Die ungleiche Welt - Branko Milanović - E-Book

Die ungleiche Welt E-Book

Branko Milanovic

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Beschreibung

Extreme soziale Ungleichheit ist eines der drängendsten Probleme der Gegenwart. Anhand neuer, haushaltsbasierter Daten zu Einkommen und Vermögen untersucht Branko Milanović ihre Ursachen und Folgen differenzierter als alle anderen Forscher vor ihm. Er zeigt, dass zwar der Abstand zwischen armen und reichen Staaten geringer geworden ist, das Gefälle innerhalb einzelner Nationen jedoch dramatisch zugenommen hat. Zudem analysiert er den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Migration und plädiert für ein liberales Einwanderungsrecht. Ein aktuelles, ein engagiertes Buch, das die Art und Weise, wie wir über unsere ungleiche Welt denken, verändert.


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1 ‌760 ‌000 ‌000 ‌000 US-DOLLAR.

 In Worten: einskommasiebensechs Billionen. Auf diese Summe schätzte Oxfam kürzlich das Vermögen der 62 wohlhabendsten Menschen der Welt. Ein paar Dutzend Milliardäre verfügen über so viel Geld wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung – oder wie 3600000000 Menschen.

 Von Barack Obama bis zu Thomas Piketty, die führenden Köpfe unserer Zeit sind sich einig: Ungleichheit ist eines der drängendsten Probleme der Gegenwart. Anhand neuer, haushaltsbasierter Daten zu Einkommen und Vermögen untersucht Branko Milanović die Ursachen und Folgen differenzierter als alle anderen Forscher vor ihm. Er zeigt, dass zwar der Abstand zwischen armen und reichen Staaten geringer geworden ist, das Gefälle innerhalb einzelner Nationen jedoch dramatisch zugenommen hat.

 Armut und Perspektivlosigkeit sind treibende Kräfte für internationale Migrationsbewegungen. Noch immer ist das Geburtsland eines Kindes der entscheidende Faktor für die Höhe seines zukünftigen Einkommens. Milanovi´c analysiert den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Migration – und plädiert für ein liberales Einwanderungsrecht. Ein aktuelles, ein engagiertes Buch, das die Art und Weise, wie wir über unsere ungleiche Welt denken, verändern wird.

Branko Milanović

DIE UNGLEICHE WELT

Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht

Die Originalausgabe dieses Buches erschien 2016 unter dem Titel Global Inequality.A New Approach for the Age of Globalization bei The Belknap Press of Harvard University Press (Cambridge/Massachusetts und London).

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliographie;

detaillierte bibliographische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Branko Milanović 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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INHALT

Einleitung

1 Der Aufstieg der globalen Mittelschicht und der globalen Plutokraten

2 Ungleichheit innerhalb der Länder

3 Ungleichheit zwischen den Ländern

EINLEITUNG

Dies ist ein Buch über die Ungleichheit in der Welt. Ich untersuche sowohl die ungleiche Verteilung der Einkommen als auch die damit zusammenhängenden politischen Fragen in einer globalen Perspektive. Doch da es keine Weltregierung gibt, können wir nicht umhin, uns auch mit den einzelnen Nationalstaaten zu beschäftigen. Tatsächlich werden die politischen Antworten auf viele globale Fragen auf einzelstaatlicher Ebene gesucht. Daher wirkt sich größere Offenheit (ein intensiverer wirtschaftlicher Austausch zwischen Personen aus verschiedenen Ländern) nicht auf einer abstrakten globalen Ebene, sondern in den Ländern politisch aus, in denen die von diesem Austausch betroffenen Menschen leben. Beispielsweise könnte die Globalisierung dazu führen, dass chinesische Arbeiter von ihrer Regierung verlangen, ihnen das Recht zum gewerkschaftlichen Zusammenschluss zuzugestehen, und amerikanische Arbeiter könnten ihre Regierung drängen, Schutzzölle zu verhängen.

Aber obwohl die Entwicklungen in den einzelnen Volkswirtschaften wichtig sind und fast alle politischen Maßnahmen auf dieser Ebene ergriffen werden, hat die Globalisierung zusehends Folgen für unser Einkommen, unsere Berufsaussichten, den Umfang unseres Wissens und unserer Information, die Kosten unserer Verbrauchsgüter und die Verfügbarkeit frischen Obstes im tiefsten Winter. Und die Globalisierung ändert die Spielregeln, indem sie die im Entstehen begriffene globale Governance fördert, sei es durch die Welthandelsorganisation, Vereinbarungen über den Klimaschutz oder Maßnahmen gegen die internationale Steuerhinterziehung.

Daher dürfen wir die Einkommensungleichheit nicht länger nur als nationales Phänomen betrachten, wie wir es in den vergangenen hundert Jahren getan haben. Sie ist ein globales Problem. Ein Grund dafür, dass wir diese Perspektive wählen sollten, ist die Neugierde (ein Wesenszug, den Adam Smith sehr schätzte), das heißt, der Wunsch zu wissen, wie andere Menschen in anderen Ländern leben. Aber neben bloßer Neugier dienen Erkenntnisse über das Leben und Einkommen anderer Menschen auch einem praktischen Zweck: Sie können uns die Entscheidungen darüber erleichtern, was wir wo kaufen oder verkaufen sollen, sie können uns helfen zu lernen, wie wir Aufgaben besser und effizienter erfüllen können, und sie können nützlich sein, wenn wir darüber nachdenken, in welches Land wir auswandern sollen. Oder wir können daraus lernen, wie die Dinge anderswo in der Welt gemacht werden: wenn wir mit unserem Chef über eine Gehaltserhöhung verhandeln, wenn wir uns gegen das Passivrauchen wehren oder wenn wir im Restaurant die Essensreste mit nach Hause nehmen wollen (die Doggy Bag hat sich von Land zu Land ausgebreitet).

Ein weiterer Grund dafür, dass wir uns auf die globale Ungleichheit konzentrieren sollten, ist einfach, dass wir mittlerweile die Möglichkeit dazu haben: In den letzten zehn Jahren sind erstmals in der Geschichte der Menschheit Daten verfügbar geworden, die uns in die Lage versetzen, die Einkommen von Menschen in aller Welt miteinander zu vergleichen.

Ich bin jedoch überzeugt, dass die Leser wie ich der Meinung sein werden, dass der wichtigste Grund für die Auseinandersetzung mit der Ungleichheit in der Welt darin besteht, dass uns ihre Entwicklung in den vergangenen zwei Jahrhunderten und insbesondere im letzten Vierteljahrhundert vor Augen führt, wie sich die Welt verändert hat. Die Veränderungen der globalen Ungleichheit geben Aufschluss über den wirtschaftlichen (und oft politischen) Aufstieg und Niedergang von Nationen, über die Entwicklung der Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder und über die Verdrängung eines gesellschaftlichen oder politischen Systems durch ein anderes. Der Aufstieg Westeuropas und Nordamerikas nach der industriellen Revolution verschärfte die globale Ungleichheit. In jüngerer Zeit hat das rasche Wachstum mehrerer asiatischer Länder eine ähnlich große Wirkung gehabt und die Ungleichheit in der Welt wieder verringert. Und das Ausmaß der nationalen Ungleichheit hat sich global ausgewirkt, zum Beispiel, als sie in England zu Beginn der Industrialisierung oder in China und den Vereinigten Staaten in den letzten Jahrzehnten zunahm. Die Entwicklung der Ungleichheit ist ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaftsgeschichte der Welt.

Am Anfang dieses Buchs steht eine Beschreibung und Analyse der bedeutsamsten Veränderungen in der globalen Einkommensverteilung seit 1988. Dabei stützen wir uns auf Daten aus Haushaltserhebungen. Das Jahr 1988 ist ein geeigneter Ausgangspunkt, weil ziemlich genau zu diesem Zeitpunkt die Berliner Mauer fiel und die kommunistischen Volkswirtschaften wieder in die Weltwirtschaft eingegliedert wurden. Wenige Jahre zuvor hatte die ökonomische Öffnung Chinas begonnen. Dass heute mehr Haushaltserhebungen zur Verfügung stehen, die wiederum die entscheidende Quelle zur Erforschung der globalen Ungleichheit sind, hängt mit diesen Entwicklungen zusammen. Gegenstand der Untersuchung in Kapitel 1 sind insbesondere (1) der Aufstieg der »globalen Mittelschicht«, die überwiegend in China und anderen aufstrebenden asiatischen Ländern zu Hause ist, (2) die Stagnation jener Gruppen, die im globalen Vergleich wohlhabend sind, in den reichen Ländern jedoch als Mittel- oder untere Mittelschicht eingestuft werden, und (3) die Entstehung einer globalen Plutokratie. Diese drei herausragenden Entwicklungen im vergangenen Vierteljahrhundert werfen bedeutsame Fragen zur Zukunft der Demokratie auf, mit denen ich mich in Kapitel 4 beschäftigen werde. Aber bevor wir beginnen können, über die Zukunft nachzudenken, müssen wir verstehen, wie sich die Ungleichheit in der Welt langfristig entwickelt hat.

