Ausweg aus dem Leid - Jürgen Lang - E-Book

Ausweg aus dem Leid E-Book

Jürgen Lang

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Beschreibung

1)Das Thema des Buches ist die Beschreibung zentraler Prinzipien spiritueller Lebensführung. Dabei geht es unter anderem um das Erreichen des Dialoges mit der eigenen inneren Stimme. Damit wird ein geistig geführten Leben verwirklicht, das keinen Mangel und keine Sorgen mehr kennt. Verbunden damit ist die Sprengung aller gegenwärtig bestehenden Glaubenssätze.

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www.tredition.de

Jürgen Lang

Ausweg aus dem Leid

Warum wir immer nur unsere Probleme in den Griff bekommen wollen und nicht die Dinge, die sie hervorrufen

© 2021 Jürgen E. H. Lang

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-347-40733-6

e-Book:

978-3-347-41822-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Vorwort

Das Wissen um den Ausweg aus dem menschlichen Leid ist in unserer säkularisierten Welt nicht mehr vorhanden, obwohl es in Form der Weisheitsschriften vor aller Augen liegt. Die folgenden Kapitel zeigen diesen Weg aus dem Leid auf, aus jedem.

Solche Ideale wie Feindesliebe oder die Goldene Regel erscheinen irrational und unglaubwürdig; sie sind daher aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Vom archaischen Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ hingegen haben sich die Menschen nicht einen Millimeter entfernt.

Die Voraussetzung für die Herauslösung aus dem persönlichen Leid deutet der Dichterfürst an: „Von der Gewalt, die alle bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet.“ Es handelt sich um die Gewalt des egozentrischen Selbsterhaltungstriebes und um dessen Überwindung.

Die folgenden Ausführungen zeigen, wie handfest begehbar der individuelle Ausweg aus dem Leid ist. Sie sind aber nichts für zartbesaitete Naturen, denn sie stellen so ziemlich alles in Frage, was heute als grundlegendes Lebensverständnis und gefestigte Weltsicht gilt. Schon die Erörterung der Anwendbarkeit von Feindesliebe dürfte auch bei gutwilligen Lesern auf Skepsis stoßen. Die Auseinandersetzung mit den Themen des spirituellen Weges ist schmerzlich.

Nicht von ungefähr betonen die geistigen Zeugnisse aller Kulturen, dass eine grundsätzliche Umkehr im Bewusstsein der Menschen erforderlich ist, um das Leid aus ihrem Leben zu verbannen.

INHALTSVERZEICHNIS

KAPITEL 1: UNSERE WAHRE IDENTITÄT

„Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust“

Was ist Wahrheit

Die Identität(en) des Menschen

Äußere Verschiedenheit und innere Einheit der Menschen

Leben unter dem Schirm des Hohen ICH

KAPITEL 2: DAS MENSCHLICHE PSYCHOGRAMM

Rhetorische Frage: Ist der Mensch gut oder böse?

Das niedere Basisprogramm, der Selbsterhalt

Egomerkmale

Äußere Entstehung des Minderwertigkeitskomplexes

Binäre Identität

Das höhere Basisprogramm, die Liebe

Das Gegenmittel gegen den Hass

Die Ursache des menschlichen Dramas: Personifizierung

Die Rolle des Verstandes – zurechtgerückt

Der direkte Draht zur Seele

Befreiung vom Schuldbewusstsein

Selbsterhaltung heißt Selbstzerstörung

Glücklich sein

KAPITEL 3: WOZU IST DAS BÖSE AUF DER WELT DA

Die Polarität von Plus und Minus

Kranksein

Das Böse ist nur für das Ego böse

Genozid: Durch das Böse das Gute schaffen?

Hindurchschau als Überwindung des Bösen

Rassismus: Ausdruck des Selbsterhaltungstriebs.

Die biologische Säugetiernatur des Menschen

I am the master of my fate (Henley)

Sich die Erde untertan machen

KAPITEL 4: DAS ÜBEL IST EIN PAPIERTIGER

„Steh auf, nimm dein Bett und geh!“

Das Prinzip Verführung

Rotkäppchen und „Men in Black“

Die Hand des Puppenspielers

KAPITEL 5: DIE BEDEUTUNG DER MEDITATION

Meditation und Gebet

Herkömmliches Gebet beruht auf Mangelbewusstsein

Füllebewusstsein in der Meditation

Wie findet man den Dialog?

Die Praxis des Meditierens

Johanna von Orléans

KAPITEL 6: DER NAZI IN UNS

Die „Gewalt, die alle bindet“

Abwertung als Instrument der eigenen Aufwertung

Das Egoprogramm deaktivieren

KAPITEL 7: DIE LIEBE IN UNS

„Liebe“ und Liebe

Feindesliebe

Das Prinzip Liebe

Geschlechterliebe

Zur behaupteten Unerfüllbarkeit der geistigen Liebe

KAPITEL 8: PRINZIPIEN SICHERER VERSORGUNG

Das Prinzip des Gebens

Versorgung besteht schon

Grundlagen gesicherter Versorgung

Der Sinn des Opferns

Nicht-Versorgung

Selbsterhaltung als Ursache für Nicht-Versorgung

Die Gründe für Nicht-Versorgung liegen im Bewusstsein

Der Weg zu grundsätzlicher Versorgung

KAPITEL 9: AUGE UM AUGE, ZAHN UM ZAHN?

Innerliche Nicht-Reaktion: Prinzip erfolgreichen Lebens

Homöopathie

Gandhi

Satyagraha

Das Schwert stecken lassen

KAPITEL 10: BEWUSSTSEIN ERZEUGT SCHICKSAL

Drei Ebenen des Bewusstseins

Corcovado

Grenzziehungen

Materielles vs. spirituelles Bewusstsein

Die Zustände der Welt als Produkt von Bewusstsein

Die schöpferische Macht des Bewusstseins

KAPITEL 11: GRÜNWELT

Die Bühne

Doppelwelt

Programmierer und User

Vordergrund und Hintergrund

Das Trojanische Pferd

Entfernen der grünen Brille

Blockbuster "Matrix"

Sinn des Lebens

KAPITEL 12: DER AUSWEG AUS DEM LEID

Wo ist der Schlüssel?

„Erkenne dich selbst“ als der Schlüssel

Die Landkarte

Wie sieht das spirituelle Leben aus?

Literaturliste

KAPITEL 1: UNSERE WAHRE IDENTITÄT

„ZWEI SEELEN WOHNEN, ACH! IN MEINER BRUST“

Der spirituelle Weg steht und fällt mit der Erkenntnis, was der Mensch ist, wie beschaffen er ist: Was bin ich, wie bin ich, wer bin ich.

„Erkenne dich selbst“, „Gnothi se auton“: So lautet der Schriftzug über dem Eingang zum Tempel von Delphi, in dem die Weissagerin Pythia die Geschicke der Frager orakelte.  Diese Identitätsfindung bzw. Selbsterkenntnis ist der entscheidende Schlüssel für ein erfolgreiches, erfülltes Leben, in dem der Mensch seine Bestimmung verwirklicht. Wenn ich weiß, wer ich bin, dann weiß ich, wonach und wofür ich lebe.

Den entscheidenden Unterschied zum Tier hat der bedeutende Philosoph der Aufklärung Kant mit dem Wort „Mensch/lichkeit“, also das Spezifische des Menschseins, beschrieben und als moralische Verpflichtung definiert: Es kommt seiner Auffassung nach beim Menschen darauf an, was er tun soll. (Die Möglichkeit zur Höherentwicklung hat das Tier nicht.) Dabei kann der Mensch ursprünglich nicht wissen, was er denn tun soll. Auch die Anhäufung und Auswertung von Erfahrung führt nicht zu höheren Normen wie etwa, nicht töten zu sollen oder seine Feinde lieben zu sollen. Das heißt, ein induktiver Ansatz führt nicht zum Ziel. Deshalb gibt es die Weisheitsschriften.

In ihnen ist deduktiv niedergelegt, woraus dieses Sollen besteht. Damit ist die Aufgabe gemeint, geistige Gebote wie zum Beispiel die Goldene Regel zu befolgen, also dass ich andere Menschen so behandeln soll, wie ich von ihnen behandelt werden möchte, wenn ich in deren Lage wäre. Steht also vor mir ein Flüchtling, der vor dem Bombenterror in sei- ner Heimat geflohen ist, sagt die Goldene Regel, ihn aufzunehmen und nicht abzuweisen, denn wenn ich dieser Flüchtling wäre, würde ich wünschen, aufgenommen zu werden.

