einfacher und erfolgreicher gemacht. Nur wer sein unsichtbares Problem kennt und weiß, wo er suchen muss, braucht nicht ständig das Rad neu zu erfinden. Nur mit einer Autismus-Diagnose erweist sich vermeintliches Nicht-Wollen als Nicht-Können. Nur mit einer Autismus-Diagnose werden bizarre Spleens zu Symptomen eines bekannten Störungsbildes, werden »schwierige«, »egozentrische«, »weltfremde« Menschen zu unschuldigen Opfern einer psychischen Abweichung.

Und manchmal sehen Menschen mit Autismus die Dinge durch ihr Anderssein vielleicht sogar ein bisschen rationaler und kreativer als die »normalen« Menschen:

Im August 2018 rief die damals fünfzehnjährige Greta Thunberg ihre freitäglichen »Schulstreiks für das Klima« ins Leben, die inzwischen zur globalen Bewegung »Fridays for Future« gewachsen sind. Vom Time Magazine wurde die Klimaaktivistin in die Liste der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten des Jahres 2019 aufgenommen, im gleichen Jahr erhielt sie den Alternativen Nobelpreis.

Wäre Greta Thunberg dreißig Jahre früher geboren, dann hätte das alles nicht stattgefunden. Nicht wegen des damals noch unterentwickelten Umweltbewusstseins, sondern wegen der Unkenntnis des Asperger-Syndroms. Greta, die sich mit acht Jahren für den Klimawandel zu interessieren begann, erfuhr schon als Elfjährige (2014), dass sie von Autismus betroffen ist. So verstand sie frühzeitig, warum sie anders ist, warum sie anders denkt: »Ich sehe die Welt etwas anders, aus einer anderen Perspektive«, erklärte sie staunenden Journalisten, die die kindlich wirkende Revolutionärin nicht recht einzuordnen wussten, »ich habe ein Spezialinteresse. Es ist sehr verbreitet, dass Menschen im Autismus-Spektrum ein Spezialinteresse haben.«15Was dazu führte, dass sie nicht versuchte, sich anzupassen, stillzuhalten, ihre autistischen Instinkte zu unterdrücken, ein »normaler« Mensch zu werden, dass sie nicht von ihren Eltern und ihrer Umgebung dazu gedrängt wurde. Weil sie wusste, weil die anderen wussten, dass sie nicht falsch ist, sondern nur anders. Dass sie so sein darf, dass sie so sein muss. Hätte eine dreißig Jahre früher geborene Greta Thunberg ihre Eltern aufgefordert, kein Fleisch mehr zu essen und nicht mehr Auto zu fahren, dann hätten sie nur müde gelächelt: »Wieder einer deiner komischen Spleens …« Als aber die 2003 geborene Greta Thunberg im Alter von zwölf Jahren ihren Eltern vorschlug, sich vegan zu ernähren und auf Flugzeug und Auto zu verzichten, stieß sie auf Verständnis: »Wir wissen, dass du Autistin bist, dass du darum die Welt anders siehst, dass du mit deiner logisch-rationalen Denkweise und mit deiner radikalen Konsequenz oft recht hast« – und ließen sich konvertieren. Nicht, weil ihre Eltern toleranter oder intelligenter gewesen wären als Eltern dreißig Jahre zuvor, sondern weil sie Bescheid wussten über Autismus. Gleiches gilt für Gretas Lehrer, die sich sogar dem Schulstreik anschlossen, weil sie sich mit Asperger-Autismus auskannten.

Menschen mit Asperger-Autismus sind nicht rebellisch – Sie widersetzen sich Missständen und Ungerechtigkeiten.

Sie sind keine gefühllosen Eisklötze – Sie sind nüchtern und sachlich.

Sie sind nicht langweilig – Sie sind diszipliniert.

Sie sind nicht unhöflich – Sie sind ehrlich.

Sie sind nicht stur – Sie haben klare Vorstellungen von Richtig und Falsch.

Sie sind nicht umständlich – Sie sind sorgfältig.

Sie sind nicht egozentrisch – Sie sind unabhängig und eigenständig.

Die Gesellschaft ist viel diverser als in den Medien dargestellt. Die Kluft zwischen der Realität und der öffentlichen Wahrnehmung ist riesig. Trotz aller Fortschritte sind Minderheiten noch immer viel zu wenig sichtbar. Andersartigkeit ist weder falsch noch bedrohlich, sondern eine Chance. Definieren wir Menschen mit Autismus und anderen Abweichungen nicht über ihre Fehler und Schwächen, sondern über ihre Begabungen. Lassen wir sie die Stärken ihres atypischen Geistes in die Gesellschaft einbringen und so beitragen zu einer bunteren, gelingenderen Welt!

Das vorliegende Buch ist der erste Versuch einer Synthese aus dem aktuellen Stand der Autismus-Forschung, aus eigenen und fremden Erfahrungen über autistisches Leben in einer nicht-autistischen Welt und aus den in Biografien versteckten autistischen Special Effects berühmter Persönlichkeiten.

Eingeflossen sind:

160 Bücher über Asperger-Autismus,

80 Bücher über verwandte Themen, vor allem psychische Störungen,

120 Autobiografien von Asperger-Autisten und -Autistinnen,

80 Stunden TV-Dokumentationen über Autismus,

430 Biografien historischer Persönlichkeiten, die unter Autismus-Verdacht stehen,

viele Gespräche mit auf Autismus spezialisierten Psychotherapeuten und 57 Jahre Leben als Asperger-Autist.

DER KAMPF GEGEN DEN MIEF

Jonathan Swift und das qualmfreie Löschen von Kerzen

London

28. Oktober 1726

Im Verlag von Benjamin Motte in der Londoner Fleet Street erscheint das Buch Travels into Several Remote Nations of the World, in Four Parts. Der Verfasser und Ich-Erzähler ist ein gewisser Lemuel Gulliver. Offensichtlich ein Pseudonym, denn wer heißt schon Lemuel, außerdem eine Anspielung auf das Wort gullible, das so viel wie »leichtgläubig« oder »einfältig« bedeutet.

Der Verfasser ist gut beraten, unter einem Pseudonym zu publizieren, denn das Werk ist voller Seitenhiebe, Gehässigkeiten und Parodien, eine Generalabrechnung mit der englischen Politik und Gesellschaft. Selbst die in Sachen Pressezensur relativ liberale britische Justiz hat Autoren und Verleger schon aus geringeren Anlässen hinter Gitter geschickt.

Gullivers Reisen ist aber nicht nur eine Gesellschaftssatire – und schon gar kein harmloses Kinderbuch –, sondern auch das erste autistische Manifest der Weltliteratur. Lemuel Gulliver, im echten Leben bekannt als Jonathan Swift, Dekan der Kathedrale St. Patrick zu Dublin, hat nämlich, wie nach ihm so viele andere Kreative auf dem autistischen Spektrum, seine lebenslangen eigenen autistischen Beobachtungen, Erfahrungen, Probleme und Spleens unbewusst in sein Hauptwerk hineingeschrieben – ohne die geringste Vorstellung von Autismus, weder vom Phänomen an sich noch von der Tatsache, dass er selbst betroffen ist.

