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Ein Coming-of-Age-Roman aus der morschen Welt der feinen Leute. Die junge Virginia reist mit ihrem alten Vater zu einer Preisverleihung, bei der das spanische Königspaar dabei sein wird. Preisträger ist Mr Kopp aus England, reich, exzentrisch, frivoler Studienfreund des Vaters und, wie dieser, ein berühmter Wissenschaftler am Ende seiner Karriere, wo alten Männern dicke Preise winken. Mit dabei: seine Frau, Sonya, die junge Frauen für eine beklagenswerte Laune der Natur hält. Und Bertrand. Sohn ? Künstler ? Total Verrückter, der Grand Hotels und öffentliche Feierstunden zum Schauplatz haarsträubender Auftritte macht ? Abstoßend und faszinierend für Virginia, deren Leben nach diesen Begegnungen für immer verändert sein wird.
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Seitenzahl: 149
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Xita Rubert
Roman
Aus dem Spanischen von Friederike von Criegern
BERENBERG
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Wir hatten uns ein wenig verspätet, aber dort erwarteten sie uns, Sonya und Andrew Kopp, wie angewurzelt an der Hoteltür und halb erfroren. Sie umschlang mit beiden Armen ihren Bauch und wärmte sich so unter ihrem Mantel; sie hatte wohl angenommen, vermute ich, dass auch der Norden der Halbinsel karibisch sein würde und nicht blau, violett, britisch wie sie selbst, wie Sonya Kopp.
Die Sonne war schon vor einer Weile untergegangen, ich hatte sie durch das Flugzeugfenster verschwinden sehen. Es war zwar noch nicht besonders spät, aber Februar, Dunkelheit und Nebel hatten sich verbündet, abschreckend, und die Laternen beleuchteten nicht die Gesichter der Kopps. Nur seine knochige Glatze. Ihr bleiches, kurzes Haar. Das Licht wurde von Weißem zurückgeworfen, von sonst nichts.
Und dennoch sah ich es gleich. Ich sah, auf welche Weise Sonya meine Gegenwart zur Kenntnis nahm, als wir aus dem Taxi stiegen und näherkamen. Sie sah mich an, ohne mich vollständig zu erfassen, als wären meine Umrisse nicht klar definiert, als wäre mein Körper durchscheinend und geisterhaft, als wäre ich entbehrlich für ihre selektive Wahrnehmung in jenem Moment, zu jener Zeit, mit den vom Himmel herabgesunkenen Wolken und den Laternen, die nur das Weiße beleuchteten. Andrew kam durch das Grau auf mich zugestürzt. Er umarmte mich. Währenddessen empfing Sonya zwei Küsschen von meinem Vater, ein bisschen wie eine Pflichtübung: Sie schien sie zu erdulden, diesen für ihre Verhältnisse wohl übertriebenen Körperkontakt. Während dieser Tage schien sie alles als Zumutung zu empfinden, selbst den Blickkontakt, wenn man mit ihr sprach, die schiere Anwesenheit anderer. Ich fragte mich, was sie für sich selbst getan hätte, aus freien Stücken, ohne hochgradiges Unwohlsein oder ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Was machte sie, wenn sie allein war, ohne Andrew, oder an hellen Sommertagen, wenn sich das eigene Leben vor aller Augen abspielt. Ich habe sie nie alleine getroffen, oder in einer anderen Jahreszeit als im Winter, und das war Teil des Problems.
Diese ersten Erinnerungen sollten keinen falschen Eindruck erwecken: Ich empfand Sonya gegenüber keinerlei Feindseligkeit. Im Gegenteil, ihre disziplinierte Haltung verlangte mir Respekt ab, hatte mich mein Vater doch dazu erzogen – abgerichtet –, immer freundlich zu sein: zu Unbekannten, zu fremdartigen und phantasmagorischen Wesen, vor denen mir graute, zu Schmarotzern. Außerdem tat Sonya gut daran, meinen Vater nicht zu umarmen, kaum seine Wangen zu berühren, als sie ihn küsste: Ich konnte mich nicht erinnern, wann er zuletzt geduscht hatte. Er hatte sich geweigert, es vor unserer Abfahrt zum Flughafen zu tun, und wie immer geltend gemacht, duschen schädige die Schutzschicht der Epidermis.
Ich hatte bemerkt die Epidermis sei doch die Schutzschicht der Haut, die äußere. Eine Antwort bekam ich nicht. Seinen Augen sah ich an, dass er wegen meiner Angewohnheit Mitleid mit mir hatte: ich duschte. Von Madrid aus waren wir, sauber und schmutzig, in den Norden Spaniens gereist – in eine Stadt, die ich nicht nennen werde –, um uns dort mit den Kopps zu treffen.