Das Sollen ist nicht Selbstzweck: Sein Ziel ist die Schaffung von Lebensbedingungen, die gekennzeichnet sind durch Versorgung, Sicherheit und Schutz, zunächst im persönlichen Mikrokosmos. Dabei liegt der eindeutige Schwerpunkt in allen Weisheitslehren auf der Nächstenliebe, einem harmonischen Miteinander. Denn wenn ich existieren will, müsste ich erkennen, dass jedem anderen dasselbe Bedürfnis und dieselbe Berechtigung innewohnt. Aus dieser Einsicht ergeben sich automatisch die Grenzen der individuellen Freiheit. Das egozentrische Bestreben jedoch, diese sich nicht beschränken lassen zu wollen, was exponentiell um sich greift (Reichsbürger, Verschwörungstheoretiker, Helikoptereltern, Raser, Shitstormer, usw.), führt zu Konflikt und Zerstörung, weil die Mahnung der heiligen Schriften mehr und mehr mit Füßen getreten wird. Befolgt man jedoch erst einmal die Goldene Regel, hat dieses Sollen bestimmte Folgen, die das das Christentum so beschreibt:

„… wird euch alles dazugegeben.“

Oder der Buddhismus: „… wird durch das Böse ebenso wenig berührt wie das Lotosblatt vom Wasser.“

Oder der Taoismus: „… giftige Schlangen stechen ihn nicht… Oder das Judentum im AT: „… mir wird nichts mangeln!“

Diese Verheißungen deuten an, dass es einen Zustand gibt, der das Leben auf unserem heillosen Planeten mit seinen Sorgen, Gefahren, Katastrophen, mit Existenzangst, Stress, Not und Elend besiegt. Mit dem Verstand, der das verarbeitet, was er sieht und hört, ist dieses Ziel nicht erreichbar, das zeigen uns nicht nur die vergangenen fünftausend Jahre, sondern die gegenwärtigen Entwicklungen, die auf alles andere hinauslaufen als auf eine aufsteigende opti- mistische Zukunft. Ohne die Straßenkarte der Weisheitsschriften ist eine menschenwürdige Zukunft nicht möglich. Mit ihr verbunden ist eine Abkehr von den Auslegungen und Praktiken der religiösen Organisationen. Sie haben durch die Jahrtausende hindurch bewiesen, dass ihre Konzepte nicht dazu geführt haben, dass die Menschen sich von solch archaischen Mustern wie z. B. „Auge um Auge“ entfernt hätten.

Wer aber den Weg zu einem angst- und sorgefreien Zustand gegangen ist, wird – wie es mir ergangen ist – feststellen, dass dieser Weg gepflastert ist von beglückenden und auch schmerzhaften Treppenstufen. Aber es ist es ja immer so, dass die Überwindung alter Vorstellungen, Routinen und Überzeugungen Amputationen hemmender Altlasten sind, die nicht ohne schmerzhafte Selbstüberwindung zu überstehen sind.

Weil der Mensch mit dem freien Willen ausgestattet ist, enthält das Sollen natürlich die Möglichkeit, von dieser Vorgabe abzuweichen.In der Schöpfungsgeschichte ist die spezifisch menschliche Entscheidungsfreiheit abgebildet durch die Wahlmöglichkeit zwischen dem Baum von Gut und Böse und dem Baum des Lebens. Die Tiere haben diese Wahl nicht; für sie gibt es eine solche Freiheit nicht.

Wahre Selbsterkenntnis reicht weit über solche Merkmale wie Temperament, Charakter, Haltung, Kulturkreis, Einstellung, soziale Herkunft, usw. hinaus, weil diese ihrerseits gesteuert werden von Tiefensteuerungen wie dem Selbsterhaltungstrieb, die viel entscheidender für den Lebensweg des Individuums sind als die angeführten Merkmale der Oberfläche. Wahre Selbsterkenntnis ist eine der beiden zen-tralen Bedingungen für den Lebenserfolg. Das bedeutet aber nicht, dass sie als Voraussetzung zu verstehen ist. Vielmehr entwickelt sie sich begleitend und reifend in zunehmend erfolg- reichem Maß. Aussagen über die Wege zu ihr finden wir in den verschiedensten Bereichen menschlicher Kultur:

Literatur:

"Wie in einem jeden Menschen lebten auch in Nechljudov zweiMenschen, der moralische Mensch, der sein Wohl im Wohl der anderen suchte und der tierische Mensch, der nur sein eigenes Wohl suchte und diesem Wohl die ganze Welt zu opfern bereit war …" (Leo N. Tolstoj: Auferstehung; Band I, Kap. 14)

Malerei:

Der norwegische Künstler Edvard Munch zeigt in seinem Bild "Der ertrunkene Junge" eine helle und eine dunkle Männerfigur nebeneinander hergehend, die die zwei Seiten innerhalb der gleichen Person darstellen sollen und die darum kämpfen, den Menschen zu beherrschen. Der Künstler selbst äußert sich dazu wie folgt:

"Die Spaltung der Seele, … die wie zwei zusammengebundene Vögel jeder nach seiner Seite streben … ein fürchterlicher Kampf im Käfig der Seele."(Eggum, Arne: Edvard Munch als Maler. In: Munch im Munch Museum. Munch-museet. Oslo 2007) 

Christentum:

Im 17. Jahrhundert schreibt der schlesische Mystiker Angelus Silesius:

„Zwei Menschen sind in mir:

der eine will, was Gott will,

der andre, was die Welt,

der Teufel und der Tod wollen.“

(Cherubinischer Wandersmann V, 120)

Der Volksmund:

Er spricht derbe, aber treffend vom „inneren Schweinehund“ als dem Gegenspieler zum „Gewissen“ mit dessen typischen Mahnungen, den „Gewissensbissen.“

Jüdische Weisheit:

In der Schöpfungsgeschichte werden die beiden Pole des Menschseins symbolisch durch die beiden Elemente ausgedrückt, aus denen der Mensch geschaffen wurde, zum einen aus dem materiellen „Erdenkloß“, zum anderen aus dem eingehauchten „lebendigen Atem Gottes“ der unstofflichen geistigen Dimension.

Wie beschaffen aber sind diese beiden "Geschöpflichkeiten?" Da ist einerseits das Egoprogramm im Menschen gemeint, der Selbsterhaltungstrieb, dessen Zweck darin besteht, nur sein eigenes Wohl zu suchen, auf Kosten anderer.

Da ist andererseits die „Seele“, (in der spirituellen Literatur oft „Geist“ genannt, engl.: spirit), der „Vater in mir“, die Intuition, die innere Stimme, das Bauchgefühl, das Gewissen, der (hin)eingeborene Gottessohn, der „sein Wohl im Wohl der anderen sucht.“

So konkurrieren im Menschen die egomane Selbstliebe und die selbstlose Nächstenliebe. Kann man es treffender ausdrücken als Goethe, der Faust sagen lässt:

"Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust:Die eine hält in derber Liebeslustsich an die Welt mit klammernden Organen;die andre hebt gewaltsam sich vom * Dustzu den Gefilden hoher Ahnen."(Faust I. Vor dem Tor.) *Nichtigkeit

Oleksandr Chaban: In a human being good and evil … Who are you, human? iStock 944011406

WAS IST WAHRHEIT

Nun, dies sind bislang alles nur Annahmen, Behauptungen, Meinungen, Aussagen, Sichtweisen, usw. von mehr oder weniger weisen Menschen. Aber – Pilatusfrage – was ist Wahrheit? Sind die obigen Auffassungen wahr?Kein Mensch kennt die objektive Wahrheit der Grundfragen des Lebens: Die einen sagen, die Erderwärmung sei menschengemacht, die anderen das Gegenteil; wieder andere behaupten, das Verhältnis sein etwa 50:50. Und irgendwo auf dieser Skala liegt die sich verändernde, aber objektive Wahrheit.

