Visionen der Ungleichheit - Branko Milanović - E-Book

Visionen der Ungleichheit E-Book

Branko Milanovic

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Beschreibung

Wie hat sich das Nachdenken über Ungleichheit im Lauf der Jahrhunderte entwickelt und welche ökonomischen Lehren haben dabei jeweils den Ton angegeben? In seinem neuen Buch widmet sich Branko Milanović in funkelnden Porträts einigen der einflussreichsten Ökonomen der Geschichte. Im Kontext von Leben und Werk zeichnet er die Entwicklung ihres Denkens über Ungleichheit nach und zeigt, wie sehr sich ihre Ansichten unterschieden haben. Tatsächlich, so Milanović, kann man nicht von »Ungleichheit« als einem überzeitlichen Konzept sprechen: Jede Analyse ist untrennbar mit einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort verbunden.

Milanović führt uns von François Quesnay und den Physiokraten, für die soziale Klassen gesetzlich vorgegeben waren, zu Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx, die Klasse als eine rein ökonomische Kategorie betrachteten. Er schildert, wie Vilfredo Pareto Klasse als Unterscheidung zwischen einer Elite und dem Rest der Bevölkerung rekonstruierte, während Simon Kuznets das Stadt-Land-Gefälle als Ursache der Ungleichheit ausmachte. Und er erklärt, weshalb die Ungleichheitsforschung während des Kalten Krieges ins Hintertreffen geriet und warum sie heute wieder ein zentrales Thema der Wirtschaftswissenschaften ist. Eine brillante neue Geschichte des Nachdenkens über Ungleichheit.

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Cover

Titel

3Branko Milanović

Visionen der Ungleichheit

Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Suhrkamp

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Visions of Inequality. From the French Revolution to the End of the Cold War bei Harvard University Press.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024.

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024© 2023 by the President and Fellows of Harvard College

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth

Umschlagfoto: pics five/Shutterstock

eISBN 978-3-518-78059-6

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorwort

Konkurrierende Vorstellungen von der Ungleichheit

Den Einflüssen nachspüren

Verschiedene Stimmen, verschiedene Stile

Unterschiedliche Integration von Narrativ, Theorie und Empirie

Unsere eigenen Deutungen in Perspektive

1 François Quesnay: Gesellschaftsklassen in einem »reichen agrarischen Königreich«

Ungleichheit in Frankreich zur Zeit Quesnays

Die Gesellschaftsklassen und ihre Einkommensquellen

Die Bedeutung des Überschusses

2 Adam Smith: Das »natürliche Wachstum des Wohlstands« und eine implizite Theorie der Einkommensverteilung

Ungleichheit in England und Schottland zur Zeit von Adam Smith

Gesellschaftsklassen bei Smith, Ricardo und Marx

Wann ist eine Gesellschaft wohlhabend?

Die Einstellung zu den Reichen in

Theorie der ethischen Gefühle

und

Der Wohlstand der Nationen

Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Einkommen der Reichen

Löhne, Renten und Kapitalrendite in der sich entwickelnden Gesellschaft

Reallohn und relative Löhne in einer hochentwickelten Gesellschaft

Implizite Theorie der Einkommensverteilung und Misstrauen gegenüber den Kapitalisten

Ergebnis

3 David Ricardos gutes Geschäft: Kein Zielkonflikt zwischen Kapital und Effizienz

Einkommensungleichheit in England zur Zeit der Napoleonischen Kriege

Einkommensverteilung und Wirtschaftswachstum

Die Entwicklung von Löhnen, Profiten und Renten

Klassenkonflikt

Der ricardianische Geldsegen

4 Karl Marx: Anhaltender Druck auf die Arbeitseinkommen trotz sinkender Profitrate

Vermögens- und Einkommensungleichheit in Großbritannien und Deutschland zur Zeit von Karl Marx

Klar Schiff machen: Marxistische Schlüsselkonzepte

Klassenstruktur

Arbeit und Löhne

Kapital und tendenzieller Rückgang der Profitrate

Marx' Einschätzung der Entwicklung der Ungleichheit: Zuversichtlicher als allgemein angenommen

Der Übergang zu Pareto und der interpersonalen Einkommensungleichheit

Anhang: Die Gladstone-Kontroverse

5 Vilfredo Pareto: Von Klassen zu Personen

Ungleichheit in Frankreich um die Jahrhundertwende

Paretos Prinzip und der »Kreislauf der Eliten«, angewandt auf den Sozialismus

Pareto-Prinzip, Paretos »Prinzip« oder überhaupt kein Prinzip?

Paretos Beiträge

6 Simon Kuznets: Ungleichheit im Verlauf der Modernisierung

Ungleichheit in den Vereinigten Staaten um die Mitte des 20. Jahrhunderts

Definition der Kuznets-Hypothese

Die Kurve, die zu früh entwickelt wurde?

Eine mögliche Wiederbelebung

Kuznets' Beiträge

Lokalität und Universalität der hier untersuchten Autoren

7 Das lange Schattendasein der Ungleichheitsforschung im Kalten Krieg

Systeme des nicht privaten Eigentums am Kapital: Ungleichheit in der sozialistischen Marktwirtschaft

Systeme des Staatseigentums am Kapital: Ungleichheit in der Planwirtschaft

Der Mangel an Studien zur Einkommensungleichheit im Sozialismus

Die Erforschung der Einkommensungleichheit im hochentwickelten Kapitalismus

Gründe für die Auflösung

Kritik des neoklassischen Zugangs zur Einkommensverteilung

Drei Arten von Ungleichheitsstudien im Kapitalismus

Die Verknüpfung von Ungleichheit zwischen Ländern und Ungleichheit innerhalb von Ländern

Nachwort: Der Neuanfang

Danksagungen

Anmerkungen

Vorwort

1 François Quesnay: Gesellschaftsklassen in einem »reichen agrarischen Königreich«

2 Adam Smith: Das »natürliche Wachstum des Wohlstands« und eine implizite Theorie der Einkommensverteilung

3 David Ricardos gutes Geschäft: Kein Zielkonflikt zwischen Kapital und Effizienz

4 Karl Marx: Anhaltender Druck auf die Arbeitseinkommen trotz sinkender Profitrate

5 Vilfredo Pareto: Von Klassen zu Personen

6 Simon Kuznets: Ungleichheit im Verlauf der Modernisierung

7 Das lange Schattendasein der Ungleichheitsforschung im Kalten Krieg

Nachwort: Der Neuanfang

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Vorwort

In diesem Buch zeichne ich nach, wie sich das Denken über die wirtschaftliche Ungleichheit in den letzten zwei Jahrhunderten entwickelt hat. Dazu untersuche ich die Arbeit einiger einflussreicher Ökonomen, die sich in ihren Schriften direkt oder indirekt mit Verteilung und Ungleichheit der Einkommen beschäftigt haben. Dies sind die Klassiker François Quesnay, Adam Smith, David Ricardo, Karl Marx, Vilfredo Pareto und Simon Kuznets sowie eine Gruppe von Ökonomen, die sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit diesem Thema befassten und kollektiv Einfluss ausgeübt haben, obwohl sie individuell nicht den ikonischen Status der genannten sechs Klassiker genießen. In diesem Buch beschäftige ich mich mit der Geistesgeschichte eines wichtigen Forschungsbereichs, der ehemals große Aufmerksamkeit fand, dann in den Hintergrund gedrängt wurde und in jüngster Zeit wieder einen wichtigen Platz in den Wirtschaftswissenschaften eingenommen hat.

Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich einen unüblichen Zugang gewählt. Um meine Vorgehensweise verstehen zu können, müssen meine Leserinnen und Leser wissen, wie ich meinen Untersuchungsgegenstand in Angriff genommen habe. Daher werde ich kurz erläutern, wie sich meine Methode von denen anderer Forscher unterscheidet. Erstens konzentriere ich mich vollkommen auf die Einkommensverteilung. Zweitens versuche ich, die Vorstellungen der untersuchten Denker aus ihrer Perspektive zu erklären. Drittens ordne ich die untersuchten Konzepte chronologisch. Viertens verhalte ich mich indifferent gegenüber den normativen Vorstellungen der untersuchten Denker in Bezug auf die Ungleichheit. Fünftens lege ich einen von mir selbst definierten Maßstab an, um festzustellen, welche von den ungezählten Ungleichheitsstudien wirklich wichtig sind. Sehen wir uns die Bestandteile meiner Methode im Einzelnen an.

Strikte Beschränkung auf die Einkommensverteilung. In jedem Kapitel beschäftige ich mich mit einem Denker, wobei ich mich, obwohl 8die untersuchten Autoren in ihren (oft umfangreichen) Schriften eine Vielzahl von Themen behandelten, ausschließlich auf seine Vorstellungen von der Einkommensverteilung konzentriere. Ich untersuche, welche konkreten Antworten er auf die wesentlichen Fragen zur Ungleichheit gegeben hat. Diese Fragen sind: Wie werden die Löhne festgelegt? Gibt es einen Konflikt zwischen Profit und Rente? Wie wird sich die Einkommensverteilung im Verlauf der gesellschaftlichen Evolution entwickeln? Werden Profite oder Löhne steigen oder sinken?