»Sonya, Darling, das ist Virginia. Juans Tochter. Endlich lernt ihr euch kennen.«
»Virginia«, wiederholte Sonya in Andrews Tonfall, sie weigerte sich, meinen Namen in ihr Repertoire spanischer Wörter aufzunehmen. »Was für eine Freude, hallo.«
Sie sah mir nicht in die Augen, denn sie musterte mein Haar, meine leicht ausgeschnittene Bluse, meine Jeans mit Schlag, die in der Taille drückte und einschnitt; meine Hüften waren merklich gewachsen, ich quetschte sie aber weiter in Kleider, die nicht mehr meine Größe hatten. Ich war siebzehn Jahre alt und all meine Schulfreundinnen machten das Gleiche, wir trugen dieselben Sachen wie mit fünfzehn. Später, in derselben Nacht, dachte ich darüber nach, was ihr unverhohlenes Mustern meiner Aufmachung zu bedeuten hatte, wo mich Sonya doch wenige Augenblicke zuvor noch aufs Schönste ignoriert hatte. Sie betrachtete mich, als sie es dann tat, als wäre ich ein einziger Fehler, und nicht nur eine Jugendliche, die für eine Reise unpassend und unbequem gekleidet war. Als könnte ich eine Katastrophe auslösen oder als wäre meine Existenz an sich – von der sie zweifellos vorher schon Kenntnis genommen hatte, auch wenn sie das Gegenteil vorgab – eine große Gefahr.
Eine Gefahr für wen? Sonya, manchmal denke und schreibe ich nur für dich, und nicht über dich oder über das, was an jenen Tagen geschah, die ich mit euch verbrachte, den Kopps. Sogar euren Nachnamen habe ich verändert, nicht etwa damit euch niemand findet, sondern um selbst widersprüchliche Bilder und widerstreitende Gefühle loszuwerden – vergebens. Ich werde mich immer an das Geschehene erinnern – und es verfälschen. Zum Teil, um mich selbst zu bestrafen, und zum Teil, weil mich die Wahrheit nicht wirklich interessiert: Die Wahrheit zu wollen, das hieße die Niederlage anzuerkennen, mich daran zu erinnern, dass ich kämpfte, verlor und vorgab, es nicht zu merken. Weder die Wahrheit noch die Erinnerung. Ich würde dich allerdings gerne wiedersehen. Und dich, wie es dein Sohn, der Bildhauer, machen würde, mit Gips überziehen. Der Rest würde sich bewegen und weiterkommen wie menschliche Wesen, nicht wie Statuen, aber ich halte mich lieber an dich: weiß, unbeweglich, feindlich.
Bis dahin hatte ich Sonyas Feindseligkeit – als reifer Ernst, senile Ungerührtheit verkleidet – nur bei einigen Männern erlebt. Bei Männern, für die ein einziges Wort, eine Bewegung oder eine Entscheidung von mir unumkehrbare Folgen gehabt hätte, Kummer und Schmerz, die ich, jung und schlüpfrig, nicht mehr erleben würde, auch wenn ich sie »provoziert« hätte. Als wäre nicht jeder Mann selbst dafür verantwortlich, worauf er seine Hoffnungen setzt, welchem frivolen und kindlichen Wesen er sein Herz schenkt, welche Projektionen und Phantasien er hegt, verbirgt, und als hätte er dann, wenn das Ereignis oder die vorgestellte Geliebte sich als Schimäre herausstellen, das Recht, jemand anderen als sich selbst zu beschuldigen – zu bestrafen. Als wäre es die Schuld der Träume und der Kinder, dich flüchtig umarmt zu haben und das Weite zu suchen.
Vielleicht war Andrew Kopp einer dieser Männer. Mit gerade mal siebzehn Jahren war es für mich bereits notwendig geworden, die erwachsenen Männer in generische Subtypen einzuteilen, eine mehr der Erforschung denn der Berührung würdige Spezies; sie zu manipulieren, das war möglich, denn das kann man von Weitem tun, in aller Unschuld, mit dem Geist, mit dem Blick, der vorgibt, unschuldig, unwissend, rein zu sein. Fast alle Freunde meines Vaters gehörten, ganz klar, zu »diesen Männern«. Mit seinen winzigen, unter Fältchen und Lidern versunkenen Augen, die hinter Brillengläsern versteckt waren, die sie noch winziger wirken ließen, sah mich Andrew ehrlich verwundert an, als wäre ich von einem anderen Stern, oder als hätte er erwartet, wieder auf das zehnjährige Mädchen zu treffen, das er zuletzt in Madrid gesehen hatte, oder als wäre die körperliche Entwicklung der menschlichen Spezies – und der menschlichen Frau – etwas Unerhörtes: ein Wunder und wie jedes Wunder unerträglich. Er kommentierte etwas von wegen meine »überraschende Erscheinung«; zwar erinnere ich mich nicht mehr, was genau, aber ich muss mich so geschämt haben, dass ich den Wortlaut ausgeblendet habe. Sonya tätschelte ihm nervös den Rücken, lachte und bat ihn, »das arme Mädchen« loszulassen.
