Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache - Jürgen Lang - E-Book

Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache E-Book

Jürgen Lang

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Beschreibung

Deutsche Sprache, schwere Sprache. So heißt es im Volksmund und geschuldet soll das der verzwickten Grammatik mit ihren willkürlichen und undurchschaubaren Regeln sein. Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache erzählt eine andere Geschichte: Nicht die deutsche Sprache ist kompliziert und schwierig, sondern ihre Darstellung und Vermittlung. Immer mehr Regelungen sollen auf der Suche nach richtigen und falschen Formen die Sprache und ihre Grammatik abbilden, wie sie ist, doch einzig falsch sind viel zu oft nur die Vorschriften. Warum also wandert ein Wanderfalke, wenn er doch fliegen kann? Auf einem kurzweiligen Ausflug in die deutsche Sprache erfahren die Leser - die freilich keine Germanistik studiert haben müssen -, woher die deutsche Sprache kommt, warum sie manchmal chaotisch wirkt und wie sie wirklich funktioniert.

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Jürgen Lang

Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache

Copyright © Jürgen Lang. Alle Rechte vorbehalten.

Durchgesehene und ergänzte Ausgabe 2022.

ISBN 978-3-347-56151-9 | Paperback

ISBN 978-3-347-56154-0 | Hardcover

ISBN 978-3-347-56158-8 | E-Book

Veröffentlicht mit tredition GmbH (Druck und Distribution), Halenreie 40-44, 22359 Hamburg.

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist – in jeder Form und in Auszügen – ohne schriftliche Zustimmung des Autors unzulässig. Trotz sorgfältigen Lektorats können Tipp- und Druckfehler nicht ausgeschlossen werden.

Die Deutsche Nationalbibliothek DNB verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Die Veröffentlichung erfolgt im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung Impressumservice, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Warum das Deutsche

als schwer und schwierig gilt

aber weder schwer

noch schwierig ist

Für all diejenigen,

die sich in irgendeiner Form

für die deutsche Sprache interessieren.

Und für all diejenigen,

die sie in irgendeiner Form vermitteln.

deutsch.

Wortart: Adverb.

Worttrennung: deutsch.

Betonung: deutsch.

Aussprache: [dɔɪ̯ʧ].

Mittelhochdeutsch: diutisch, diutsch, tiutsch, tiusch.

Mittelniederdeutsch: dǖdesch, dǖtsch.

Althochdeutsch: diutisc, thiutisk.

Bedeutung: Deutschland, die Bevölkerung sowie die Sprache der Bevölkerung des Sprachraums betreffend.

Sprache.

Wortart: Substantiv.

Genus: Femininum.

Genitiv: der Sprache.

Plural: Sprachen.

Worttrennung: Spra-che.

Betonung: Sprache.

Aussprache: [ˈʃpʀaːχə].

Mittelhochdeutsch: sprāche.

Mittelniederdeutsch: sprāke.

Althochdeutsch: sprahha.

Germanisch: sprēkō, sprēki-.

Abstraktum von sprechen.

Nomen agentis: Sprecher.

Bedeutung: Ausdrucksform, Verständigungsmittel.

Der Autor empfängt seine Leserinnen und Leser

Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache ist ein Buch für alle, die nicht nur wissen möchten, wie etwas gesagt oder geschrieben wird, sondern sich auch für das Warum hinter den jeweiligen Regeln interessieren. Um dieses Buch über die deutsche Sprache verstehen und die Erklärungen und Beschreibungen nachvollziehen zu können, muss aber keine Leserin und kein Leser mindestens einen Deutschleistungskurs belegt oder gar Germanistik studiert haben.

Das Buch ist nicht als vollständige Grammatik zu sehen. Ich beschreibe und erkläre zwar die Gesetzmäßigkeiten, aber nur die wichtigsten und die auch nur so weit wie nötig. Insbesondere ist zu beachten, dass ich

♦ bei regelmäßig sowie systematisch wiederkehrenden Wortformen auf ständige Wiederholungen verzichte,

♦ ellenlange Listen mit Wörtern und Wortformen in den Anhang verschiebe,

♦ angeführte Beispiele bewusst einfach halte, damit die Grammatik der Wortformen hervorgehoben wird,

♦ bei der Rechtschreibung nicht durchgängig den Regelungen des amtlichen Regelwerks folge und

♦ angeführte Zitate stets im Original und Deutsch ihrer Zeit ohne die Anmerkung [sic] für „sīc erat scriptum ⇆ so stand es geschrieben“ wiedergebe.

Die Bezeichnungen Altdeutsch und Mitteldeutsch verwende ich als Oberbegriffe, wenn eine genauere Unterscheidung in die altnieder- und althochdeutsche beziehungsweise mittelnieder- und mittelhochdeutsche Sprache in der jeweiligen Verwendung unerheblich oder der gesamte Sprachraum gemeint ist.

Da die Wörter aus der indogermanischen Sprache oder den germanischen Sprachen regelmäßig und die der altdeutschen Sprache teils rekonstruiert sind, werden sie in der Sprachwissenschaft mit einem Stern gekennzeichnet. Im Buch verzichte ich allerdings auf die Markierung dieser Wörter, da deren Rekonstruktion jetzt ja bekannt ist.

Fragezeichen plus Stern am Satzanfang stehen für einen im Sinne der Grammatik unklaren, zwei Sterne für einen falschen Satz. Zwei Sterne vor einem Wort stehen wie ein doppelt durchgestrichenes Wort für eine falsche Wortform.

?* Das Mädchen spielt mit ihrem Zopf.

** Die Mädchen spielt mit ihrem Zopf.

Das Wort **zumindestens existiert vom im Deutschen nicht.

In und mit meinem Buch zeige ich einen Weg zu einer einfachen, einfach vermittelbaren und verständlichen deutschen Sprache, die Überlegungen und Empfehlungen sind aber weder Missionierung, noch – frei nach Goethe – dazu da, damit man wisse, dass der Autor etwas weiß. Jedermann ist es unbenommen, Besseres zu bieten.

Jedem Worte klingt

Der Ursprung nach, wo es sich her bedingt.

Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Der Tragödie zweiter Teil

Auftakt

Ihre bestätigenden Seufzer sind quasi zu hören, wenn er in launiger Manier ausführt, dass es bestimmt keine andere Sprache gibt, die „so ungeordnet und unsystematisch“ ist. „Aufs Hilfloseste wird man in ihr hin und her geschwemmt, und wenn man glaubt, man habe endlich eine Regel zu fassen bekommen, die im tosenden Aufruhr der zehn Wortarten festen Boden zum Verschnaufen verspricht, blättert man um und liest: ‚Der Lernende merke sich die folgenden Ausnahmen‘.“

Die seufzenden Menschen sind die, die diese ungeordnete und unsystematische Sprache erlernen.

Der, der ihnen aus tiefster Seele spricht, ist Samuel Langhorne Clemens.

Und die ungeordnete sowie unsystematische Sprache ist die deutsche Sprache.

Samuel Langhorne Clemens lebte von 1835 bis 1910, war ein Schriftsteller aus den Vereinigten Staaten von Amerika und ist vermutlich besser bekannt als Mark Twain und für Mark Twain ist ein Durchschnittssatz in einer deutschen Zeitung eine erhabene und ehrfurchtsvolle Kuriosität.

„Ein Mensch, der nicht Deutsch gelernt hat, kann sich keine Vorstellungen davon machen, wie verwirrend diese Sprache ist“, schreibt er im Jahr 1880 über die Wirren und den Schrecken der deutschen Sprache in seinem amüsanten Essay »Die schreckliche deutsche Sprache«.

Bei seinen Bemühungen, die deutsche Sprache zu erlernen, stößt Mark Twain scheinbar auf so manche Widrigkeit. In der Folge hält er bei den Substantiven die Zuordnung der Artikel unbelebter Dinge für beliebig und unlogisch, bleiben ihm die vier Fälle des Kasussystems ein Rätsel, möchte er den Dativ gänzlich abschaffen, sind zusammengesetzte Substantive so lang, „dass man sie nur aus der Ferne ganz sehen kann“ und erscheinen ihm die Sätze endlos, in denen zu guter Letzt auch noch ein Teil des Verbs an das Satzende gestellt wird, das sich durchaus auch erst auf der nächsten Seite finden kann.

Wer die deutsche Sprache lernen möchte, sollte Twains Meinung nach so um die dreißig Jahre einplanen, und selbst das wird wohl nicht reichen: „Nur die Toten haben genügend Zeit, sie zu lernen.“

A person who has not studied German can form no idea of what a perplexing language it is […] for only the dead have time to learn it.

Mark Twain, The Awful German Language

Es ist schon bemerkenswert. Zum Ende des 19. Jahrhunderts beschreibt Mark Twain das, was heute als Mythos der zahlreichen Schwierigkeiten in der deutschen Grammatik – in der es laut Twain für zahllose Konstruktionen „mehr Ausnahmen von der Regel als Beispiele für sie gibt“ – weit verbreitet ist und sich recht hartnäckig hält.