Swifts Alter Ego Gulliver ist durch seinen Schiffbruch zu einem Leben als Fremdkörper in einer Gesellschaftsordnung verurteilt, deren bizarre Sitten er weder kennt noch versteht: So schlagen die Einwohner von Liliput ihre Eier ausschließlich am spitzen Ende auf, sie schreiben schräg von einer Ecke zur anderen, vergeben politische Ämter nach Geschicklichkeit im Seiltanzen und bestatten ihre Toten mit den Köpfen nach unten. Das ist satirische Reflexion und Überhöhung von Swifts eigenen autistischen Problemen in einer Welt von Nicht-Autisten. Genau wie Gulliver wurde nämlich auch sein Schöpfer in eine Welt hineingestoßen, deren merkwürdige Regeln er nicht verstand und gegen die er ständig verstieß: Swift sagte immer die Wahrheit und seine ehrliche Meinung; er fürchtete die Nähe anderer Menschen und kommunizierte fast nur schriftlich; er folgte einem streng ritualisierten, auf die Minute durchgetakteten Tagesablauf; er zählte beim Laufen die Schritte, warf bei jeder Gelegenheit mit Wortspielen und Kalauern um sich und vieles mehr.16 Soziale Erfolgsmodelle sehen anders aus.

Gullivers Abenteuer sind also auch als Allegorie auf das Leben als Autistin oder Autist in einer nicht-autistischen Gesellschaft und auf die damit verbundenen Kommunikations- und Integrationsprobleme zu lesen, von denen wir in diesem Buch immer wieder hören werden.

Eine der vielen autistischen Eigenarten, die Gulliver mit seinem Schöpfer Jonathan Swift teilt, ist olfaktorische Hypersensibilität, also die Überempfindlichkeit gegenüber Gerüchen, die sich wie ein roter Faden durch Gullivers Reisen zieht: Auf dem Rückweg nach Europa wird Gulliver von einem Schiff aufgelesen, doch kaum ist er an Bord, beginnt er über Duftstress zu klagen: »Schon der Geruch des Kapitäns und der seiner Leute brachte mich einer Ohnmacht nahe.« Zurück in der Zivilisation hat er dann große Probleme, sich wieder einzugliedern: »Schließlich wurde ich kühn genug … auf die Straße zu gehen, verstopfte mir aber die Nase gehörig mit Raute [einer duftenden Gewürzpflanze] oder mit Tabak.« Und der Gipfel der olfaktorischen Martern: »Während des ersten Jahres konnte ich es nicht ertragen, dass mein Weib oder meine Kinder in meine Nähe kamen; ihr bloßer Geruch war mir unerträglich.«

Fünf Jahre nach Gullivers Reisen verfasste Swift ein satirisches Handbuch für den Umgang mit Dienstpersonal. Auch hier zieht sich das Thema »Geruch« beziehungsweise »Gestank« als Leitmotiv durch die Lebensweisheiten des leidgeprüften Dienstherrn: »Trage, während du das Essen servierst, auf keinen Fall Socken, denn Damen lieben den Geruch männlicher Zehen, und außerdem ist das ein hervorragendes Mittel gegen andere Gerüche.« Höhepunkt dieses olfaktorischen Kriegsberichts ist eine ausführliche Liste mit Anweisungen, wie man Kerzen qualmfrei löscht, damit sie keinen Geruch verströmen. Der ori ginellste Vorschlag: »Wenn du zu Bett gehst und gerade Wasser gelassen hast, tauche die Kerze in den Nachttopf.« Oder, wenn es anderweitig zu sehr stank: »Gehst du zu Bett, dann sieh zu, dass kein Feuer mehr brennt. Blase also auch die Kerze aus und stelle sie unter dein Bett. Der Qualmgeruch überdeckt dann deinen ganzen anderen Mief.«17

Einerseits wirken Menschen mit Autismus unnahbar und unzugänglich, andererseits sind sie sehr sensibel und reagieren höchst empfindlich auf physikalische Reize. Im Gegensatz zu Einwirkungen auf der emotionalen Ebene nehmen Autisten diejenigen Reize, die man hören, riechen, fühlen, schmecken kann, extrem stark wahr. Wie es scheint, fehlt eine Art Firewall. Das autistische Filtersystem lässt zu viele Reize durch, darum ist den meisten Autisten alles zu hell, zu heiß, zu laut, zu kratzig – und zu stark riechend, zu stinkend. Parfum, Deo, Weichspüler, Küchengerüche, künstlich beduftete Luft im Supermarkt, der Chlorgeruch im Hallenbad – für die meisten Autisten unerträglich:

»Als Kind musste ich mein Zimmer mit vier Geschwistern teilen«, schreibt eine Betroffene. »Als meine Brüder in der Pubertät mit ihrem Testosterongestank die Luft verpesteten, tat ich nachts kein Auge zu. Fleisch esse ich nicht, weil ich den Geruch von Verderbnis, Fäulnis und Aas wahrnehme.«18 Eine andere Autistin schreibt, dass sie riechen kann, ob jemand raucht oder Knoblauch gegessen hat – im Auto vor ihr, bei geschlossenen Fenstern.19 Eine andere kann sich nicht auf einen Stuhl setzen, auf dem kurz zuvor ein anderer Mensch gesessen hat, weil der Stuhl den Geruch angenommen hat, darum muss sie meistens stehen.20

Auch viele berühmte Autisten und Autistinnen berichten von ihrem Kampf gegen die Gerüche. So schreibt zum Beispiel Jean-Jacques Rousseau über seine kurze Karriere als Sekretär: »Beim Kataster war ich täglich acht Stunden lang … in einem öden Bureau eingeschlossen gewesen, das von den Ausdünstungen und dem Schweiß all dieser Tölpel … so verpestet war, daß ich mich bisweilen durch … den Geruch … bis zum Schwindel ermattet fühlte.«21

Ein Zeitgenosse erinnert sich an Outdoor-Freak Henry David Thoreau: »Sein Leben im Freien machte ihn sehr sensibel gegenüber der Atmosphäre in geschlossenen Räumen. Er sagte immer, Wohnhäuser verströmten Ausdünstungen wie ein Schlachthof.«22 Der Beobachter verwechselt allerdings Ursache und Wirkung: Thoreaus Leben an der frischen Luft war eine Reaktion auf seine autistische Hypersensibilität für Gerüche.

Und Kaiserin Elisabeth von Österreich (»Sisi«) lehnte, ganz gegen die Regeln der Zeit und ihrer Gesellschaftsschicht, Schminke und Parfüm kategorisch ab.23 Nicht aber, wie es immer heißt, wegen ihrer grundsätzlichen Abneigung gegen alles Künstliche, sondern wegen ihrer autistischen Hypersensibilität. Dass sie ihre ersten drei Kinder nicht selbst erzog, war für die damalige Zeit zwar nichts Ungewöhnliches – man nahm ihr die Kinder einfach ungefragt weg –, sie unternahm aber auch nichts dagegen, weil sie den Geruch von Säuglingen und Kleinkindern ohnehin nicht ertragen konnte.24

Patricia Highsmith war berüchtigt dafür, ihren Besuchern die Kleidung vom Leib zu reißen, in die Waschmaschine zu stecken und ihnen Kleidung aus eigenen Beständen zu verpassen. Kein Waschzwang, wie es immer heißt, sondern autistische Hypersensibilität gegen Gerüche. Bevor ihre Liebhaberinnen zu ihr ins Bett schlüpfen durften, mussten sie ein Bad nehmen, um ihr Parfum abzuwaschen.25

Und wenn Andy Warhol einen Stadtbummel beschreibt, könnte man beinahe glauben, da spricht ein Hund: »Wenn ich in New York herumspaziere, nehme ich immer ganz intensiv all die Gerüche um mich herum wahr: die Gummimatten in den Bürohäusern; Polstersitze im Kino; Pizza … Espresso-Knoblauch-Oregano; Hamburger; Baumwoll-T-Shirts … Hot-dogs- und Sauerkraut-Imbisswagen; der Geruch vom Eisenwarengeschäft; der Geruch vom Schreibwarengeschäft; Souvlaki … das gegerbte marokkanische Leder an den Straßenständen; neue Illustrierte; alte Illustrierte; Schreibmaschinengeschäfte; chinesische Importläden (der Modergeruch vom Frachter) … Schallplattengeschäfte … Friseurläden; die Holzstühle und -tische in der Bibliothek; das Papier und die Druckerschwärze in der Buchhandlung … die Eisenbahnschienen am Bahnhof … der Bananengeruch von chemischen Reinigungen …«26

Dieser olfaktorische Dauerkriegszustand ist einer der Gründe für die Zurückgezogenheit von autistischen Menschen. Wer jeder Person im Raum auf mehrere Meter Distanz das Haarspray, die Handcreme, das Waschmittel, die letzte Mahlzeit und die Haustiere anriecht, begibt sich nicht gerne in Gesellschaft.