»Sie ist doch gar kein Mädchen mehr! Sieh sie dir an!«
Andrews Beharren war ein bisschen lächerlich, und Papá lachte – wie ich – über das Lächerliche. Mehr noch, ich verspürte auch eine gewisse Freude. Was für eine überschwängliche Begrüßung in dieser leergefegten, kalten Gasse: Überraschende Gegensätze amüsierten uns auch. Und selbst wenn es wohl stimmt, dass mein Vater einige perverse Freunde hatte – vor allem die »humanistischen« Akademiker und die Ärzte in »humanitären« Missionen –, war Andrew nicht hundertprozentig einer davon, und es wäre ungerecht, ihn so darzustellen. Andrew war eine Mischung aus verschiedenen Dingen, und wenn sein Verhalten auch merkwürdig und unvorhersehbar war, so war es doch auch harmlos. Er hatte österreichische Wurzeln, war aber aus irgendeinem Grund – sein Vater war Diplomat, meine ich mich zu erinnern, aber vielleicht ist es eine erfundene Erinnerung – in Ägypten aufgewachsen. Ein extravaganter Herr, und nach vielen Jahren in England englischer als jeder Engländer. Genauer gesagt besaß Andrew alle Qualitäten der Briten ohne jenes viktorianische Gebaren, das sie zu steifen, unterdrückten Wesen macht. Sonya war selbstverständlich Engländerin, bestätigte allerdings keines dieser Vorurteile.
Nach ein bisschen Smalltalk in der Empfangshalle des Hotels zogen wir uns zurück, die Kopps und wir. Die Begegnung mit Sonya hatte mir nicht behagt, ich bekam ihren kurzen Schopf und ihre Augen, bleich wie dieser, nicht aus dem Kopf. Als wir uns im Zimmer eingerichtet hatten, fragte ich meinen Vater und hoffte, er würde mir von ihr erzählen. Aber er redete von Andrew, und ich mochte nicht nachhaken.
»Wir kennen uns aus Wiener Zeiten, du warst noch nicht geboren, ich hatte noch nicht einmal deine Mutter kennengelernt. Andrew hat ja damals auch an der Uni unterrichtet. Das war so Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger. Er konnte seine Kollegen nicht ausstehen, und wie du dir vorstellen kannst, passte ich auch nicht recht in mein Institut. Wir lernten uns aber nicht auf den Fluren der Uni kennen, sondern abseits des Campus in einer Cafeteria, wohin wir gingen, um zu arbeiten, denn wir beide machten um unsere Büros am liebsten einen weiten Bogen. Die Cafeteria war voller Schnitzel essender Schulkinder, dazwischen er und ich. Ich erinnere mich noch an das Hämmern der Schnitzelklopfer auf das Fleisch, die man aus der Küche hörte, bumm, bumm, bumm. Und wie sehr wir die Gesellschaft der dreizehn, vierzehn, fünfzehn Jahre alten Jungs genossen, die so ganz anders waren als die prätentiösen Studenten, die unsere Kurse besuchten, und die Dinosaurier von Kollegen. Wie es im Gedicht von Guillén so schön heißt: ›En el cielo las estrellas / A mi entorno, los colegas; Am Himmel die Sterne / um mich herum die Kollegen.‹ Diese Cafeteria war unser Refugium vor den Kollegen, und letztendlich ging es uns da großartig, uns beiden. Und ja, ich gebe freimütig zu, auch den jungen Österreicherinnen konnte man ohne weiteres stundenlang zusehen, sinnlich durchaus inspirierend …«
Er sah mich ohne Scham an, mit aufgerissenen Augen, sein freundlicher Mund unentschlossen, ob er lachen sollte oder nicht. Ich lachte zuerst. Mir gefiel diese Art, anstelle von langen und wohl überlegten Erklärungen Gedanken in Verse einzukapseln. Manchmal danebenzuliegen. Nicht immer das Korrekte, das Moralische, sondern das Unmittelbare zu sagen: das Empfundene, ohne Zensur. Ich teilte seine unverhohlene Freude. Mit ihm hatte ich immer Spaß, und darum hatte ich ihn auch zur Verleihung was weiß ich für eines Wissenschaftspreises