Das bedeutet natürlich, dass ich andere von diesen Denkern untersuchte Fragen vollkommen ignoriere. Jeder dieser Autoren hinterließ ein beängstigend umfangreiches Werk; man könnte leicht hineingezogen werden und seine ganze Laufbahn damit verbringen, dieses Werk und seine Rezeption zu erkunden. Die Produktion dieser Autoren war gewaltig (nur Ricardos Schriften haben einen relativ geringen Umfang, wenn man seine Briefwechsel außer Acht lässt, und es ist zu berücksichtigen, dass er jung starb). Das viele tausend Seiten umfassende Werk von Marx füllt in der MEW-Ausgabe (Marx-Engels-Werke) nicht weniger als 44 Bände, und die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) ist noch nicht abgeschlossen.1 Paretos gesammelte Arbeiten in ihren vielen Varianten haben einen ähnlich gewaltigen Umfang, und sogar Adam Smith' Untersuchungen füllen zahlreiche Bände, obwohl seine unveröffentlichten Arbeiten und seine Korrespondenz nach seinem Tod auf seine Anweisung verbrannt wurden; ein Grund für die Fülle ist, dass auch Mitschriften seiner Studenten (als Lectures on Jurisprudence) veröffentlicht wurden. Quesnays Fall ist ebenfalls interessant, denn seine Korrespondenz mit Mirabeau hat Ähnlichkeit mit der Beziehung zwischen Marx und Engels: Es ist nicht leicht zu bestimmen, wo der Beitrag des einen Autors endet und der des anderen beginnt. Quesnays eigene und gemeinsam mit anderen Autoren geschriebene Werke umfassen wahrscheinlich mehr als 2000 Seiten (vor allem wenn wir die von Angehörigen seiner »Schule« anonym veröffentlichten Texte berücksichtigen). Kuznets schrieb mehr als 50 Jahre lang und veröffentlichte extrem vielgestaltige Beiträge, deren Themen von der Definition der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen über Wachstum, 9Einkommensverteilung und Demografie bis zur wirtschaftlichen Entwicklung reichten.

Würde sich ein Experte für Geistesgeschichte mit den Schriften eines Adam Smith, Karl Marx oder Vilfredo Pareto beschäftigen – die sich über die Felder von Politikwissenschaft, Philosophie, Soziologie, Epistemologie, Ökonomie, Anthropologie und sogar Psychologie erstrecken –, so würde er versuchen, sie als Generalist in ihrer Gesamtheit zu betrachten und alle oder die meisten dieser Themenbereiche zu berücksichtigen. Ein Wirtschaftshistoriker würde sich vermutlich auf die ökonomischen Themen konzentrieren (wie es zum Beispiel Schumpeter tat) oder sich auf eine neoklassische Analyse beschränken wie Mark Blaug, der Paretos soziologische Abhandlungen oder Marx' Philosophie nicht berücksichtigte.2 Ich hingegen ignoriere alle anderen Teile des Werks eines Autors, so wichtig sie auch sein mögen, wenn sie nicht in einem logischen Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Einkommensverteilung stehen.

Beispielsweise ist es für Marx' Schriften zu Einkommensverteilung, Lohnentwicklung und sinkender Profitrate irrelevant, dass er auch eine Arbeitswerttheorie entwickelte. Zur selben Einschätzung dieser Fragen hätten auch Autoren gelangen können, die andere Werttheorien verfochten (und genauso war es). Die Arbeitswerttheorie ist zweifellos wichtig, um Marx' Vorstellungen von Mehrwert, Ausbeutung und Entfremdung zu verstehen. Sie wirkte sich darauf aus, wie seine zahlreichen Anhänger die Fairness der Einkommensverteilung im Kapitalismus beurteilten. Aber wie ich erklären werde, sind normative Urteile über die Einkommensungleichheit nicht Thema dieses Buches. Marx' Werttheorie kann vollkommen unabhängig von der Auseinandersetzung mit den Kräften behandelt werden, die in seinen Augen die Verteilung der Einkommen zwischen den Klassen beeinflussen (das heißt, die Werttheorie kann beiseitegelassen werden).

Es gibt also zahlreiche interessante wirtschaftswissenschaftliche Themen, die außerhalb des Untersuchungsbereichs meines Buches liegen. Beispielsweise steht Paretos Erweiterung und Modifizierung von Walras' Arbeit zur allgemeinen Gleichgewichtstheorie in keinem erkenn10baren Zusammenhang mit seiner Theorie der Einkommensverteilung. (Allerdings verknüpfe ich diese Theorie mit den Überlegungen Paretos, die sie berühren, nämlich mit seiner soziologischen Betrachtung der Elitenzirkulation.) Auch das berühmte Pareto-Optimum kann von seiner Theorie der Einkommensverteilung getrennt werden. Obwohl das Pareto-Optimum durchaus etwas über die Umverteilung aussagt und in Diskussionen über die Umverteilung durch Steuern und Subventionen oft ins Feld geführt wird, ist es im Grunde eine normative Aussage (unter dem Deckmantel des Positivismus).

Wir können also annehmen, dass die Autoren, deren Vorstellungen dieses Buch füllen, das Studium der Einkommensverteilung zwischen den Klassen oder Individuen möglicherweise nicht für den zentralen Bestandteil ihres Werks hielten (wir haben sogar die Gewissheit, dass sie es nicht taten). Auch betrachteten sie die Einkommensverteilung nicht so, wie wir sie heute sehen. Dennoch werden alle diese Autoren aus demselben Grund berücksichtigt: Sie hatten nicht nur großen Einfluss auf die Volkswirtschaftslehre, sondern trugen auch zum Verständnis der Einkommensverteilung bei.

Darstellung aus Sicht des Autors. Zur Beschreibung der Konzepte nehme ich in diesen Kapiteln die Standpunkte der Autoren ein (ich mache nur eine einzige Ausnahme, was ich erklären werde). Eine kritische Analyse nehme ich allein insoweit vor, wie das zur Klärung ihrer Theorien beiträgt. Ich versuche, mich mit Kritik an Mängeln und Lücken zurückzuhalten, die erst im Nachhinein sichtbar geworden sind. Ich konzentriere mich auf die Frage, ob der jeweilige Ansatz mit den übrigen Vorstellungen des Autors übereinstimmt, anstatt beispielsweise zu fragen, ob Quesnay voraussagte, wie sich die Revolution auf die Einkommensverteilung in Frankreich auswirken würde, oder ob seine Arbeit die heutige Einkommensungleichheit in den Vereinigten Staaten erklärt. Diese offenkundig absurden Beispiele zeigen, wie unangebracht es ist, die Erkenntnisse dieser Denker aus heutiger Perspektive zu beurteilen: Quesnay kam nicht auf den Gedanken, dass es zu einer Revolution kommen könnte, geschweige denn, dass das Land unter den Bauern verteilt werden könnte; es wäre also oberflächlich, unfair 11und sinnlos, seine Vorstellungen von der Einkommensverteilung mit Blick auf das abzulehnen, was drei Jahrzehnte nach Veröffentlichung seiner Schriften geschah. Noch unangemessener wäre es, Quesnays Darstellung der Einkommensverteilung als falsch zu bezeichnen, weil er nicht voraussah, dass der Einkommensanteil des reichsten 1 Prozent der US-Bevölkerung im 21. Jahrhundert steigen würde.

Mein Ziel ist es, mich so weit wie möglich in den untersuchten Autor hineinzuversetzen, die Welt so weit wie möglich mit seinen Augen zu betrachten und ihn nicht für Probleme oder Auslassungen in seinen Schriften zu kritisieren (es sei denn, es handelt sich um logische Fehler oder Lücken innerhalb seines eigenen Systems) oder seine Prognosen kritisch zu bewerten. In einigen Fällen tue ich beides, und zwar umso mehr, je näher die Autoren – zum Beispiel Pareto und Kuznets – der Gegenwart sind. Allerdings tue ich es nur, wenn das notwendig ist, um ein besseres Bild von der Einkommensverteilung zu zeichnen als der betreffende Autor, um Widersprüche in seiner Theorie aufzudecken oder um mögliche alternative Interpretationen anzubieten. Eine Möglichkeit, über dieses Buch nachzudenken, besteht darin, uns vorzustellen, dass wir jedem der behandelten Autoren folgende Frage stellen: Welche Erkenntnisse liefert Ihre Arbeit über die Einkommensverteilung in Ihrer Zeit und darüber, wie und warum sich diese Verteilung ändern könnte?

In Kapitel 7 rücke ich von der Methode ab, mir den Blickpunkt des Autors anzueignen, und nehme stattdessen eine kritische Haltung ein. In diesem Kapitel untersuche ich den Zustand der Ungleichheitsforschung in den sozialistischen und kapitalistischen Ländern zwischen den sechziger und den frühen neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Tatsache, dass in Kapitel 7 zahlreiche Autoren behandelt werden, entspricht meiner Einschätzung, dass keiner der Forscher, die in dieser Zeit aktiv waren, annähernd so bedeutsame Beiträge zur Erforschung der Ungleichheit geleistet hat wie die zuvor individuell behandelten Autoren. Während ich mich in den anderen Kapiteln jeweils mit den Beiträgen eines einzigen Autors beschäftige, versuche ich in Kapitel 7 zu erklären, warum das Studium der Einkommensverteilung während 12des Kalten Kriegs in den Hintergrund trat. In diesem Kapitel urteile ich mehr über die Autoren und äußere mich kritischer über die Art von Wirtschaftswissenschaft, die sowohl im Osten als auch im Westen in den Jahrzehnten bis zum Zusammenbruch des Kommunismus betrieben wurde.