Als Jonathan Swifts Abhandlung über das qualmfreie Löschen von Kerzen nach seinem Tod im Nachlass gefunden wurde, entdeckte man auch eine Liste guter Vorsätze, die er als 32-Jähriger verfasst hatte. Die meisten Punkte auf dieser Liste sind relativ unspektakulär: »Nicht mürrisch werden oder verdrossen oder seltsam«; »Nicht habgierig werden«; »Nicht denselben Leuten die immergleichen Geschichten erzählen«.

Einer von Swifts Vorsätzen lässt allerdings aufhorchen: »Keine Kinder mögen oder sie überhaupt in meine Nähe lassen.«27 Ein autistisches Problem, mit dem auch Jean-Jacques Rousseau bestens vertraut war …

DINOSAURIEREXKREMENTE UND ANDERE LEIDENSCHAFTEN

Warum Jean-Jacques Rousseau seine Kinder aussetzte

Paris, Faubourg Saint-Antoine, Hôpital des Enfants-Trouvés

Dezember 1746

Im Pariser Findelhaus wird ein Neugeborenes abgegeben. Ein ganz normales Mittel der Familienplanung in einer Zeit vor der Erfindung zuverlässiger Verhütungsmittel. Fast jedes vierte Kind wird ausgesetzt, im Kloster, im Spital, im Findelhaus.

Die Mutter des Babys: Marie-Thérèse Levasseur (1721–1801), Wäscherin, Näherin, Hausfrau.

Der Vater: Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Schriftsteller und Philosoph.

Auch die vier später geborenen Kinder des Paares verschwinden sofort nach der Geburt in Waisenhäusern – immer gegen den massiven Widerstand der Mutter: »Nur nach undenklichen Mühen gelang es mir«, schreibt Rousseau, »sie zur Annahme dieses einzigen Mittels zu bewegen … Nur schluchzend gehorchte sie.«28

Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Der Verfasser eines der wichtigsten Pädagogik-Bücher aller Zeiten, Émile oder Über die Erziehung (1762), der einflussreichste Reformpädagoge des 18. Jahrhunderts, setzt seine eigenen Kinder aus. Nach außen hin begründete Rousseau diese Maßnahmen immer mit seiner prekären finanziellen Situation – was auch stimmte –, allerdings war hier auch ein gehöriges Maß an Autismus im Spiel: Rousseau konnte als Autist einfach nicht das Geringste mit Kindern anfangen.

Diese groteske Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis ist eines der vielen mit Autismus einhergehenden Paradoxa. Die meisten Autisten sind gebildet, intelligent, kreativ, haben höchste moralische Werte und die besten Absichten – allerdings scheitert die praktische Umsetzung dann allzu oft an der autistischen Gehirnverkabelung und an den gesundheitlichen Defiziten. So haben manche Betroffene tausend Bus- und U-Bahn-Streckennetze im Kopf, verlaufen sich aber in der kleinsten Fußgängerzone. Ludwig van Beethoven, der genialste Komponist seiner Zeit, konnte nie die einfachsten Tanzschritte lernen – weil motorische Unbeholfenheit fester Bestandteil des Autismus-Paketes ist. Und Rousseau, der mit seinen Schriften die Pädagogik auf den Kopf stellte, sah sich außerstande, eigene Kinder zu erziehen. Theorie: Eins plus. Praxis: Sechs minus.

Es ist auch nicht gut, Kinder zu haben, wenn man weder sich selbst noch die Welt versteht. Kinder bringen große Unruhe ins Leben, einem autistischen Menschen bleiben dann kaum noch Rückzugsmöglichkeiten. Jemand, der jede Sekunde damit beschäftigt ist, sein eigenes merkwürdiges Leben zu meistern, der körperlich wenig belastbar ist und der eigentlich selbst Hilfe bräuchte, sollte nicht für Kinder verantwortlich sein. Rousseau war so ein typischer Fall. Obwohl einer der klügsten und kreativsten Köpfe des 18. Jahrhunderts, scheiterte er im echten Leben auf ganzer Linie: wegen seiner Kommunikationsstörung (mehr dazu im nächsten Kapitel), seiner radikalen Wahrheitsliebe, seiner Passivität, seiner Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Außenwirkung, seiner Ablehnung gesellschaftlicher Konventionen – alles typische Folgen autistischer Hirnprogrammierung.

Viele Menschen mit Autismus – die wie Rousseau nichts von ihrem Handicap wissen –, lassen sich aber zu Kindern überreden, von ihrer Umwelt, ihrer Familie, ihrer Partnerin oder ihrem Partner, ohne zu wissen, was sie da anrichten. Da Autisten in dieser Frage nie von sich aus die Initiative ergreifen, übernehmen eben andere die Regie. Eine Asperger-Spezialistin schreibt hierzu: »In Selbsthilfegruppen für Menschen mit Autismus wird aber auch deutlich, dass viele Betroffene deshalb heiraten und Kinder bekommen, weil sie das Gefühl haben, dass die eigene Lebensplanung dies beinhalten müsste. Sie beschreiben sich in der Anfangszeit der Ehe als äußerst naiv, waren froh, dass der Partner eine Struktur vorgab, die Sicherheit bot, ließen es aber auch zu, sich nach seinen Vorstellungen ›formen‹ zu lassen.«29

Ein autistischer Vater – wie Rousseau – ist in der Regel nicht glücklich, wenn ein Kind geboren wird. Er ist wohl froh, wenn technisch alles gutgeht, wenn Mutter und Kind wohlauf sind. Aber glücklich ist er nicht. Er weiß, dass man in einer solchen Situation glücklich zu sein hat, aber er spürt es nicht. Glücklich machen ihn nur seine Spezialinteressen, seine Bücher, seine Forschungen, seine Sammlungen. Ein Vater mit Autismus hat nicht das Bedürfnis, sein Baby auf den Arm zu nehmen, zu knuddeln, zu küssen und es strahlen zu sehen. Von ihm als Vater erwartet man das aber. Und natürlich bemüht er sich, wie in allen Lebensbereichen, diese Anforderungen zu erfüllen. Aber das kostet ihn Kraft, weil er nicht automatisch mit positiven Gefühlen auf ein Kinderlächeln reagiert. Es ist anstrengend, den begeisterten Vater zu spielen, wenn man gar nicht begeistert ist. Jede Zuwendung, jeder Blick, jedes Streicheln, jeder Moment, den ein Autist seinen Kindern – oder anderen Menschen – widmet, ist eine willentliche Handlung. Der Autist tut das, um seine Pflicht zu erfüllen und anderen Gutes zu tun, ohne dass er dabei selbst ein gutes Gefühl hätte. Wie soll man seinen Kindern ein Gefühl weitergeben, das man selbst gar nicht kennt? Nestwärme, Zuneigung, Nähe, alles Fremdwörter für Menschen mit Autismus.