Unsere Wahrheiten sind oft unzuverlässig bis flüchtig. Das gilt für den Umgang mit Pandemien, für Schulpolitik, eigentlich für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Die Zahl der Ratgeber über Kindererziehung, Diäten, Ehe-probleme, Sexualität, usw. ist unübersehbar. Ständig muss der Wissensstand in gleich welchem Sachgebiet neu geschrieben werden. Immer wieder werden alte Wahrheiten über den Haufen geworfen.Dazu kommen die individuellen Gedankenwelten, die mehr oder weniger von der objektiven Wahrheit abweichen. Don Quixote hält Windmühlenflügel für böse Riesen, der Sozialist hat andere Wahrheiten als der Rechtspopulist. Ein Vater sieht dieselben Probleme mit dem Kind möglicherweise anders als die Mutter und jeder der Zeugen vor Gericht hat eine Version, die sich von den anderen unterscheidet. Ein Grund ist, dass wir die Gesamtheit der Welt in quantitativem Sinn nur bruchstückhaft erfassen können, mit individuellen Schwerpunkten wie sozialen, wirtschaftlichen, nationalen, familiären, politischen, militärischen, usw. Außerdem sehen wir – qualitativ gesehen – diese unter bestimmten Vorzeichen. Es können integrative sein oder ausgrenzende: Bergpredigt, Mein Kampf, Das Kapital von Karl Marx, usw. Jeder ist individuell ein Stück weit Don Quixote: Der eine glaubt undifferenziert an die Macht des Staates, der andere an die des Marktes. Wer Impfungen für Chip-Implantate hält und für Angriffe durch dunkle Mächte, glaubt auch, dass Windmühlenflügel böse Riesen sind. Soviel zu den äußeren bedingten Wahrheiten.

Jeder Mensch weiß aber auch, dass er eine irgendwie geartete sanfte Führung hat, ein intuitives Drängen, die innere Stimme eben. Der Nazarener zeigt, dass dieses der Gottessohn ist, „der Vater in mir.“ Es ist diejenige Instanz, die die Geschicke des Menschen leitet. Wenn der Mensch es zulässt, seiner Intuition zu folgen und nicht auf eigene Faust handelt, also lernt, auf diese leise, sanfte Stimme (1. Kö. 19, 12) zu hören, kennt er zwar die ganze Wahrheit des geistigen Lebens nicht, kann aber der Intuition Schritt für Schritt folgen. Dadurch umschifft er ungefährdet die Klippen, die im alltäglichen Leben ständig auftauchen. Denn er erfasst dann den für ihn wichtigen Teil der objektiven Wahrheit, der sich hinter der Oberfläche verbirgt. Wenn er seine innere Stimme vernimmt, gelernt hat, ihr zu vertrauen – weil ihre Führung sich bewährt – und ihr gehorcht („Dein Wille geschehe!“) kann er eigentlich nicht mehr allzu viel falsch machen. Man sieht eben „nur mit dem Herzen gut“ (Saint-Exupérie: Der Kleine Prinz). So erfährt er dann mehr und mehr Wahrheit, - durch Erfahrung und Lebenserfolg unter Beweis gestellt – und kann so ein sorge- und angstfreies Leben führen. (Das unterstreicht Lessing im „Nathan der Weise“, indem er den Richter sagen lässt, dass für die sorgenfreie Lebenswahrheit die Kraft des Ringes zu demonstrieren sei.) Für den Alltagsmenschen ist ein intuitiv geführtes Leben Humbug, denn er wurde nie dazu erzogen. Wahrheit ist immer konkret und nur dann wahr, wenn sie sich im realen Leben als individuelles Wohl – vereinbar mit dem Gesamtwohl – bewahrheitet.

Die Weisheitsaussagen in den Schriften der Weltreligionen sind nicht dazu gedacht, zu versuchen, die Menschen mit Drohungen auf den rechten Weg zu zwingen – wie es die Konfessionen taten. Vielmehr sind ihre Mahnungen Anlässe, auf Grund dieser Aussagen entsprechende Erfahrungen zu machen, die im Fall individueller Bestätigungen den Ausweg aus dem Leid zeigen. Wissenschaftsmethodisch betrachtet gelten ihre Gebote als eine Art Grundannahme („Liebet euere Feinde…“), die logisch konkret abzuleiten sind: Soll der Militärarzt den verwundeten Feind ebenfalls versorgen? Sie soll dann zu entsprechenden individuellen Erfahrungen führen: Was passiert, wenn ich beim bösen Nachbarn auf Vergeltung verzichte? So gelangt man schließlich induktiv zur Widerlegung oder Bestätigung des Ausgangsgebots.

Auf diesem Weg nähert man sich dem an, was man mit Wahrheit bezeichnen kann, dass z. B. Feindesliebe erfolg- reich ist. Werde ich also mit einem solchen Imperativ konfrontiert, probiere ich aus, wie das funktionieren kann. Wenn das dann erfolgreich war, habe ich einen wichtigen Schritt gemacht, mein Leben von jeglichem Feind zu befreien. Das Verfahren der Feindesliebe, wie es sämtliche Weisheitslehren aller Kulturen gebieten – ein „Sollensanspruch“ (Kant) sozusagen –, ist eine der essenziellen Methoden für ein erfülltes Leben (siehe Kap.7, Abschnitt Feindesliebe). Man muss einfach die Probe aufs Exempel machen, ob und wie es geht.

Ich hätte diese Zeile nicht schreiben können, wenn ich – geführt durch meine Intuition – nicht versucht hätte, diese Selbstüberwindung in Form eben dieser Feindesliebe zu praktizieren und nicht immer wieder die Bestätigungen gehabt hätte, dass Feinde aus meinem Leben (ver)schwinden.

Glaube an Gott bringt nichts, nur Erfahrung mit Gott. Meine Wahrheit ist dann das, was ich durch meine Beschäftigung mit den geistigen Lehren kennengelernt und persönlich durch meine Lebensführung in der Praxis bestätigt gefunden habe und was ständig funktioniert. Wenn ich also auf Prinzipien wie z. B. das der Gewaltlosigkeit stoße, sie anwende und die Ergebnisse sich immer wieder bestätigen, also sich bewahrheiten, kann man von Wahrheiten zu sprechen. Keine tiefe Erkenntnis ohne Erkenntnis ihrer Ursache.

„Das Schöne, das Wahre,

es ist nicht draußen, da sucht es der Tor,

es ist in dir, du bringst es hervor.

(Friedrich Schiller: Theosophie des Julius)

Glauben ist nicht Wissen. Glaube ist eine nicht beweisbare Annahme bzw. Überzeugung. Wer bloß glaubt, irrt und sieht die Welt, wie er die Welt sehen will. Wer aber sich spirituelles Wissen aneignet und danach aus persönlicher stetiger Erfahrung erfolgreich Gewissheit gewonnen hat, ist vor Irrtum sicher. Die Konfessionen streiten sich deshalb ohne Ende, weil sie glauben, d. h. nicht wissen. Sie ersetzen die eine Deutung durch eine andere, nämlich ihre. Glaube bedeutet überhaupt nichts, es ist eine Einstellung, durch die der Mensch die Möglichkeit hat, aus Selbstschutz vermeintlich sicherer zu leben, und zwar nach einem bestimmten Muster, das ihm eingebläut wurde. Der blinde Glaube ist übrigens weniger ein solcher an eine Lehre wie z. B. Feindesliebe, sondern überwiegend ein solcher an eine Person oder ein Buch; dann ist man unverzüglich vom Besitz der Wahrheit überzeugt. Bleiben aber Zweifel und will man weiter nach Wahrheit forschen, stellen die Kirchen das Haupthindernis dar, denn anstatt zu lehren, wie man mit Gott redet, sprechen sie nur über Gott. Das führt dann dazu, dass sie endlos über Gottes Barmherzigkeit reden, von der die Öffentlichkeit aber nichts sieht.

Heute glaube ich nur noch, was ich nach innerer Führung durch - gelegentlich leidvolle - Erfahrung weiß. Echter Glaube ist Gewissheit aus handfester eigener Erfahrung, alles andere sind Vermutungen, Annahmen, nicht beweisbarer Glaube ohne Nachdenken. Der spirituelle Sucher hingegen will die Wahrheit erkennen und findet ihren Ort im eigenen Bauchgefühl und dessen positiven Bilanzen, bestärkt durch den Verfasser der folgenden Zeilen:

„Truth is within ourselves;

In uns selber ist die Wahrheit;

it takes no rise from outward things,

sie entspringt nicht äußeren Dingen,

whatever you may believe.

was immer ihr auch glauben mögt.

There is an inmost centre in us all,

Es gibt einen Kern in uns allen,

where truth abides in fullness;

wo Wahrheit in Fülle weilt;

but around wall upon wall,

doch ringsum lauter Wälle,

the gross flesh hems it in.

das grobe Fleisch schließt uns ein.