Zusammenfassend können wir sagen, dass dies ein Buch über die Geschichte des ökonomischen Denkens in einem Bereich (dem der Einkommensverteilung) ist, wobei so weit wie möglich von der Betrachtungsweise der untersuchten Denker ausgegangen wird. Während ich gelegentlich und insbesondere in Kapitel 7 eine kritische Deutung der Autoren vornehme, könnte mein Zugang als Versuch beschrieben werden, »die Quellen sprechen zu lassen«, und ich bemühe mich, die Schriften dieser Autoren so zu nehmen, wie sie sind.

Chronologische Ordnung. Diese Untersuchung der Entwicklung des Denkens über die Ungleichheit gibt Aufschluss darüber, welche Faktoren sich in den Augen der Autoren zu ihrer Zeit und in ihrer Welt auf die Ungleichheit auswirkten. Indem ich die Autoren chronologisch betrachte, trage ich der Tatsache Rechnung, dass sich die Bedingungen, die sich auf die Ungleichheit auswirkten, und die Vorstellungen davon im Lauf von zwei Jahrhunderten wandelten.

Die Methode, die Entwicklung von der Epoche vor der Französischen Revolution chronologisch bis zum Ende des Kommunismus zu verfolgen, hat noch einen weiteren Vorteil: Sie zeigt uns, dass Ungleichheit zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten ganz unterschiedliche Dinge bedeutete. Die in den Augen der Zeitgenossen bedeutsamsten Gegensätze zwischen Personen, Klassen, Geschlechtern oder ethischen Gruppen waren nicht immer dieselben. Wir sollten uns jedoch davor hüten, einen chronologischen Zugang mit einer teleologischen Betrachtungsweise zu verwechseln und anzunehmen, dass wachsende Erkenntnisse schrittweise zu einer unanfechtbaren Wahrheit führen. Die früheren Generationen haben versucht, die Vorurteile ihrer Zeit in eine ewige Wahrheit zu verwandeln, und wir sollten diesen Fehler nicht wiederholen. Ein chronologischer Zugang sollte uns im Gegenteil zeigen, dass es kein von seinem Ort und seiner 13Zeit unabhängiges Konzept der Ungleichheit gibt. In der Zukunft werden mit Sicherheit andere Faktoren als ausschlaggebend für die Definition der Ungleichheit betrachtet werden.

Die ersten sechs Kapitel, in denen wir uns mit individuellen Autoren befassen, sind alle ähnlich aufgebaut: Sie beginnen jeweils mit der Beschreibung einiger interessanter Aspekte des Lebens oder der Arbeit des Autors (wobei einige dieser Fakten vielleicht nicht allgemein bekannt sind oder hier neu interpretiert werden). Dabei handelt es sich nicht um Kurzbiografien, die man auch in Wikipedia finden kann. Vielmehr hebe ich einige relevante persönliche Merkmale der Autoren hervor. Eine schematische Chronologie der Lebenswege unserer Autoren findet sich in Tabelle 1.1.

Tabelle 1.1. Chronologie des Lebens der untersuchten Autoren

Geboren

Veröffentlichung des Hauptwerks

Gestorben

François Quesnay (80)

1694

1763

1774 (zwei Jahre vor der amerikanischen Unabhängigkeit)

Adam Smith (67)

1723

1776 (amerikanische Unabhängigkeit)

1790 (kurz nach der Französischen Revolution)

David Ricardo (51)

1772

1817 (kurz nach den Napoleonischen Kriegen)

1823

Karl Marx (65)

1818 (kurz nach den Napoleonischen Kriegen)

1848 (Revolutionen in Europa)

1867 (Meiji-Restauration)

1883 (kurz vor der Konferenz über die Teilung Afrikas)

Vilfredo Pareto (75)

1848 (Europäische Revolutionen)

1896

1923 (Mussolini an der Macht)

Simon Kuznets (84)

1901

1955 (Kalter Krieg)

1985 (Gorbatschow an der Macht)

14Es folgt ein Abschnitt, in dem ich zusammenfasse, was mittlerweile gestützt auf moderne Datensammlungen über die Ungleichheit in dem Land bekannt ist, in dem der betreffende Autor lebte und das er studierte. So versuche ich, die Vorstellungen des Autors von der Verteilung der Einkommen in den Kontext seiner Zeit einzuordnen. Dank empirischer Studien, die in den letzten zwei Jahrzehnten durchgeführt wurden, ist uns dieser Kontext heute in mancher Hinsicht sehr viel besser bekannt als den zeitgenössischen Autoren. Das gilt für alle Autoren mit Ausnahme von Kuznets, der sich direkt mit der Einkommensverteilung in den Vereinigten Staaten beschäftigte. Aber obwohl wir heute mehr über die Einkommensungleichheit im England des 19. Jahrhunderts wissen als Ricardo und Marx, belegt die Arbeit dieser Autoren, dass sie zweifellos die grundlegenden Trends sahen. Obwohl Quesnay über keine empirischen Erkenntnisse zum Ausmaß der Ungleichheit im vorrevolutionären Frankreich verfügte und natürlich nicht in der Lage war, den Gini-Koeffizienten zu berechnen (dieses Ungleichheitsmaß wurde erst 150 Jahre später erfunden), war ihm durchaus bewusst, welche Haupttypen von Ungleichheit es in Frankreich gab und wie die Gesellschaft des Landes strukturiert war – und er versuchte sogar, diese Verhältnisse zahlenmäßig zu erfassen.

Bei der Arbeit an diesem Buch stieß ich in Leszek Kołakowskis Hauptströmungen des Marxismus unerwartet auf eine ähnliche Struktur.3 Diese Entdeckung, die sich auf verschiedenen Ebenen auf meine Arbeit auswirkte, entsprang der einfachen Tatsache, dass ich verschiedene Autoren las (oder in Kołakowskis Fall erneut las), die sich mit Marx beschäftigt hatten. Kołakowskis Buch ist in mehrerlei Hinsicht vorzüglich, aber seine Struktur sagte mir zu, weil es ihm gelungen war, die Entwicklung des marxistischen Denkens mittels der Diskussion der einzelnen Beiträge kohärent zu beschreiben. Es führt eine ununterbrochene Kette von den Frühsozialisten, die Marx vorausgingen, bis zu Marcuse und Mao. Doch Hauptströmungen ist nicht rund um die verschiedenen Denker organisiert wie zum Beispiel Robert Heilbroners The Worldly Philosophers.4 Bei Kołakowski besteht eine organische Verbindung zwischen den Beiträgen der Autoren und der sich entwickeln15den Ideologie. Natürlich profitierte Kołakowski von der Tatsache, dass er sich nur mit einer einzigen Ideologie beschäftigte, was es ihm erleichterte, die verschiedenen Autoren und ihre Vorstellungen miteinander zu verknüpfen. Wenn wir untersuchen, wie verschiedene Ökonomen Einkommensverteilung und Ungleichheit betrachten, stoßen wir auf sehr viel größere Schwierigkeiten, denn die Autoren gehören nicht zwangsläufig derselben Denkschule an. Ich versuche jedoch, Einfluss und Vermächtnis der Ideen herauszuarbeiten, soweit das vernünftig ist: Mein Ziel ist es, die Geistesgeschichte der Ungleichheitsstudien nachzuvollziehen, anstatt einfach die Vorstellungen verschiedener Ökonomen zu sammeln.

Indifferenz gegenüber normativen Thesen zur Ungleichheit. Die hier untersuchten Autoren nahmen unterschiedliche philosophische und ethische Haltungen zur Verteilung der Einkommen und zu der Frage ein, ob bestimmte Einkommensquellen und Ausmaße der Einkommensungleichheit gerechtfertigt waren. Aber dieses Buch ist indifferent diesen Vorstellungen gegenüber. Ich wähle gezielt diesen instrumentellen Zugang und nehme stets den Standpunkt des Autors ein, ohne jedoch normative oder quasinormative Aussagen zur Einkommensverteilung zu berücksichtigen. Stattdessen konzentriere ich mich auf die tatsächlichen Verteilungen, die der Autor beschreibt, darauf, was in seinen Augen die tatsächlichen Einkommen von Individuen und Klassen bestimmt und wie sich die Verteilung seiner Meinung nach infolge des gesellschaftlichen Wandels ändern wird. Ich stelle fest, wo die Schlussfolgerungen eines Autors anscheinend von seiner Ideologie beeinflusst wurden – zum Beispiel erkläre ich, dass Quesnay aufgrund seiner Physiokratie und seiner Vorstellung von der Landwirtschaft als einziger Quelle wirtschaftlichen Mehrwerts dazu neigte, die Einkommen des Adels zu rechtfertigen, und dass Ricardo im Gegensatz dazu die Kapitalisten gegen die Grundeigentümer verteidigte, weil er die Bodenrenten als Monopoleinkommen betrachtete. Und ich beschäftige mich mit den politischen Implikationen der Ansichten der Autoren. Aber ich lasse mich nicht auf eine normative Debatte ein. Auch lasse ich alle stillschweigenden oder ungeprüften normativen Ur16teile über Fragen wie die beiseite, wer als Gegenstand der Analyse in Frage kam. Die meisten unserer Autoren konzentrierten sich auf die Ungleichheit zwischen Männern oder Familien in ihren Ländern und interessierten sich nicht für andere Gruppen. Nicht alle diese Autoren beschäftigten sich explizit mit der Situation von Frauen oder benachteiligten Gruppen, obwohl einige durchaus Interesse an diesen Gruppen zeigten.