Autistische Eltern sind immer nur wie zu Besuch. Alles, was sie ihren Kindern geben, tun sie vom Kopf aus. »All my love is based in intellect«, formulierte es eine Betroffene.30

Die Frau eines Asperger-Autisten schreibt: »Er konnte mehr Begeisterung für versteinerte Dinosaurierexkremente empfinden als für das Lachen eines Kindes – und selbst dieser ›Gefühlsausbruch‹ hielt sich noch in Grenzen.«31

Nicht nur Rousseau, auch viele andere prominente Autisten hatten Riesenprobleme mit Familie und Kindern:

Franz Kafka, als hypersensibler Neurotiker ohnehin ständig am Rande des Nervenzusammenbruchs, war glücklicherweise Logiker genug, um nie Kinder in die Welt zu setzen: »Heiraten, eine Familie gründen, alle Kinder, welche kommen, hinnehmen, in dieser unsicheren Welt erhalten und gar noch ein wenig führen, ist meiner Überzeugung nach das Äußerste, was einem Menschen überhaupt gelingen kann.«32 Und an anderer Stelle bemerkte er: »Ich lebe in meiner Familie, unter den besten liebevollsten Menschen fremder als ein Fremder … Für die Familie fehlt mir jeder mitlebende Sinn.«33

Auch Albert Einstein gab seine Tochter weg. Erst dreißig Jahre nach seinem Tod tauchten Briefe auf, aus denen hervorgeht, dass seine erste Frau Ende 1901 in ihre serbische Heimat reiste, dort ein Mädchen zur Welt brachte und ein Jahr später ohne das Kind zurückkehrte. Das Schicksal dieser Tochter blieb trotz intensiver Recherchen im Dunkeln, weil die Einsteins alle Dokumente vernichteten. Als wahrscheinlichste Erklärung gilt, dass das Kind behindert war und zur Adoption freigegeben wurde.34 Die beiden hatten dann noch zwei Söhne, die nach der Scheidung bei der Mutter aufwuchsen und vom Vater hin und wieder mit mahnenden Briefen bedacht wurden. »Ich bin ein richtiger Einspänner«, schreibt Einstein, »der dem Staat, der Heimat, dem Freundeskreis, ja, selbst der engeren Familie nie mit ganzem Herzen angehört hat, sondern all diesen Bindungen gegenüber ein nie sich legendes Gefühl der Fremdheit und des Bedürfnisses nach Einsamkeit empfunden hat.«35

Und Patricia Highsmith bemerkt stellvertretend für viele kinderlose Autisten: »Eine Situation – vielleicht eine einzige – könnte mich dazu bringen, einen Mord zu begehen: Familienleben. Ich könnte aus lauter Wut zuschlagen und möglicherweise ein zweibis achtjähriges Kind töten. Für die über Achtjährigen würde ich zwei Schläge brauchen.«36

Ganz so radikal wie Patricia Highsmith, eine Misanthropin härtesten Grades, sind die meisten Autisten natürlich nicht. Sie haben nie erwogen, ihre Kinder im Waisenhaus abzugeben oder im Wald auszusetzen. Sie hatten aber auch nie das ehrliche Bedürfnis, sich mit ihren Kindern zu befassen oder etwas mit ihnen zu unternehmen. Das ist autistische Familienliebe: freundlich und hilfsbereit, aber distanziert. Selbst zu den eigenen Kindern. Rein technisch gesehen sind autistische Eltern Chauffeur, Einkäuferin, Windelwechsler, Hausaufgabenbetreuerin, Vorleser, Zu-Bett-Bringer, das zweifellos – aber Eltern im sozialemotionalen Sinn? Wohl eher nicht. Eltern vom Planeten Asperger wären sehr überrascht, zu erfahren, dass Erziehung mehr bedeutet, als Kinder am Leben zu erhalten.

So merkwürdig das für »normale« Menschen klingen mag: Autisten haben emotional nichts von einer Familie und von Kindern. Familie ist für sie Stress, Familie kostet Zeit und Energie, Familie ist eine reine Einbahnstraße, eine riesige Investition ohne Gegenleistung. Autisten wüssten nicht zu sagen, worin für sie der positive Gegenwert einer Familie liegen sollte. Familie ist für einen Autisten so, als würde er in seinem Job zwölf Stunden täglich bis an den Rand der Erschöpfung arbeiten, dafür aber nie einen Cent Gehalt bekommen. Eine Familie ist für Autisten eine Art Wohngemeinschaft mit Synergie-Effekten, sie verstehen nicht, dass man das auch anders sehen kann.

Rousseau hat die Abgabe seiner fünf Kinder nie verheimlicht, im Gegenteil, er ging geradezu damit hausieren. In seiner Autobiografie schreibt er mit der für ihn – und alle anderen Autisten – typischen Offenheit: »Diese Maßregel erschien mir so gut, so vernünftig und so rechtlich, dass ich sie … allen, denen ich mein Verhältnis mit Thérèse anvertraut hatte, mitteilte. Ich sprach Diderot, Grimm … davon, und zwar freiwillig und offen, ohne jede Notwendigkeit, denn es wäre mir durchaus ein leichtes gewesen, es vor allen zu verheimlichen … Ich machte aus meiner Handlungsweise nicht nur kein Geheimnis, weil ich meinen Freunden niemals etwas habe verbergen können, sondern weil ich darin in der Tat nichts Böses erblickte. Alles erwogen, wählte ich für meine Kinder das Beste … Ich hätte gewollt und ich wollte noch heute, ich wäre wie sie aufgezogen und herangebildet worden.«37

Diese eiskalte Logik, mit der Nicht-Autisten nicht einmal die Unterbringung einer Katze im Tierheim beschreiben würden, wurde von Rousseaus Gegnern immer als das stärkste Argument gegen seinen Charakter ins Feld geführt. Doch was Rousseaus Kritikern und den meisten anderen »normalen« Menschen herzlos oder sarkastisch erscheint, ist aus autistischer Sicht einfach nur logisch-nüchtern, die autistischen Angeklagten können den Vorwurf der Gefühlskälte überhaupt nicht verstehen. Autisten haben kein Verständnis für Trauer, weil das eine emotionale Situation ist, die sie erstens selbst noch nicht durchlebt haben und die zweitens nicht zur Lösung des Problems beiträgt, also ist Trauer aus ihrer Sicht unlogisch und kontraproduktiv:

»Mich erschreckt Weinen ganz besonders«, schreibt zum Beispiel Franz Kafka. »Ich kann nicht weinen. Weinen anderer kommt mir wie eine unbegreifliche fremde Naturerscheinung vor.«38 Moderne Autisten schlagen in die gleiche Kerbe, wenn sie Tränen als »Platzregen aus den Augen« oder als »Nasses im Gesicht« bezeichnen.39

Als ein guter Freund Andy Warhols unter Drogeneinfluss aus dem fünften Stock sprang, bemerkte Warhol nur: »Warum hat er mir nicht gesagt, dass er’s tun will? Dann hätten wir hinfahren und es filmen können!«40 Menschen sterben eben, das ist nun einmal so, warum soll man das als leidenschaftlicher Filmemacher nicht festhalten?