Die geplagten, seufzenden Deutschlernenden werden jetzt fragen, wo da der Mythos ist.

Und jetzt ein Buch über die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache?

Nein, wir wollen der Sprache nicht die Quelle verschütten, aus der sie sich immer wieder erquickt, wir wollen kein Gesetzbuch machen, das eine starre Abgrenzung der Form und des Begriffs liefert, und die nie rastende Beweglichkeit der Sprache zu zerstören sucht.

Dieses Zitat stammt aus dem Jahr 1847 vom Sprach- und Literaturwissenschaftler Wilhelm Grimm, der sich – nicht nur – damit gegen jede normative Sprachauffassung wendet und auch später für eine möglichst wertungsfreie und nichtvorschreibende Sprachbeschreibung ausspricht.

Wir wollen die Sprache darstellen, wie sie sich selbst in dem Lauf von drei Jahrhunderten dargestellt hat, aber wir schöpfen nur aus denen, in welchen sie sich lebendig offenbart.

Schaue ich mir die heutigen Schulgrammatiken an – damit meine ich hier und folgend alle Grammatiken und Lehrbücher zur deutschen Sprache seit Mitte des 20. Jahrhunderts nebst den heute üblichen digitalen Angeboten –, muss ich feststellen, dass da über ein Jahrhundert hinweg so einige Dinge wohl doch eher arg schiefgelaufen sind.

Heutzutage tendieren die Verfasser der Schulgrammatiken generell dazu, Normen zu setzen und jede Abweichung von einer Norm für falsch zu erklären, auch wenn sie im Vorwort vielleicht das Gegenteil behaupten. Es sind Sammlungen von Vorschriften, wann und wo welches Wort zu stehen, wie eine Wortform zu lauten und wie sie sich in welchem Fall zu verändern hat, wie ein Wort auszusprechen oder wie es zu schreiben ist. Die Regeln werden zusammengetragen, teils gegenseitig übernommen oder abgeschrieben, und so geformt, wie sie nach den Vorstellungen der Verfasser und Herausgeber sein sollen. Vor dem Ab- und Vorschreiben oder Anwenden werden die Regeln aber nicht auf ihre Gültigkeit überprüft, sie wandern einfach so ins eigene Werk.

Mir stellt sich da die Frage, ob die Sprache nicht nur in ein Korsett aus scheinbar verbindlichen Vorschriften und Regeln gepackt wird.

Und was passiert mit den Wörtern und Wortformen, die nicht in das Regelkorsett passen? Sie werden kurzerhand zu einer Ausnahme von der Regel erklärt. Sie müssen sogar zu Ausnahmen werden, wenn die zugrundeliegende Regel auf einer Ad-hoc-Lösung basiert. Doch wie das Adverb ad hoc schon verrät, ist die Lösung nur zur Sache passend erstellt, kann dann aber auch nur zu diesem Zweck funktionieren. Einer Überprüfung zur Allgemeingültigkeit hält eine Ad-hoc-Lösung in der Regel nicht stand.

Da sich die Sprache ständig weiterentwickelt und damit auch die Vielzahl der Theorien über die Systeme und Modelle, scheitern die Schulgrammatiken letztlich an sich selbst: Sie können sich nicht aus ihrem eigenen Korsett der Regeln und Vorschriften befreien. Sie stecken fest und geben nicht nur die Flexibilität und Komplexität der Sprache nicht wieder, letztlich entstehen aus ihren Verbindlichkeiten und Regeln grammatische und grammatikalische Ungenauigkeiten und sogar Fehler. Problematisch ist, wenn dann auch noch mit Rechtschreibreformen sowie Reformen der Reformen diverse Regeln und Vorschriften für Schreibweisen erlassen werden, die mit den Regelmäßigkeiten der Grammatik nicht vereinbar sind. Regelrecht abenteuerlich wird es, wenn diese falschen Regeln von den Schulgrammatiken aufgegriffen und passend gemacht in ihr Vorschriftenkorsett gequetscht werden. Dann und dadurch wird die deutsche Sprache in der Tat schwer und schwierig gemacht – und als solche vermittelt.

Der Sprachforscher.Anatomieren magst du die Sprache, doch nur ihr Kadaver, Geist und Leben entschlüpft flüchtig dem groben Skalpell.

Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller, Xenien

Deshalb jetzt also ein Buch über die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache. Denn was passiert, wenn die Regeln aus den Schulgrammatiken erst überprüft und dann vermittelt werden? Wo findet sich eine starre Abgrenzung, wo eine nie rastende Beweglichkeit? Welche Aufgabe haben angesichts der Gestaltungs- und Differenzierungsmöglichkeiten sowie Funktionsweisen in der Grammatik die Satzglieder, welche die Wortarten? Wer bestimmt das Genus eines Substantivs und woher kommen die Kasuszuweisungen? Wie schwer und schwierig ist die deutsche Sprache also wirklich?

Mein erstes Ziel ist ein Bau- und Funktionsplan für ein einfaches und leicht verständliches Deutsch. Anstatt aber Vorschriften und Regeln aufzustellen, erkläre ich, wie die verschiedenen Bereiche der Grammatik aufgebaut sind, wie sie funktionieren und wie sie ineinandergreifen und sich bedingen. Treffe ich auf eine komplexe Konstruktion, die nicht allein mit einer Funktion oder Funktionsweise erklärt werden kann, begebe ich mich in die Tiefen der deutschen Sprache, wo sich so manches Rätsels Lösung findet. Erst dann zeigt sich, ob es überhaupt für jede Frage eine eindeutige Antwort gibt oder die Vielfalt der deutschen Sprache zu oft eine Alternative für eine Formulierung bietet – und ob die deutsche Sprache wirklich so schrecklich ist.

Führt mein Bau- und Funktionsplan zu einer Diskussion über ein Wort oder eine Wortform, habe ich mein zweites Ziel erreicht. Die Grammatik ist kein starres Gebilde, sondern regt zum Nachdenken über die Sprache an.

Natürlich gehe ich auch auf die Regeln in den Schulgrammatiken ein, vor allem, wenn sie unklar, fraglich oder offensichtlich falsch sind, durch Ausnahmen ihren Wirkungsbereich erweitern oder andere Regeln eingrenzen. Keine vorgegebene Regel wird einfach so akzeptiert, jede wird überprüft und muss in ihrer Allgemeingültigkeit bestätigt werden – sich also in allen Fällen als richtig erweisen. Stellt sich eine Regel als nicht allgemeingültig heraus, ist sie falsch und somit keine gültige Regel.

So, genug der Vorrede, es geht los.

Warum eine Sprache eine Grammatik hat

Ungeordnet und unsystematisch? Mehr Ausnahmen von der Regel als Beispiele für sie?

Es ist nicht einfach zu verstehen, was eine Sprache kompliziert macht oder schwierig werden lässt und wofür überhaupt eine Grammatik oder sonst ein Regelwerk benötigt wird. Das zeigt sich nicht nur, wenn heutzutage auf die Frage

Wie geht‘s?

mit einem knackigen

Muss!

geantwortet wird oder ein

Hau rein!

als anerkannte Formulierung für eine Verabschiedung akzeptiert wird.

Bei all denen, die gerade dabei sind, die deutsche Sprache zu lernen, führen solche Floskeln vermutlich zu einem hektischen Blättern in den Büchern, denn so etwas kommt in ihrem Deutschkurs oder -unterricht nicht vor.

Ein Muttersprachler zuckt bei einem solchen Dialog vielleicht innerlich zusammen, gänzlich unverständlich sind solche Ausrufe für ihn aber nicht. Das liegt auch daran, dass ein „Ganz gut“ oder „Geht so“ nicht viel inhaltsschwerer ist als ein „Muss!“ und ein „Machs gut“ oder „Tschö“ nicht viel bedeutungstragender als ein „Hau rein!“.

Ob ein Muttersprachler eine solche Formulierung auch erklären kann – oder überhaupt irgendeine –, steht auf einem ganz anderen Blatt. Die meisten werden sich aber überaus glücklich schätzen, so manche grammatische Konstruktion ihrer Sprache mit dem Aufwachsen sozusagen frei Haus mitgeliefert zu bekommen. Und sie sind noch viel glücklicher, wenn sie nicht in die Verlegenheit geraten, eine dieser Konstruktionen oder Konstellationen erklären zu sollen.

Immerhin ist die Grammatik mit ihren zahlreichen vermeintlichen Absurditäten für viele ein Schreckgespenst, das an die Schulzeit erinnert, als der gestrenge Deutschlehrer bei Sätzen wie

Der Bürgermeister gedenkt dem Spender.

Das Spiel fällt wegen schlechtem Wetter aus.

zur Bekundung seines Missfallens auf seine Schulgrammatik pochend mit vorwurfsvollem Blick den Kopf schüttelt, um bei

Der Bürgermeister gedenkt des Spenders.

Das Spiel fällt wegen schlechten Wetters aus.

anerkennend mit selbigem zu nicken. Schließlich finden sich in den Schulgrammatiken die Vorgaben „mit Genitiv“ zum Verb gedenken und „Präposition mit Genitiv, umgangssprachlich auch mit Dativ“ zur Präposition wegen. Und weil das so in den Schulgrammatiken steht, ist der eine Satz richtig und der andere falsch.