Die Indifferenz gegenüber normativen Vorstellungen hilft auch, meine Auswahl der Autoren zu erklären. Würden wir uns mit normativen Theorien der Einkommensverteilung befassen (oder wären wir etwas weniger ehrgeizig und begnügten uns mit normativen Ansichten), dann müssten wir uns mit Philosophen wie Platon, Aristoteles, Konfuzius und Rousseau – und in der Neuzeit mit Autoren wie Rawls, Hayek und Sen – befassen. Aber da sich keiner von ihnen mit der tatsächlichen Einkommensverteilung zwischen Individuen und Klassen beschäftigte – geschweige denn, dass sie die Hoffnung geäußert hätten, die Gestalt der Verteilung werde sich entwickeln –, werden sie in diesem Buch nicht berücksichtigt. Das vielleicht beste Anschauungsbeispiel dafür ist Rawls. Sein Werk Eine Theorie der Gerechtigkeit hat das moderne Denken über die Umverteilung von Einkommen nachhaltig beeinflusst. Rawls spricht sich zum Beispiel für Erbschaftssteuern und eine Erhöhung der Ausgaben für die öffentliche Bildung aus und begründet dies damit, dass solche Eingriffe die Ausgangslage jener verbessern, die nicht aufgrund ihres familiären Hintergrunds im Vorteil sind.5 Er äußert sich jedoch nicht zur Struktur der Einkommensverteilung im zeitgenössischen Kapitalismus oder dazu, wie sich diese Verteilung ändern könnte. Dasselbe gilt für Sen, der viel über die Einkommensverteilung geschrieben und sich sowohl mit der Methodologie als auch mit der zugrundeliegenden Theorie beschäftigt hat, jedoch nichts über die tatsächlichen Kräfte sagt, die sich auf die Verteilung auswirken.6 Man würde bei Rawls oder Sen vergeblich nach ihrer Meinung dazu suchen, ob zum Beispiel Facharbeiter genug sparen können, um sich in Kapitalisten zu verwandeln, oder welche Einkommensquellen den Reichtum des obersten 1 Prozent begründen.

17Schließlich ist in Anbetracht dessen, dass ich einen instrumentellen Zugang zu den Vorstellungen dieser Autoren von der Ungleichheit wähle, ein besonderer Kommentar zu Marx angebracht. Man sollte meinen, es sei unmöglich, Marx zu lesen, ohne seine normativen Standpunkte zu berücksichtigen. Es gilt jedoch zu bedenken, dass er sich für die Frage der Ungleichheit, so wie wir sie hier stellen, im Allgemeinen nicht interessierte. Er und die meisten seiner Anhänger waren überzeugt, dass jegliche politischen Bemühungen um eine Verringerung der Ungleichheit lediglich zu Reformismus, Gewerkschaftswesen sowie zu dem führen könnten, was Lenin später als »Opportunismus« bezeichnete, wenn nicht die Institutionen des Kapitalismus – Privateigentum an den Produktionsmitteln und Lohnarbeit – beseitigt würden. Daher war die Ungleichheit ein zweitrangiges Thema für Marx, mit dem er sich in seinen Schriften kaum beschäftigte. Vor allem im ersten Teil von Das Kapital wimmelt es von Schilderungen der Armut und Ungleichheit. Aber mit diesen Schilderungen wollte Marx einfach die Realität der kapitalistischen Gesellschaft beschreiben und die Notwendigkeit belegen, dass das System der Lohnarbeit beseitigt werden musste. Sie dienten nicht als Grundlage für Forderungen nach einer Verringerung von Ungleichheit und Armut im existierenden System. Es ging Marx nicht um die bloße Besserung des Menschen und seiner Lebensbedingungen. Wie Shlomo Avineri schreibt, konnte der Kampf der Gewerkschaften für eine Verringerung der Ungleichheit in Marx' Augen nur damit gerechtfertigt werden, dass er den Zusammenhalt der Arbeiter festigte. Dieser Kampf war für Marx also einfach eine nützliche Übung für eine neue Gesellschaft, die nach der Überwindung der Klassengegensätze entstehen würde.7

Marx lehnte auch die Einschätzung ab, seine Kritik am Kapitalismus beruhe auf moralischen Erwägungen, und äußerte sich geringschätzig über viele Autoren, die den Kapitalismus aus moralischen Gründen kritisierten. Für ihn war die Ausbeutung (die Aneignung des Mehrwerts durch die Kapitalisten) kein normatives, sondern ein technisches Konzept. Die Ausbeutung hatte ihren Ursprung in der Natur des Systems: Der Lohn des Arbeiters war nicht geringer als der Wert seiner 18Arbeitskraft, weshalb es sich nicht um einen unfairen Austausch, sondern einfach um Ausbeutung handelte. Folglich hatte der normative Aspekt, obwohl er in Marx' Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse (insbesondere im ersten Band von Das Kapital und einigen anderen politischen und didaktischen Schriften) indirekt enthalten war, keinen Einfluss auf seine Theorie. Ein instrumenteller Zugang zu Marx' Vorstellung von der Ungleichheit und eine Nichtberücksichtigung des normativen Aspekts ist daher nicht nur möglich, sondern deckt sich vollkommen mit Marx' Denken.

Spuren von normativem Denken zur Einkommensverteilung finden wir in Marx' Auseinandersetzung mit den Einkommen im Sozialismus und im Kommunismus, aber diese dünn gesäten Aussagen stellen lediglich eine vorsichtige Annäherung an die Frage dar. Marx erklärt, er wolle keine »Rezepte […] für die Garküche der Zukunft […] verschreiben«.8 Und sie beziehen sich offensichtlich nicht auf den Kapitalismus, mit dem ich mich im Kapitel zu Marx beschäftige (Kapitel 4). Berücksichtigung finden diese Kommentare in der Diskussion der Forschung zur Einkommensverteilung im Sozialismus in Kapitel 7. Doch auch dort wähle ich den instrumentellen Zugang und untersuche die wirklichen Kräfte, die sowohl die Einkommensverteilung im Sozialismus als auch die Vorstellungen von dieser Verteilung prägten, während ich jene Art von normativen Aussagen, welche die Parteiideologen seit jeher so eifrig in den Texten von Marx und Engels suchen, außer Acht lasse.

Kriterien für die Einstufung als wichtige Arbeit. Habe ich bei der Auswahl der Autoren und der Beurteilung ihrer Arbeit auch einige klar definierte Kriterien herangezogen, um zu beurteilen, welche Methoden des Studiums der Einkommensverteilung anderen vorzuziehen sind? Ja, das habe ich getan. Und es ist wichtig, vollkommen klar zu sagen, welche Maßstäbe ich angelegt habe – vor allem, weil dies erklären wird, warum ich in Kapitel 7 ein vernichtendes Urteil über die Ungleichheitsforschung in der Epoche des Kalten Kriegs fälle.

In meinen Augen muss eine gute Studie zur Einkommensverteilung drei Bestandteile aufweisen: Narrativ, Theorie und Empirie. Nur wenn 19alle drei Elemente vorhanden sind, erhalten wir jenes wertvolle Resultat, das ich als integrierte Studie der Einkommensverteilung bezeichne.

Ein Ungleichheitsnarrativ enthält die Erklärung eines Autors dazu, wie die Einkommensverteilung in der Interaktion bestimmter Kräfte Gestalt annimmt. Ein Narrativ ist unverzichtbar, um der Theorie Zusammenhalt zu geben und dem Leser zu erklären, welche empirischen Belege der Autor für bedeutsam hält. Beispielsweise konstruierten die in diesem Buch behandelten Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts ihre Narrative rund um die Klassenstruktur der Gesellschaft, während sich Kuznets in seiner Darstellung der Ungleichheit auf die Auswirkungen der Modernisierung (Verstädterung und industrielle Entwicklung) konzentrierte. Andere Narrative handeln vom Kampf zwischen organisierter Arbeiterschaft und Arbeitgebern um die Anteile am Nettoprodukt, von Monopolisten, die kleinere Produzenten »verschlingen«, oder von den Auswirkungen von Kriegen und Epidemien auf die Einkommensverteilung.

Der einzige Grund dafür, dieses Element als Erstes zu nennen, ist die Zweckmäßigkeit. Die beiden anderen Elemente sind ihm keineswegs untergeordnet. Ein Narrativ kann das Produkt empirischer Erkenntnisse sein oder von ihnen beeinflusst werden, so wie es auch auf der Einschätzung historischer Prozesse durch den Autor oder auf anderen Bestandteilen beruhen kann. Aber wir brauchen ein Narrativ, um andere von unserem Weltbild überzeugen zu können und nicht in oberflächlichen Empirismus zu verfallen und Formeln einfach deshalb aufzustellen, weil Daten verfügbar sind.