Die globale Ungleichheit, das heißt die Einkommensungleichheit zwischen den Bürgern der Welt, kann formal als Gesamtheit der Ungleichverteilungen innerhalb der einzelnen Länder plus die Summe der Unterschiede zwischen den Durchschnittseinkommen der verschiedenen Länder betrachtet werden. Der erste Bestandteil ist die Ungleichverteilung der Einkommen zwischen reichen und armen Amerikanern, reichen und armen Mexikanern usw. Der zweite Bestandteil entspricht den Einkommensunterschieden zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko, Spanien und Marokko usw. In Kapitel 2 werden wir uns die Ungleichheit innerhalb der Länder, in Kapitel 3 die Ungleichheit zwischen den Ländern ansehen.

Bei der Analyse in Kapitel 2 stütze ich mich auf Langzeitdaten zur Einkommensungleichheit. Diese Daten reichen in einigen Fällen bis ins Mittelalter zurück. Das Ergebnis dieser Analyse ist eine Neuformulierung der Kuznets-Hypothese, die so etwas wie das Arbeitspferd der Ungleichheitsforschung ist. Die in den fünfziger Jahren von dem Nobelpreisträger Simon Kuznets formulierte Hypothese besagt, dass Industrialisierung und steigende Durchschnittseinkommen zunächst mit wachsender Ungleichheit einhergehen; anschließend nimmt diese jedoch wieder ab. Setzt man die Ungleichheit in Beziehung zum Einkommen und stellt das Verhältnis grafisch dar, so erhält man eine umgekehrte U-Kurve. In den letzten Jahren hat sich jedoch gezeigt, dass die Kuznets-Hypothese nicht geeignet ist, ein neues Phänomen in den Vereinigten Staaten und anderen reichen Ländern zu erklären: Nachdem die Einkommensungleichheit über weite Strecken des 20. Jahrhunderts zurückging, nimmt sie seit einigen Jahren wieder zu. Diese Entwicklung ist nicht mit der Kuznets-Hypothese in ihrer ursprünglichen Form vereinbar: Träfe sie zu, hätte es nicht zu dieser Zunahme der Ungleichheit in den reichen Ländern kommen dürfen.

Auf der Suche nach einer Erklärung für die jüngste Zunahme der Ungleichheit und für ihre Entwicklung in der Vergangenheit gehe ich bis in die Zeit vor der industriellen Revolution zurück und führe das Konzept der Kuznets-Wellen (oder Kuznets-Zyklen) ein. Tatsächlich können die Kuznets-Wellen nicht nur die jüngste Zunahme der Ungleichheit erklären, sondern sie eignen sich auch, um die zukünftige Entwicklung in reichen Ländern wie den Vereinigten Staaten und in Schwellenländern wie China und Brasilien vorauszusagen. Ich unterscheide bei der Anwendung der Kuznets-Zyklen zwischen Ländern mit stagnierendem Einkommen (vor der industriellen Revolution) und Ländern mit stetig steigendem Durchschnittseinkommen (in der Moderne). Sodann unterscheide ich zwischen zwei Arten von Kräften, die der Ungleichheit entgegenwirken: Dies sind »bösartige« Kräfte wie Kriege, Naturkatastrophen und Epidemien sowie »gutartige« Kräfte wie eine Ausweitung der Bildung, erhöhte Sozialtransfers und eine progressive Besteuerung. Insbesondere widme ich mich der Rolle von Kriegen, die in einigen Fällen das Ergebnis einer ausgeprägten Ungleichheit in den Ländern, einer zu geringen aggregierten Nachfrage und des Bemühens sind, andere Länder unter Kontrolle zu bringen, um neue Profitquellen zu erschließen. Kriege können die Ungleichheit verringern, führen jedoch auch zu einer Verringerung der Durchschnittseinkommen.

Kapitel 3 ist den Einkommensunterschieden zwischen Ländern gewidmet. Hier stoßen wir auf die interessante Tatsache, dass die globale Ungleichheit zum ersten Mal seit der industriellen Revolution vor zwei Jahrhunderten nicht in erster Linie die Folge eines wachsenden Einkommensgefälles zwischen den Ländern ist. Mit dem Anstieg des Durchschnittseinkommens in einigen asiatischen Staaten ist die Kluft zwischen den Ländern kleiner geworden. Setzt sich die wirtschaftliche Konvergenz fort, so wird nicht nur die globale Ungleichheit abnehmen, sondern die Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder wird deutlicher zutage treten. Möglicherweise werden wir uns in fünfzig Jahren wieder in derselben Situation wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts befinden: Damals hatte die Ungleichheit in der Welt weniger mit unterschiedlichen Durchschnittseinkommen im Westen und in Asien zu tun, sondern war in erster Linie auf die Einkommensunterschiede zwischen reichen und armen Briten, reichen und armen Russen sowie reichen und armen Chinesen zurückzuführen. Eine solche Welt käme jedem Leser von Karl Marx, ja jedem Leser der kanonischen europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts bekannt vor. Aber so weit sind wir noch nicht. Gegenwärtig leben wir noch in einer Welt, in der unser Geburts- oder Aufenthaltsort großen Einfluss auf unseren Wohlstand hat. Bis zu zwei Dritteln unseres Lebenseinkommens können davon abhängen, wo wir geboren wurden. Ich bezeichne den Vorteil, den die in reicheren Ländern geborenen Menschen genießen, als »Ortsrente«. Am Ende von Kapitel 3 erkläre ich, worin diese wirtschaftliche Rente besteht, welche Relevanz sie für die politische Philosophie hat und was ihre direkte Konsequenz ist: Sie erhöht den Druck, von einem Land in ein anderes auszuwandern, um ein höheres Einkommen zu erzielen.

Nachdem wir uns die einzelnen Bestandteile der globalen Ungleichheit angesehen haben, werden wir sie in ihrer Gesamtheit betrachten. In Kapitel 4 beschäftige ich mich mit der zu erwartenden Entwicklung der Ungleichheit in diesem und dem nächsten Jahrhundert. Dabei vermeide ich scheinbar exakte Prognosen, weil diese in der Realität trügerisch sind: Wir wissen, dass sogar allgemeine Voraussagen zur Entwicklung des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts einzelner Länder zumeist nicht einmal das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. Ich halte es für nützlicher, die grundlegenden Kräfte (Einkommenskonvergenz und Kuznets-Wellen) zu isolieren, von denen die heutigen Einkommen von Ländern und Personen abhängen, um ausgehend davon Vermutungen dazu anzustellen, in welche Richtung die zukünftige Entwicklung gehen könnte. Es muss jedoch klar sein, dass derartige Prognosen oft spekulativ sind.

Bei der Arbeit an Kapitel 4 warf ich einen Blick auf einige erfolgreiche Bücher aus den sechziger, siebziger und neunziger Jahren, deren Autoren, gestützt auf die Extrapolation damaliger Trends, versuchten, die Zukunft vorauszusagen. Verblüfft stellte ich fest, wie sehr diese Autoren in der Realität ihrer Zeit gefangen waren.