Man muss es nicht gleich so weit treiben wie die Mitglieder der Addams Family (lupenreine Asperger-Autisten), die einen Friedhof im Garten haben und sich gegenseitig lebendig begraben, aber rein rational denkende Autistinnen und Autisten können diese emotionalen Erschütterungen um etwas Unvermeidbares, das die Menschen sowieso alle einholt, nicht verstehen. Ein anderer Betroffener meint autistischnüchtern zu diesem Thema: »Wenn ich an der Beerdigung eines geliebten Menschen teilnehme, dann kommt das unangenehmste Gefühl, das ich empfinde, von meinem Anzug.«41

Ebenso sinnlos erscheint es Menschen mit Autismus, sich Sorgen über Probleme zu machen, die vielleicht eintreten könnten. Thomas Jefferson meinte hierzu: »Wie viel Kummer haben uns doch die Katastrophen bereitet, die niemals eingetreten sind.«42 Und Albert Einsteins Kommentar zu sinnlosen Grübeleien: »Ich sorge mich nie um die Zukunft. Sie kommt früh genug.«43

Auf dem Planeten Asperger gibt es nur zwei starke Emotionen: Begeisterung – für geliebte Spezialinteressen – und Ärger, wenn aufgrund der autistischen Hirnprogrammierung wieder alles schiefläuft. Andere Emotionen, alle Arten von Zwischentönen, sind praktisch unbekannt. Menschen mit Autismus wissen kaum, wie sich Glück anfühlt oder Trauer, Freude oder Wut, Angst, Verzweiflung. Sie beobachten es bei anderen und versuchen sich vorzustellen, wie es sich anfühlen mag, aber selbst gespürt haben sie es noch nicht.44

Verständlich, dass Autisten mit dieser emotionalen Unerschütterlichkeit häufig anecken. Doch auch hier hat die Medaille wieder eine Kehrseite:

Wolfgang Amadeus Mozart konnte noch unter widrigsten Bedingungen komponieren, unbekümmert von emotionalen Belastungen und äußeren Ablenkungen, an denen in seinem Leben kein Mangel herrschte. Er komponierte, während seine Frau im Nebenzimmer ihre Kinder zur Welt brachte;45 er komponierte, während diese Kinder ein paar Monate später wieder starben; er komponierte, nachdem ihn die feine Wiener Gesellschaft fallen gelassen hatte; er komponierte, während die Familie beinahe verhungerte; er komponierte in Gesellschaft von Freunden, in der Reisekutsche, beim Kegeln, beim Billardspiel. Mozart war als in sich selbst ruhender Autist einfach nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Ich habe in meinem Leben Mozart nie aufbrausend und viel weniger zornig gesehen«, schreibt seine Schwägerin. Und seine Witwe: »Ich hatte nie ernstlichen Streit mit ihm. Er war von so milder Veranlagung, dass man nicht mit ihm streiten konnte.«46

Nikola Tesla, physikalisches Superhirn mit Asperger-Syndrom, berichtet, wie er als Kind immer wieder in lebensgefährliche Situationen geriet, sich aber jedes Mal am eigenen Schopf aus der Schlinge zog. Als er zum Beispiel einmal beim Schwimmen über eine Staustufe gespült wurde, schaffte er es gerade noch, sich mit beiden Händen an der Mauer festzuhalten. »Der Druck gegen meinen Brustkorb war enorm und ich schaffte es gerade so, meinen Kopf über dem herabstürzenden Wasser zu halten … Langsam verlor ich meine Kraft, die Belastung war kaum noch auszuhalten. Kurz bevor ich loslassen musste, um auf den Felsen in der Tiefe zu zerschellen, hatte ich eine Eingebung: Ich sah vor mir ein Diagramm, die Illustration des hydraulischen Prinzips, wonach der Druck einer strömenden Flüssigkeit sich proportional zur ausgesetzten Fläche verhält, und drehte mich automatisch auf die Seite. Sofort ließ der Druck nach; in dieser Position war es viel einfacher, der Kraft des strömenden Wassers zu widerstehen.« Mit letzter Kraft schaffte er es, sich ans Ufer zu ziehen.47 Die meisten »normalen« Menschen wären in einer solchen Situation in Panik geraten und ertrunken. Nicht so der Autist Tesla: Er durchblättert seine Gedächtnisbibliothek, findet die Lösung (in typisch autistischer Manier als Bild, S. 187–193), ergreift eiskalt die entsprechenden Maßnahmen und überlebt.

Ein schöner Zufall, dass Elon Musk gerade den Namen Teslas adoptierte – als hätte er instinktiv den gemeinsamen Autismus und die damit einhergehende gemeinsame Superkraft herausgespürt: »Die meisten Leute, die unter Druck geraten, bekommen Angst«, schreibt ein Weggefährte über Musk. »Sie treffen dann falsche Entscheidungen. Elon dagegen wird hyperrational und kann weiterhin sehr klare Entscheidungen treffen.«48

Auch Max Brod attestierte seinem Freund Albert Einstein diese »Beharrlichkeit sondergleichen, die ihn nach außen hin völlig absperrte, ihn unverletzlich machte … Solange er in eine Arbeit vergraben war, hatte er kein Bewußtsein seiner selbst und lebte in der vollkommensten Ruhe. Diese Ruhe besaß etwas Außermenschliches, unbegreiflich Gefühlloses, aus einer fernen Eisregion Herwehendes.«49 Einsteins Stieftochter: »Er lebte in seiner eigenen Welt, und das beschützte ihn.«50

Die Versicherungsgesellschaft, für die Franz Kafka arbeitete, schickte den studierten Juristen immer wieder als letzte Geheimwaffe an die Front. War eine Angelegenheit total verfahren, konnte nur noch Kafka helfen, denn er schlichtete im Büro und vor Gericht die aussichtslosesten Fälle. Einerseits durch sprachliche Brillanz, virtuose Beherrschung der Fakten, messerscharfe Argumentation und unerbittliche Logik, andererseits aber vor allem durch seine sanfte Beharrlichkeit und unerschütterliche Ruhe. Es war unmöglich, ihn aus der Reserve zu locken, er bot keine emotionalen Angriffspunkte. Als höflicher, korrekter, unerschütterlicher, eiskalter, rein logikgesteuerter Autist ließ Kafka seine wutschnaubenden Prozessgegner so lange gegen die Wand rennen, bis sie sich seinen Argumenten beugten. »Was immer man gegen ihn vorbrachte«, schreibt sein Biograf, »es verschwand wie ein Geräusch im schalltoten Raum.«51

In den Prologen zu seiner Fernsehserie Alfred Hitchcock präsentiert trug Hitchcock mit steinerner Miene die makabersten und antisozialsten Ungeheuerlichkeiten vor. War das wirklich, wie es immer heißt, schwarzer Humor und Marketing-Attitüde – oder nicht einfach Autismus pur? Interviews beweisen: Es war seine natürliche Art zu sprechen: statuengleich, monoton, wie in Trance.