Für die Autoren und Verfasser der Schulgrammatiken ist wie für die meisten Deutschlehrer der Fall damit erledigt. Für diejenigen, die wissen möchten, warum in den Beispielsätzen der Genitiv stehen muss, jeder andere Kasus falsch sein soll und ob nicht doch ein anderer Kasus möglich ist, ist die Frage dagegen keineswegs zufriedenstellend beantwortet.

Die Zweifel an den geforderten Kasuszuweisungen sind nämlich durchaus berechtigt. Denn warum verlangt das für eine konkrete Tätigkeit stehende Verb gedenken einen abstrakten Kasus wie den Genitiv, obwohl – wie sich noch zeigen wird – der Kasus für Handlungen zu Gunsten einer Person der Dativ ist? Und klingt die Kontrollfrage

Wem gedenkt der Bürgermeister?

im Unterschied zu

Wessen gedenkt der Bürgermeister?

wirklich falsch? Bei der Präposition wegen ist die Forderung nach dem Genitiv ebenso wenig klar. Tritt der Dativ hier in Konkurrenz zum Genitiv oder umgekehrt? Wo kommt die Kasusforderung her?

In Anbetracht solcher Überlegungen sind die Kasuszuweisungen plötzlich nicht mehr so eindeutig und ist die Bezeichnung der Sätze als richtig oder falsch vielleicht doch etwas voreilig. Auffällig ist jedenfalls, dass der Dativ bei gedenken und wegen nicht vereinzelt oder regional beschränkt verwendet wird, sondern im Sprachalltag geläufig ist. Soll das aber wirklich ein Fehler sein, würde das heißen, dass ein Muttersprachler seine Muttersprache nicht beherrscht – was allerdings generell in Frage zu stellen ist.

Suche ich in den Schulgrammatiken nach einer Erklärung für die Kasuszuweisung, werde ich regelmäßig keine entsprechende Herleitung oder Erklärung finden. Viel mehr als die Vorgabe von Ist- und einigen Soll-Zuständen steht dort nicht, vielleicht noch der eine oder andere umgangssprachliche Ausnahmefall. Nun mag die Begründung „weil es geschrieben steht“ in der einen oder anderen Religion ausreichend sein, in der Grammatik ist sie es nicht. Und es ist verständlich, dass ein Schüler nicht gerade in eine Jubelarie verfällt, wenn die Korrektur eines vermeintlichen Fehlers von seinem Deutschlehrer mit nicht mehr als dem Pochen auf die Schulgrammatiken begründet wird.

Nun erhebt in keiner Sprache die Grammatik den Anspruch, durchgängig logisch fassbar zu sein. Deshalb sind die verständliche und nachvollziehbare Vermittlung der Systeme und deren jeweiliges Funktionieren beim Aufeinandertreffen und Ineinandergreifen umso wichtiger. Ohne rationale Argumente und sichere Herleitungen bleiben von einer Grammatik nur ellenlange Listen von Wörtern und Wortformen übrig, die als reiner Lernstoff stumpf auswendig zu lernen sind, was nicht gerade ein Anreiz ist, sich mit den Fragen der Grammatik zu beschäftigen.

Freilich kann ich es nur annehmen, aber so ergeht es vermutlich auch Mark Twain. Er verzweifelt – wie viele andere Deutschlernende – an einzelnen Regeln und Regelungen wie der Zuordnung der Substantive beim Genus oder grammatischen Geschlecht, den Wortformen beim Kasus, der Deklination der Adjektive, den neuen Wörtern aus Wortzusammensetzungen oder den Satzklammern. Das kann einerseits daran liegen, dass ihm bei der Suche nach den Formen nicht die richtigen Wege gezeigt und vermittelt wurden. Andererseits ist es natürlich möglich, dass die deutsche Grammatik in der Tat so kompliziert ist.

Da ich nur letzteres prüfen kann, werde ich etwas machen, was Muttersprachler nur sehr selten und in Ausnahmefällen tun: Ich schaue mir die Grammatik mit ihren Wortformen und deren Bildungen genauer an. Einen Punkt kann ich vorwegnehmen, hier liegt Mark Twain – aber bei weitem nicht nur er – aus meiner Sicht falsch. Es gibt im Deutschen nicht mehr Ausnahmen von einer Regel als Beispiele für sie und eine Regel wird auch nicht durch eine Ausnahme bestätigt, sondern widerlegt.

Finden sich zwei Wortformen, die nebeneinanderstehen oder nebeneinander stehen, ist nicht zwingend die eine für richtig und die andere für falsch zu erklären. Nicht der Gebrauch der Sprache unterliegt eng gefassten Regeln für richtig und falsch, sondern die Kriterien für das, was in den Schulgrammatiken als richtig und falsch gilt.

Meines Erachtens kann das Funktionieren der Sprache sowie deren Systeme nur aus dem Bewusstsein heraus beschrieben werden, dass sich die Sprache selbst entwickelt. Damit die Sprache eindeutig und einfach ist, müssen auch die Regelmäßigkeiten und Ordnungsprinzipien eindeutig und verständlich sein. Die syntaktischen Regeln beziehen sich auf größere zusammenhängende Einheiten, die semantischen und pragmatischen Regeln legen fest, ob ein Ausdruck sinnvoll ist beziehungsweise zu der jeweiligen Situation passt.

Die Untersuchung von Semantik, Syntax und Pragmatik kann sich komplex gestalten: Einerseits beziehen sie sich immer auf alle Elemente, aus denen Sätze aufgebaut sind, andererseits müssen alle einzelnen Elemente immer in der Gesamtheit gesehen werden. Da es auch dabei weniger um eindeutig richtige oder falsche Formen geht, steht am Ende meiner Erkundung ein verständlicher Sprachgebrauch mit einer maximal flexiblen und niemals einengenden Sicht auf die Möglichkeiten der deutschen Sprache.

Die Grammatik zwischen richtig und falsch

Das Ziel der Sprache ist die Kommunikation – das aufeinander bezogene Handeln von Personen oder die soziale Interaktion. Mit der Sprache teilt ein Mensch einem anderen Menschen etwas mit, er beschreibt die Welt, wie sie ist oder schafft eine virtuelle Wirklichkeit, er drückt sich aus und bringt seine Persönlichkeit ein.

Die Kommunikation zwischen den Menschen kann nur funktionieren, wenn der Gebrauch der Sprache eindeutig ist. Deshalb hat jede Sprache eine Reihe gemeinsamer Regeln: Die Grammatik, die laut dem Nachschlagewerk »Deutsches Wörterbuch« von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm „in engerem sinne die einer sprache zugrundeliegende formale struktur, die summe und das system der in ihr sich ausdrückenden und auswirkenden regeln, gesetze und ordnungsprinzipien; ebenso deren kenntnis und anwendung” ist.

Vier Systeme sind besonders von Bedeutung: Das phonologische System regelt die Laute und deren Verbindungen, das morphologische die Struktur der Wörter, das syntaktische die Satzstrukturen und das semantische System die Bedeutung der Wörter.

Zu beachten ist dabei, dass die Grammatik weder als ein einzelnes System oder als Summe von Systemen, noch in ihrer Gesamtheit die Sprache vorgibt, sondern die Sprache die Grammatik. Schließlich findet mit einer getätigten Aussage von der Sache her kein Grammatiktest statt, den ein Sprecher bestehen muss oder bei dem er durchfallen kann. Die Grammatik ist das Mittel, mit dem sich ein Sprecher ausdrückt und mit jedem Ausdruck legt der Sprecher zugleich die Grammatik fest. Etwas ganz anderes und davon zu unterscheiden ist ein falscher Sprachgebrauch, der jedem Sprecher jederzeit unterlaufen kann.

Jedes Kind auf der Welt lernt seine Muttersprache unbewusst in Form eines natürlichen und ungesteuerten Spracherwerbs ohne Leitfaden für richtig und falsch. Sagen die Eltern zum Beispiel der Gabel und die Messer, ist das auch für das Kind erst einmal richtig. Es verinnerlicht eine von den Normen der Sprachgemeinschaft abweichende und dazu konkurrierende Grammatik, die in den ersten Lebensjahren seine Sprache beherrscht.

Ein Problem hat das Kind erst dann damit, wenn es Kontakt zu anderen Kindern hat, die allesamt die Gabel und das Messer sagen. Zu einem ersten Eingreifen in seine Sprache wird es im Kindergarten oder in der Kindertagesstätte kommen, wo das Kind auf die Grammatiken der anderen Kinder und vor allem die Korrekturen der Betreuer trifft.

Bis zum Schulunterricht beherrschen die Kinder die meisten Regeln durch den ständigen Gebrauch der syntaktischen Formen, ohne allerdings je über deren Funktion nachzudenken. So sind ihnen die komplexen Zusammenhänge ihrer Sprache zunächst nicht in der Form klar, als dass ein einfaches Präsentieren der Regeln ausreicht. Das liegt einerseits an der Unübersichtlichkeit der Regeln und andererseits an den zahlreichen Modifikationen, die sie als Muttersprachler für sich vornehmen. Die Schule ist die erste Instanz, in der die Normen des häuslichen Sprachmilieus aufgebrochen und durch die der Standardgrammatik ersetzt werden.