Am Ende von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit beschreibt Marcel Proust fasziniert, wie alte Menschen mit ihrer eigenen Person die sehr unterschiedlichen Epochen zu berühren scheinen, die sie durchlebt haben. Nirad Chaudhuri bemerkt in seiner wunderbaren Autobiografie Thy Hand, Great Anarch!, dass es nicht unmöglich ist, im Lauf eines Lebens sowohl den Höhepunkt als auch den Tiefpunkt einer Zivilisation zu sehen: die Pracht Roms zur Zeit von Mark Aurel und grasende Schafe auf dem verlassenen Forum. Mag sein, dass wir mit zunehmendem Alter ein gewisses Maß an Weisheit und die Fähigkeit erlangen, verschiedene Epochen zu vergleichen, so dass wir die Zukunft besser voraussehen können. Aber in den Schriften jener Autoren, die vor dreißig oder vierzig Jahren großen Einfluss genossen, war von solcher Weisheit nichts zu sehen. Ich hatte den Eindruck, dass einige Autoren, die vor einem Jahrhundert oder früher schrieben, unsere heutigen Dilemmata besser einschätzten als jene, die sich vor wenigen Jahrzehnten Gedanken über die Zukunft machten. Lag es daran, dass sich die Welt Ende der achtziger Jahre mit dem Aufstieg Chinas (den kein einziger jener Autoren in den siebziger Jahren vorausahnte) und dem Ende des Kommunismus (den ebenfalls keiner von ihnen kommen sah) dramatisch veränderte? Können wir ausschließen, dass sich in den nächsten Jahrzehnten ähnlich unerwartete Geschehnisse ereignen werden? Ich würde sagen, das können wir nicht. Trotzdem hoffe ich, dass Leser dieses Buchs darin in dreißig oder vierzig Jahren die mit dem Alter erworbene Weisheit entdecken werden, von der Proust und Chaudhuri sprechen. Aber natürlich ist das alles andere als sicher.

Am Ende von Kapitel 4 behandle ich drei politische Dilemmata, mit denen wir heute konfrontiert sind: (1) Wie wird China mit der Forderung seiner Bevölkerung nach demokratischer Beteiligung umgehen? (2) Wie werden die reichen Länder eine möglicherweise mehrere Jahrzehnte dauernde Stagnation der Einkommen ihrer Mittelschicht bewältigen? (3) Wird der Aufstieg des reichsten einen Prozent der Menschen dazu führen, dass plutokratische politische Systeme entstehen oder dass der Weg des Populismus beschritten wird, um die »Verlierer« der Globalisierung zu beschwichtigen?

Im letzten Kapitel gehe ich die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung noch einmal durch, fasse die Lehren zusammen, die daraus gezogen werden können, und unterbreite Vorschläge dazu, wie die Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder und in der Welt insgesamt in diesem und im folgenden Jahrhundert reduziert werden kann. Zur Verringerung der Ungleichheit innerhalb der einzelnen Volkswirtschaften schlage ich vor, die vorhandene Ausstattung (endowments) der Bürger (das heißt den Kapitalbesitz und das Bildungsniveau) zu nivellieren, anstatt das aktuelle Einkommen zu besteuern. Um für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands in der Welt zu sorgen, muss meiner Meinung nach ein beschleunigtes Wachstum der ärmeren Länder gefördert und die Hindernisse für die Migration abgebaut werden. Über die erste Forderung besteht im Grunde Konsens, die zweite ist eher umstritten. In diesem Kapitel stelle ich fünf spekulative Fragen zu Globalisierung und Ungleichheit und gebe Antworten, die anders als das übrige Buch weniger auf spezifischen Daten, sondern eher auf meiner persönlichen Einschätzung beruhen.

Um die Organisation und Symmetrie dieses Buchs zu verstehen, können wir uns die schematische Darstellung seiner Gliederung in Schaubild I.1 ansehen.

Wie der Leser unschwer erkennen kann (wenn er eine Druckversion des Buchs in der Hand hält oder die Gesamtzahl der Worte in einem elektronischen Exemplar betrachtet), ist dies ein relativ kurzes Buch. Es enthält eine Reihe von Schaubildern, die jedoch, wie ich hoffe, leicht zu verstehen sind und dem Leser dabei helfen werden, sich einen Überblick über die wichtigsten Erkenntnisse zu verschaffen. Ich denke, dieses Buch können sowohl Fachleute als auch Laien mit Gewinn lesen, seien sie nun gut oder weniger gut informiert (wobei zu bezweifeln ist, dass sich irgendjemand der zweiten Kategorie zurechnen wird).

Ich schulde dem Leser eine Erklärung zu Verwendung der Pronomen in diesem Buch. Ich wechsle relativ oft vom Plural der ersten Person in den Singular. Im Allgemeinen verwende ich die bei Autoren eher übliche Form wir, und zwar überall dort, wo ich denke, dass meine Einschätzung von einem Großteil der Ökonomen, Sozialwissenschaftler, Zeitschriftenleser oder einer anderen relevanten Gruppe geteilt wird. Es liegt auf der Hand, dass nicht jeder, den ich dem wir zuschlage, im spezifischen Fall derselben Meinung sein wird. Es ist mir nicht nur bewusst, dass ich großen Personengruppen bestimmte Meinungen zuschreibe, sondern ich weiß auch, dass sich die Zusammensetzung dieser Gruppen laufend ändert. Aber ich versuche, zwischen wir und ich zu trennen: Den Singular verwende ich, wenn ich klarstellen will, dass es sich um meine persönliche Meinung, Entscheidung, Vorstellung oder Terminologie handelt. Ein Beispiel: »Wir« (das heißt die Ökonomen, die sich mit der Ungleichheit beschäftigen) mögen der Meinung sein, dass die Kuznets-Hypothese diskreditiert ist, weil sie nicht geeignet war, die jüngste Zunahme der Einkommensungleichheit in den reichen Ländern vorauszusagen, aber »ich« habe versucht, die Hypothese so umzuformulieren, dass »wir« in Zukunft möglicherweise unsere Meinung über ihren Nutzen ändern werden. Es dürfte allerdings noch eine Weile dauern, bis aus diesem »ich« ein »wir« wird.

Schaubild I.1: schematischer Aufriss von Die ungleiche Welt

Nun überlasse ich es dem Leser, den ersten Schritt auf dem Weg zum Verständnis unserer ungleichen Welt zu tun. Vielleicht kann ich damit

1

DER AUFSTIEG DER GLOBALEN MITTELSCHICHT UND DER GLOBALEN PLUTOKRATEN

Die Verbindung zwischen allen Völkern ist derart über den ganzen Erdball ausgedehnt, daß man beinahe sagen kann, die Welt sei eine einzige Stadt geworden, in der ein ständiger Jahrmarkt aller Waren herrscht und jedermann, in seinem Hause sitzend, vermittels des Geldes sich verschaffen und genießen kann von all dem, was die Erde, die Tiere und der menschliche Fleiß anderswo hervorgebracht haben.1

Geminiano Montanari (1683)

Wer sind die Gewinner der Globalisierung?

Nicht alle profitieren im selben Maß von der Globalisierung.

Schaubild 1.1 verdeutlicht das. Wenn wir den prozentualen Zuwachs mit dem ursprünglichen Einkommen vergleichen, sehen wir, welche Einkommensgruppen in den letzten Jahrzehnten am besten abgeschnitten haben. Die horizontale Achse zeigt die Perzentile der globalen Einkommensverteilung. Auf der linken Seite finden wir die ärmsten Menschen der Welt, ganz rechts die reichsten (das globale »Eine Prozent«). Berücksichtigt wird das Haushaltseinkommen pro Kopf nach Steuern in kaufkraftbereinigten Dollar. (Details dazu, wie sich die Einkommen zwischen Ländern vergleichen lassen, finden sich in Exkurs 1.1.)2 Die vertikale Achse gibt Aufschluss über das kumulative Wachstum des Realeinkommens zwischen 1988 und 2008 (um die Inflation und die unterschiedlichen Preisniveaus in den verschiedenen Ländern bereinigt). Der Zeitraum umfasst die Jahre zwischen dem Fall der Berliner Mauer und der globalen Finanzkrise, also die »heiße Phase der Globalisierung«. In dieser Zeit wurden zunächst China mit seiner Bevölkerung von mehr als einer Milliarde Menschen und anschließend die ehemaligen Planwirtschaften der Sowjetunion und ihrer osteuropäischen Satellitenstaaten mit einer Bevölkerung von einer weiteren halben Milliarde Menschen in die interdependente Weltwirtschaft integriert. Auch die indische Volkswirtschaft wurde durch die Reformen zu Beginn der neunziger Jahre enger mit der übrigen Welt verknüpft. In diese Zeit fiel auch die Kommunikationsrevolution, die es den Unternehmen ermöglichte, Fabriken in weit entfernte Länder zu verlegen, wo sie die billige Arbeitskraft nutzen konnten, ohne die Kontrolle über die Produktion aufgeben zu müssen. Es trafen also zwei Entwicklungen zusammen: Die »peripheren« Märkte öffneten sich, und gleichzeitig wurde es für die Produzenten auf den Kernmärkten möglich, die billigeren Arbeitskräfte in den peripheren Ländern in ihre Produktion einzubinden. Die Jahre unmittelbar vor der Finanzkrise waren in mehrerlei Hinsicht die Zeit der umfassendsten Globalisierung in der Geschichte der Menschheit.3

Schaubild 1.1: Anstieg des realen Pro-Kopf-Einkommens in Relation zum globalen Einkommensniveau, 1988-2008

Diese Grafik zeigt den relativen Anstieg des realen Pro-Kopf-Haushaltseinkommens (in %, gemessen in internationalen Dollar von 2005) zwischen 1988 und 2008 an verschiedenen Punkten der globalen Einkommensverteilung (vom ärmsten globalen Zwanzigstel bei 5 bis zum reichsten globalen Perzentil bei 100). Am stärksten stiegen die Realeinkommen der Personen um das 50. Perzentil der globalen Verteilung (beim Median, das heißt bei Punkt A) und die der reichsten Personen (des reichsten 1% bei Punkt C). Am geringsten waren die Einkommenszuwächse der Personen rund um das 80. Perzentil (Punkt B); diese Personen gehören überwiegend der unteren Mittelschicht der reichen Länder an. Datenquelle: Lakner und Milanović (2015).