Andy Warhol hatte die gleiche Hirnprogrammierung: »Von Andy tropfte alles ab wie Wasser von einer Ente«, erinnert sich ein Freund. »Er saß meist da wie in einer Zen-Trance oder wie ein Buddha, und nichts, aber auch gar nichts konnte ihn aus der Fassung bringen.«52

Nils Melzer, UN-Sonderberichterstatter für Folter, der den Fall Julian Assange kennt wie kein Zweiter, schreibt: »[Zu Assanges Durchhaltevermögen in siebenjähriger Einzelhaft auf fünf Quadratmetern] trug sicherlich auch eine Charaktereigenschaft Assanges bei, die man in Ermangelung eines besseren Wortes vielleicht ›Resilienz‹ nennen könnte. Er war es gewohnt, ein genügsames Leben zu führen … Dazu kam die starke Fokussierung auf die eigene Arbeit, die eigene Person, die eigenen Gedanken. Dass er in der Lage ist, die Außenwelt ein Stück weit von sich fernzuhalten, hat Assange mit Sicherheit dabei geholfen, einigermaßen unbeschadet durch [die Zeit der Isolation und der psychischen Folter] zu kommen.«53 Seit wenigen Jahren wissen wir: Assanges »Resilienz« ist nichts anderes als Autismus.54

Zu Rousseaus Ehrenrettung sei gesagt, dass er die Aussetzung seiner Kinder im Alter aufrichtig bedauerte und sogar mit großem Aufwand nach ihnen suchen ließ – freilich ohne Erfolg. »Mein Vergehen ist groß«, schrieb er schließlich ein paar Jahrzehnte zu spät, »ich habe meine Pflichten vernachlässigt, aber den Wunsch zu schaden hat meine Seele niemals gekannt« – wobei er es sich nicht verkneifen konnte, auch hier wieder den eiskalten autistischen Logiker von der Kette zu lassen: »Für Kinder, die man niemals gesehen hat, kann das Vaterherz nicht allzulaut sprechen.«55

GIBT’S WAS NEUES IM SCHLOSS?

Jean-Jacques Rousseau verzichtet auf eine königliche Pension

Gästehaus von Schloss Fontainebleau (60 km südlich von Paris)

Nacht vom 18. auf den 19. Oktober 1752

Jean-Jacques Rousseau wälzt sich schlaflos im Bett. Nicht aus Gram über die gerade erfolgte Aussetzung seines fünften Kindes, sondern wegen seines Termins beim König. Multitalent Rousseau hat eine kleine Oper mit dem Titel Le devin du village (Der Dorfwahrsager) komponiert, die wenige Stunden zuvor, am Abend des 18. Oktober, auf Schloss Fontainebleau in Gegenwart von König Louis XV. und dessen Hofstaat uraufgeführt worden war. »Am selben Abend«, schreibt Rousseau in seiner Autobiografie, »ließ mir der Herzog von Aumont sagen, ich möchte mich am nächsten Morgen um elf Uhr auf dem Schloß einfinden, wo er mich dem Könige vorstellen würde. Herr von Cury, der mir diese Botschaft überbrachte, fügte hinzu, man glaube, es handele sich um eine Pension, deren Bewilligung mir der König selber mitteilen wolle.«56

Diese Aussicht auf ein Vier-Augen-Gespräch mit seinem königlichen Fan löste bei Rousseau allerdings keinen Freudentaumel aus, sondern tiefste Verzweiflung: »Darauf versetzte ich mich [in Gedanken] vor den König, wie ich Seiner Majestät, die stehenzubleiben und an mich das Wort zu richten geruhte, vorgestellt wurde … Würde mich meine verwünschte Schüchternheit, die mich vor dem geringsten Unbekannten befiel, vor dem König von Frankreich verlassen, oder würde sie es mir erlaubt haben, im Augenblick gerade auf das zu verfallen, was zu sagen not tat? … Was würde in einem solchen Augenblick und unter den Augen des gesamten Hofes aus mir werden, wenn mir … irgendeine meiner gewöhnlichen Tölpeleien entschlüpfen sollte? Diese Gefahr versetzte mich in solche Angst, solches Entsetzen, solches Beben, daß ich beschloß, mich ihr um keinen Preis auszusetzen, mochte daraus entstehen, was da wollte.«57

Rousseau reiste gleich am nächsten Morgen unter dem Vorwand gesundheitlicher Probleme ab – was er in solchen Fällen immer tat – und brachte sich damit um eine lebenslange Pension, die er weiß Gott dringend gebraucht hätte. »Meine Abreise erregte großes Aufsehen«, schreibt er, »und wurde allgemein getadelt, denn meine Gründe konnte nicht jeder nachempfinden.«58 Rousseau verweigerte das Treffen mit dem König also nicht, wie es in der Literatur immer heißt, wegen seiner antiroyalistischen und aufklärerischen Gesinnung, sondern wegen seiner Kommunikationsbehinderung. Der Großmeister der Feder war im Gespräch von Angesicht zu Angesicht derart blockiert, dass er keinen vernünftigen Satz herausbrachte.

Rousseau konnte vor Publikum Vorträge halten, er konnte Opern dirigieren, alles nicht schlimm, denn wer vor vielen Menschen spricht oder agiert, muss mit niemandem persönlich kommunizieren, sich nicht auf ein Gegenüber einstellen, nicht auf Mimik, Gefühle, Stimmungen reagieren. Man zieht sein Ding durch und spuckt gut formulierte Fakten aus. Menschen mit Autismus können das. Das Schlimme ist das, was nach dem Vortrag kommt, denn Konversation in kleinen Gruppen ist für Autisten kaum zu bewältigen. Ein zweiminütiges Mensch-zu-Mensch-Gespräch kostet mehr Energie als fünf Stunden Holzhacken. Der Autist weiß nicht, ob er auf seine oder auf fremde Füße starren soll, ob er zu laut oder zu leise redet, ob er besser auf sein Gegenüber achten soll, ob er sich ungeschickt anstellt. Sein Denkvolumen ist nach Sekunden verbraucht, er steht da wie ein Reh, das von einem Autoscheinwerfer erfasst wurde. Die guten sprachlichen Fähigkeiten und die Sachkompetenz verblassen im Schatten der Kommunikationsbehinderung.

Superstar Andy Warhol zum Beispiel war unter Menschen, die er nicht gut kannte, derart schüchtern und blockiert, dass er zu Empfängen und Ausstellungseröffnungen oft ein Double schickte: »Er musste nur den Mund halten, genau wie ich.«59

Auch Starpianist Glenn Gould kannte das: Er gab Live-Konzerte vor Tausenden von Zuhörern, Radiokonzerte für Millionen, brillierte als Stimmenimitator, hielt aus dem Stegreif stundenlange druckreife Vorträge, drehte fürs Fernsehen die irrsinnigsten One-Man-Shows – aber ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht war ihm ohne schriftliche Skizzen und ohne Beruhigungsmittel nicht möglich. Seine Konzertveranstalter flehte er immer an, ihm Empfänge und Partys zu ersparen.60

»Auf der Bühne ist man ja nur ein Darsteller«, meint selbst ein alter Hase wie Woody Allen, »auch wenn man vor 20.000 Menschen auftritt. Aber sobald die Show vorbei ist, mag ich mit niemandem mehr reden.«61

Und Greta Thunberg, die nicht zuletzt dadurch bekannt wurde, dass sie als fragile Fünfzehnjährige auf Klimakonferenzen und Weltwirtschaftsforen den Delegierten gnadenlos den Kopf wusch, bestätigt: »Im Alltag bin ich sehr schüchtern, sage fast nichts, mache keinen Small Talk, rede nur, wenn es unbedingt sein muss. Aber wenn ich vor Publikum spreche, kenne ich keine Nervosität – weil ich weiß, dass ich etwas zu sagen habe, weil ich eine Botschaft vermittle.«62