To know consists in opening a way,

Wissen ist, dass man den Weg öffnet,

where the imprisoned splendor may escape."

durch den der gefangene Glanz frei werden kann."

(Robert Browning: Paracelsus. Paracelsus aspires)

DIE IDENTITÄT(EN)DES MENSCHEN

Im indischen Alltagsleben kommt die Doppel-Identität des Menschen häufig in folgender Form vor: In Indien begrüßen sich die Menschen nicht, indem sie sich die Hände schütteln, sondern dadurch, dass sie die Handflächen, nach oben zeigend, gegeneinander legen und das Wort „Namastè“ aussprechen. Dieses Sanskrit-Wort bedeutet „Ich verbeuge mich vor dir.“ Das ist die stoffliche Interaktion, also die von Person zu Person. Spirituelle Menschen in Indien ergänzen sie um eine geistige Bedeutung: „Das Licht in mir grüßt das Licht in dir.“ Gandhi wird zugeschrieben, diese Formel noch erweitert zu haben: „Ich ehre den Platz in Dir, in dem das Licht, die Liebe, die Wahrheit, der Frieden, die Weisheit, das gesamte Universum wohnen und in dem wir beide eins sind.“

Seine wahre (Doppel-)Identität zu erkennen heißt, seinen spirituellen Teil nach und nach zu aktivieren und damit den des Säugetiers mehr und mehr zu verdrängen. Paulus nennt das „tägliches Sterben.“ Damit meint er nicht ein biologi- sches Dahinsiechen des Körpers, der „Hardware“, sondern dasjenige der Software, das Programm des Selbsterhaltungstriebes. Diese ist zu reduzieren, also das Ego-Verhal-ten zu überwinden, und zwar durch Dienen, durch Selbst-hingabe für andere, wobei der Schwerpunkt auf Fremden liegt, wie es das Beispiel vom barmherzigen Samariter zeigt; Aufopferung für die eigenen Partner, Eltern oder Kinder ist für die irdische Ebene unverzichtbar, ist aber fürs Egosterben wertlos: „So ihr nur zu euren Brüdern freundlich tut, die euch lieben, was habt ihr davon? Tun das nicht auch die Sünder?“ (vgl. Mt. 5,46 und Lk. 6,27), weil sie mit Selbstlosigkeit nicht viel zu tun hat. Insofern hat der Begriff „Nächstenliebe“ aus dem Christentum mit Liebe zur persönlichen Umgebung wie Partnern, Kindern, Verwandten oder Freunden nichts zu tun, sondern meint Fremdenliebe, weil nach dem Verständnis des Samariters alle Menschen Nächste sind. Denn jeder hat das Potenzial des Halbgottes oder Gotteskindes, weil er Besitzer des göttlichen Funkens ist, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Jeder hat das spirituelle Potenzial zur Selbsterkenntnis und -befreiung:

„Ihr seid Götter und alle Kinder des Höchsten.“ (Ps. 82)

Natürlich ist mit der Bezeichnung „Götter“ nicht der äußere Mensch gemeint, den wir alle durch unsere negativen Erfahrungen mit allen anderen und auch mit uns selbst kennen, sondern der innere, der Innengott, wie es die Hindus nennen, die Intuition, der „Vater in mir“ (Jesus), der Gottessohn, der in uns ist:

„Ich bin der Gott, das ewige Selbst, das jedem Wesen innewohnt.“ (Bhagavad Gita, X,20)

Aus der Benennung „Götter“ geht hervor, dass das Potenzial spiritueller Entwicklung, Transformation, Erleuchtung oder wie immer man das Erreichen eines höheren, des spirituellen Bewusstseins nennen will, das eigentliche Wesens- element des Menschen ist, weil es über seinen biologischen Säugetiercharakter hinausgeht; dazu bedarf es keiner besonderen Begabung, das ist bereits vorhanden.

Bestdesigns. iStock 1094434540

Aber niemand hat uns gesagt, dass jeder von uns vom Wesenskern her einzigartig, göttlich und faszinierend ist.

„Was nützt‘ es, ich wäre König und wüsste es nicht.“ (Meister Eckhart: Predigten 15)

Den Grund für unsere göttliche Herkunft nennt die Schöpfungsgeschichte: Es ist die Ebenbildlichkeit, also ein Verhältnis wie zwischen Vater bzw. Mutter und dem Kind. Dieses ist gewissermaßen ein Abbild der Eltern, aber doch nicht Erwachsenen gleich. Damit ist für jeden Menschen Schöpfungspotenzial verbunden („Macht euch die Erde untertan.“). Denn der Urgrund der Abbildeigenschaft wird von den Religionen als Allmacht, Allgegenwart und Allwissenheit definiert. Und es zeigt sich, dass der fürs Ebenbild bestimmte minimale Bruchteil davon mehr als ausreicht, um sich die Erde in jeder Hinsicht untertan zu machen.

Die Ebenbildlichkeit bezieht sich natürlich auf den inneren Menschen, seine geistige Identität. Allerdings ist sie den meisten Menschen trotz der unzähligen religiösen Zeugnisse nicht bewusst. Um diesen blinden Fleck im Bewusstsein beizubehalten, möchte das Ego im Menschen, der „äußere Mensch“ (Paulus in seinen Briefen) sich immer aufplustern und eine Art Gott spielen. Im Gegensatz zur Ebenbildlichkeit wäre dies eine Art Gottgleichheit. Das bezeichnet die Psychologie als Cäsarenwahn und kommt durchaus nicht nur bei römischen Kaisern oder Konzernchefs vor, sondern ebenfalls in allzu vielen häuslichen Gemeinschaften. Dies ist in manchen Kulturkreisen sogar das hauptsächliche Muster.

Natürlich hat der Mensch Schöpferkraft, aber nur von Zuständen und nicht von Prinzipien. Diese waren schon vor dem Menschen da wie die Relativität auch schon vor Einstein. Der Mensch kann durch Erbmanipulation und Klonen das Design von Leben kreieren, aber nicht das Leben selbst. Frankenstein lässt grüßen.

Dass der Mensch einen göttlichen Kern habe, erscheint angesichts seines Raubtierverhaltens und dem, was er unserem Planeten und seinesgleichen antut, wenig glaubhaft. Der moderne Mensch in Zeiten der Globalisierung sieht sich durch „andere“ einer Unzahl von Bedrohungen wie Konkurrenzverhalten, Anschlägen, Arbeitsplatzstreichungen, Einbrüchen, Flüchtlingsströmen, Leugnung der Klimakatastrophe, Kindesvergewaltigungen als Massenphänomen, religiös motivierter Gewalt, usw. gegenüber, bei denen schwerlich das besagte göttliche Erbe auszumachen ist. Aber es gehört ebenfalls zum alltäglichen Leben, dass unglaubliche Talente, Glanzleistungen und vor allem Aufopferungen für die Allgemeinheit zu beobachten sind:

Da sind die großen Vorbilder der Menschheitsgeschichte, die nicht als Ausnahmen, sondern als Vorbilder Beispiele für das innere Potenzial in jedem Menschen zu verstehen sind, ähnlich wie die Eltern für ihre Kinder. Täglich werden wir Zeuge davon, welche unglaublichen Fähigkeiten und Talente und welch Mut im Menschen stecken wie Ärzte ohne Grenzen, jugendliche Weltumsegler, Lebensretter, Heiler, künstlerische, technische und sonstige Supertalente, Supersportler, Whistleblower, usw.

Die Bedeutung des Bewusstseins der Ebenbildlichkeit für unser alltägliches Leben bringen alle Weisheitslehren zum Ausdruck, wenn auch in unterschiedlicher Form. Bei der Definierung des Göttlichen als Allmacht, Allgegenwart und Allwissenheit ist der Mensch zwar weder allmächtig noch allwissend, aber so wie das Kind Ebenbild der Erwachsenen ist, genügt der minimale Anteil der Teilhabe an göttlicher Allwissenheit und Macht durch den göttlichen Kern, durch die intuitive Führung, um ein unbeschadetes, versorgtes, friedliches und glückliches Leben zu führen, dem „nichts mangeln“ und dem „kein Übel begegnen“ wird.