Angesichts der Komplexität des Prozesses kann es kaum überraschen, dass die Gewinne ungleich verteilt wurden und dass manche Menschen überhaupt nicht von der Entwicklung profitierten. In Schaubild 1.1 konzentrieren wir uns auf die drei Punkte A, B und C, an denen der Einkommenszuwachs entweder besonders groß oder besonders gering war. Punkt A befindet sich etwa beim Median der globalen Einkommensverteilung (der Median scheidet die Verteilung in zwei gleich große Teile, die jeweils genau die Hälfte der Weltbevölkerung beinhalten; der einen Hälfte geht es besser, der anderen schlechter als den Personen mit dem mittleren Einkommen). Am stärksten – um rund 80 Prozent – stieg in diesen zwanzig Jahren das Einkommen der Menschen an Punkt A. Aber nicht nur jene in der Nähe des Median, sondern sehr viele Menschen, nämlich alle zwischen dem 40. und 60. Perzentil (also ein Fünftel der Weltbevölkerung), konnten sich über einen deutlichen Einkommenszuwachs freuen.

Wer sind diese offenkundigen Nutznießer der Globalisierung? Neun von zehn dieser Menschen leben in einem der aufstrebenden asiatischen Länder, insbesondere in China, aber auch in Indien, Thailand, Vietnam und Indonesien. Sie gehören nicht zu den reichsten Einwohnern dieser Länder; die Reichen findet man an einem anderen Punkt im globalen Einkommensgefüge (das heißt weiter rechts in unserem Schaubild). Vielmehr sind diese Menschen in ihren Ländern – und, wie wir gerade gesehen haben, auch in der Welt insgesamt – in der Mitte der Einkommensverteilung zu finden. Sehen wir uns ein paar Beispiele für den bemerkenswerten kumulativen Einkommenszuwachs dieser Gruppe an. Das Pro-Kopf-Einkommen der beiden mittleren Dezile (also des fünften und sechsten Zehntel-Segments) im städtischen und ländlichen China stieg zwischen 1988 und 2008 um das Dreifache bzw. um 220 Prozent. In Indonesien erhöhte sich das mittlere Einkommen der Stadtbewohner fast um das Doppelte, während es auf dem Land um 80 Prozent stieg.4 In Vietnam und Thailand (im Fall dieser Länder wird hier nicht zwischen ländlicher und städtischer Bevölkerung unterschieden) wuchsen die Realeinkommen rund um den Median um mehr als das Doppelte.5 Dies sind die Gruppen, die wir als die größten »Gewinner« der Globalisierung zwischen 1988 und 2008 bezeichnen können. Aus praktischen Gründen wollen wir sie als »neue globale Mittelschicht« bezeichnen, obwohl diese Gruppen, verglichen mit der Mittelschicht in den westlichen Ländern, relativ arm sind, weshalb man nicht den Fehler begehen sollte, ihren Status (gemessen an Einkommen und Bildungsstand) mit dem der Mittelschicht in reichen Ländern gleichzusetzen. (An anderer Stelle werden wir uns genauer mit dieser Frage beschäftigen.)

Sehen wir uns nun den Punkt B an. Zunächst fällt auf, dass er sich rechts von Punkt A befindet, was bedeutet, dass die Menschen an Punkt B wohlhabender sind als die an Punkt A. Gleichzeitig sehen wir, dass der Wert auf der vertikalen Achse bei Punkt B nahe bei null liegt, was bedeutet, dass das Einkommen dieser Gruppe in dem Zeitraum, der uns interessiert, nicht gestiegen ist. Wer sind die Menschen in dieser Gruppe? Sie leben fast alle in den reichen Mitgliedsländern der OECD (Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung).6 Wenn wir jene außer Acht lassen, deren Länder erst seit relativ kurzer Zeit der OECD angehören (dies sind mehrere osteuropäische Länder, Chile und Mexiko), so leben etwa drei Viertel der Menschen in dieser Gruppe in den »altreichen« Ländern Westeuropas, Nordamerikas und Ozeaniens (diese drei Weltregionen werden manchmal unter dem Akronym Wenao zusammengefasst) sowie in Japan. So wie China den Großteil der Bevölkerung an Punkt A stellt, dominieren die Einwohner der Vereinigten Staaten, Japans und Deutschlands an Punkt B. Die Personen an Punkt B befinden sich im Allgemeinen in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung in ihrem Land. In Deutschland gehören sie den unteren fünf Dezilen an, deren Einkommen zwischen 1988 und 2008 lediglich um zwischen 0 und 7 Prozent stieg. In den Vereinigten Staaten befinden sie sich ebenfalls in der unteren Hälfte, deren Einkommen real zwischen 21 und 23 Prozent stieg, und in Japan gehören sie den unteren Dezilen an, deren Realeinkommen entweder sank oder insgesamt um 3 bis 4 Prozent stieg. Der Einfachheit halber werden alle diese Menschen der »unteren Mittelschicht der reichen Länder« zugerechnet. Und diese Gruppe gehört offenkundig nicht zu den Gewinnern der Globalisierung.

Eine einfache Gegenüberstellung der Gruppen an diesen beiden Punkten liefert den empirischen Beleg für etwas, das viele Menschen am eigenen Leib erfahren und das in der Wirtschaftsliteratur und in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert wird. Diese Gegenüberstellung wirft auch ein Schlaglicht auf eines der zentralen Probleme der gegenwärtigen Globalisierung: Die wirtschaftliche Entwicklung der Bevölkerung der alten reichen Welt und jener des aufstrebenden Asien läuft auseinander. Kurz: Die großen Gewinner sind die Armen und die Mittelschicht Asiens, die großen Verlierer die Angehörigen der unteren Mittelschicht der reichen Welt.

Heute mag eine derart kategorische Feststellung kaum noch jemanden verblüffen, aber Ende der achtziger Jahre hätten sich mit Sicherheit viele Leute darüber gewundert. Die westlichen Politiker, die sich nach der Reagan-Thatcher-Revolution daheim und in der Welt für eine Öffnung der Märkte starkmachten, dürften kaum damit gerechnet haben, dass die ersehnte Globalisierung der Mehrheit ihrer Bürger keine Vorteile bringen würde, und zwar genau jenen Bürgern, die sie von den Vorteilen der neoliberalen Politik gegenüber der wirtschaftlichen Lähmung durch den protektionistischen Wohlfahrtsstaat zu überzeugen versuchten.

Noch mehr hätte eine solche Aussage jedoch Wirtschaftswissenschaftler wie den Nobelpreisträger Gunnar Myrdal überrascht, der sich Ende der sechziger Jahre Sorgen machte, die Bevölkerungsmassen in den asiatischen Nationen, die sich von ihren erbärmlichen Einkommen kaum ernähren konnten, würden für immer in Armut gefangen bleiben. Eine ganze Reihe von Autoren (darunter Paul Ehrlich in The Population Bomb [1968][1]) warnte in den fünfziger und sechziger Jahren vor der Gefahr, die das Bevölkerungswachstum für die wirtschaftliche Entwicklung der Dritten Welt angeblich darstellte. Der Aufstieg Asiens im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts widerlegte ihre Befürchtungen. Statt eines »asiatischen Dramas«, das Myrdal in seinem gleichnamigen Buch beschrieb, sprechen wir heute über das »ostasiatische Wirtschaftswunder«, den »chinesischen Traum« und »Shining India«, Schlagworte, die den Vorbildern des »American Dream« und des deutschen »Wirtschaftswunders« nachempfunden sind.