Autisten haben riesige Probleme mit Small Talk, denn sie können Kontakte nur über gemeinsame Interessen und Ziele aufbauen. Ein Mensch ist für sie nur dann interessant, wenn man sich mit ihm über harte Fakten unterhalten kann. Eine oberflächliche Unterhaltung ohne Sachbezug, nur so zum Spaß? Wozu sollte das gut sein? Alles, was über technischen Informationsaustausch hinausgeht, ist für Autisten ein großes Fragezeichen. Eine Betroffene formuliert es so: »Mir erschließt sich nicht, warum man miteinander spricht, ohne dabei wirklich relevante Informationen auszutauschen. Es kommt mir vor wie eine Verschwendung von Wörtern, ein Verpulvern von Energie und Zeit.«63

Warren Buffett, der berufsbedingt an unzähligen Dinnerpartys teilnehmen musste, ist der gleichen Meinung: »In Wahrheit sitzt man doch zwischen zwei Menschen, die man vorher noch nie gesehen hat und die man nach dem Ende der Party auch nie wieder sehen wird … Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, worüber ich mich mit ihnen unterhalten sollte … Was soll man Prinzessin Di denn bitte fragen – ›Gibt’s was Neues im Schloss?‹«64

Und wenn ein Autist keine Lust und Kraft mehr hat, aus reiner Höflichkeit seine Zeit mit Gesprächen zu vergeuden, die ihn nicht interessieren, dann steht er einfach auf und geht:

»Viele fanden ihn schwierig«, erinnert sich Lewis Carrolls Nichte, »und seine Marotten hatte er in der Tat. Wenn er zum Beispiel merkte, dass der Tee, zu dem er eingeladen war, gar kein Tee war, sondern eine Party, auf der Leute etwas von ihm wollten, dann hatte er die unangenehme Eigenart, einfach aufzustehen und zu gehen, eine peinlich berührte Gastgeberin und Nichte zurücklassend.«65

Genau wie Albert Einstein, der berüchtigt dafür war, zu Einladungen entweder gar nicht erst zu erscheinen oder, falls ihn seine Frau dann doch mit sanfter Gewalt hingezwungen hatte, sich einfach zu verkrümeln, wenn er keine Lust mehr hatte.66

Genau wie Elon Musk, der bei gesellschaftlichen Anlässen manchmal aufsteht und ohne ein Wort der Erklärung vor die Tür geht, »einfach, weil er nicht bereit ist«, schreibt ein Biograf, »sich mit Dummköpfen oder Small Talk aufzuhalten.«67

Rousseau ist also mit seinem autistischen Vermeidungsverhalten in bester Gesellschaft, wenn er erklärt: »Vom Wetter und der Fliege an der Wand reden oder, was noch schlimmer ist, sich in gegenseitigen Artigkeiten erschöpfen, das ist eine unerträgliche Marter für mich.«68

AUS DEM LEBEN EINES TAUGENICHTS

Mozart und der Tritt in den Hintern

Salzburg, Alte Fürsterzbischöfliche Residenz

8. Juni 1781

Manchmal ist es gar nicht so schwer, Unsterblichkeit zu erlangen. Man muss nur einem Genie in den Hintern treten. Am 9. Juni 1781 schreibt Wolfgang Amadeus Mozart an seinen Vater: »Das ist also die Art die leute zu bereden, sie an sich zu ziehen. – daß man aus angebohrner dummheit die Bittschriften nicht annimmt … jemand vier Wochen herum zieht, und endlich da derjenige gezwungen ist die Bittschrift selbst zu überreichen, anstatt ihm wenigstens den zutritt zu verstatten … einen bey der thüre durch einen tritt im arsch hinaus wirft … das ist also der Hof, wo ich dienen soll.«69

Der Tretende war Carl Joseph Maria Felix Graf von Arco, seines Zeichens Oberstküchenmeister des Salzburger Fürsterzbischofs Hieronymus von Colloredo, und als solcher zuständig für die Disziplin der Dienerschaft. Sein Tritt in den Hintern des 25-jährigen Komponisten war nur der Schlussakkord eines lange schwelenden Konflikts, in dem Mozart ohnehin schon unter Bewährung stand. Bereits 1772 hatte ihm sein Vater Leopold unter großen Mühen eine Festanstellung als Hofkapellmeister verschafft. Aber Wolfgang war nicht das, was sich ein absolutistischer Fürst unter einem loyalen Domestiken vorstellte. Der hyperaktive Wunderknabe unternahm weiterhin monatelange Auslandsreisen, vernachlässigte seine Pflichten bei Hofe, arbeitete für andere Auftraggeber und reichte schließlich 1777 die Kündigung ein.

Nach einer katastrophal verlaufenen Tournee blieb Wolfgang dann aber nichts anderes übrig, als 1779 gesenkten Hauptes in die Dienste des Erzbischofs zurückzukehren, dieses Mal degradiert zum Hof-Organisten. Doch schon nach 20 Monaten platzte die Bombe zum zweiten Mal. Wolfgang arbeitete wieder für fremde Fürsten, ersuchte ständig um Urlaub, verlängerte gewährten Urlaub eigenmächtig (angeblich hatte er keinen Platz in der Postkutsche bekommen), verletzte wiederholt seine Dienstpflicht, und lebte mit seiner Freundin in wilder Ehe.

Im Mai 1781 kam es zu mehreren heftigen Wortwechseln zwischen dem erzürnten Arbeitgeber und dem »elenden Buben« Mozart, der schließlich erneut seine Kündigung einreichte: »Ich hasse den Erzbischof bis zur raserey!« Als der Dienstherr dann auch auf das fünfte Entlassungsgesuch (die »Bittschrift« im oben zitierten Brief) nicht reagierte und Mozart bei seinem direkten Vorgesetzten, Graf Arco, vorsprach, eskalierte der Konflikt in einem handgreiflichen Disput und dem berühmten Tritt in den Hintern des »flegels und schurcken und liederlichen kerls« Mozart – was dieser zu Recht als fristlose Kündigung interpretierte.70

Nach diesem Zwischenfall schaffte es Mozart dann nie wieder, eine feste Stelle zu ergattern und musste sich als Freischaffender durchschlagen. Sein völliger Mangel an Diplomatie wird daran nicht unbeteiligt gewesen sein. War er von Musikerkollegen enttäuscht, verscherzte er es sich nämlich mit ihnen, wie es sich für ein autistisches enfant terrible gehört, durch den unverhohlenen Ausdruck seiner Überlegenheit:

»Er ist ein Narr, der sich einbildet, daß nichts besseres und vollkommeners seye als er …«

»So bin ich unter lauter vieher und bestien was die Musique anbelangt …«

»die grobe, lumpenhafte und liederliche Hof-Musique …«

»Das sind 2 Elende Notenschmierer – und spieller – Säüffer – und hurrer …«

»ein entsezliches Hackwerk … er hat nicht den geringsten vortrag, noch geschmack …«71

Das war wohl alles nicht falsch in der Sache, aber unklug im Ton. Und war ihm sein Publikum zu unaufmerksam, »fing er an – erst ganz leise, dann immer lauter auf das umbarmherzigste auf sein Auditorium los zu ziehen und fast zu schmähen. Zum Glück war die Sprache, welche ihm zuerst in den Mund kam … die italienische.«72 Und wurde es Mozart endgültig zu bunt, dann konnte es durchaus vorkommen, dass er, genau wie später Lewis Carroll, Albert Einstein und Elon Musk, »mitten im Spiele unwillig von dem Klavier aufstand, und die unaufmerksamen Zuhörer verließ. Dieses hat man ihm vielfältig übel genommen«, schreibt sein erster Biograf.73 Was heute als künstlerische Freiheit und Exzentrik durchginge, war in der verkrusteten Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts ein No-Go. Anfangs in Wien hoch gehandelt, stürzte Mozarts Aktie bald jäh ab, und bei Stellenbesetzungen wurde er bis zu seinem Lebensende konsequent übergangen.