Eine Theorie verleiht dem Narrativ ein stabileres logisches Gerüst. Wenn wir beispielsweise eine überzeugende Geschichte des Klassenkampfs erzählen wollen, müssen wir Theorien der relativen Machtstrukturen und der Konflikte zwischen den Klassen über die Einkommensanteile aufstellen. Eine Theorie zu den Kräften, welche die Einkommensverteilung formen, kann mathematisch oder textlich ausgedrückt werden. Es kann eine ökonomische, politische, soziologische oder andersartige Theorie sein, aber ohne theoretisches Gerüst bleibt das Narrativ instabil und unbestimmt. Schließlich brauchen wir die 20Empirie, um Daten zu sammeln, die dem Narrativ und der Theorie zugrunde gelegt werden können oder uns in die Lage versetzen, sie zu widerlegen oder zu überarbeiten. Dieser Bestandteil ist unverzichtbar. Die Daten sind die Munition des Autors, der seine Leser zu überzeugen versucht, und versetzen gleichzeitig die Leser in die Lage, zu überprüfen, ob die Belege für eine Theorie schwach sind. Alle drei Elemente sind gleich bedeutsam, und wenn eines von ihnen fehlt, ist das Bild von der Einkommensverteilung unvollständig.

Mögliche Auslassungen. Es besteht die Möglichkeit, dass meine Darstellung der Geschichte der Ungleichheitsforschung zwei wichtige Lücken aufweist. Erstens beschäftige ich mich nicht mit den Autoren vor Quesnay, insbesondere nicht mit den Merkantilisten. Mit Blick auf das Hauptthema des Buchs ist dies jedoch kein gravierender Mangel. Schließlich begründete Quesnay die politische Ökonomie, führte als Erster ausdrücklich Gesellschaftsklassen in seine Analyse ein und definierte den wirtschaftlichen Überschuss. Beide Konzepte sollten in der späteren Entwicklung der politischen Ökonomie und der Nationalökonomie wichtige Rollen spielen. Es stimmt, dass sich die Merkantilisten mit der Ungleichheit zwischen Ländern infolge ungleichmäßig verteilter Handelserträge beschäftigten. Ihre Einschätzung der Ungleichheit innerhalb der Länder – sofern sie sich damit beschäftigten – könnte ein interessantes Nischenthema sein, aber mehr auch nicht.

Die zweite Auslassung ist bedeutsamer, allerdings versuche ich, die Lücke teilweise zu schließen: Die lateinamerikanischen Strukturalisten und die Dependencia-Schule bleiben unberücksichtigt. Wie ich in Kapitel 7 zeigen werde, war die im Kalten Krieg, das heißt zwischen den sechziger Jahren und den frühen neunziger Jahren, in den kapitalistischen und sozialistischen Ländern praktizierte Wirtschaftswissenschaft Ödland für ernsthafte Forschung zur Einkommensverteilung. Eine Ausnahme war die Arbeit der Strukturalisten, die überwiegend aus Lateinamerika stammten, und der Vertreter der neomarxistischen Dependenztheorie. Es war kein Zufall, dass Lateinamerika in jener Zeit die interessantesten Beiträge zur Einkommensverteilung hervorbrach21te. Da Lateinamerika weder eine prosowjetische noch eine unkritisch proamerikanische politische Position einnahm und da die Klassengegensätze in den lateinamerikanischen Gesellschaften besonders ausgeprägt waren, wurde die Frage der Ungleichheit in der Region anders und sehr viel kreativer als in Europa (sei es im Westen oder im Osten des Kontinents) und in den Vereinigten Staaten in Angriff genommen. Tatsächlich würdige ich in Kapitel 7 die Beiträge der Dependenztheoretiker und insbesondere Samir Amins, dessen Arbeit ich seit Jahrzehnten verfolge. Aber leider kenne ich die Arbeit von Raúl Prebisch, Celso Furtado, Octavio Rodriguez und anderen nicht gut genug, um mir ein Urteil darüber bilden zu können. Ein Beobachter mit besserer Kenntnis hätte der Untersuchung dieser (und möglicherweise weiterer lateinamerikanischer) Autoren und ihrer Beiträge in Kapitel 7 oder sogar in einem eigenen Kapitel mehr Raum gewidmet.

Konkurrierende Vorstellungen von der Ungleichheit

Die Leserinnen und Leser dürften auch von einem knappen Überblick über die Gemeinsamkeiten und Widersprüche zwischen den Visionen der Autoren profitieren. Die ersten vier – Quesnay, Smith, Ricardo und Marx – betrachten die Ungleichheit im Wesentlichen als Phänomen der Klassengesellschaft. Die übrigen sehen die Dinge anders. Pareto beschreibt vor allem einen Gegensatz zwischen der Elite und der übrigen Bevölkerung. In Kuznets' Augen wird Ungleichheit durch die Einkommensunterschiede zwischen ländlicher und städtischer Bevölkerung oder zwischen Landwirtschaft und Industrie verursacht. Die Autoren der letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts betrachten die Ungleichheit als Randerscheinung.

Aber auch die Vorstellungen der ersten vier Autoren von der klassenabhängigen Ungleichheit unterscheiden sich voneinander. Quesnay geht von einer rechtlichen Abgrenzung der Klassen aus. Das zeigt sich daran, dass er die Kategorie der Eigentümer verwendet, einer Klasse, die Klerus, Adel und Staatsbeamte umfasst und einen gesetzlichen An22spruch auf den Produktionsüberschuss hat. Quesnays Klassifizierung entspricht den tatsächlichen Gegebenheiten vor der Revolution, als die französische Bevölkerung aus rechtlich getrennten »Ständen« bestand. Diese rechtliche Trennung bestand fast bis ins späte 19. Jahrhundert in Gesellschaften, die auf Leibeigenschaft, Kastenordnung oder Zwangsarbeit beruhten (darunter das zaristische Russland, Indien und die ostmitteleuropäischen Länder) sowie in Gesellschaften, in denen die Sklaverei Bestand hatte (in den Vereinigten Staaten, Brasilien und den karibischen Kolonien). In solchen Gesellschaften war es durchaus sinnvoll, die Klassenunterschiede nicht nur wirtschaftlich, sondern auch rechtlich zu definieren und unterschiedliche rechtliche Positionen in materielle und Einkommensunterschiede zu übersetzen.

Smith, insbesondere aber Ricardo und Marx sahen die Grundlage für Klassenunterschiede ausschließlich im Besitz verschiedener Arten von »Vermögenswerten«: Land, Kapital und Arbeit. Es gab keine formalen rechtlichen Trennlinien mehr zwischen Klassen und Individuen, aber in der wirtschaftlichen Sphäre hatten die Vermögenswerte, die man besaß, große Bedeutung. Heute würden wir von funktionaler Ungleichheit sprechen – die Ungleichheit der Einkommen hatte ihren Ursprung darin, dass die Menschen verschiedene Produktionsfaktoren besaßen. Daher kreist die Auseinandersetzung mit der Ungleichheit bei Smith, Ricardo und Marx im Endeffekt um die unterschiedlichen Einkommensanteile aus Bodenrente, Kapitalerträgen und Arbeitslöhnen. Diese drei Autoren nehmen stillschweigend an, dass alle Menschen ihr gesamtes oder den Großteil ihres Einkommens aus einem einzigen Produktionsfaktor beziehen und dass es eine »Rangordnung« der Klassen gibt. Es wird also davon ausgegangen, dass fast alle Arbeiter ärmer sind als alle Kapitalisten und dass alle Kapitalisten ärmer sind als alle Grundeigentümer. Natürlich ist dies eine stark vereinfachte Beschreibung der abstrakteren oder theoretischeren Arbeit unserer Autoren. Wenn sie konkrete historische Fälle von Einkommensungleichheit studieren, wird die Klassifizierung sehr viel detaillierter und nuancierter, wie wir in Kapitel 4 sehen werden (dies gilt insbesondere für Marx).

23Mit Pareto treten wir in eine andere Welt ein: Die Klassen verschwinden, und die Individuen betreten die Bühne: Es ist eine Auseinandersetzung zwischen der Elite und dem Rest. Warum geschieht dies? Obwohl die rein empirisch messbare Ungleichheit in den Gesellschaften, mit denen Pareto vertraut war (die italienische und die französische an der Wende zum 20. Jahrhundert) ähnlich groß war wie in Großbritannien auf dem Höhepunkt des Industriekapitalismus, traten die Klassenunterschiede in Italien und Frankreich wahrscheinlich weniger deutlich zutage und die soziale Aufwärtsmobilität war größer. Auch war die Vermögensungleichheit in beiden Ländern geringer.9 Einen weiteren Grund für die Abkehr von der Klassenanalyse finden wir in Paretos soziologischer Theorie, das heißt in seiner Überzeugung, dass die wesentliche Trennlinie in einer Gesellschaft zwischen der Elite und der übrigen Bevölkerung verläuft. In einer kapitalistischen Gesellschaft kann die Elite aus den Kapitaleigentümern bestehen. Aber dies ist lediglich eine spezifische Manifestation des allgemeinen Prinzips der Elitenherrschaft. In einer sozialistischen Gesellschaft würden die Staatsbürokraten die Elite bilden. Mit anderen Worten, das Fundament der Elite kann unterschiedlich sein, aber die Kluft zwischen Elite und breiter Bevölkerung bleibt bestehen. Die Eliten nehmen in verschiedenen Gesellschaften lediglich verschiedene soziologische Formen an.