An dem Punkt steigen die Nichtmuttersprachler als Lernende in der Regel in den Lernprozess einer Sprache ein. Sie lernen die Sprache von Anfang an bewusst und gesteuert: Wird im Deutschkurs oder -unterricht der Gabel oder die Messer gesagt, greift der Lehrer unverzüglich ein und korrigiert die Artikel. Als Nichtmuttersprachler hat man also den Vorteil, kein Vorwissen jenseits der Norm der Sprachgemeinschaft mitzubringen, aber den Nachteil, jedes Wort und jede Wortform lernen zu müssen.

Je nach gewählter Schulform und Lerneifer in der Schule kommt es immer wieder vor, dass ein Muttersprachler die Grammatik nicht vollständig beherrscht. Für den richtigen Gebrauch seiner Sprache muss er das auch nicht, die Sprache wird ihn im Idealfall dennoch nur dann vor ein grammatikalisches Rätsel stellen, wenn er sich deren Komplexität durch eine Unsicherheit bei einer bestimmten Formulierung bewusst oder auf einen Verstoß hingewiesen wird. Für den Nichtmuttersprachler ist der Vorgang vielschichtiger und diesen Punkt zu erreichen der Idealzustand.

Für beide – Muttersprachler wie Nichtmuttersprachler – bietet die Grammatik allerdings keine endgültige Sicherheit bei den Formen einer getätigten Aussage. Wer ist sich schon absolut sicher, welcher der beiden folgenden Sätze richtig oder falsch ist?

Inge tritt ihrem Partner beim Tanzen auf den Fuß.

Inge tritt ihren Partner beim Tanzen auf den Fuß.

Diese Unsicherheit bei der Wahl einer Form lässt sich beim Sprechen noch mehr oder weniger geschickt umgehen. So wird zum Beispiel vor Gericht bei Sätzen wie

Der Zeuge besteht auf sein Recht, nicht auszusagen.

Der Zeuge besteht auf seinem Recht, nicht auszusagen.

niemand die Gerichtsverhandlung unterbrechen, um zu überprüfen, ob hier ein Dativ oder ein Akkusativ stehen muss. Vielmehr werden alle Beteiligten zur Kenntnis nehmen, dass der Zeuge nicht aussagen möchte. Ein Problem hat allerdings der Gerichtsschreiber, er muss sich beim Schreiben des Protokolls entscheiden, ob er den Dativ oder den Akkusativ verwendet. Doch kann er mit einem Kasus falsch liegen? Die Auflösung folgt. Später.

In seinen Ausführungen über die deutsche Sprache beschwert sich Mark Twain auch über die Deklinationsform „meinem guten Freunde“. Gut 100 Jahre später heißt es in einer deutschen Ausgabe des Buches aber „meinem guten Freund“. Das -e am Freund ist wie selbstverständlich verschwunden. Nur entgeht dem Lektor der Neuauflage mit dem Streichen des Buchstabens e die Veränderung der Sprache und somit die in der Grammatik, so dass er durch seinen Eingriff das Original verfälscht und die Sprache unverständlich macht. Vielleicht weiß er auch nicht, dass bis in die 1950er Jahre die Substantive im Dativ regelmäßig auf -e enden. Wie immer es sich verhält, versteht der Leser von heute ohne das -e bei „meinem guten Freund“ nicht mehr, worüber Twain sich eigentlich beschwert.

Doch wer hat die Regel zum Dativ-e geändert und die Endung schwinden lassen? Wer stellt überhaupt die Regeln für den Folgekasus bei einem Verb oder einer Präposition auf?

Die Antwort mag kurios klingen: Keiner hat die Grammatik verändert! Alle haben die Grammatik verändert!

Die Sprache ändert sich nicht von selbst, sie wird verändert. Dieser Prozess läuft jeden Tag ununterbrochen ab und das seit nunmehr mehreren tausend Jahren. Und die, die ihn in Gang halten, sind die Muttersprachler. Sie bilden die Sprachgemeinschaft. Das Gebiet, in dem sie leben, ist – stets ohne Beachtung politischer Ländergrenzen – der Sprachraum.

Wir wohnen nicht in einem Land,sondern in einer Sprache.

Emile Cioran

Nun darf sich der Prozess der Sprachänderung nicht als ständiges Suchen und Finden von Mehrheiten für einen verbindlichen Beschluss vorgestellt werden, mit dem die Muttersprachler ihre Grammatik festlegen und neuschreiben. Vielmehr wird sich stillschweigend auf den Gebrauch bestimmter Formen geeinigt. Das bedeutet, dass die Festlegung auf eine richtige Form und eine falsche Form nichts anderes ist als eine etablierte Übereinkunft – eine Konvention – innerhalb der Sprachgemeinschaft. Die eine Form wird verwendet, eine andere fällt weg. Die Konventionen sind die vereinfachten Ausdrücke der empirisch erfassbaren Gebrauchsbedingungen, denen das Lexikon der Sprache als die Gesamtheit aller Wörter und Wortformen sowie die Syntax unterliegen.

Dabei und dafür befindet sich jede Sprache in einer ständigen Entwicklung. Für eben diese spielt es allerdings überhaupt keine Rolle, ob die Sprache von einem Nichtmuttersprachler erlernt wird oder nicht. Oder ob die Grammatik verstanden wird. Mark Twains Schwierigkeiten und Probleme beim Erlernen der deutschen Sprache und seine Kritik an selbiger in allen Ehren – der Sprache ist das alles egal. Das hat auch nichts mit einer einzelnen oder einer bestimmten Sprache zu tun, sondern trifft auf alle Sprachen zu. Jede Sprache und jeder Dialekt auf der Welt – das Verzeichnis »Ethnologue« listet über 7.000 Sprachen auf –, ist einzig und allein dazu da, um von einem Muttersprachler an den nächsten weitergegeben zu werden.

Folglich ist die Sprache immer die Gesamtheit dessen, was und wie die Muttersprachler sprechen und dessen, was die Muttersprachler bei anderen Sprechern als ihre Sprache akzeptieren. Hierbei ist der Sprachvorrat in der Regel deutlich größer als der Deckungsbereich und das Bilden von untergeordneten Schnittmengen möglich, aus denen sich etwa Varietäten oder Dialekte der Sprache bilden können.

Wer hat bei Begriffen wie Schnittmenge und Deckungsbereich jetzt auch unweigerlich an die Mengenlehre in der Mathematik gedacht? So abwegig ist der Gedanke gar nicht. Wenn

•  eine Menge 1 die Elemente a, x und z,

•  eine Menge 2 die Elemente b, y und z,

•  eine Menge 3 die Elemente c, y und z

enthält und so weiter und so fort, ist die Schnittmenge der Elemente der Deckungsbereich, die in jeder Menge enthalten ist und bilden die Übereinstimmungen kleinerer Mengen die Teilmengen. Das sieht dann so aus:

Alle Mengen zusammen bilden den Sprachvorrat, nur dass wir es bei der deutschen Sprache mit den Sprachvorräten von mehr als 100.000.000 Muttersprachlern zu tun haben. Der Schlüssel zur Ermittlung des Deckungsbereichs ist der Abgleich einer Wortform mit der Standardgrammatik. Ist die Form enthalten, ist ein Wort, eine Wortform oder ein Satz für uns richtig, und folglich falsch, wenn die Wortform nicht enthalten ist.

Wer jetzt meint, eine Wortform wie etwa die für einen Kasus ist von der Grammatik vorgeschrieben, der irrt. Und zwar gewaltig. Jede Änderung einer Form kommt entweder aus der Sprachgemeinschaft selbst oder vollzieht sich als Sprachwandel. Dieser ist mit dem Erscheinen eines neuen Baustils vergleichbar. Im Jahr 1560 werden am gotischen Kölner Dom die Bautätigkeiten auch deshalb eingestellt, weil die Architektur der Renaissance längst die der Gotik abgelöst hat und keiner mehr im gotischen Stil bauen möchte.

So ähnlich ergeht es der Grammatik. Sie ist viel weniger verbindlich, als manch einer meint oder zu wissen glaubt. Die sprachlichen Übereinkünfte sind größtenteils historisch geprägt, zumeist stabil und werden in der Regel beachtet. Sie sind aber in der Verwendung nicht starr. Einige Wörter ändern durch Anpassung, Umbildung oder ein Zusammenfallen mit einer weiteren Wortform ihre inhaltliche Bedeutung, andere verblassen und werden nicht mehr verwendet.

Wer heute albern ist, ist kindisch oder töricht, im Althochdeutschen aber freundlich oder wohlwollend. Einst steht ein englisch für engelhaft, ein Friedhof für einen Vorhof, ein gleichgültig für gleichwertig oder ein niederträchtig für eine geringe Höhe. Und von dem mittelhochdeutschen Verb sēren findet sich im Neuhochdeutschen nur noch die Bedeutung im Adjektiv unversehrt.