Ich weise schon hier auf dieses Beispiel hin, um zu verdeutlichen, wie schwierig es ist, langfristige wirtschaftliche Entwicklungen vorauszusagen, vor allem im globalen Maßstab. Die Zahl der Variablen, die sich ändern können – und es tatsächlich tun –, die Rolle des Menschen in der Geschichte (der »freie Wille«) und der Einfluss von Kriegen und Naturkatastrophen sind so groß, dass sich selbst die Prognosen, welche die klügsten Köpfe jeder Generation zu allgemeinen zukünftigen Tendenzen anstellen, nur selten als zutreffend erweisen. Diese Schwierigkeit müssen wir im Hinterkopf behalten, wenn wir uns in Kapitel 4 mit der zu erwartenden wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der Welt im Lauf dieses und des nächsten Jahrhunderts beschäftigen.

Der Kontrast zwischen den Einkommensentwicklungen der beiden Mittelschichtgruppen bringt uns zu einer der zentralen politischen Fragen der Gegenwart: Hängt der Wohlstandsgewinn der asiatischen Mittelschicht mit den Einbußen zusammen, welche die Mittelschicht der reichen Länder hinnehmen musste? Anders ausgedrückt: Liegt es am Erfolg der asiatischen Mittelschicht, dass die Einkommen im Westen (und die Löhne und Gehälter, die den Löwenanteil des Einkommens der Mittelschicht ausmachen) stagnieren? Und wenn diese Globalisierungswelle das Einkommenswachstum der Mittelschicht in der reichen Welt bremst, was wird dann geschehen, wenn die nächste Welle noch ärmere und bevölkerungsreiche Länder wie Bangladesch, Burma und Äthiopien erfasst?

Kehren wir zu Schaubild 1.1 zurück und sehen wir uns den Punkt C an. Er ist einfach zu deuten: Hier haben wir es mit den Menschen zu tun, die im globalen Maßstab sehr reich sind (mit dem reichsten Einen Prozent der Weltbevölkerung) und deren Einkommen zwischen 1988 und 2008 deutlich gestiegen sind. Diese Gruppe zählt ebenfalls zu den Gewinnern der Globalisierung und hat fast genauso stark davon profitiert wie die asiatische Mittelschicht (in absoluten Zahlen sogar noch mehr, wie wir gleich sehen werden). Die große Mehrheit der Angehörigen des globalen Einen Prozent lebt in den reichen Ländern, vor allem in den Vereinigten Staaten: Die Hälfte des globalen Einen Prozents sind Amerikaner. (Das bedeutet, dass rund 12 Prozent der US-Bürger dem reichsten Einen Prozent der Weltbevölkerung angehören.7) Die übrigen Mitglieder dieser Gruppe leben fast alle in Westeuropa, Japan und Ozeanien. Auch 1 Prozent der Bevölkerung Brasiliens, Südafrikas und Russlands gehören dazu. Die Angehörigen der Gruppe C können wir als »globale Plutokraten« bezeichnen.

Ein Vergleich zwischen den Gruppen B und C gibt Aufschluss über eine weitere bedeutsame Kluft. Wir haben gesehen, dass sich die Gruppe B, die überhaupt nicht oder nur wenig von der Globalisierung profitiert hat, im Wesentlichen aus der unteren Mittelschicht und den ärmeren Segmenten der Bevölkerung der reichen Länder zusammensetzt. Im Gegensatz dazu besteht die Gruppe C, die zu den Gewinnern der Globalisierung zählt, aus den wohlhabenderen Einwohnern derselben Länder. Daraus folgt, dass die Einkommenskluft zwischen Reich und Arm in der reichen Welt größer geworden und dass die Globalisierung in den reichen Ländern jenen zugutegekommen ist, die bereits wohlhabend waren. Auch das ist nicht unbedingt überraschend, denn es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass die Ungleichheit innerhalb der Länder der reichen Welt in den letzten 25 bis 30 Jahren zugenommen hat.8 Mit diesem Punkt werden wir uns in Kapitel 2 eingehend beschäftigen. Wir sollten allerdings auf die epistemologisch lohnende Tatsache hinweisen, dass diese Auswirkungen auch auf globaler Ebene zu beobachten sind.

Schaubild 1.1 zeichnet nur ein sehr grobkörniges Bild von den Gewinnern und Verlierern der Globalisierung. Man kann denselben Daten noch zahlreiche andere Erkenntnisse abgewinnen: Wir könnten die horizontale Achse sehr viel genauer betrachten (und die Weltbevölkerung in kleinere »Fraktile« von z. ‌B. 1 Prozent unterteilen) oder uns ansehen, wie es bestimmten Einkommensgruppen (etwa den ärmsten 10 Prozent der chinesischen Bevölkerung im Vergleich zu den ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung Argentiniens) in den letzten zwanzig Jahren ergangen ist. Wir könnten die Einkommenszugewinne in Dollar-Wechselkursen ausdrücken, anstatt sie um die Preisunterschiede zwischen den einzelnen Ländern zu bereinigen. Aber welche Anpassung wir auch immer vornehmen, das Grundmuster der Gewinne und Verluste bleibt dasselbe: Wir werden immer eine gekippte und gespiegelte S-Kurve sehen (die manchmal als »Elefantenkurve« bezeichnet wird, weil sie an einen Elefanten mit aufgerichtetem Rüssel denken lässt). Wir werden stets bei der Mittelschicht der Schwellenländer und beim globalen Einen Prozent die höchsten prozentualen Zugewinne sehen, und am geringsten wird der Einkommenszuwachs immer zwischen dem 75. und 90. Perzentil der globalen Einkommensverteilung sein, das heißt bei der Mittelschicht und der unteren Mittelschicht der OECD-Länder.9

Betrachtet man einzelne Länder, ist eine derart geformte Kurve mit einem Wellental bei der Position der relativ wohlhabenden Perzentile sehr ungewöhnlich. Normalerweise steigen Kurven wie diese, die auch als Wachstumsinzidenzkurven (growth incidence curves, GIC) bezeichnet werden, entweder mehr oder weniger kontinuierlich an, was darauf hindeutet, dass die Reichen mehr gewonnen haben als die Armen, oder sie fallen stetig ab, was auf die umgekehrte Entwicklung hindeutet. Eine gekippte S-Kurve zeigt, dass sich die Einkommen so verändert haben, dass die Reichen und die Mittelschichten in den aufstrebenden Nationen davon stärker profitiert haben als andere Gruppen. Innerhalb einzelner Länder sind solche Veränderungen unwahrscheinlich, würden sie doch bedeuten, dass die wirtschaftspolitischen Eingriffe oder der technologische Wandel derart »eingestellt« wurden, dass die reichsten 1 bis 5 Prozent profitieren, die unmittelbar unter diesen Perzentilen angesiedelte Gruppe Schaden nimmt und die ärmeren Gruppen wieder profitieren. Es ist kaum vorstellbar, dass neue Technologien oder eine Änderung der Wirtschaftspolitik den verschiedenen Einkommensgruppen derart unterschiedlich nutzen oder schaden. Ein Beispiel: Eine Senkung der Spitzensteuersätze für die reichsten 5 Prozent wird kaum mit einer Erhöhung der Steuern für jene direkt unterhalb der reichsten 5 Prozent einhergehen.

Hier haben wir es allerdings nicht mit einer Verteilung für ein einzelnes Land zu tun, sondern mit der globalen Einkommensverteilung, die von mehreren Faktoren abhängt: (a) den unterschiedlichen Wachstumsraten der einzelnen Länder (genauer gesagt: dem raschen Wachstum Chinas im Vergleich zu den Vereinigten Staaten), (b) der ursprünglichen Position der verschiedenen Länder im globalen Einkommensgefüge im Jahr 1988 (als China noch sehr viel ärmer war als die Vereinigten Staaten) und (c) der Veränderung der Einkommensverteilung in den einzelnen Ländern, die nicht nur von der Politik ihrer Regierungen, sondern auch von der Globalisierung beeinflusst wird (in erster Linie dadurch, dass China billige Güter in die Vereinigten Staaten exportiert). Diese Faktoren erklären, wie es zu so ungewöhnlich geformten Kurven wie der gekippten S-Kurve kommen kann. Welche Form wird die globale Wachstumsinzidenzkurve in den nächsten dreißig Jahren annehmen? Darüber werden wir uns in Kapitel 4 Gedanken machen.