Simon Kuznets lebte und arbeitete in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten, das heißt in einer Umgebung, die sich sehr von jener unterschied, in der sich die anderen hier behandelten Autoren bewegten. In den Vereinigten Staaten hatte die Ungleichheit nach einem Höhepunkt zu Beginn des Jahrhunderts deutlich abgenommen. Die USA waren das mit Abstand reichste Land der Welt, und die Kluft zwischen den Klassen wurde als im Wesentlichen irrelevant betrachtet, was teilweise daran lag, dass die Klassenunterschiede objektiv geringer waren als anderswo, und teilweise mit dem Mythos von Horatio Alger zu erklären war. Es wurde angenommen, dass Veränderungen der Einkommensverteilung auf Verschiebungen der relativen Einkommen zwischen städtischem und ländlichem Raum und zwischen Landwirtschaft und Industrie zu24rückzuführen waren. Dies war ein neues Bild der Ungleichheit, das eng mit der zu jener Zeit populären Theorie der Modernisierung zusammenhing.

In der Zeit nach Kuznets – in einer Zeit, in der das Studium der Einkommensverteilung sowohl in den sozialistischen als auch in den kapitalistischen Ländern an Bedeutung verlor – mangelte es an einem klassen-, gruppen- oder elitenbasierten Organisationsprinzip, das den Anstoß zu neuen Arbeiten hätte geben können. Dafür gab es »objektive« Gründe: Die Einkommensungleichheit verringerte sich sowohl in den sozialistischen Ländern, die Revolutionen und Enteignungen des Privatkapitals hinter sich hatten, als auch in den kapitalistischen Ländern, die den Wohlfahrtsstaat errichtet hatten. Doch das Schattendasein der Ungleichheitsforschung hatte im Wesentlichen politische Gründe. Es hatte auch damit zu tun, dass die in Kapitel 7 behandelten Ökonomen zwischen den siebziger und neunziger Jahren in einer ganz anderen Umgebung lebten und arbeiteten.

Die jüngste Wiederbelebung der Ungleichheitsstudien, mit der ich mich im Nachwort beschäftige, verdanken wir der Entdeckung und Dokumentation eines Trends, der sich während des Aufstiegs des Neoliberalismus unter dem Radar verstärkte: Die Ungleichheit erreichte ein sehr hohes Maß, was dadurch verdeckt wurde, dass die Mittel- und die Unterschicht leichten Zugang zu Krediten hatten. Als die Zeit der billigen Kredite endete, mussten die Schulden zurückgezahlt werden, und nun wurden die geringen Einkommenszuwächse der Mittelschicht und die ausgeprägte Ungleichheit offenkundig. Das verhalf der Erforschung der Einkommensverteilung zu einem Comeback.

Aber dieses Comeback findet unter ganz anderen Umständen statt, und heute richtet sich das Augenmerk auf Gegensätze, die zwar keineswegs neu sind, in den letzten zwei Jahrhunderten jedoch weitgehend unbeachtet blieben. Gemeint sind ethnische und geschlechtsspezifische Gegensätze. Der Fairness halber muss gesagt werden, dass keiner der hier untersuchten Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts den Einfluss von ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht auf die Einkommensunterschiede zu seiner Zeit geleugnet hätte, aber diese Themen 25waren kein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit. Sowohl Smith als auch Marx erwähnten die rassische Ausbeutung. Smith sah die Sklaverei sehr kritisch, hielt die Beseitigung dieser Institution jedoch für unmöglich, da die Sklavenhalter politische Macht besaßen und nie für die Freilassung ihrer Sklaven stimmen würden, weil sie dadurch ihr Eigentum verlieren würden.10 Marx war im Amerikanischen Bürgerkrieg ein aktiver Anhänger des Nordens und insbesondere Lincolns. Er sah in diesem Krieg eine Möglichkeit der Geschichte, durch erforderliche Gewaltanwendung eine weniger effiziente gesellschaftliche Formation (in diesem Fall eine Sklavenhaltergesellschaft) durch eine fortschrittlichere Formation (zum Beispiel eine kapitalistische) zu ersetzen.11 Und obwohl Marx in seinen letzten Lebensjahren den außereuropäischen Angelegenheiten einschließlich von Kolonialismus, Leibeigenschaft und Sklaverei sehr viel größere Aufmerksamkeit schenkte, finden seine Betrachtungen kaum Beachtung in der vorherrschenden (und durchaus zutreffenden) Interpretation, dass er ein westlicher Denker war.12 Die geschlechtsspezifische Ungleichheit fand bis vor kurzem noch weniger Beachtung in der Erforschung der Einkommensverteilung. Die impliziten Gründe für das mangelnde Interesse an beiden Gebieten waren, dass die Ungleichheit eine Frage der Unterschiede zwischen den Haushaltseinkommen war und dass Frauen entweder Anteil am Einkommen und Vermögen der Familie hatten oder »unsichtbar« waren. Heute finden geschlechtsabhängige und ethnische Unterschiede in der Ungleichheitsforschung sehr viel größere Beachtung als in der Vergangenheit.

Auch das Interesse am Studium der intergenerationellen Weitergabe von Einkommen und Vermögen und an der Frage, wie sie die Ungleichheit vergrößert, ist heute sehr viel größer als in der Vergangenheit. Das ist teilweise darauf zurückzuführen, dass mehr Daten zur Verfügung stehen, und teilweise damit zu erklären, dass deutlicher sichtbar ist, wie Vorteile in Familien über Generationen vererbt werden – und wie dies eine moderne Gesellschaft untergräbt, die formal den Grundsatz hochhält, angeborene Privilegien sollten beseitigt oder zumindest weitgehend beschränkt werden.

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Den Einflüssen nachspüren

Es gibt verschiedene Verbindungen zwischen den in diesem Buch behandelten Autoren. Ich beginne meine Untersuchung mit François Quesnay, dem Begründer der physiokratischen Doktrin und der Volkswirtschaftslehre. Adam Smith begegnete Quesnay während seines zweijährigen Aufenthalts in Frankreich in den Jahren 1764-66. Wir wissen nicht, wie oft sie sich trafen, wie intensiv ihre Gespräche waren und inwieweit Smith Quesnay beeinflusst haben mag, aber es ist klar, dass der Schotte Anleihen bei dem Franzosen nahm, auch wenn Smith diesen Einfluss herunterspielte (mehr dazu in Kapitel 2). Es ist unwahrscheinlich, dass Smith beträchtlichen Einfluss auf Quesnays Denken nahm, denn sie gehörten verschiedenen Generationen und Gesellschaftsgruppen an. Der 61-jährige Quesnay befand sich auf heimischem Terrain und hatte den Höhepunkt seines politischen Einflusses in Frankreich erreicht, während Smith, der fast 30 Jahre jünger war als der Franzose, lediglich ein Besucher aus einem anderen Land war, dessen Arbeit nicht bekannt war und der nur dank David Humes Empfehlung akzeptiert wurde. Die beiden trafen sich auf Quesnays Territorium: in den Pariser Salons, wo Quesnay von seiner Anhängerschaft verehrt und Smith höchstwahrscheinlich nur als Zuhörer geduldet wurde. Es ist zweifelhaft, dass Smith, der nicht fließend Französisch sprach, umgeben von Personen, die eine Sprache sprachen, die er nur teilweise verstand, wesentliche Beiträge hätte leisten können.13 So schwer wir es uns in Anbetracht des hohen Ansehens, das Smith heute genießt, vorstellen können, ist anzunehmen, dass er in den Salons überhaupt nicht zu Wort kam.

David Ricardo begann über politische Ökonomie zu schreiben, während er Smith las und sich Notizen zu The Wealth of Nations machte. Er stand sein Leben lang unter Smith' Einfluss, und man könnte sogar sagen, dass er seine Principles schrieb, um Smith' Fehler zu korrigieren. Marx' Bezugnahmen auf Ricardo sind ebenso zahlreich. Seine »Theorien über den Mehrwert«, die den vierten Band von Das Kapital darstellen und 10 von 22 Kapiteln oder mehr als 700 Seiten füllen, 27sind Ricardo und den ricardianischen Sozialisten gewidmet. Tatsächlich ist Ricardos Einfluss überall in Das Kapital zu sehen. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass kein Ökonom größeren Einfluss auf Marx' Denken nahm als David Ricardo.

Dann war da Vilfredo Pareto, dessen erstes Buch über politische Ökonomie, Les systèmes socialistes, geschrieben wurde, um die Sozialdemokraten seiner Zeit zu kritisieren und einige von Marx' grundlegenden Vorstellungen anzufechten.14 Pareto war jedoch nicht so antimarxistisch, wie er oft dargestellt wird. Er äußerte sich teilweise sehr anerkennend über Marx und teilte dessen Einschätzung, dass der Klassenkampf eine wichtige und vielleicht sogar die wichtigste Kraft in der wirtschaftlichen und politischen Geschichte war. Aber in vielen anderen Fragen war er anderer Meinung als Marx und lehnte dessen Arbeitswerttheorie sowie die Vorstellung ab, die sozialistische Gesellschaft werde klassenlos sein.