Eine Wortbedeutung kann auch schlichtweg falsch sein. Steht ein Baum oder ein Haus windschief, wird die schiefe Lage volksetymologisch gern auf den Wind bezogen. Der ist an jedem Schiefstehen eines Baumes oder Hauses aber gänzlich unschuldig, denn das Adjektiv geht auf das germanische Wort wenda zurück, was schief oder gewunden – von winden – bedeutet und sich ursprünglich nur auf Hölzer bezieht.

Ebenso ändern sich mit der Zeit die lautlichen Formen. Ein t, das im Germanischen am Wortanfang steht, wird im Deutschen zu ts oder z, ein tehun verändert sich in ein zehn. Ein germanisches t zwischen zwei Vokalen oder im Wortauslaut wird im Deutschen zu ss oder ß – beita verändert sich zu beißen und watar zu Wasser. Im Englischen verändert sich der Laut am Wortanfang oder im Wortauslaut dagegen nicht, hier steht das germanische t nach wie vor in den Wörtern ten, bite oder water.

Auf diese Weise entsteht durch eine Lautverschiebung ein Dialekt oder auch eine neue Sprache. Breitet sich die Änderung nicht über die gesamte Sprachgemeinschaft aus, bildet sich eine Varietät – ein Dialekt. Mit einer neuen Sprachgemeinschaft wird aus einem Dialekt eine neue Sprache. Beispiele hierfür sind das Französische und das Italienische, die aus der lateinischen Sprache der Spätantike entstehen. Löst sich eine Sprachgemeinschaft auf, geht ihre Sprache unter, wie zum Beispiel das Gallische, Gotische oder Lateinische.

Eine Änderung aus der Sprachgemeinschaft heraus wird – meist unbewusst – von gesellschaftlichen Gruppen oder einzelnen Personen eingebracht. Martin Luther zum Beispiel prägt mit seiner Übersetzung der Bibel für Jahrhunderte die deutsche Sprache, gleiches gilt für die Dichter und Denker der Weimarer Klassik. Im Mittelalter schaffen die Kanzleisprachen zahlreiche neue Wörter und überregionale Ausgleichsformen, heute wirken die Medienmachenden und Medienschaffenden auf die Sprache ein. Ähnlich verhält es sich bei Änderungen der Sprache aus politischen oder kommerziellen Interessen. Das ganze System kann durchaus als Lobbyarbeit zur Verfolgung von eigenen und gemeinsamen Zielen gesehen werden.

Die Sprache ändert sich zudem mit dem gesellschaftlichen Wandel. Aus Parolen werden Tabuwörter, aus ursprünglich neutralen Benennungen für Völker, ethnische Zugehörigkeiten oder gesellschaftliche Stände aufgrund von ideologischen Urteilen über deren Stellung in der Gesellschaft verächtliche Bezeichnungen. Wörter wie Neger oder Zigeuner gelten heute regelrecht als verbraucht und werden nicht mehr verwendet, weil sie den jeweiligen Personenkreis diskriminieren.

Allerdings ist der Umgang mit politisch kritischen Wörtern ein Thema, bei dem die Sensibilität meist nur ausgewählt zum Einsatz kommt. Im Jahr 1941 hat die Autorin Astrid Lindgren kein Problem, wenn ihre Kinderbuchfigur Pippi Langstrumpf im gleichnamigen Buch sagt, sie sei eine Negerprinzessin und ihr Vater ein König über alle Neger auf einer Südseeinsel. Das Problem hat der Verlag sechzig Jahre später und so ist in der Neuauflage Pippi Langstrumpfs Vater nur noch ein König auf einer Südseeinsel und sie eine Südseeprinzessin. In Victor Hugos Roman »Der Glöckner von Notre-Dame« ist die Tänzerin Esmeralda dagegen auflagenübergreifend eine schöne Zigeunerin.

Ob jemand seine Ideen in die Sprachgemeinschaft einbringen darf, muss niemand fragen. Wer meint, die leidige Diskussion um das wegen mit Genitiv oder wegen mit Dativ durch ein wegen mit Akkusativ beenden zu können, kann das gern versuchen.

Das Abweichen vom dem, was als sprachüblich gilt, kann über die Laute oder die Formen der Wortbildung auf der Wort-, Satz- oder Textebene stattfinden. Die Sprachgemeinschaft prüft die Abweichung und wenn die Mehrheit die neue Form nutzt, steht sie als Beleg des Sprachwandels bald in den Schulgrammatiken. Entsprechend verschwindet sie wieder, wenn die Sprachgemeinschaft die Form nicht akzeptiert.

Dabei ist die Sprache keine Demokratie, in der die Minderheit die Entscheidung der Mehrheit akzeptieren muss. Die Formen, die sich durchsetzen, erhalten den Status der unverbindlichen Regel. Durch diese Regeln ist die Sprache einerseits einheitlich und verständlich, andererseits muss die Regel für die Form nicht befolgt werden.

Findet die Sprachgemeinschaft zu einer Form keine Übereinkunft, gibt es auch keine Regel. So schwindet bis in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts im Deutschen das h im th am Wortanfang, aus Thun wird Tun und aus That wird Tat. Zum Ende des Jahrhunderts ist das h gänzlich getilgt. Heute haben manche Deutsche sogar ein Problem mit der korrekten Aussprache des th im Englischen, wo es prächtig gedeiht. Genauso verhält es sich beim Dativ-e. Es entsteht im Niederdeutschen und wird später vom gesamten Sprachraum übernommen. Der generelle Schwund des Vokals e in den Endsilben ist nur ein Grund, warum das e im Dativ wieder schwindet. Im Gegensatz zum th verschwindet es aber nicht, in festen Ausdrücken wie

Das Kind mit dem Bade ausschütten.

oder

Im Laufe der Zeit.

bleibt es erhalten, in einigen ostmitteldeutschen Dialekten bis heute. Eine neue Form ersetzt also eine alte nicht von heute auf morgen, beide Formen bestehen in der Regel einige Zeit nebeneinander. Während sich die eine Form durchsetzt und zum Standard wird, ist der Gebrauch der anderen Form natürlich nicht falsch. In seltenen Fällen können zwei Formen auch nebeneinanderstehen, ohne dass sich eine durchsetzt.

Und was ist dann die Umgangssprache? Eine Wortform oder Verwendung ist laut Schulgrammatiken umgangssprachlich, wenn sie nicht der Standardsprache entspricht, aber im täglichen Umgang akzeptiert wird. Die Definition ist problematisch, weil in den Konventionen der Sprachgemeinschaft die Abgrenzung zwischen einer Standardsprache und einer Ausprägung, die nicht als Varietät oder Dialekt zu sehen sein soll, kaum möglich ist. Welche Instanzen sollen auch entscheiden, ob ein Wort, eine Wortform, eine Aussage oder eine Verwendung gerade noch so zur Standardsprache gehört oder nicht doch schon umgangssprachlich ist?

Letztlich bewegt sich die Grammatik immer in einem Paradoxon. Auf der einen Seite gibt es keine Fehler, auf der anderen grammatikalisch richtige und falsche Aussagen und grammatisch richtige und falsche Verwendungen. Anstelle von richtig und falsch sind Bezeichnungen wie üblich oder gebräuchlich sowie unüblich oder nicht gebräuchlich eher zutreffend, es sei denn, jemand bewegt sich eindeutig außerhalb dieses Paradoxons und eine Aussage ist zwingend falsch.

Im Grunde genommen ist die Freiheit einer Ich-spreche-wie-ich-will-Form nur durch gemeinsame Normen eingeschränkt. Wer sich in den Grenzen der Normen bewegt, kann in der Vielfalt der Sprache durchaus seine Freiräume finden, aber auch die Möglichkeiten für einen Fehler. Ein Sprecher oder Schreiber hat für ein einzelnes Wort die freie Auswahl vom kontextuellen, lexikalischen, morphologischen, orthographischen, phonetischen, stilistischen bis hin zum syntaktischen Fehler. Fehlerkombinationen sind selbstverständlich jederzeit auch möglich.

Für alle Schüler im Deutschunterricht oder -kurs, die ihre Lehrbücher und Schulgrammatiken jetzt unverzüglich aus dem Fenster werfen oder umweltgerecht zum Recyceln geben wollen, habe ich eine schlechte Nachricht: Zu den Übereinkünften einer Sprachgemeinschaft gehört meist auch, an den Schulen die Grundlagen der Grammatik nach der Meinung zu lehren, die wir als die herrschende Meinung bezeichnen. Alle Schüler sollen die Sprache in einer standardisierten Form mit Regeln und Gesetzmäßigkeiten lernen.

Zugegeben, das schränkt die persönliche Ich-spreche-wie-ich-will- ebenso wie die Ich-schreibe-wie-ich-will-Freiheit ein, aber das Vermitteln der Sprachregeln gehört nun mal zu den wesentlichen Aufgaben der Schule und ist ein Bildungsziel in unserer Gesellschaft.