Der Mensch ist das einzige Lebewesen mit der Fähigkeit zur Transformation. Eine Hauskatze kann das ebenso wenig wie ein Menschenaffe. Tiere können nicht aus dem animalischen Programm der Selbsterhaltung ausbrechen. Nur der Mensch hat die Fähigkeit, sich vertikal zu entwickeln, d. h. das tierische Programm des Selbsterhalts zu reduzieren und mehr und mehr durch das der Hingabe zu ersetzen. So entsteht die Eigenschaft, sich als geistiges Wesen zu erkennen, die Beschränkung auf eine ausschließlich materielle Identität zu überwinden und die damit verbundenen Kraftpotenziale zu entfalten. Goethe als Meister der poetischen Zusammenfassung bringt es auf den Punkt:

„Wär‘ nicht das Auge sonnenhaft,

die Sonne könnt es nie erblicken,

läg‘ nicht in uns des Gottes eigene Kraft,

wie könnt uns Göttliches entzücken." (Zahme Xenien, 3. Buch)

Ein Bewusstsein der zweiten Identität über den egoistischen Selbsterhaltungstrieb hinaus ist bei den meisten Menschen wie gesagt nicht vorhanden. Sie glauben, dass sie nur aus Verstand, Gefühlen und natürlich dem Körper bestehen. Sie sind davon überzeugt, dass der Verstand ihre wesentliche Steuerungsinstanz ist. Dass er aber nur Vollstreckungsorgan für Eingaben von „oben“, von ihrer Intuition und von "unten", also vom Ego, sein könnte, sehen sie nicht. Natürlich gibt es auch viele, die an die Existenz einer steuernden Seele in ihnen „glauben“, dies aber ohne weitere Konsequenzen.

Wären wir uns der unbewussten Steuerung durch den Selbsterhaltungstrieb als Motor unseres Verhaltens bewusst (vgl. David Eagelman: The Brain) und würden wir die Mahnung der Bergpredigt („Liebet eure Feinde …“) verstehen, könnten wir akzeptieren, dass dieser Ego-Zwang auch in jedem anderen herrscht und uns entsprechend verständnisvoll verhalten. Das wird im Christentum „Nächstenliebe“ genannt, in der hinduistischen Weisheit Kooperation und bei den Buddhisten „Nichtfeindschaft.“

Dann wäre es so gut wie unmöglich, einen Mitmenschen als Mittel zum Zweck zu benutzen, ihn mit Hungerlöhnen zu beschäftigen oder so auszunutzen, wie es allzu häufig Männer mit Frauen tun.

Das göttliche Ebenbildlichkeitsbewusstsein – vorausgesetzt, es begleitete unser alltägliches Tun und Handeln – löst alle Probleme, die auftreten könnten und schützt vor allen möglichen Drohungen und Gefahren. Denn wir sind uns dann unserer Macht – nicht im Sinn von Herrschen – bewusst und werden im Maß unserer intuitiven Aufnahmefähigkeit mit allem fertig. Aber das hat uns nie jemand gesagt. Im Gegenteil sind wir unserer Fehler und Schwächen immer stärker bewusst als unserer Potenziale, von den spirituellen ganz zu schweigen. Machen wir uns aber letztere bewusst, ist dies der Einstieg in die Erlösungsebene

(Was ein Bewusstsein eigener Großartigkeit betrifft, so sind natürlich alle Narzissten genau davon überzeugt, aber ein solches Bewusstsein hat natürlich nichts mit geistiger Erkenntnis und spiritueller Reife – in Demut – zu tun und soll nur die individuellen Minderwertigkeitskomplexe überdecken.)

Das Unwissen über die eigene Doppelidentität ist die entscheidende Ursache allen Leidens dieser Welt, was der Buddha vor zweieinhalbtausend Jahren schon klar erkannt hat. Wir sind biologische Säugetiere, die sich auch so verhalten, aber auch im Innern göttliche Wesen. Wir sind Ausdruck des Triebs des Säugetiers, aber auch Ausdruck der göttlichen Liebeskraft. Dass wir in einem Jammertal leben, ist Folge dieses Unwissens. Deshalb fordert der Hindugelehrte Vivekananda die Menschen auf:

"Wisst Ihr, wie viel Macht, Kraft und Größe in Euch verborgen liegt? Der Mensch hat erst einen unendlich kleinen Teil seiner wirklichen Macht zur Offenbarung gebracht. Wer ihn klein und schwach wähnt, irrt. Kennst Du alles, was in Dir steckt? In Dir sind unbegrenzte Kraft und Glückseligkeit. In Dir lebt der Weltengeist, dessen inneres Wort das einzige ist, auf das Du horchen … solltest. Erkenne, wer Du in Wirklichkeit bist, die keinem Tode unterworfene, allwissende … Seele. Erinnere Dich dieser Wahrheit Tag und Nacht, bis sie zu einem Bestandteil Deines Lebens geworden ist und Dein Denken und Tun bestimmt. Denke daran, dass Du … nicht der schlafende Alltagsmensch bist. Erwache und erhebe Dich … und offenbare Deine göttliche Natur."

Solange die Selbsterkenntnis des inneren göttlichen Ebenbildes nicht da ist, dominiert das von der Selbsterhaltung geprägte niedere animalische Verhalten und ist nicht Abbild der höheren Seele. Genau das ist der Grund, warum der egozentrierte Mensch erkranken, Wünsche und Ängste haben, betrügen, quälen und morden kann. Einen Beitrag zur Selbsterkenntnis der geistigen Ebenbildlichkeit hinter der materiellen Oberfläche der Person leistet Jesus mit den folgenden Aussagen:

„So ich von mir selbst zeuge, ist mein Zeugnis nicht wahr.“

„Gott sieht die Person nicht an.“

„Ich kann nichts von mir selber tun, der Vater in mir tut die Werke.“

"Der, der in euch ist, ist größer als der, der in der Welt ist."

Jesus hat nie gesagt, dass er Gott sei, er betont, wie gerade ersichtlich, dass er ihn in sich habe, er also sein Ausdruck bzw. seine Verwirklichung sei. Damit überwindet er die Beschränkung des (Un-)Bewusstseins des biologischen Tiers und weist auf den Gottessohn im Innern hin: „ICH BIN der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mICH.“ Gemeint ist mit der Großschreibung seiner Selbstbezeichnung, dass er nicht seine Person meint, sein kleines „ich“ in dem Satz „Ich kann nichts von mir selber tun.“ Vielmehr bezieht er sich auf seine göttliche Identität im Innern:

Der Schlüssel dafür liegt in derjenigen Szene, in der Gott sich selbst gegenüber der Person Mose benennt: ICH BIN, der ICH bin!“ (Ex. 3,14). Die geistige Identität des Menschen – der (hin)eingeborene Sohn – trägt den Namen ICH. Damit kommt der Innengott (Begriff im Evangelium: Christus) im Menschen zum Ausdruck. In der modernen wissenschaftlichen Debatte wird oft der Begriff „Selbst“ verwendet. Insofern hat der Mensch jedes Mal, wenn er das Wort ich verwen- det, theoretisch die Wahl, ob er sich in diesem Moment als materielle Identität, als Person meint oder als seine geistige, seinen göttlichen Kern.

Die Kirchen haben von Anfang an den ICH BIN-Ausspruch über „den Weg, die Wahrheit und das Leben“ nun derart verwendet, als dass Jesus der einzige Mensch wäre, der diesen Weg und diese Wahrheit verkörpern würde. Sie sagen, dass Jesus der Messias sei, ignorieren Mose, Mohammed, Nanak, Buddha und andere. Sie meinen damit, dass es seine „gottgewordene“ (Ist Gott nicht vielmehr unsichtbar?) Person sei und dass er der einzige sei. Dem widerspricht eine Reihe seiner eigenen Aussagen, wie z. B.: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch." Insofern definiert sich Jesus als Person und Gefäß für den Christus, den „Gesalbten“ (Hinduismus: Atman).

Weil also jedem Menschen der „Odem Gottes einge- haucht“ ist, ist jeder potentiell befähigt, sagen zu können, dass das höhere ICH in ihm - im Gegensatz zum niederen Ich - „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ ist.

Die jüdische Weisheit trägt mit noch einem weiteren symbolischen Hinweis zur erweiterten Selbsterkenntnis bei: Bei der Erschaffung des Menschen formt der Schöpfer nicht nur den Erdenkloß, also die biologische Materie mit Verstand, Gefühl, Gedächtnis und Körper (engl.: Body und Mind), sondern haucht ihm dann noch seinen (!) Atem (Spirit; Bewusstsein) ein und erweitert die materielle tierische Dimension um die geistige.