begleitet, mit dem sie Andrew Kopp in Spanien auszeichnen würden. Oft fragte er mich, ob ich ihn zu dieser oder jener Zeremonie, Theateraufführung, Verleihung von irgendetwas begleiten würde, auch wenn die Veranstaltung von zweifelhaftem Interesse war. Dort traf er sich immer mit seinen Freunden, aber nachdem wir uns in den gesellschaftlichen Tanz aus unerwartetem Grüßen und Blicken voller Zuneigung geworfen hatten, saßen er und ich am Ende allein in irgendeinem Winkel und mieden die Gruppen, die sich mit dem Fortschreiten des Abends bildeten und wieder auflösten. Ich weiß, dass er mich manchmal benutzte, um nicht in einem Grüppchen von »Kollegen« zu enden; dass es ihm sogar gefiel, dass sie mich für seine blutjunge Freundin hielten, als mein Körper sich zu entfalten begann; aber ich bin sicher, dass nichts von dem Unüblichen oder Merkwürdigen wichtig ist, ich habe die Macht, ihn zu entschuldigen, mich beim Erinnern doppelt zu amüsieren. Trotz allem, was danach kam – als die Krankheit das Merkwürdige, das Ungewöhnliche meines Lebens mit ihm verschärfte –, wusste ich doch immer, dass mein Vater mich bis zur Sonne liebte, nicht bis zum Mond, grenzenlos und ohne Wiederkehr; dass ich ihm so sehr gefiel wie er mir; dass seine tumben, später kranken Marotten unsere reine Freundschaft nicht auslöschen, nicht entwerten würden. Einem Freund verzeiht man, dass er einem nicht das Schwimmen beibringt, wenn er doch das Schiff ist. Ein versunkenes Schiff, das noch mit dem Mund voller Wasser lacht.
Wir sahen bis spät fern. Wir spielten Zappen und schalteten uns durch alle Nachrichtensendungen, um die Kleider der Sprecherinnen von eins bis zehn zu bewerten. Ich erinnere mich noch an seine zwischen feministisch und vulgär oszillierenden Kommentare, Lob und Beleidigung waren aus seinem Mund ein und derselbe Satz. Ich weiß nicht, wer zuerst eingeschlafen ist, bestimmt ich.
Am Morgen war der Fernseher noch immer eingeschaltet, aber es lief ein lokaler Radiosender ohne Bild, was bestätigte, dass er noch wach geblieben und später beim Zappen eingeschlafen war. Als mir bewusst wurde, dass ich in einem Hotelzimmer aufgewacht war und nicht zu Hause in Madrid, merkte ich, dass mich das mechanische Geräusch von Sirenen geweckt hatte. Es kam von dem Radiosender, aber wenn ich die Ohren spitzte, tönte das Tatütata-Tatütata auch durchs Fenster, wie ein Echo von der Straße. Ich stand langsam auf, bedacht, meinen Vater nicht zu wecken. Ich ging zum Fernseher und stellte ihn ganz leise. Anscheinend hatte sich genau an der Kreuzung vor unserem Hotel auf der Hauptstraße ein Unfall ereignet. Der einzig darin Verwickelte und Betroffene sei »ein Mann mit eingeschränkten geistigen Fähigkeiten«. Er war in einem Spalt von nur wenigen Zentimetern zwischen zwei parkenden Autos eingeklemmt und stecke dort, wie der Mann selbst erklärte, »bereits den ganzen Morgen fest«.
»Mehr noch, der Mann betont, niemand habe versucht ihn zu überfahren, er sei ›Urheber und Opfer seines eigenen Unfalls‹.«
Diese Beschreibung, die, wie aus dem Zögern der Sprecherin zu schließen, sie wohl ablas, ohne ihr Erstaunen zu verbergen, hatte die irreale Logik von Träumen, viel mehr als die von reellen Dingen und wachen Lebewesen. Ich stand auf, ging zum Fenster, zog die dunklen Vorhänge auf und es wurde mit einem Mal hell in unserem Zimmer. Ich betrachtete das Gesicht meines Vaters: Die Sonne beleuchtete die Furchen und Plissees seiner Haut. Aber weder das Sonnenlicht noch das Geräusch der Sirenen konnten ihn wecken: Also zog ich die Jalousien hoch und öffnete das Fenster sperrangelweit.