Ebenso sind die Prinzipien der Sprachgemeinschaft mehr als nur die Summe ihrer grammatikalischen Regeln, da sie die Kommunikation im gesamten Sprachgebiet – bei uns dem gesamten deutschen Sprachraum – ermöglichen, den Sprachreichtum der Jahrhunderte bewahren und Richtungsvorgabe in der Entwicklung der Sprache sind. Werden die Regeln aufgegeben, versinkt die Sprache im Chaos. Es ist wie bei einem Spiel: Nur wer die Regeln kennt und versteht, kann mitspielen. Wer mehr als nur mitspielen möchte, muss die Regeln richtig auslegen und nutzen. Die Schule ist nur die erste Stufe auf dem Weg zur Beherrschung und Auslegung der grammatischen Regeln.

Auch jeder Versuch, eine von der Regel abweichende Schreibweise oder schlicht einen Fehler damit begründen zu wollen, man nehme sich die dichterische Freiheit, zu schreiben wie man wolle, funktioniert leider nicht. Generell ist es äußerst fraglich, ob überhaupt ein Dichter eine Regel der Grammatik aushebelt, nur um sich die Freiheit zu nehmen, nicht grammatikalisch zu schreiben oder zu sprechen. Vielmehr bedarf es eines konkreten Grundes, um mit einer Konvention zu brechen, sonst ist es lediglich eine sinnbefreite Spielerei oder ein motivierter Sprachgebrauch. Erst muss dem Dichter klar sein, was ihn bindet, sonst kann er sich auch keine dichterische Freiheit nehmen – er kann höchstens über sie stolpern, weil er es nicht besser weiß.

Apropos besser wissen und Auslegung grammatikalischer Regeln: Wer noch über den möglichen Dativ und den möglichen Akkusativ in den eben aufgeführten Beispielsätzen nachdenkt – die Sätze sind allesamt richtig. Warum, wird sich gleich zeigen.

Die Suche nach der richtigen Form

Zwar muss niemand fragen, ob er oder sie eine Idee in die Sprachgemeinschaft einbringen darf, die Gesetzmäßigkeiten der Grammatik sollten dem- oder derjenigen aber bekannt sein. Die Grundlage der Grammatik ist die Syntax – die Lehre vom Satzbau, in der die Art beschrieben wird, wie die gedanklichen Zusammenhänge zusammengefügt werden. Das Ergebnis einer Zusammenfügung ist der sprachliche Ausdruck eines Gedankens, eine nach Inhalt und Form geschlossene Äußerung, und allgemein ist solch ein Ausdruck oder solch eine Äußerung ein Wort, eine Wortgruppe oder ein Satz.

Und damit ein herzliches Willkommen in der Welt der wissenschaftlichen Disziplinen, die alle Betrachtungsweisen des Sprechens und der Sprache beziehungsweise der deutschen Sprache abdecken: der Sprachwissenschaft und der germanistischen Linguistik mit ihren zahlreichen Definitionen, die fast immer uneinheitlich und meist umstritten sind.

In der Geometrie ist eine Fläche mit drei festen Punkten ein Dreieck und mit vier Punkten ein Viereck. In der Sprache gibt es eine solche Eindeutigkeit nicht. Hier lösen sich feste Punkte in grammatische Kategorien auf, die Spielräume für Auslegungen lassen, weshalb keine Einigkeit bei der Definition der Grundbegriffe besteht. Teils fehlen sogar einheitliche Perspektiven und selbst der Begriff grammatische Kategorie ist nicht eindeutig, da sich primäre und sekundäre oder sonstige syntaktische und morphologische Kategorien in Haupt- und Untereinheiten verlieren. Auch die grammatischen Formen haben unterschiedliche Funktionen und Bedeutungen mit verschwimmenden Übergängen, sodass eine abschließende systematische Betrachtung meist nicht möglich ist.

Bevor ich nun allerdings vollends in immer weiter verschachtelten Komplexitätsebenen versinke, hoffe ich noch kurz auf eine übergeordnete und regelvorgebende Instanz – aber wie in jeder Wissenschaft existiert keine oberste Autorität. Also ziehe ich die Reißleine und halte fest, dass die Sprache zu komplex für einheitliche Definitionen ist.

Das Festlegen einer Äußerung oder eines Ausdrucks auf ein Wort, eine Wortgruppe oder einen Satz birgt ein erstes solches Problem: Was ist ein Wort, was eine Wortgruppe und was ein Satz? Nun stößt selbst eine einfach klingende Frage in der Welt der Sprachwissenschaft immer eine der Türen auf, hinter denen die Geister lauern, die zum Beispiel von „der kleinsten Atemeinheit der normal dahinfließenden Rede“ bis zur „Ausdruckseinheit mit finitem Verb und unter strukturellen und kontextuellen Bedingungen notwendigen Verbkomplementen sowie fakultativen Supplementen“ mehr als 200 weitere Definitionen dafür mitbringen, was ein Satz sein soll. Selbst ein geläufiger Begriff wie Satz hat in der Sprachwissenschaft keine einheitliche Bedeutung.

Die Geister vertreiben kann ich nicht, das Problem aber lösen, indem ich entweder sämtliche Theorien und Definitionen aufführe oder aber eine bestimmte Theorie auswähle, diese für gültig erkläre und mich ihr anschließe. Dummerweise müsste ich die Theorie dann aber auch beweisen, und nicht nur dazu fehlt mir die Muße, sondern auch dafür, mich erst mit mehr als zweihundert Satzdefinitionen zu beschäftigen und danach für alle folgenden uneinheitlichen sprachwissenschaftlichen Begriffe ebenfalls unzählige Definitionen und Theorien aufzuführen und abzuarbeiten.

Da gehe ich doch lieber einen ganz anderen Weg und stelle mir die Frage, ob eine sprachwissenschaftliche Definition, die als Beitrag einer Forschungsdiskussion kontrovers und uneinheitlich ist, überhaupt verbindlich sein kann. Da das Wortpaar uneinheitlich und verbindlich plausibel nicht zusammenpasst, gehe ich ebenso plausibel nicht davon aus und nehme mir deshalb die Freiheit, die Geister gar nicht erst zu rufen und es lieber so zu machen, wie es in dem Filmklassiker »Die Feuerzangenbowle« heißt:

Da stelle mer uns mal janz dumm.

Buchstaben und Aussprache

Wenn wir sprechen, bilden wir Wörter und die Wörter bestehen aus Lauten. Eine Aussage nimmt ihren Weg von der Bildung im Gehirn des Sprechers über dessen Stimmbildungsorgane zum Ohr des Hörers und in dessen Gehirn. Haben wir das Sprechen gelernt, lernen wir das Lesen und Schreiben. Dafür müssen die Laute zu Buchstaben werden.

Da zwischen Buchstaben und Lauten keine durchgängige Entsprechung besteht, kann das eine nicht auf das andere reduziert werden. Ein Laut kann durch einen oder mehrere Buchstaben wiedergegeben werden und ein Buchstabe einen Laut oder mehrere Laute wiedergeben. Dementsprechend sind die Laute und Buchstaben die kleinsten Teile der gesprochenen Rede beziehungsweise der geschriebenen.

Das besagt auch das Wort Grammatik, dessen Bedeutung auf das griechische gramma zurückgeht und im Deutschen Buchstabe bedeutet.

Beim Sprechen werden die Buchstaben miteinander verbunden. Da es mehr Laute als Buchstaben gibt, kann ein Buchstabe für mehrere Laute stehen und ein Laut für mehrere Buchstaben.

Bei den Lauten wird zwischen Konsonanten und Vokalen unterschieden – den Mitlauten und den Selbstlauten. Die Konsonanten werden mit einer Verengung oder einem Verschluss im Stimmtrakt gebildet, bei den Vokalen wird der Stimmtrakt nicht verengt. Außerdem unterscheiden sich die Laute durch phonologische Merkmale, so ist ein n immer nasal, ein d stets stimmhaft und ein t weder nasal, noch stimmhaft. Weiter werde ich mich in die Elemente unseres Lautsystems allerdings nicht vertiefen.

Die deutsche Sprache hat ein Alphabet mit 30 Buchstaben: fünf Entsprechungen für Vokale, 22 für Konsonanten sowie drei Umlaute. Auf 27 Buchstaben kommt, wer in den Umlauten nicht mehr als die Variante eines Vokals sieht und diese dementsprechend nicht mitzählen möchte, auf 26, wer den Buchstaben ß – Ess-Zett genannt – unberücksichtigt lassen und nicht mitzählen möchte.

In der deutschen Schriftsprache existieren alle Buchstaben in Groß- und Kleinschreibung.

Das große Ess-Zett – also ẞ – ist quasi ein Nachzügler, es steht erst seit Dezember 2016 im amtlichen Regelwerk. In der Schweiz wird das ß dabei allerdings bereits seit den 1930er Jahren und auch weiterhin grundsätzlich durch ein doppeltes s ersetzt. Seinen Namen verdankt das Ess-Zett übrigens den Schreibern im Mittelalter, die an das zu diesen Zeiten noch existierende lange s – geschrieben ſ – im germanischen Sprachraum den Buchstaben z anhängen.