Natürlich war Jesus nicht irgendein Prophet, sondern nahm auf Grund seiner Lehre und seiner Lebensführung als Leitbild und Leuchtturm eine Sonderrolle ein, die eines gewaltigen Weltenlehrers, wie auch andere Religionsstifter, aber die Kirchen haben schnellstmöglich an ihm (und der Jungfrau Maria) einen Personenkult entfaltet, von dem sich der Führer Nordkoreas noch eine Scheibe abschneiden könnte. Die Gründe sind naheliegend: Erstens hatten seinerzeit nur die wenigsten Menschen schon die Fähigkeit, zwischen Erscheinung und Wesen zu unterscheiden (außer Platon, Plotin und Buddha). Zweitens wäre die Idee, dass „der Vater in mir“ sich in jedem Menschen befindet, eine fatale Einschränkung für die Existenzberechtigung der Kirche als Flaschenhals zwischen Mensch und Gott. Sie meiden die Parallele, die Jesus zieht, wenn er zum einen ausspricht: „Ich>ICH bin das Licht der Welt!“ (Joh. 10,34) und dieses gemeinsame Merkmal an einer anderen Stelle an alle Menschen überträgt: „Ihr seid das Licht der Welt!“ (Mt. 5,14)

Das Dogma vom menschgewordenen Gott verhilft den Kirchen zum Streben nach Einzigartigkeit und Einmaligkeit ihrer Lehre, wie es auch die Muslime mit ihrem Ideal, dem Koran tun. (Zur Unüberbietbarkeit der christlichen Religion in krassem Maß siehe Karl Barth.) Sie verbergen die Ambivalenz von Person und Seele durch das Konstrukt vom besagten menschgewordenen Gott oder umgekehrt gottgewordener Person und leugnen damit den göttlichen Funken in jedem Menschen. Aber: „Ihr seid Götter.“ (Joh. 10,34)

Die Bezeichnung ICH (häufig auch als „Selbst“ bezeichnet) meint die Seele, den „Vater in mir“, nicht die Person „ich.“ Das wird dadurch unterstrichen, dass Jesus durch seine Lebensführung immer versucht hat, von seiner Person abzulenken: „Was nennst du mich gut, niemand ist gut, nur Gott!“ Schließlich drückt er die duale Unterschiedlichkeit der beiden Instanzen im Menschen auch dadurch aus, dass er als Person zu Gott betet, d. h. sich an seine Seele wendet. Wäre er Gott, wie es die Kirchen wollen, bräuchte er nicht zu Gott beten. Ein Gott betet zu Gott?

Die Kirchen umgehen es geschickt, den direkten individuellen Zugang jedes einzelnen zu seiner göttlichen Seele, den Weg aller spirituellen Sucher, auch nur zu erwähnen. Auch weitere Aussagen aus den Evangelien verdrängen die Kirchen, bezeichnen sie als "falsch übersetzt", oder versuchen, sie umzudeuten.

"Ich lebe, doch nicht ich, sondern der Christus lebt in mir."

"Euer Leib ist ein Tempel des Heiligen Geistes, der in euch ist.“

Die jüdische Weisheit des Tanach (AT) drückt den oben erwähnten Sachverhalt des Innengottes in folgender Form aus: Dass Gott dem Menschen sein Leben einhaucht, zeigt, dass es nicht menschliches Leben und auch nicht nur Leben als solches ist. Es ist der Hintergrund der Ebenbildlichkeit.

"Wer an mICH glaubt, der wird diese Werke auch tun und wird größere als diese tun."

"Ehe Abraham war, bin ICH!"

"Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern der Christus lebt in mir." (Paulus)

Die rasende Wut schottischer Presbyterianer auf die Quäker lässt sich an folgendem Ausrasten ablesen:

„Verflucht seien alle, die da sagen, jedermann habe ein Licht, das genüge, um zu Christus zu führen“

(Paul Held: Der Quäker George Fox. Kap. 1

ÄUßERE VERSCHIEDENHEITUND INNERE EINHEIT DER MENSCHEN

Wenn sich in jedem Menschen die göttliche Substanz als Seele („Spirit“) befindet, ist, dann ist auch klar, dass diese geistige Identität in jedem Menschen die gleiche ist, genau wie wir alle dieselbe Luft atmen. Die linke und die rechte Hand sind zwar individuell verschieden, bilden aber dennoch eine Einheit. Das verbindende Element ist der gemeinsame Blutstrom, ohne den sie nicht existieren könnten. Die Menschen sehen die beiden Hände, aber nicht das vereinheitlichende Blut und deshalb nicht dasselbe Leben, das diese Hände erst ausmacht. Deshalb nehmen sie jeden anderen Menschen als Gegenüber wahr, ohne die gemeinsame Substanz zu erkennen, die uns noch mehr verbindet als auf der sichtbaren Ebene Zwillinge. Die Menschen stellen innerlich geistig eine Einheit dar wie die Finger an einer Hand, die zwar äußerlich individuell verschieden sind, in Wirklichkeit aber durch ihre unsichtbare Essenz eine Einheit sind. Auf der stofflichen Ebene sind sie unterschiedliche Personen, auf der wesentlichen sind sie eine Einheit.

Wie eine Lichterkette verschiedene Glühleuchten haben kann, einige mit 10 Watt, andere mit 100, einige mit kleiner Fassung, andere farbig, usw., so ist es dieselbe Energie, die das Leben der Träger ausmacht. Sie ist es, die "…die Welt / im Innersten (!) zusammenhält." (Goethe, Faust I, Nacht)

Ohne sie wäre die Lichterkette keine Lichterkette, es wären nur leblose Plastik-, Glas- und Metallteile. Die Glühbirnen sind Träger des Lichts, aber nicht das Licht selbst. Wir identifizieren uns immer mit der Form der Glühbirne, nie mit der unsichtbaren Energie, unserer göttlichen Essenz, dem Leben. Das Leben in uns ist unser Wesen. Es ist unsere eigentliche, weil unvergängliche Identität.

Die meisten Menschen identifizieren sich mit ihrem Körper und ihrem Verstand, weil sie „den Vater in mir“ nicht kennen und dieses Leben als Gewissen bzw. Bauchgefühl nicht verstehen.

Deshalb entwickeln sie auch kein Verständnis für den Wandel der vergänglichen Formen: Man ist erst Kleinkind, dann Erwachsener, dann alter Mensch, aber immer ist man sein Leben. Und wenn das Blatt des Baumes verwelkt und abgeworfen wird, stirbt nicht das Leben des Baumes. Der Mensch ist Leben, und er hat dessen Werkzeuge, den Verstand mit Gedächtnis und Gefühlen (engl.: Mind) und seinen Körper.

Ich bin mit jedem anderen Menschen wesensgleich. Sein Kern ist mir näher als ein siamesischer Zwilling, er trägt wie ich das ICH in sich, ob er sich nun so verhält oder nicht. So wie wir dieselbe Luft atmen, haben wir alle ein und dasselbe göttliche Leben. So bildet mein Verhältnis zum anderen, v.a. bei "Feinden", dasjenige zum Schöpfer ab. Wer sein Gegenüber als Person aus Fleisch und Blut auffasst und nicht primär als geistiges/göttliches Wesen, der lässt sich von der Oberfläche blenden: Er erkennt die Hand im Handschuh nicht. Der Blick auf den äußeren Menschen, die Person, verhüllt den Blick auf seinen inneren Wesenskern. Die gemeinsame Lebensquelle ist der Grund für die innere Gleich-heit und Brüderlichkeit aller Menschen, jeglicher äußerlicher Vielfalt zum Trotz. Die Pädagogin Maria Montessori setzte dieses Prinzip in ihrer vorschulischen Erziehungsarbeit um:

"Das Geheimnis der Erziehung ist, das Göttliche im Menschen zu erkennen …"(Kleine Schriften 4, Die Stellung des Menschen in der Schöpfung)

http://www.amrutphilately.com/gallery/index.phpWikimedia Commons: Maria Montessori 1970 Briefmarke vonIndia.jpg Government Open Data India (GODL)

Alle bisherige Erfahrung zeigt, dass die Mahnung des Orakels von Delphi nicht erfüllt ist. Aber nur mit deren Realisierung ist individuelle Erlösung aus dem Jammertal möglich. Mit anderen Worten: Nur mit der Erkenntnis der eigenen Doppelnatur kann es Erlösung geben, d. h. Befreiung von Angst, Sorge, Elend, Bedrohung und Gefahr, denn:

„Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes …,

dann wird euch alles (!) zufallen!“

Das „Reich Gottes“ ist nirgendwo geographisch oder im Weltraum zu finden, sondern nur im Menschen selbst. Es ist das Bewusstsein der eigenen Identität als göttlichem Ebenbild mit dessen damit verbundenen Attributen, also Allmacht, Allpräsenz und Allwissenheit, wie sie in allen heiligen Schriften genannt werden. Das heißt nicht, als Individuum, das dieses Bewusstsein erlangt hat, nun allmächtig oder allwissend zu sein. Das Kindergartenkind kann sich auch nicht mit dem Staatspräsidenten gleichstellen, aber die Ebenbildlichkeit ermöglicht es, mit diesem Bruchteil eines Prozents von Allmacht sich die Erde untertan zu machen, auf nachhaltige und brüderliche Weise.