Bei dem Versuch, aus der gekippten S-Kurve Antworten auf die Frage abzuleiten, wer die »Gewinner« und »Verlierer« sind, müssen wir sehr vorsichtig sein. Der Grund für diesen Vorbehalt ist, dass wir uns bisher nur mit den relativen Einkommenszuwächsen im globalen Maßstab befasst haben. Die vertikale Achse in Schaubild 1.1 gibt Aufschluss über die kumulative prozentuale Veränderung der Realeinkommen im Zeitraum zwischen 1988 und 2008. Wie sähen die Resultate aus, wenn wir statt der relativen (prozentualen) Veränderung die absoluten Zuwächse (die Anzahl der zusätzlich verdienten Dollar) heranzögen? Wie wir sehen werden, wirkt sich eine solche Änderung des Blickwinkels dramatisch auf die Ergebnisse aus.

Exkurs 1.1: Woher kommen die Daten zur globalen Einkommensverteilung?

Es gibt keine globale Erhebung der individuellen Haushaltseinkommen. Wir haben nur eine Möglichkeit, uns ein Bild von der globalen Verteilung der Einkommen zu machen: Wir müssen möglichst viele nationale Haushaltserhebungen miteinander kombinieren. Für diese Untersuchungen wird eine Stichprobe von Haushalten ausgewählt, denen eine Reihe von Fragen zu demografischen Daten (Alter, Geschlecht und weitere Charakteristika) und zum Wohnort des Haushalts (einschließlich Angaben dazu, ob es sich um ein ländliches oder städtische Gebiet handelt etc.) gestellt werden. Die für uns interessantesten Fragen sind aber jene zur Höhe und zu den Quellen des Haushaltseinkommens sowie zum Konsum. Die Einkommensdaten beinhalten Löhne und Gehälter, mit einer selbstständigen Tätigkeit erzielte Einkünfte sowie Einkommen, das dem Haushalt aus Vermögenswerten zufließt (Zinserträge, Dividenden, Mieteinkünfte), Einkommen aus der Erzeugung für den Eigenverbrauch des Haushalts (ein wichtiger Einkommensposten in ärmeren und weniger monetarisierten Volkswirtschaften, in denen die Haushalte ihre Lebensmittel selbst produzieren), Transferleistungen (staatliche Altersrenten, Arbeitslosenunterstützung usw.) sowie Einkommensabzüge (z. ‌B. direkte Steuern). Die Konsumdaten beinhalten Ausgaben für verschiedenste Dinge – von Lebensmitteln und Wohnen bis zu Freizeitaktivitäten und Restaurantbesuchen.

Die Haushaltserhebungen sind die einzige Quelle für derart individualisierte, detaillierte Informationen über Einkommen und Ausgaben. Sie erstrecken sich über die gesamte Verteilung der Einkommen von den ärmsten bis zu den reichsten Einwohnern eines Landes. Im Gegensatz dazu verraten uns Finanzdaten wie zum Beispiel Steuerdaten im Allgemeinen nur etwas über die besser gestellten Haushalte – nämlich über jene, die Einkommenssteuer zahlen. In den Vereinigten Staaten gibt es viele solche Haushalte, in Indien hingegen nur sehr wenige. Daher helfen uns Steuerdaten nicht weiter, wenn wir uns ein Bild von der weltweiten Einkommensverteilung machen wollen.

Die Größe der Haushaltserhebungen schwankt. Manche sind groß, weil das fragliche Land groß ist: Die indische National Sample Survey erfasst mehr als 100 ‌000 Haushalte, was mehr als einer halben Million Menschen entspricht, und für die amerikanische Current Population Survey werden Informationen über mehr als 200 ‌000 Personen gesammelt. Viele andere Erhebungen haben einen geringen Umfang und liefern Daten zu etwa 10 ‌000 bis 15 ‌000 Personen. Obwohl solche Informationen nie leicht zugänglich sind, hat sich die Datenlage in den letzten Jahren verbessert. In den siebziger und achtziger Jahren führten nur relativ wenige Länder Erhebungen durch, und die Forscher erhielten nur sehr selten Zugang zu »Mikrodaten« (das sind zum Schutz der Privatsphäre anonymisierte Informationen über einzelne Haushalte). Die Einkommensverteilungen wurden anhand der von den staatlichen Behörden veröffentlichten Fraktile der Einkommensbezieher geschätzt (z. ‌B. gab es so und so viele Haushalte mit einem Einkommen zwischen x und y Dollar). Seit einiger Zeit stellen die Statistikbehörden ihre Daten bereitwilliger zur Verfügung, und dank verbesserter Methoden zur Verarbeitung großer Datensätze liegen fast alle Daten auf Mikroebene vor. Die Forschung profitiert sehr davon: Einkommen oder Konsum können mittlerweile so definiert werden, dass länderübergreifende Vergleiche möglich werden oder dass die Ungleichheit zwischen Haushalten, Einzelpersonen oder »äquivalenten Einheiten« gemessen werden kann. (Die Daten werden bereinigt, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass größere Haushalte gewisse Größenvorteile genießen, weil sie nicht auf einen proportionalen Anstieg des Einkommens angewiesen sind, um genauso wohlhabend wie kleinere Haushalte zu sein.) Für solche Korrekturen braucht man Mikrodaten.

Die wichtigsten Quellen für solche Mikrodaten sind die Luxembourg Income Study, die harmonisierte Umfragedaten vor allem aus reichen Ländern enthält (d. ‌h., die Einkommensvariablen werden so definiert, dass Vergleiche zwischen den Ländern möglich werden), die Weltbank, die Daten über zahlreiche Länder sammelt und einen Teil der Erhebungen externen Forschern zur Verfügung stellt (andere Daten sind nur für die Mitarbeiter der Weltbank zugänglich), die Social and Economic Database for Latin America and the Caribbean (SEDLAC), die an der Universidad Nacional de La Plata in Argentinien untergebracht ist, und das in Kairo ansässige Economic and Research Forum (ERF), das Erhebungen im Nahen Osten durchführt. Auf alle diese Quellen kann man im Internet zugreifen, aber der Zugang zu den Mikrodaten ist oft auf die nichtkommerzielle Nutzung durch Forscher beschränkt, die damit redlich und zuverlässig umgehen. In der Regel muss man sich auf das Herunterladen massiver Datenbanken und auf den Umgang mit Statistikprogrammen verstehen. Und in manchen Ländern (zum Beispiel in Indien, Indonesien und Thailand) sind die Daten zwar direkt bei den Statistikämtern erhältlich, aber man braucht eine Genehmigung und muss lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Obwohl der Zugang zu den Daten also erheblich erleichtert wurde, ist er immer noch nicht mühelos. Außerdem muss man wissen, dass selbst dann, wenn sämtliche Informationen plötzlich leicht zugänglich würden, Daten zur Einkommensverteilung aufgrund verschiedener Faktoren – Größe der Datenbanken, komplizierte Definitionen der Variablen und Probleme der Vergleichbarkeit – nie so leicht zu verwenden wären wie aggregierte Statistiken, etwa jene zum Bruttonationalprodukt.

Würde jedes Land jährlich solche Erhebungen durchführen, so könnten wir sie abgleichen und alle zwölf Monate Schätzungen zur globalen Einkommensverteilung anstellen. Aber nur reiche Länder und solche mit mittlerem Einkommen führen jährliche Erhebungen durch, und selbst in solchen Ländern ist diese Praxis eher neu. In vielen armen Ländern, insbesondere in Afrika, werden Haushaltserhebungen nur in unregelmäßigen Abständen durchgeführt, im Durchschnitt alle drei oder vier Jahre. Andere Länder erheben diese Daten nur selten, weil es ihnen an finanziellen Mitteln oder der technischen Expertise fehlt, weil sie Kriege führen oder sich im Bürgerkrieg befinden. Die Folge ist, dass nur etwa alle fünf Jahre globale Daten zusammengestellt werden können (das gilt zum Beispiel für die in diesem Kapitel verwendeten Daten), die sich auf ein »Benchmark-Jahr« beziehen: Sie beinhalten Daten aus diesem und ein oder zwei umgebenden Jahren.