Dass Mozart, einer der genialsten und produktivsten Komponisten aller Zeiten, nie einen festen Job ergatterte, seine Familie mit Klavierstunden über Wasser halten musste und seiner Witwe einen Schuldenberg hinterließ, hat sechs Ursachen, die alle in seinem Autismus begründet liegen:

1. Mozart neigte dazu, seinen Mitmenschen die Wahrheit (beziehungsweise das, was er für die Wahrheit hielt) ungefiltert an den Kopf zu werfen – weshalb er sich von einem Shitstorm zum nächsten hangelte: »Verstellung und Schmeicheley war seinem arglosen Herzen gleich fremd … Freymüthig und offen in seinen Aeußerungen und Antworten, beleidigte er nicht selten die Empfindlichkeit der Eigenliebe, und zog sich dadurch manchen Feind zu.«74

2. Er hatte nicht das geringste Gespür für soziale Regeln, Konventionen, Rangordnungen – im starren gesellschaftlichen Umfeld seiner Zeit alles andere als geschäftsfördernd. Jedes nicht-autistische Kind weiß, dass man eine potenzielle Mäzenin nicht mit »Allerliebste, Allerbeste, Allerschönste, Vergoldete, Versilberte und Verzuckerte Gnädige Frau Baronin«75 anreden sollte – Mozart dachte sich nichts dabei.

3. »Unter guten Freunden war er vertraulich wie ein Kind, voll munterer Laune; diese ergoß sich dann meistentheils in den drolligsten Einfällen«76, erinnert sich ein Zeitzeuge. Diese jugendliche Unverdorbenheit machte Mozart zwar zu einem liebenswerten Kumpel, wurde ihm aber beruflich zum Verhängnis. Wer seine Musik nicht kannte, unterschätzte ihn dramatisch, wodurch selbst mittelmäßige Konkurrenten an ihm vorbeizogen.

4. Mozart schuf Kunstwerke in erster Linie um ihrer selbst willen, nicht mit dem Ziel der finanziellen Verwertbarkeit: »Er wusste das Geld nicht einzutheilen, kannte seinen Werth gar nicht«.77

5. Mozart hatte einen bizarren Humor, der sich in unglücklichen Bemerkungen und Grenzüberschreitungen niederschlug. Seine verbalen Obszönitäten sind legendär und bis heute für viele Menschen die einzige Assoziation zum Thema Mozart. Und Hand aufs Herz: Selbst heute, um 250 Jahre toleranter und mit all dem überlegenen historischen Wissen im Kopf – Wer von uns würde einen Komponisten engagieren, der den Kanontext »Leck mir den Arsch fein recht schön sauber« auf dem Kerbholz hat?

6. Mozart hatte viele Tics und Spleens – ein früher Biograf spricht von »Possirlichkeiten« –, was seine Zeitgenossen irritierte und auf Abstand hielt, zum Beispiel sprach er, wenn es ihn gerade packte, in Reimen – leider auch in der Öffentlichkeit und vor Publikum.78

Das ist nicht das Holz, aus dem Karrieretypen geschnitzt sind. Das Thema »Autisten im Berufsleben« ist demnach auch ein sehr trauriges. Eigentlich sind Asperger-Autisten überdurchschnittlich gut gebildet und ausgebildet: 52 Prozent haben Abitur, 39 Prozent haben einen Hochschulabschluss, 80 Prozent haben eine abgeschlossene Berufsausbildung (Lehre oder Studium). Trotzdem sind sie überdurchschnittlich oft arbeitslos: 58 Prozent sind nicht berufstätig, 10 Prozent sind deutlich unter ihrem Ausbildungsniveau beschäftigt und nur 30 Prozent gehen einer regelmäßigen Berufstätigkeit nach, die ihrem Ausbildungsniveau entspricht.79

Viele scheitern schon im Vorstellungsgespräch. Zum einen haben schüchterne und ehrliche Menschen in der Casting-Show namens Leben generell schlechte Karten. Laute, selbstbewusst auftretende Persönlichkeiten werden automatisch als kompetenter wahrgenommen, stille Denker werden überhört oder an die Wand geredet. Zweitens ist Kommunikation, wie bereits beschrieben, für Autisten und Autistinnen Schwerstarbeit: Gleichzeitig zuhören, reden, den eigenen Gesichtsausdruck und Tonfall kontrollieren, auf versteckte Zeichen des anderen achten, alles was man selbst sagt, mehrfach filtern, das Gehörte um mehrere Ecken herum interpretieren, dabei die richtige Körperhaltung einnehmen, nur nicht auf den Boden starren, das sind Dinge, die Menschen mit Autismus komplett überfordern. Die erstklassige fachliche Qualifikation verschwindet hinter dem sonderbaren Verhalten jenes Menschen, der da an der Personalchefin vorbei aus dem Fenster starrt, in jedes Fettnäpfchen tritt und eine etwas merkwürdige Krawatte trägt – das gibt gewaltige Abzüge in der B-Note.

Teamfähigkeit? Kommunikationsfähigkeit? Mobilität? Flexibilität? Soziale Netzwerkbildung? Keine Ahnung, wovon die redet.

Unbekannter Gesprächspartner, unbekannte Umgebung, unbekannter Lärm von draußen, flirrende Neonröhren – unüberwindliche Hürden.

Aus diesen Gründen fürchten Autisten ein Vorstellungsgespräch wie Donald Trump eine Bibliothek. Dabei wären sie theoretisch sehr gute Mitarbeiter. Autisten sind oft überdurchschnittlich intelligent, denken häufig schneller und präziser als andere, haben in der Regel ein hervorragendes Gedächtnis, verfügen über exzellente Fachkenntnisse, arbeiten systematisch, methodisch und hochkonzentriert, sind emotional stabil, ehrlich, zuverlässig, verantwortungsbewusst, lösen Probleme auf kreative und originelle Weise. Das funktioniert aber nur, wenn sie ihr Arbeitstempo kontrollieren, Sozialkontakte und Störungen vermeiden können. Zu viel »eigentlich«, zu viel »trotzdem«, zu viel »aber« für eine erfolgreiche Karriere, denn all die fraglos vorhandenen autistischen Stärken und Kompetenzen zerschellen immer krachend an den sozialen Defiziten und körperlichen Schwächen, zum Beispiel an der Angst vor Menschen und Berührungen, an der undiplomatischen Wahrheitsliebe und am Hang zu nachlässiger bis exzentrischer Kleidung.

Hier ein paar Beispiele, die alle recht harmlos klingen, aber ausreichten, um Karrieren zu beenden: Eine Frau mit Autismus verlor ihren Job als Modeverkäuferin, weil sie ihre Kunden immer ehrlich darauf hinwies, wenn ihnen ein Kleidungsstück nicht stand,80 – genau wie hundert Jahre vor ihr der junge Vincent van Gogh, der als Verkäufer in einer Kunsthandlung immer die Kunden beschimpfte, weil sie keine Ahnung von Kunst hätten und die falschen Bilder kauften.81 Ein anderer Autist teilte seinen Kunden immer wahrheitsgemäß mit, dass das Produkt bei der Konkurrenz nur halb so teuer war.82 Eine Autistin scheiterte als Kellnerin, weil sie sich die Gesichter der Gäste nicht merken konnte und das Klappern von Besteck und Geschirr nicht ertrug.83