Damit diese Verheißung kein leeres Versprechen bleibt, muss man schon den Mut haben, sie auf den Prüfstand zu stellen, d.h. durch die Meditation zu „trachten“, also „anzuklopfen“, damit einem „aufgetan“ wird. Es geht um die Befreiung eben des „gefangenen Glanzes" (Browning). Dann wird man zum Ausdruck seiner Seelenkraft wie die Facette eines Diamanten: Man ist nicht der Diamant, gehört aber zu ihm, ist ein Teil und die Oberfläche, ihr Ausdruck.

Diese im eigentlichen Sinn verstandene Menschwerdung, die Bewusstwerdung seiner Essenz, findet sich in einer Fabel aus Ghana wieder:

Ein Mann fand im Wald ein aus dem Nest gefallenes Adlerküken und steckte es zu Hause in den Hühnerhof. Und er gab ihm Hühnerfutter zu fressen. Nach einigen Jahren kam ein weiser Mann zu Besuch. Der sagte, dass dieser Vogel ein Adler sei und kein Huhn. Der Besitzer antwortete, dass er das wüsste, er den Adler aber zu einem Huhn erzogen hätte und dass dieser nun ein Huhn sei. Der Besucher widersprach: "Er ist immer noch ein Adler, denn er hat das Herz eines Adlers. Dieses Herz wird ihn hoch hinauffliegen lassen." Sie beschlossen, das auszuprobieren. Der Besucher nahm den Adler, hob ihn in die Höhe und sagte: "Breite deine Schwingen aus und fliege!" Der Adler schaute sich um, sah die Hühner nach Körnern picken und sprang zu ihnen hinunter. Der Besitzer sagte: "Ich habe es dir doch gesagt." Sie probierten es die nächsten Tage wieder, aber immer kehrte der Adler zu den Hühnern zurück. Schließlich brachte ihn der kundige Mann eines Morgens hinaus aus der Stadt an den Fuß eines hohen Berges. Die Sonne ging gerade auf. Der Mann sagte zum Adler: "Adler, du bist ein Adler. Fliege!" Der Adler schaute umher, zitterte, flog aber nicht. Da ließ ihn der weise Mann direkt in die Sonne schauen. Der Adler breitete seine Flügel aus, erhob sich mit dem Schrei eines Adlers und flog höher und höher und kehrte nicht zum Hühnerhof zurück.

MR1805: 3D illustration with sea eagle. iStock 1217746925

Den Weg vom „Huhn“ zum Adler vollzieht Neo im Film „Matrix I“, den Weg von Kleinganoven zum Auserwählten. Diesen Weg vom einfachen Zimmermann zum geistigen Lehrer sind viele spirituellen Meister, Trainer, Seher, Heiler, usw. zu ihren Bestimmungen gegangen, gegenwärtig solche Autoren wie Tolle, Walsch und viele andere. Dieses Potenzial ist in jedem Menschen angelegt, unabhängig davon, in wieviel unzähligen Schritten bzw. Reinkarnationen er diesen Weg zurücklegt.

Der spirituelle Weg zur wahren Selbsterkenntnis befreit von der negativen Egosteuerung, erzeugt eine wesentlich erhöhte Frustrationstoleranz und bringt Selbstachtung hervor, ein bislang nicht gekanntes Selbstwertgefühl. Man wird dann zum Ausdruck derjenigen Instanz, die man eigentlich schon ist, die aber zu „aktivieren“ ist. Das ist der Hintergrund für das Dichterwort: „Werde, der du bist!“

LEBEN UNTER DEM SCHIRM DES HOHEN ICH

Von den beiden Seelen, die „ach, in meiner Brust“ wohnen, ist die eine die animalische Triebseele. Sie steuert mein gesamtes Verhalten so, dass ich esse, zu trinke, mich kleide, mich fortpflanze, für meinen Unterhalt kämpfe, mein Revier verteidige, Konkurrenten vertreibe, den Nachwuchs großziehe und mich ausruhe, kurz, dass ich mich erhalte, dass ich überlebe. Auch unsere Hauskatze hat all diese Eigenschaften unseres instinktiven tierischen Erbes.

Die andere Seele, die Geistseele will uns versorgen, führen, schützen und weiterentwickeln. Bei ihrem bewussten Erkennen gibt es keinen Mangel mehr. Durch das Bewusstsein ihrer Gegenwart werden wir zum unerschöpflichen Strom der Fülle für uns und unsere Umgebung. Der Beweis dafür ist die konkrete Erfahrung, die der machen kann, der sich für sie öffnet – der „anklopft“ – und Antwort erhält, dem „aufgetan“ wird.

Die Wirkung der Geistseele entfaltet sich nur da, wo sie angestrebt, als Gegenwart erkannt und auch physisch wahr-genommen wird. Wenn ich so bewusst zur dialogischen Gegenwart gelangt bin, habe ich Fülle und Erfüllung. Dann lebe ich nicht mehr nur von mir selbst, sondern werde im Wesentlichen von meiner Seele gelebt, was für das Egoprogramm im Menschen eine grausige Vorstellung ist. Der Dialog mit unserem höchsten Selbst kann nicht willentlich hergestellt werden und schon gar nicht erdient werden. Was wir aber dazu tun können, ist, die Empfangsbereitschaft durch Meditation aufzubauen: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen …“ (Faust II, Bergschluchten). Die Seele klopft ständig leise an, um sich zu Gehör zu bringen, aber die meisten Menschen sind so in der menschlichen Dimension befangen, dass sie nicht hören und schon gar nicht suchen. Dadurch leben sie in einer Welt des Mangels, des Zufalls, der Unberechenbarkeit und der Angst.

„Halt an, wo läufst du hin,

der Himmel ist in dir;

suchst Gott du anderswo,

du fehlst ihn für und für.“

(Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann I, 82)

Der Glaube, dass wir von unserer Seele getrennt seien bzw. das Unwissen in Bezug auf ihre Existenz und wahre Macht („Macht euch die Erde untertan“) ist die Ursache für ausnahmslos alle unsere Probleme, für jeden Mangel. Wer nicht weiß, dass er seinem Wesensmerkmal nach göttlicher Natur ist, unterliegt dem Leid und dem Mangel des Jammertals, obwohl es nur ein Schritt zur Selbsterkenntnis wäre. Jeder Gedanke der Sorge ist eine Demonstration des Misstrauens gegenüber meiner inneren Stimme. Auch wenn wir „nach oben“ schauen – wie viele Fußballer das tun, bevor sie das Spielfeld betreten –, haben wir in diesem Moment Trennung aufgebaut.

Ich bin wie der Zweig eines Baumes: Aus dem Baum kommt das Leben in den Zweig, nicht aus der Umgebung. Ein Zweig kann nicht aus sich selbst Frucht tragen. Es gibt nicht das Leben des einen Zweiges und das des anderen Zweiges. Es gibt nur das Leben des Baumes. Deswegen welken alle Menschen, die ein vom ICH, vom Selbst getrenntes Leben führen.

Nichts muss zu uns kommen, alles muss aus uns kommen, damit Gnade und Fülle fließen. Dann werden (Jesaja 45) alle vor uns liegenden Hindernisse eingeebnet. Wir können unsere Seelenkraft nicht nutzen, außer als Ratgeber, aber sie uns. Sie kann uns ernähren, unterbringen, schützen und führen. Dazu muss ich in die Stille gehen, damit das Wut- und Angstgeschrei des kleinen Ich ruhig wird und mein Hohes ICH bewusst, hörbar und wirksam wird.

Die Suche nach meinem Hohen ICH ist der Weg zu Selbsterkenntnis und -verwirklichung und zugleich zur individuellen Wohlfahrt im Hier und Jetzt. Die es erkennen, haben das Glück und die volle Genüge.