Wir können also eine Linie ziehen, welche die ersten fünf in diesem Buch behandelten Autoren direkt miteinander verbindet und Mitte des 18. Jahrhunderts bei Quesnay beginnt und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Pareto endet. Der sechste Autor gehört nicht in diese Erblinie. Es verging vielleicht zu viel Zeit – ein Zeitraum, der zwei Weltkriege umspannte – zwischen Pareto und Simon Kuznets. Die Arbeit von Kuznets beruhte auf der empirischen Forschung, und er hatte wenig (oder fast gar nichts) mit Ricardo oder Marx gemein. Mit Pareto verband ihn wenig mehr als das Interesse für die interpersonale Ungleichheit (im Gegensatz zur Ungleichheit zwischen Klassen) und die Anwendung empirischer Methoden. Kuznets' Theorie der Einkommensverteilung war eine intuitive und induktive Theorie, die kaum auf die seiner Vorläufer in der Wirtschaftswissenschaft Bezug nahm. Es besteht nur eine lose Verbindung zwischen der für sein Werk grundlegenden Theorie von Modernisierung und Strukturwandel und den stadialen Entwicklungstheorien von Smith und Marx. Kuznets betrachtete die Entwicklung eher unter wirtschaftlichen als unter sozialen und politischen Gesichtspunkten.

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Verschiedene Stimmen, verschiedene Stile

Jeder der hier behandelten Autoren hatte auch einen ganz eigenen Schreibstil und nahm seine Themen auf seine ganz eigene Art in Angriff. Dieses Vorwort ist der geeignete Ort, um zu tun, was ich in den einzelnen Kapiteln nicht tue: Ich werde die verschiedenen Talente und Eigenarten miteinander vergleichen und einander gegenüberstellen.

Quesnays Stil ist unzugänglich, und seine zahlreichen numerischen Fehler erschweren die Lektüre zusätzlich. Es ist oft frustrierend für seine Leser, dass er Fragen aufwirft, die verlockend leicht zu beantworten scheinen – um die Antwort dann immer wieder mit komplexen numerischen Beispielen oder (aus heutiger Sicht) bizarren Abschweifungen hinauszuzögern. Man hat den Eindruck, eine attraktive intellektuelle Landschaft zu durchqueren, die Reise jedoch aufgrund zahlreicher Wiederholungen, Widersprüche, Fehler und Umschweife nicht genießen zu können. Grimm hatte den Eindruck, Quesnay schreibe absichtlich unklar: »Herr Quesnay ist nicht nur von Natur aus undurchschaubar, sondern er ist systematisch unklar und glaubt, die Wahrheit dürfe nie deutlich ausgesprochen werden.«15 Am Ende wird die Reise zur Mühsal. Ungewöhnliche Zusammenhänge zwischen Phänomenen und Fakten werden aufgedeckt, und einige von Quesnays Erkenntnissen sind außergewöhnlich weitblickend und modern – doch dann werden diese Erkenntnisse durch andere Aussagen »wettgemacht«, die überraschend altmodisch sind und direkt dem Reservoir überkommener idées reçues aus dem 18. Jahrhundert entnommen sind. Es ist leicht, sich in Quesnays labyrinthischem Werk zu verirren (und diese Erfahrung haben viele gemacht), während man sich durch ein Dickicht von technischen Fehlern kämpft, um die Argumentation nachzuvollziehen. Ich bin stets der Meinung gewesen, dass Quesnays Anziehungskraft auf eine eigentümliche Gruppe masochistischer Ökonomen beschränkt ist, die ein unwiderstehliches Bedürfnis haben, seine Fehler zu korrigieren. Im Bemühen, diesen komplizierten Mann und seine Schüler zu verstehen, kommen sie einmal einen Schritt vor29an, nur um im nächsten Moment wieder fast genauso weit zurückzufallen. Wenn sie ihr Ziel erreichen, so nur nach einer langjährigen, entbehrungsreichen Reise.

Adam Smith' Stil ist vollkommen anders. Der Gegensatz zwischen dem komplexen, brillanten und manchmal verwirrenden Denken Quesnays und der schneidenden, scharfsinnigen und sachlichen Analyse von Adam Smith ist verblüffend. Diese beiden Autoren waren die einzigen der sechs in diesem Buch individuell behandelten Denker, die einander persönlich begegneten, aber man fragt sich, wie sie miteinander kommunizieren konnten. Wie zuvor erwähnt, sprachen sie wahrscheinlich nicht allzu viel miteinander. Es ist oft behauptet worden, dass Smith seinen gewaltigen Einfluss auf die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nicht zuletzt seinem Talent als Schriftsteller verdankt. Selbst logische Fehler und widersprüchliche Aussagen entgehen dem Leser auf den ersten Blick. Zwar ist Der Wohlstand der Nationen schlecht organisiert und enthält einige ermüdende und repetitive Passagen (darunter ein sehr langes Kapitel über die Bodenrente in Buch I, eine langwierige Diskussion finanzieller Manipulationen in Buch II sowie ein Abschnitt von Buch IV, der den Details der britischen Zollbestimmungen gewidmet ist). Doch trotz der verbesserungswürdigen Organisation ist es ein im Großen und Ganzen sehr gut geschriebenes Buch, und es ist kein Zufall, dass Smith in ganz unterschiedlichen Kontexten so oft zitiert wird.16 Dies ist ein Beleg für sein stilistisches Können, für seine verblüffenden Analogien und für sein vielfältiges Wissen.

Die Vielzahl von Zitaten ausgewählter Stellen aus Der Wohlstand der Nationen geht jedoch zulasten des Verständnisses. Nicht selten wird ein Satz aus dem Buch mit einem bestimmten Ziel zitiert (das sich anscheinend vollkommen mit der Aussage des Satzes deckt); liest man den Satz jedoch im Kontext, so stellt man fest, dass Smith in Wahrheit etwas vollkommen anderes sagen wollte. Die Interpretation und Fehlinterpretation von Adam Smith und die Verwendung isolierter Zitate zur Bekräftigung des eigenen Standpunkts haben sich in ein Heimgewerbe verwandelt, und das begann schon kurze Zeit nach seinem Tod. 30Ich schlage mich in einigen Debatten auf eine Seite und erkläre, dass man zwischen Theorie der moralischen Gefühle und Der Wohlstand der Nationen nicht mit Blick auf ihre Entstehungszeit unterscheiden sollte, sondern mit Blick darauf, dass Smith mit diesen beiden Büchern unterschiedliche Ziele verfolgte und unterschiedliche Lesergruppen ansprechen wollte.17 (Ich behaupte nicht, dass dies eine originelle These ist. Es ist mittlerweile schwer, eine neue These über Adam Smith aufzustellen.) Und diese Frage ist nicht von rein antiquarischem Interesse: Sie hat erhebliche Auswirkungen darauf, wie wir Adam Smith als Ökonomen der Ungleichheit einschätzen.

Einen wieder ganz anderen Stil finden wir bei Ricardo. Hier haben wir es mit Mathematik zu tun, die ohne mathematische Symbole erklärt wird. Es ist ein karger Stil, das ursprüngliche Beispiel für das, was Schumpeter als »das ricardianische Laster« bezeichnete.18 Aber der trockene und leidenschaftslose Stil von Prinzipien der politischen Ökonomie und der Besteuerung weckt seit zwei Jahrhunderten Leidenschaften.19 Der Leser ist zugleich abgestoßen vom trockenen Stil und fasziniert von der logischen Geschlossenheit eines Textes, in dem die kalte Analyse (teilweise) bis zu einem eisigen Extrem getrieben wird. Während die Lektüre von Adam Smith überwiegend unterhaltsam ist und Quesnay seine Leser abwechselnd fasziniert und frustriert, würde niemand Ricardo als attraktiven Autor bezeichnen. Ricardo selbst hielt wenig von seinem Talent als Autor und Redner und schrieb an James Mill: »Die Komposition fällt mir schwer – es gelingt mir nicht, meine Gedanken in Worte zu fassen, und ein solches Maß an Unfähigkeit beobachte ich selten bei anderen.«20 Es ist schwer zu sagen, inwieweit er das tatsächlich glaubte und inwieweit es sich einfach um jene Art von Selbstironie handelte, die in britischen Briefwechseln aus dem 19. Jahrhundert oft zu beobachten ist. Ricardo bringt nur wenige historische Beispiele (excursi), und diese scheinen einfach der Veranschaulichung zu dienen, während sie kaum tiefschürfende Erkenntnisse über bestimmte Länder und ihre Geschichte enthalten. Der Kontrast zu Smith fällt auf, vor allem, wenn man bedenkt, dass Ricardos Interesse an der Ökonomie erwachte, während er The Wealth of Na31tions sorgfältig las und sich zahlreiche Notizen dazu machte. Smith' Kenntnis der weltwirtschaftlichen Zusammenhänge und sein Interesse für die aufgezeichnete Menschheitsgeschichte – von Rom über das Aztekenreich und China bis nach Schottland – unterschied ihn von Ricardo.

Beschränkt man sich jedoch auf das Thema, mit dem sich Ricardo beschäftigte, und folgt seiner Argumentation Satz für Satz, so erweist sich die Lektüre seines Buchs als sehr gewinnbringend. Ich möchte das berühmte Kapitel 31 (»Über Maschinerie«) hervorheben, in dem wir das beste Beispiel für Ricardos Denkweise finden: Das Thema ist umfangreich, die Argumentation ist knapp und leicht nachvollziehbar, und Ricardo gesteht aufrichtig, dass er seine frühere Überzeugung aufgegeben hat, die Einführung von Maschinen könne den Interessen der Arbeiter nicht schaden (Marx lobte ihn für seinen »guten Glauben«).21 In diesem Kapitel erfahren wir also einiges über die Person Ricardos, der nach Wissen strebte, wohin auch immer es ihn führen mochte, und über den bedeutenden Denker Ricardo.