Die einzelstaatlichen Haushaltserhebungen liefern das Rohmaterial für eine Analyse der globalen Einkommensverteilung. Diese Einkommens- oder Verbrauchsdaten müssen anschließend aus den nationalen Währungen in ein globales Währungsäquivalent umgerechnet werden, das im Prinzip überall dieselbe Kaufkraft haben sollte. Warum ist das wichtig? Nun, wenn wir die Einkommen der Menschen in aller Welt miteinander vergleichen wollen, müssen wir die Tatsache berücksichtigen, dass die Güter in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Preise haben. Um den wirklichen Lebensstandard von Menschen beurteilen zu können, die in sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Umgebungen (Ländern) leben, müssen wir also nicht nur ihre Einkommen in eine einzige Währung konvertieren, sondern auch berücksichtigen, dass die Preise in ärmeren Ländern generell niedriger sind. Um es einfacher auszudrücken: Einen gegebenen Lebensstandard zu erreichen kostet in einem ärmeren Land weniger als in einem reicheren Land. Mit zehn Dollar kann man in Indien mehr Lebensmittel kaufen als in Norwegen. Für die Umrechnung gibt es das International Comparison Program (ICP), das in unregelmäßigen Abständen durchgeführt wird (die letzten drei Runden des Programms fanden 1993, 1995 und 2011 statt), um weltweit Preisdaten zu erheben und vergleichbare Preisniveaus für alle Länder zu berechnen.

Das ICP ist das größte empirische Programm, das je in der volkswirtschaftlichen Forschung durchgeführt wurde. Das Ergebnis der vergleichenden Analyse sind sogenannte kaufkraftparitätische Wechselkurse. Sie geben Aufschluss darüber, mit welchem Betrag eine Person in Indien dieselbe Menge an Gütern und Dienstleistungen erwerben könnte wie jemand in den Vereinigten Staaten. Sehen wir uns ein Beispiel an, für das wir die Ergebnisse der ICP-Runde von 2011 verwenden können. Der Wechselkurs für einen US-Dollar waren zu diesem Zeitpunkt 46 Indische Rupien, aber der geschätzte kaufkraftparitätische Wechselkurs lag bei 15 Rupien für einen Dollar. Das bedeutet, dass eine Person, die in Indien lebte, nur 15 Rupien brauchte, um eine Menge an Gütern und Dienstleistungen zu erwerben, für die eine in den USA lebende Person einen Dollar ausgeben musste. Dass die Person in Indien nicht 46 Rupien (der Wechselkurs zum Dollar), sondern nur 15 Rupien dafür brauchte, lag daran, dass das Preisniveau in Indien niedriger war: Es lag bei etwa einem Drittel (15/46) des amerikanischen Preisniveaus.

Durch die Anwendung dieser kaufkraftparitätischen Wechselkurse (KKP-Wechselkurse) auf die in den nationalen Haushaltserhebungen ermittelten Einkommen werden diese in kaufkraftparitätische (oder internationale) Dollar umgewandelt. Nun können sie länderübergreifend verglichen werden. Dank dieser Umwandlung sind wir in der Lage, die globale Einkommensverteilung zu berechnen. Es sind also zwei gewaltige empirische Anstrengungen nötig, um die globale Einkommensverteilung zu messen: Man braucht dafür Hunderte nationale Haushaltserhebungen sowie individuelle Preisdaten, die zu nationalen Indizes aggregiert werden müssen.

Derart massive Datensammlungen verursachen jedoch eigene Probleme. Die größte Herausforderung bei den Haushaltserhebungen ist, dass die Personen an beiden Enden der Einkommensverteilung, das heißt die sehr Armen und die sehr Reichen, nicht vollständig erfasst werden können. Die sehr Armen werden vernachlässigt, weil die zu befragenden Haushalte stichprobenartig aufgrund des Wohnorts ausgewählt werden. Obdachlose und in Institutionen untergebrachte Personen (Soldaten, Häftlinge sowie Studenten und Arbeitskräfte, die in Wohnheimen leben) werden nicht erfasst, und diese Personen haben im Allgemeinen ein geringes Einkommen. Am anderen Ende des Spektrums finden wir die Reichen, die nicht ihr gesamtes Einkommen angeben (insbesondere verschweigen sie Einkünfte aus Immobilienbesitz) und manchmal jegliche Auskunft verweigern, was die Arbeit der auswertenden Forscher besonders erschwert. Es ist schwierig, direkt festzustellen, wie sich eine solche Verweigerung auf die ermittelte Einkommensverteilung auswirkt (denn es versteht sich von selbst, dass man das Einkommen eines Haushalts, der die Auskunft verweigert, nicht kennt), aber man kann die Wirkung schätzen, indem man sich ansieht, wo die Personen leben, die keine Angaben machen. Es gibt Berechnungen, nach denen das Ausmaß der Einkommensungleichverteilung in den Vereinigten Staaten aufgrund der Nichtbeteiligung reicher Haushalte um nicht weniger als 10 Prozent unterschätzt wird (Mistiaen und Ravallion 2006).

Ähnliche oder noch größere Probleme existieren in anderen Ländern, was sich an zwei Diskrepanzen zwischen Haushaltserhebungen und Makrodaten zeigt: Erstens entsprechen die Einkommens- und Konsumdaten aus den Untersuchungen nicht vollkommen den Berechnungen von Einkommen und Konsum der privaten Haushalte in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (das heißt in den BIP-Daten). Zweitens treten in den Leistungsbilanzdaten statistische Diskrepanzen auf (sogenannte Fehler und Auslassungen), die unter anderem auf Geldtransfers in Steueroasen zurückzuführen sind (vgl. Zucman 2013, 2014), die aus leicht ersichtlichen Gründen selten in Umfragen angegeben werden. Daher können wir mit einiger Sicherheit sagen, dass die Haushaltserhebungen die Zahl der Armen (je nachdem, wie man Armut definiert) sowie die Zahl der Reichen und ihre Einkommen unterschätzen. Lakner und Milanović (2013) haben versucht, die globalen Daten um diese Diskrepanzen zu bereinigen, aber so nützlich das auch sein mag, ist jede derartige Korrektur in hohem Maß willkürlich, und zwar aus dem einfachen Grund, dass wir fast nichts über Menschen wissen, die schlicht nicht an Befragungen teilnehmen.

Das International Comparison Program leidet ebenfalls unter einigen Mängeln. Der bekannteste, für den es keine theoretische Abhilfe gibt, ist der Konflikt zwischen der »Gleichheit« der zur Messung der Preise in verschiedenen Ländern herangezogenen Güter- und Dienstleistungskörbe auf der einen und der Repräsentativität dieser Körbe auf der anderen Seite. Um die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Preisniveaus zu messen, sollten wir im Idealfall in allen Ländern dieselben Güter in die »Körbe« aufnehmen. Aber wenn wir identische Körbe verwenden, leidet die Repräsentativität, weil nicht in allen Ländern dieselben Güter gängig sind. Beispielsweise könnten wir mit identischen Güterkörben arbeiten, indem wir die Preise von Wein, Brot und Rindfleisch in allen Ländern vergleichen, aber ein solcher Vergleich würde uns wenig über das Preisniveau in Ländern verraten, in denen diese Lebensmittel kaum eine Rolle spielen und eher Bier, Reis und Fisch auf der Speisekarte stehen.

Es ist schwierig, die richtige Lösung für dieses Problem zu finden, und das ICP legt manchmal übermäßiges Gewicht auf ein Kriterium und neigt zur Überkompensierung, indem es anschließend einem anderen Faktor zu großes Gewicht beimisst. Die Folge sind übermäßige Schwankungen der geschätzten Preisniveaus (vgl. die ausgezeichneten Analysen von Deaton [2005] und Deaton und Aten [2014]). Besonders deutlich war das in den letzten beiden ICP-Runden in den Jahren 2005 und 2011 bei den asiatischen Ländern zu beobachten. Wenn das Preisniveau in China und Indien verglichen mit dem der USA von einem ICP-Resultat zum nächsten um 20 bis 30 Prozentpunkte variiert, ergeben sich für diese Länder entweder sehr viel höhere oder sehr viel niedrigere kaufkraftbereinigte Einkommen, und die Schätzungen der globalen Ungleichheit schwanken erheblich. Zum Glück wirkt sich diese Volatilität vor allem auf die geschätzte globale Ungleichheit und weniger auf die Veränderung der Ungleichheit im Lauf der Zeit aus.