Da im Deutschen jegliche Betonungszeichen für die Laute fehlen, sind die Buchstabenkombinationen, die in einem Wort nicht miteinander verbunden werden, anhand des Schriftbildes nicht zu erkennen. Hierzu bedarf es eines lexikalischen Wissens. So stehen die Digraphen ch, ck und st und der Trigraph sch als feste Buchstabenkombinationen immer nur für einen Laut,

Bach, decken, Stunde, zuschließen

wobei ein sch nicht immer ein Trigraph ist. Bei Wörtern mit der Endung -chen trügt der Schein, weil die Buchstaben beim Sprechen nicht verbunden, sondern als s und ch [sç] getrennt ausgesprochen werden.

Döschen [Dös | chen], Röschen [Rös | chen]

Ebenso kann das e nach einem i die Dehnung für ein langes i anzeigen, als i und e aber auch einen Hiat bilden, den es auch als e plus u oder u plus i gibt.

Liebe, Trieb

Familie → Famili | e

 

Medien → Medi | en

 

Museum → Muse | um

 

Ruine → Ru | ine

Beim Schreiben treten ein paar Besonderheiten auf. So kann ein gesprochener Laut aus mehreren zu schreibenden Buchstaben bestehen, wie etwa der Buchstabe c, der nur in den Kombinationen ch, ck und sch oder in Fremdwörtern und Namen vorkommt, oder der Buchstabe q, der immer Teil der Kombination qu ist. Außer dem j, q, x, y und ß können die Konsonanten in einem Wort doppelt auftreten. Dass in einem Wort drei gleiche Vokale oder Konsonanten aufeinanderfolgen, ist nur bei einer Wortzusammensetzung möglich.

Messsensor, schnelllebig, Kaffeeernte, Zooordner

Einzigartig sind die deutschen Umlaute, für sie existiert nicht einmal eine lateinische Bezeichnung. Ihr Ursprung ist eine phonetische Anpassung im Althochdeutschen, bei der durch ein i oder ein j in der zweiten Wortsilbe der erste Vokal umgelautet wird.

gesti → Gäste, drankjan → tränken, ferit → fährt

In alten Texten findet sich noch ein hochgestelltes i oder e über dem Vokal als Markierung für den Umlaut.

Im Schriftbild anderer Sprachen gibt es zwar auch Buchstaben mit zwei Punkten, das sind aber Zeichen für die getrennte Aussprache aufeinanderfolgender Vokale und keine Umlaute.

Wörter und Wortgruppen

Um jetzt vom Laut oder Buchstaben zum Wort zu gelangen, muss ich einen kleinen Umweg nehmen, denn ein Wort besteht nicht nur aus Buchstaben, sondern auch aus Sprechsilben und Sprachsilben.

Entscheidend sind die Sprachsilben, sie sind die bedeutungstragenden Einheiten, während die Sprechsilben rein lautliche Einheiten sind. Ein Beispiel: Die Wörter fahren und Kinder bestehen jeweils aus sechs Buchstaben, zwei Sprechsilben sowie aus zwei Sprachsilben.

Die Anzahl von Sprechsilben und Sprachsilben muss in einem Wort nicht übereinstimmen. Das Wort fährt hat eine Sprechsilbe, aber mit fähr und t zwei Sprachsilben. Weiter gehe ich auf den Begriff Wort als abstrakte Einheit und in seiner germanistisch-linguistischen Komplexität nicht ein. Ich erlaube mir sogar einige Ungenauigkeiten, indem ich etwa die Begriffe Morph und Morphem zusammenfasse. Für mich sind Morpheme die kleinsten Einheiten der Sprache, wie der Wortstamm, die Vorsilbe oder die Endung. Sie sind nicht weiter zerlegbar und haben eine grammatische Funktion oder inhaltliche Bedeutung.

Zu unterscheiden sind freie und gebundene Morpheme. Ein freies Morphem kann in einem Satz selbstständig als Wort vorkommen, Beispiele hierfür sind die Wörter Axt, Bach, fest, schön oder Tuch. Dagegen ist ein gebundenes Morphem immer abhängig und wird für die Wortbildung benötigt. Die abhängigen Morpheme sind die Affixe, genauer gesagt Präfixe und Suffixe – Vorsilben und Endungen. Das Wort Kinder besteht mit Wortstamm Kind und Suffix er aus zwei Morphemen, das Wort gefahren setzt sich aus drei zusammen.

Präfix ge + Wortstamm fahr + Suffix en

Bei der Verbindung eines freien und eines gebundenen Morphems zu einem Wort handelt es sich entweder um eine Derivation – eine Ableitung – oder um eine Flexion – eine Beugung. Die Flexionsprozesse sind zumeist regelmäßig, wie zum Beispiel das Anhängen der Endung -t an den Verbstamm bei der Konjugation in der zweiten Person Singular.

es fährt, lernt, liest, scheint, glaubt, kocht, schläft

Bei der Derivation gibt es solche Regelmäßigkeiten nicht. Mit dem Suffix -er wird aus einem Verbstamm ein Substantiv – ein Nomen agentis, das einen Täter, Verursacher oder Begünstigten bezeichnet. Bei Verbstämmen wie glaub oder schein ist das allerdings nicht möglich.

Dann gibt es noch das Lexem als abstrakte Bedeutungseinheit, das Lemma als Wort in seiner Grund- oder Nennform und die Wortform als ein durch ein Flexionsmerkmal verändertes Wort. Im weiteren Text werde ich mich allerdings auf die Verwendung der Begriffe Wort, Wortstamm, Präfix, Suffix und Wortform beschränken, selbst wenn das sprachwissenschaftlich in Einzelfällen nicht so ganz korrekt sein sollte.

Mehrere Wörter bilden eine Wortgruppe, wenn ein Wort dabei durch ein anderes näher bestimmt wird, wie zum Beispiel das Substantiv Apfel durch das Adjektiv lecker. Gemeinsam bilden sie die Wortgruppe leckerer Apfel, zu der sich ein Artikel gesellen kann oder muss. Weil das Substantiv hier das übergeordnete Wort ist, entsteht eine Substantivgruppe.

leckerer Apfel

→ der leckere Apfel

→ ein leckerer Apfel

→ Inge pflückt einen leckeren Apfel.

Ebenso werden Adjektiv-, Adverbial-, Präpositional-, Pronominal- oder Verbgruppen gebildet.

Inge pflückt einen Apfel für ihren netten Nachbarn.

Mit einem grammatischen Hilfswort – etwa ein Artikel zu einem Substantiv oder ein Hilfsverb bei einer Zeitform – kann dagegen keine Wortgruppe gebildet werden, weil durch das Hilfswort keine Bestimmung erfolgt. So kann der Artikel der das Substantiv Apfel nicht bestimmen, sondern nur dessen enthaltenes Genus und den geforderten Kasus anzeigen.

Wann ist ein Satz ein Satz?

Bei der Unterscheidung zwischen einem Wort, einer Wortgruppe und einem Satz warten gleich die nächsten sprachwissenschaftlichen Unklarheiten. Wenn ein Verkäufer auf einem beliebigen Wochenmarkt

Leckere Äpfel!

über den Platz schreit oder der Wirt in einer beliebigen Eckkneipe

Freibier!

ruft, stellt sich die Frage, ob diese Äußerungen bereits Sätze sind oder nicht. Anders formuliert: Kann ein einzelnes Wort oder eine Wortgruppe ein vollständiger Satz sein?

Das Ziel der Sprache ist die soziale Interaktion. Die kann aber nur funktionieren, wenn der Gebrauch der Sprache eindeutig ist. Um zu sehen, wann die Sprache eindeutig ist, schaue ich in einer beliebigen Kleinstadt in den Garten eines Einfamilienhauses mit Spitzdach, in dem gerade die Eigenheimbesitzerin Inge mit einem Korb voller frisch gepflückter Äpfel zwischen ihren Gartenzwergen sitzend einen Apfel isst und den gerade in den Garten kommenden Mithauseigentümer Hans mit

Möhre?

empfängt. Da weit und breit keine Möhren zu sehen sind, passt der Inhalt der Äußerung Möhre nicht zur Situation und das Substantiv Möhre bietet alleine nicht genügend Informationen. Die Sprache ist nicht eindeutig und deshalb wird die Kommunikation zwischen Inge und Hans wohl nicht auf Anhieb funktionieren.

Die Erweiterung des einzelnen Wortes Möhre zur Wortgruppe „leckere Möhre“ würde zwar etwas mehr Informationen, aber nicht wesentlich zur Eindeutigkeit der Sprache beitragen. Das Gesamtbild passt in diesem Kontext erst, wenn Hans von Inge mit

Apfel?

begrüßt wird. Dieses Szenario kann ich beliebig verändern, ohne dass das zugrunde liegende Schema seine Gültigkeit verliert. Lasse ich Inge an einer Bushaltestelle warten und Hans mit der Äußerung

Bus schon weg?

dazukommen, passt das Gesamtbild von Aussage und Kontext und die Kommunikation funktioniert, was wiederum nicht der Fall ist bei einer Äußerung wie

Schnitzel mit Bratkartoffeln?