Die numerischen Beispiele von Ricardo und Marx sind eine Geschichte für sich, was nicht zuletzt daran liegt, dass sie häufig Fraktile und das obsolete System von Pfund, Schilling und Pence verwendeten. Man fragt sich, wie viele Dissertationen dem Versuch gewidmet wurden, Sinn und Richtigkeit der numerischen Beispiele von Ricardo und Marx zu beurteilen. Diese Beispiele sind zweifellos zahlreich genug, um Forscher jahrelang zu beschäftigen. Viele von Marx' Beispielen enthalten Rechenfehler; einige korrigierte Engels, andere wurden erst ein Jahrhundert später von Übersetzern und Lektoren entdeckt. Einige seiner Fehler lösen immer noch Verwirrung aus, wie ich (nicht absichtlich, sondern gezwungenermaßen) beim Vergleich der Penguin-Ausgaben von Capital mit den sehr nützlichen, aber teilweise von Fehlern gespickten elektronischen Versionen von Marx' Schriften auf 〈Marxists.org〉 festgestellt habe. In Anbetracht der Tatsache, dass Marx' Werke beinahe den Status religiöser Schriften erlangt haben, wird auch über die Übersetzung zentraler Begriffe ins Englische und in andere Sprachen diskutiert. Obwohl die englischen Übersetzungen wichtiger 32Termini und Konzepte wie der Entfremdung (alienation), des Mehrwerts (surplus value) der primitiven Akkumulation (primitive accumulation, wenn auch in einigen Fällen»primary« accumulation) und des tendenziellen Falls der Profitrate mittlerweile vereinheitlicht sind, gibt es immer noch Unterschiede zwischen den Ausgaben. Da ich nicht Deutsch spreche, ist Marx der einzige hier untersuchte Autor, den ich nicht im Original gelesen habe; stattdessen habe ich mich auf eine Mischung von englischen, französischen und serbischen Übersetzungen gestützt. Zum Glück für die Wirtschaftswissenschaftler verursachen Marx' ökonomische Schriften weniger terminologische Probleme als die philosophischen. Beispielsweise stellt Martin Milligan seiner Übersetzung von Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 eine vierseitige Erläuterung seines Umgangs mit mehreren Schlüsselbegriffen voran und erklärt unter anderem, warum der englische Begriff estranged dem deutschen entfremdet näher kommt als die normalerweise verwendete Übersetzung alienated.22

Als Marx den ersten Band von Das Kapital verfasste, wollte er nicht nur ein Buch über politische Ökonomie oder auch (wie es im Untertitel heißt) eine Kritik der politischen Ökonomie schreiben, sondern ein Kunstwerk schaffen. Er erreichte dieses Ziel, indem er Philosophie, Literatur, Geschichte und Wirtschaftswissenschaft miteinander verschmolz. Dabei kam ihm seine umfassende Kenntnis der klassischen griechischen und römischen Philosophie und Literatur zugute. (In seiner Dissertation hatte er sich mit der Naturphilosophie Demokrits und Epikurs beschäftigt.) Außergewöhnlich ist seine Verwendung der Ironie; man sehe sich nur sein Urteil über Louis Napoleon an: »Als Fatalist lebt er in der Überzeugung, dass es gewisse höhere Mächte gibt, denen der Mensch und insbesondere der Soldat nicht widerstehen kann. Unter diese Mächte zählt er in erster Linie Zigarre und Champagner, kaltes Geflügel und Knoblauchswurst.«23 Sein leicht wiedererkennbarer Stil, der insbesondere in seinen politischen und historischen Schriften von Wiederholungen und Antithesen geprägt ist, ist brillant und eignet sich für Zitate – obwohl er möglicherweise zu oft darauf zurückgreift, weshalb sein Stil teilweise übermäßig formelhaft wirkt. 33Ein schönes Beispiel ist sein Spott über die britischen Liberalen des 19. Jahrhunderts: »So muss sich der Charakter der britischen Whigs schließlich als ein widerlich heterogenes Gemisch herausstellen: am Feudalismus Festhaltende, die gleichzeitig Malthusianer sind; der Profitwirtschaft Verschriebene mit feudalen Vorurteilen; Aristokraten ohne Ehrgefühl; Bourgeois ohne industrielle Betätigung; bornierte finality men, die fortschrittliche Phrasen im Munde führen; Anhänger des Fortschritts, die fanatisch konservativ sind; Reformer, die den Fortschritt in homöopathischer Dosierung verzapfen; Förderer des Nepotismus, Großmeister der Korruption, Heuchler in Dingen der Religion, Tartüffe in der Politik.«24

Doch nicht alle Leser sind von Marx' Stil begeistert, wie Benedetto Croces harsche (aber nicht vollkommen unangebrachte) Kritik am ersten Band von Das Kapital zeigt:

Zu beachten ist die sonderbare Zusammensetzung des Buchs, das eine Mischung von allgemeiner Theorie, bitterer Kontroverse und Satire sowie historischen Anschauungsbeispielen und Abschweifungen darstellt und so angeordnet ist, dass nur [Achille Loria, ein italienischer Ökonom, der für seine ungeordnete Prosa bekannt war] erklären kann, Das Kapital sei das beste und symmetrischste aller Bücher, obwohl es in Wahrheit unsymmetrisch, schlecht aufgebaut und maßlos aufgebläht ist, gegen alle Gesetze des guten Geschmacks verstößt und in Teilen Ähnlichkeit mit Vicos Scienza nuova hat. Sodann ist da die hegelsche Phraseologie, die Marx so sehr liebt, deren Überlieferung mittlerweile jedoch verloren ist und deren er sich selbst innerhalb der Tradition mit einer Freiheit bedient, die teilweise ein Element des Spotts zu enthalten scheint. Daher überrascht es nicht, dass Das Kapital abwechselnd als ökonomische Abhandlung, als Geschichtsphilosophie, als Sammlung soziologischer Gesetze […] als moralischer und politischer Leitfaden und von manchen sogar als Erzählung betrachtet wird.25

34Der zweite und der dritte Band von Das Kapital wurden nie fertiggestellt und von Engels herausgegeben, der sich einer Methode bediente, die wir heute als Copy-and-paste bezeichnen würden. Es hat sowohl Vor- als auch Nachteile, dass diese Arbeiten unvollendet geblieben sind. Einige wichtige Teile (darunter die Auseinandersetzung mit dem tendenziellen Rückgang der Profitrate) sind offenkundig unvollständig. Teile des dritten Bandes sind lediglich lange Zitate aus endlosen Debatten in britischen Parlamentsausschüssen. Die Unvollständigkeit hat jedoch in einigen Teilen den Vorteil, dass wir sehen und bewundern können, wie ein brillanter Verstand auf dem Höhepunkt seiner Kraft und Inspiration arbeitete. Einige Passagen (dasselbe gilt auch für die Grundrisse) sind tatsächlich Rohdiamanten – ich bin überzeugt, dass Marx sie nie ein zweites Mal las oder redigierte. Anscheinend wurden sie so veröffentlicht, wie er sie an einem Stück und im Zustand der Inspiration in seinem vollgeräumten Zimmer in London oder an dem Tisch im British Museum, den er als sein Eigentum betrachtete, zu Papier gebracht hatte.

Marx' unstillbarer Wissensdurst, der alles von journalistischen Reportagen über Politik und Ökonomie bis zur Philosophie umfasste, hat wenig überraschend dazu geführt, dass tausende Menschen Millionen Arbeitsstunden damit verbracht haben, seine Schriften zu studieren, und einige haben seinem Werk ihr ganzes Leben gewidmet. (Und einige Menschen starben sogar für Marx oder seinetwegen – etwas, das über keinen der anderen in diesem Buch studierten Autoren gesagt werden kann.) In einem neueren Artikel über die Veröffentlichung neuer Bände der Gesamtausgabe spricht Heinz Kurz über die relativ geringe Produktivität des späten Marx, die er mit Marx' unerschöpflichem Lerneifer erklärt. Marx vertiefte sich nicht nur in die Literatur zu allen Teilen der sozialen Existenz des Menschen – und lernte sogar neue Sprachen wie Russisch –, sondern studierte auch Mathematik, Chemie (in hohem Alter), Geologie und andere Naturwissenschaften.26 Man gewinnt den Eindruck, dass er, wäre der Lauf der Welt im Jahr 1870 angehalten worden und hätte Marx zwei Jahrhunderte Zeit bekommen, um sie in diesem Zustand zu analysieren, 35die Aufgabe unmöglich hätte bewältigen können. Marx' Bestreben, das gesamte Wissen der Menschheit aufzusaugen, hinderte ihn an der Fertigstellung vieler seiner Schriften. Wäre er nicht zu unerwartetem Ruhm gelangt – den er der Tatsache verdankte, dass er nach der Oktoberrevolution nicht bloß zum Gründervater einer Republik oder einer Monarchie, sondern zum Gründervater einer neuen Gesellschaftsordnung wurde, die sich über den Erdball ausbreiten sollte –, so wären viele seiner Schriften verlorengegangen. (Beispielsweise wären seine Manuskripte aus dem Jahr 1844, die Grundrisse und der Großteil seiner Briefwechsel mit Ausnahme einige sehr spezialisierten Ausgaben wohl niemals in Buchform veröffentlicht worden.27