Die Straßenecke konnte ich kaum erkennen, nur wenn ich mich mit dem gesamten Oberkörper aus dem Fenster lehnte und fast riskierte hinauszufallen, mich selbst in einen Urheber und Opfer meines eigenen Unfalls zu verwandeln Dieser Ausdruck, dieser Gedanke würde mich heute begleiten. Auf Zehenspitzen, mit gerecktem Hals und fest an den Fenstersims geklammert betrachtete ich aufmerksam die Leute da unten. Zwischen anderen Schaulustigen entdeckte ich zwei lange, elegante Gestalten, Andrew und Sonya. Langsam, richtungslos. Sonya in einem rosafarbenen Morgenmantel, ihre Beine waren nackt und an den Füßen trug sie die gleichen Lederstiefel wie am Abend zuvor. Andrew wirkte wie ein verwirrtes Hühnchen, ein orientierungsloses Küken, wie er da in den hoteleigenen Bademantel gewickelt stand: Auf einer Tasche blitzte das goldene C, das auch die Fassade des Gebäudes zierte. Was machten sie da, zwischen zudringlichen Passanten, Polizisten und – so sah es für mich aus – medizinischem Personal? Letztere versuchten den anscheinend überfahrenen Mann davon zu überzeugen, sich ins Hotel zu begeben oder in den Krankenwagen, um ihn irgendeiner Untersuchung zu unterziehen. Die betroffene Person konnte ich nicht sehen, er wurde von den Leuten verdeckt, die versuchten, mit ihm zu sprechen, und ich konnte mich unmöglich noch weiter hinauslehnen, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen.
Sonya war eine Frau Doktor, erinnerte ich mich. Nicht Doktor der Philosophie oder Geschichte – wie mein Vater oder Andrew –, sondern eine richtige. Sie wird den Aufruhr draußen gehört haben und rausgegangen sein, mit ihrem Mann, um ihre Hilfe anzubieten. Ich wartete ab, beobachtete die Szene. Und stellte fest, dass sich die Kopps tatsächlich langsam von dem Tumult entfernten. Ich sah Verzweiflung, sogar Entsetzen in Sonyas Gesicht: Ich sage nicht Verwirrung, denn verwirrt wirkte sie nicht. Ihr Gesichtsausdruck sagte, dass sie ganz genau wusste, was da passierte, aber dennoch nicht handeln konnte. Sie trug weiterhin die Maske der Gleichgültigkeit, aber ihre Haltung zeigte, wie sie darum kämpfte, ihre Anteilnahme am Geschehen unter Kontrolle zu behalten, auch wenn es ihr eigentlich fremd war. Ich wollte meinen Vater wecken, damit er mir beim Verstehen helfe – wenn ich von der Geschichte weggehe und diesen Satz anschaue, kann ich sagen, dass er meine Kindheit zusammenfasst –, aber er schlief nachts nur mit einer Überdosis Lorazepam, weshalb er, wenn er schließlich aufwachte, noch mindestens eine Stunde groggy war: Vor Mittag funktionierte er nicht. Bevor ich mich entschied, das eine oder das andere zu tun, hörte ich das irre Lachen des Mannes: Er steckte immer noch bewegungslos zwischen den beiden Autos, obwohl ihn nichts daran hinderte, den Spalt zu verlassen, wenn er nur mit sich selbst und den Rettungskräften kooperierte. Ich sah ihn nur von hinten, aber daran, dass die Schreie von diesem verrückten, eigensinnigen Körper ausgingen, bestand kein Zweifel. Andrew sagte etwas zu Sonya und ging ins Hotel. Sie blieb wie angewurzelt stehen, mit dem Rücken zur Menschenmenge. Wahrscheinlich war es mehr ein Instinkt als eine konkrete Absicht: Ich zog meine Schuhe an und den Mantel über den Schlafanzug, verließ das Zimmer und rannte die Treppen hinunter.
»Virginia!«
Es war Andrews Stimme. Ich blieb auf der ersten Stufe stehen. Er war gerade mit dem Aufzug in unserer Etage angekommen.
»Virginia, ist dein Vater wach?«
Ich schüttelte den Kopf, und Andrew dachte ein paar Sekunden nach, obwohl er mich dabei unverwandt anschaute, als würde es ihn nicht ablenken, sich mit einem Objekt der Außenwelt abzugeben, wenn eigentlich Konzentration auf das Innerste angezeigt ist; oder als würde meine Erscheinung ihn einen Tag später immer noch beeindrucken und lähmen. Oder als wüsste er tatsächlich nicht, was tun, und ich, das externe Objekt, könnte die Antwort haben.
»Sag mal, was ist da draußen los?«, fragte ich, weil er weiter schwieg.