Die für dieses Kapitel verwendeten Daten stammen aus über 600 Haushaltserhebungen, die im Zeitraum 1988-2011 in 120 Ländern durchgeführt wurden. In diesen Erhebungen wurden mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung erfasst. (Die meisten dieser Daten sind auf meiner Website zugänglich.[2]) In jüngster Zeit, das heißt seit dem Jahr 2000, stehen sämtliche Daten aus den Haushaltserhebungen auf Mikroebene zur Verfügung (d. ‌h. auf der Ebene der individuellen Haushalte); die wichtigste Ausnahme ist China, das noch keine Mikrodaten herausgibt. Alle Einkommen werden in kaufkraftbereinigten (internationalen) Dollar ausgewiesen und beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf das Jahr 2005. Eine eingehende Diskussion der Haushaltserhebungen und der Kaufkraftparitäten findet sich bei Lakner und Milanović (2013).

Absolute Einkommenszuwächse in der globalen Einkommensverteilung

Nehmen wir einmal an, wir weisen dem gesamten globalen Einkommenszuwachs im Zeitraum 1988 bis 2008 den Wert 100 zu: Schaubild 1.2 zeigt, dass 44 Prozent des absoluten Zuwachses den reichsten 5 Prozent der Weltbevölkerung zuflossen und dass fast ein Fünftel des Gesamtzuwachses dem reichsten Einen Prozent zugutekam.10 Hingegen entfallen auf die Menschen, in denen wir die Hauptnutznießer der jüngsten Globalisierungsphase erkannt haben, das heißt auf die »aufstrebende globale Mittelschicht«, (per Zwanzigstel der Verteilung) nur zwischen 2 und 4 Prozent des Wachstums des globalen Kuchens, das heißt insgesamt etwa 12 bis 13 Prozent.

Schaubild 1.2: prozentualer Anteil am absoluten globalen Einkommenszuwachs (nach globalem Einkommensniveau), 1988-2008

Dieses Diagramm gibt Aufschluss darüber, welcher prozentuale Anteil am absoluten globalen Zuwachs des realen Pro-Kopf-Haushaltseinkommens (gemessen in internationalen Dollar von 2005) zwischen 1988 und 2008 auf einzelne Gruppen an verschiedenen Punkten der globalen Einkommensverteilung entfiel. Wir geben dem Anstieg des gesamten globalen Realeinkommens den Wert 100 und berechnen, wie viel davon auf die verschiedenen Zwanzigstel (Gruppen von jeweils 5% der Bevölkerung) oder Perzentile der globalen Einkommensverteilung entfiel. Wie wir sehen, ging ein großer Teil des absoluten Einkommenszuwachses an die reichsten 5% der Weltbevölkerung. Das reichste Eine Prozent sicherte sich 19% des gesamten globalen Einkommenszuwachses. Datenquelle: Lakner und Milanović (2015).

Wie kommt es dazu, und widerlegt diese Verteilung der absoluten Zugewinne unsere vorhergehende Erkenntnis über Gewinner und Verlierer der Globalisierung? Der Grund für diese Verteilung ist, dass das Gefälle zwischen den Realeinkommen des obersten, mittleren und untersten Teils der globalen Einkommensverteilung gewaltig ist. Im Jahr 2008 lag das durchschnittliche verfügbare Pro-Kopf-Einkommen (nach Steuern) des reichsten Einen Prozents der Weltbevölkerung bei etwas mehr als 71 ‌000 Dollar pro Jahr. Das mittlere Einkommen lag bei etwa 1400 Dollar, und die Menschen im ärmsten Dezil der Weltbevölkerung erzielten ein Jahreseinkommen von weniger als 450 Dollar (alle Angaben in internationalen Dollar von 2005). Bei einem Blick auf diese Zahlen wird uns klar, dass ein Betrag, der bei den Einkommen der Reichsten lediglich ein Rundungsfehler ist, dem gesamten Jahreseinkommen der Armen entspricht! Jetzt verstehen wir, dass ein sehr geringer prozentualer Zugewinn an der Spitze oder in der Nähe der Spitze einen großen Teil des absoluten gesamten Zugewinns ausmacht. Nehmen wir zum Beispiel an, dass das Einkommen des reichsten Einen Prozents um nur 1 Prozent steigt, das heißt um 710 Dollar: Dies entspräche der Hälfte des mittleren Jahreseinkommens der Weltbevölkerung. Das ist der Grund, weshalb sowohl die großen relativen Zugewinne an der Spitze (das Einkommen des reichsten Einen Prozents erhöhte sich zwischen 1988 und 2008 um zwei Drittel) als auch die Stagnation der Einkommen der unteren Mittelschicht der reichen Länder (ein Zuwachs von nur 1 Prozent) so spektakulär wirken, wenn man sie in absolute Zugewinne übersetzt und mit den absoluten Zugewinnen der aufstrebenden globalen Mittelschicht vergleicht. Dies zeigt sehr deutlich, wie ungleich die Einkommen in der Welt verteilt sind.

Ist diese ungleiche Verteilung der absoluten Zugewinne ein Grund, unser vorhergehendes Urteil über die Gewinner und die Verlierer der Globalisierung zu revidieren? Nein. Stattdessen unterstreicht diese Tatsache in mancherlei Hinsicht unsere Erkenntnisse über das reichste Eine Prozent oder die wohlhabendsten fünf Prozent, denn die beträchtlichen prozentualen Zugewinne dieser Gruppen wirken noch verblüffender, wenn wir die absoluten Zahlen betrachten. Auch unsere Einschätzung der Entwicklung der unteren Mittelschicht der reichen Länder müssen wir nicht korrigieren, denn diese Gruppe schaut wie die meisten von uns in erster Linie auf ihren prozentualen Zugewinn (der minimal gewesen ist), und wenn sie ihre Position mit der anderer Gruppen vergleicht, wird sie ihren Einkommenszuwachs wahrscheinlich dem realen prozentualen Zugewinn der Reichen gegenüberstellen. Daher ist die Stagnation ihres Einkommens sehr real. Und schließlich wirkt sich die Erkenntnis auch nicht auf unsere Einschätzung des Erfolgs der asiatischen Mittelschicht aus, weil auch diese vermutlich in erster Linie ihren relativen Zugewinn im Auge haben wird. Aber die Berücksichtigung der absoluten Werte versetzt uns in die Lage, dieselben Daten aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und uns eine Vorstellung von den gewaltigen Einkommensunterschieden in der heutigen Welt zu machen. Und wir gewinnen eine bedeutsame Erkenntnis: Wir sollten die Mittelschicht der Schwellenländer (deren Einkommen zwischen 1000 und weniger als 2000 Dollar im Jahr liegt) nicht mit der unteren Mittelschicht der reichen Länder in einen Topf werfen, die ein Jahreseinkommen von 5000 bis 10 ‌000 Dollar erzielt (alle Zahlen in internationalen Dollar von 2005).

Exkurs 1.2: Absolute und relative Maße der Einkommensungleichheit

Abgesehen davon, dass er die massiven Einkommensunterschiede in der Welt verdeutlicht, bringt der Vergleich von relativen und absoluten Einkommenszugewinnen auch die jahrzehntelange Diskussion über relative und absolute Maße in den Studien zur Verteilung der Einkommen voran. Fast alle unsere Maßstäbe für die Ungleichheit sind relativ, was bedeutet, dass die Ungleichverteilung als unverändert betrachtet wird, wenn die Einkommen aller Gruppen um denselben Prozentsatz steigen. Ein identischer prozentualer Zugewinn für alle Gruppen entspricht jedoch extrem ungleichen absoluten Zuwächsen: Eine Person, die mit einem Einkommen ins Rennen geht, das hundertmal höher ist als das einer anderen Person, wird auch hundertmal höhere absolute Zugewinne erzielen. Weshalb sind die relativen Maße also vorzuziehen?

Erstens sind die relativen Maße konservativ, weil sie in Fällen, in denen absolute Maße eine Zunahme der Ungleichheit (wenn alle Einkommen prozentual gleich steigen) oder eine Verringerung zeigen würden (wenn alle Einkommen um denselben Prozentsatz schrumpfen), den Eindruck erwecken, es habe sich nichts geändert. Aber wir wollen die Ungleichheit, die von beträchtlicher moralischer und politischer Bedeutung ist und für teilweise erbitterte Diskussionen sorgt, nicht zusätzlich übertreiben. Eine konservative Haltung (in Bezug auf die Messung, nicht unbedingt was die Politik anbelangt) ist daher vorteilhaft.