Entscheidend für das Funktionieren einer Äußerung ist ihr Kern, die eigentliche Aussage. Im Deutschen hat diese Aussagefunktion nur das Prädikat. Besteht eine Äußerung lediglich aus einem Wort oder einer Wortgruppe und bildet das Wort oder die Wortgruppe nicht das Prädikat, wird die eigentliche Aussage in den Kontext ausgelagert. Deshalb verliert eine solche Äußerung in dem Moment ihren Sinn, in dem der Kontext verändert oder weggenommen wird.

Versetze ich den Verkäufer vom Marktstand zur Bushaltestelle, verliert sein „Leckere Äpfel!“ den Sinn, ebenso das „Freibier!“, wenn ich den Wirt aus der Eckkneipe hinter den Obststand auf dem Markt stelle. Wenn jede Äußerung ein Satz sein soll, reicht für eine funktionierende sprachliche Handlung eine auf ein Wort oder eine Wortgruppe beschränkte Äußerung, die kein Prädikat ist, also nicht aus. Ein Satz ohne seine eigentliche Aussage ist nicht vollständig.

Dabei ist es im Deutschen sogar möglich, dass ein Satz aus nur einem einzigen Wort besteht, nämlich dann, wenn Inge Hans einen Apfel hinhält und

Iss!

sagt oder besser befiehlt, denn dieses Wort – genauer diese Wortform – ist ein Verb, das im Imperativ steht und der Imperativ in der zweiten Person Singular wie Plural ist im Deutschen der kürzest mögliche vollständige Satz.

Und wie verhält es sich mit dem Kontext? Ist ein vollständiger Satz unabhängig von jedem sprachlichen Kontext immer gültig oder ergibt sich der Sinn eines Satzes grundsätzlich erst aus dem Kontext?

Spätestens jetzt kommt der Semantik – der Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke – eine gewichtige Rolle zu, denn das Sprechen ist weit mehr als nur ein Austauschen von Wörtern, Wortgruppen oder Sätzen. Passt der Sinn der Äußerung zum Kontext, wenn die einen Apfel essende Inge ihren Hans im Garten mit

Ich koche nachher eine Möhrensuppe.

begrüßt? Der Satz passt bezogen auf den Ort und die Handlungen scheinbar – wiederum – nicht, doch ein generelles Nein kann vorschnell sein. Wie sieht es bei Sätzen wie

Heute haben wir einen wunderbaren Tag.

Ich hoffe, es geht dir gut.

aus? Solche Äußerungen sind allgemein und scheinen deshalb kontextunabhängig immer zu funktionieren, doch jetzt kann ein generelles Ja vorschnell sein.

Eine in jedem Fall gültige Antwort ist hier jeweils nur möglich, wenn von einer Aussage alle Ausgangsbedingungen und alle Randbedingungen bekannt sind – also die Aussage sowie der Kontext zur Aussage. Mit der Sprechsituation, der persönlichen und sozialen Situation von Sprecher und Hörer, dem sprachlichen Zusammenhang sowie der nonverbalen Mimik und Gestik sind die Kontextfaktoren allerdings komplex. Um gültig zu sein, muss ein Satz im Zusammenwirken aller genannten Faktoren unmissverständlich sein.

Wie gesehen, hängt die Antwort auf die Frage der Gültigkeit oder Ungültigkeit in Bezug auf den Kontext aber von zu vielen Faktoren ab, weshalb es letztlich bei einem salomonischen Es-kommt-darauf-an belassen werden muss, auch wenn viele Hinweise dafür sprechen, dass das Außerachtlassen der Semantik deutlich problematischer ist als das Beachten.

Generell einfacher ist es, in oder bei einer Aussage eine falsche interne Bedeutung zu erkennen. Das ist der Fall, wenn die einen Apfel essende Inge

** Ich lese einen leckeren Apfel.

sagt. Hier lässt sich unabhängig von jedem Kontext eindeutig sagen, dass das Wort beziehungsweise die Tätigkeit lesen seiner Bedeutung nach nicht zu einem leckeren Apfel passt und der Satz zwar syntaktisch und morphologisch korrekt, semantisch aber falsch ist. Ein vollständiger Satz kann also ungültig sein, wenn er nicht der Logik der Semantik folgt.

Beim Sprechen kann sich diese Logik aus vorausgehenden Äußerungen, aus Handlungen während des Sprechens oder aus örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten ergeben.

Die Satzglieder und das Schema SPO

Für die Bildung eines vollständigen Satzes werden also – wenn nicht nur in Imperativen in der zweiten Person gesprochen werden soll – grundsätzlich mehrere Wörter oder Wortgruppen benötigt. Die werden aber nicht einfach aneinandergereiht, es bedarf einer gewissen Struktur.

Ein Satz setzt sich aus sprachlichen Einheiten zusammen, die jeweils eine syntaktische Funktion haben. Für die Funktionen stehen die Satzglieder. Ja, auch diese Feststellung – wie könnte es anders sein –, ruft direkt die nächsten Geister auf den Plan und die haben dieses Mal eine große Auswahl von sprachwissenschaftlichen Modellen für Satzstrukturen, Satztypen, Satzformen, Satzglieddefinitionen, Satzgliedabgrenzungen und Bedeutungskomponenten sowie sehr viele weitere theoretische Erkenntnisse und Ideen im Gepäck. Dummerweise habe ich aber nach wie vor überhaupt keine Lust, mich mit irgendwelchen sachbezogenen, inhaltlichen oder sonstigen strukturellen Modellen intensiver zu beschäftigen, solange sie mich nicht ohne Streitdebatten und Diskussionen auf direktem Weg zu meinem Ziel führen. Da ich schon erarbeitet habe, dass so oder so ein Prädikat benötigt wird, greife ich auf das gute alte und vor allem einfache Schema mit Subjekt, Prädikat und Objekt zurück. In einer SPO-Sprache ist die Reihenfolge von Subjekt, Prädikat und Objekt der Normfall, wie zum Beispiel im Englischen, Französischen oder Spanischen. Auch im deutschen Sprachraum lernt jedes Kind dieses Schema, auch wenn das weder ganz richtig, noch gänzlich falsch ist. Es gibt nämlich einen Haken: Das Deutsche ist keine klassische SPO-Sprache. Trotzdem funktioniert die Reihenfolge von Subjekt, Prädikat und Objekt als Schema recht gut, wie sich noch zeigen wird.

Das Subjekt ist der Gegenstand der Satzaussage oder der Satzgegenstand. Es ist das, worüber wir sprechen. In einem Aktivsatz kann und darf es nicht fehlen, da das Subjekt immer der Träger der Handlung ist – auch Agens genannt – und Person und Numerus für das Prädikat vorgibt.

Das Prädikat steht für die Satzaussage – das ist das, was über das Subjekt ausgesagt wird, wie es dem Sinn des lateinischen Wortes praedicare entspricht, was so viel wie das öffentlich Ausgerufene bedeutet. Wie gerade festgestellt, wird für jeden vollständigen Satz zwingend ein Prädikat benötigt. Anders gesagt: Kein Prädikat, kein Satz.

Das Prädikat selbst hat keinen Kasus, fordert diesen aber von den von ihm abhängigen Satzgliedern. Bis auf die erwähnte Imperativform kann es nicht alleine stehen und bildet zusammen mit dem Subjekt den Satzkern. Subjekt und Prädikat sind sich zwar fest zugeordnet, später werde ich aber auf Verben treffen, die als Prädikat kein Subjekt benötigen. Dennoch kann die feste Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Prädikat nicht aufgelöst werden: Sie muss mit einer Ersatzform erhalten bleiben.

Subjekt ⇆ Prädikat

Subjektersatz ⇆ Prädikat

Das Objekt ist ein untergeordnetes und grundsätzlich vom Prädikat abhängiges Satzglied, das die Bedeutung des Prädikats bestimmt oder bildet und immer für einen auf das Geschehen zielgerichteten Gegenstand oder Sachverhalt steht.

Subjekt ⇆ Prädikat ⇆ Objekt

Auch das Adverbiale ist untergeordnet und grundsätzlich vom Prädikat abhängig. Es ergänzt den Satz als lokale, temporale, modale oder kausale Bestimmung eines Umstandes zum Prädikat. Im Unterschied zum Objekt ist die Handlung des Verbs hierbei nicht zielgerichtet, sondern genügt sich in der Regel selbst. Allerdings kann die Bestimmung von näheren Umständen gefordert werden, die Festlegung ist nicht immer eindeutig.

Subjekt ⇆ Prädikat

↘ Adverbiale

Ein Attribut kann sowohl eine Beifügung zu einem Satzglied sein, als auch eine Beifügung in einer Wortgruppe. In seiner Funktion als Satzglied ist es stets unabhängig vom Prädikat und ergänzt ein anderes Satzglied. Ein Attribut kann in einem Satz jederzeit wegfallen, ohne dass der Satz dadurch ungültig wird.

Subjekt ⇆ Prädikat

↙ Attribut