Dann sind wir auch nicht mehr verantwortlich für unseren Lebensunterhalt, wie es die Kinder eines liebenden Vaters auch nicht sind. Denn das ist seine Aufgabe. Das bedeutet nicht, dass es für uns nicht mehr erforderlich ist zu arbeiten, sondern dass wir es nicht mehr erkämpfen müssen. Wir erledigen einfach „nur“ noch die Dinge, die auf uns zukommen, auch wenn dies erhebliche Anstrengungen bedeutet. Wir müssen uns nicht mehr im “Schweiße unseres Angesichts“ um unser Einkommen abmühen, sondern wir erben. Wir sind dann nicht mehr von irdischen Zuständen abhängig, sondern ausschließlich von der Führung durch unsere Seele. Diese Freiheit bedeutet die Befreiung von allen irdischen Abhängigkeiten (finanziell, gesundheitlich, beziehungsmäßig, usw.) durch den Eintritt ins ICH-Bewusstsein.

Die Identifikation mit unserem Hohen ICH ist deshalb so schwierig, weil es für uns völlig ungewohnt ist, einer unsichtbaren (!) Instanz zu vertrauen und mich ihr hinzugeben. Vielmehr glauben wir, selbst verantwortlich zu sein. Außerdem ist es deshalb schwer, sich mit ihr zu identifizieren, weil wir von klein auf an die Mächte der äußeren Welt gewöhnt sind. Schließlich haben wir auch nie Kenntnis von ihrer Existenz erhalten, obwohl wir wissen müssten, dass es mehr gibt als Körper, Gefühle und Verstand, nämlich unsere ICH-Seele, unsere Intuition, umgangssprachlich unser Bauchgefühl oder Gewissen.

Unser größter Feind im Leben ist die falsche Auffassung vom Ich. Diese Auffassung, dass ich nicht vollkommen und nicht gut genug bin, wie es die Kirchen über die Jahrtausende predigten – eine Des-Identifizierung sozusagen –, ist eine abwegige Vereinseitigung und Verabsolutierung unserer Säugetiernatur, ein komplettes Unverständnis der Aussage, dass wir als Ebenbild erschaffen sind. Sie läuft letztlich auf eine Beleidigung des Schöpfers hinaus. Adam und Eva haben trotz der Vertreibung aus dem Paradies ihren Ebenbild-Status nicht verloren. Insofern bleibt das Ziel des Lebens die Rück-Erlangung des Kontaktes zu unserem Selbst. Dann hat sich der Prinz erfolgreich durch die Dornenhecke zur Prinzessin durchgeschlagen.

KAPITEL 2: DAS MENSCHLICHE PSYCHOGRAMM

RHETORISCHE FRAGE: IST DER MENSCH GUT ODER BÖSE?

Schon in der Antike haben sich chinesische Philosophen die Frage gestellt, ob der Mensch nun gut oder böse sei: Mong Dsi/Mengzi (um 300 v.u.Z.) sagt, die menschliche Natur sei gut:

„Die natürlichen Triebe tragen den Keim zum Guten in sich … Wenn einer Böses tut, dann liegt der Fehler nicht in seiner Veranlagung. … Das Gefühl des Mitleids ist allen Menschen eigen, … Liebe und … Weisheit sind nicht von außen her uns eingetrichtert, sie sind unser ursprünglicher Besitz.

Hsün-Tzu/Xunzi (um 250 v.u.Z.) sagt, die menschliche Natur sei böse:

„Die menschliche Natur ist böse, und was am Menschen gut ist, ist Ergebnis seiner Anstrengungen. Unsere menschliche Natur ist so, dass wir von klein auf an materiellem Gewinn interessiert sind. Lässt der Mensch diesem Interesse freien Lauf, dann kommen Streit und Raub auf. … Von klein auf empfindet der Mensch Neid und Abneigung.“(beide bei Höffe, Otfried: Lesebuch zur Ethik)

In der Zeit der Aufklärung äußern sich Rousseau und Hobbes nach dem gleichen Muster. Warum überhaupt die Fragen nach der menschlichen Natur? Weil jeder ihr unterliegt und ein gewisses Verständnis dafür braucht. Außerdem versucht jeder, sein Handeln und das der anderen einzuordnen, um eigene Verhaltensweisen und Entscheidungen optimal zu steuern. Es geht auch darum, mit „Bösem“ bei sich und anderen umgehen zu können und zu erkennen, was richtig und was falsch ist, z. B. in der Erziehung, im Geschäftsleben, in der Familie, usw. 

Die Aufforderung „Erkenne dich selbst“ soll zum höheren Selbstverständnis führen, das über ein erfülltes Leben entscheidet. Damit ist nicht nur materielles Wohlergehen, sondern auch ein erfolgreiches spirituelles Leben gemeint, das die Sinnfrage beantwortet. Dadurch verwirklicht der Mensch seine Bestimmung. 

Zum „bösen“ Teil der menschlichen Natur: Einleitend soll Georg Büchner in seinem Fatalismusbrief zu Wort kommen: „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“

Der portugiesische Mönch (Mitbegründer von São Paulo und Rio de Janeiro) Manuel de Nóbrega schreibt 1559:

„Am Anfang der Welt war nur Mord und Totschlag.“(Ben Kiernan: Erde und Blut, S.9)

Hermann Knaur: Kain und Abel-Gruppe. 1845 StadtgeschichtlichesMuseum Leipzig, Nr. K 107b Wikimedia Commons

Die Geschichte von Kain und Abel sagt in symbolischer Form, dass Gewaltanwendung von Anfang an zur Menschheitsgeschichte gehört und damit zum Grundsachverhalt der menschlichen Software.  Dabei steht Abel für den spirituellen Software-Anteil im Menschen, in dem die hohe Seelenkraft dominiert, während Kain den irdischen niederen Teil im Menschen darstellt, der von der Triebkraft des Selbsterhalts beherrscht ist und damit von Neid, Selbstliebe, Missgunst, Eifersucht und Hass.

Das heilige Buch des Judentums, der Tanach (christliche Bezeichnung: Altes Testament), sagt aus:

„…alles Trachten ihres Herzens war nur böse immerdar…“ (Genesis 6)

Wir sind aber aufgefordert, Herr über diesen Dämon zu werden, und das Wichtigste, auch dazu befähigt:

„… die Sünde hat nach dir Verlangen, du aber herrsche über sie.“ (Genesis 4)

DAS NIEDERE BASISPROGRAMM, DER SELBSTERHALT

Das Fundament des menschlichen Verhaltens als biologischem Säugetier ist die Selbsterhaltung. Sie enthält eine Reihe von Merkmalen, die in jedem zum Ausdruck kommen, – wenn auch mehr oder weniger –, weil eben jeder auf dieser Basis lebt. Das impliziert zum Beispiel das Verhalten „auf Kosten anderer“, nicht nur bei der geschönten Erklärung der Einkommenssteuer. Es greift sogar schon dann, wenn man in einer geselligen Runde permanent das Gespräch an sich reißt, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Der menschliche Egoismus entspringt unserer Stammesgeschichte: Unsere Handlungen basieren auf Eigennutz und kommen aus unserer biologischen Software des Tiers: Re- vierverteidigung, Aufplustern vor Weibchen, Flucht oder Angriff bei Bedrohung, Paarungstrieb, Lebensraumeroberung, Hierarchiekämpfe, Unkenntnis eines Gesamtwohls, usw.  Es sind zunächst einmal alles biologisch notwendige (!) tierische Existenzfaktoren.

Entwicklungsbiologisch „…muss der Mensch sich selbst weit wichtiger nehmen als irgendjemand sonst, …, um ihm die Möglichkeit zu geben zu überleben.“ (Erich Fromm: Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen.)

Allerdings geht der menschliche Egoismus durch seinen höher entwickelten Verstand grundsätzlich dramatisch weit über das Quantum der tierischen Selbsterhaltung hinaus, die weder das Anhäufen (über den Winter hinaus) noch das Quälen, Foltern, Morden, usw. kennt. Er neigt ebenso grundsätzlich zu einer extremen Egozentrik, der seinen Träger mehr oder weniger unempfindlich für Mitgefühle gegenüber den Mitmenschen macht. Gaffer, Raser und Poser, Helikoptereltern, gewalttätige Familienväter, staatliche Gewalt und auch Massaker zwecks Machterhalt, viele Geistliche, Trainer, Boyscout-Leiter, Vergewaltiger von Klein- und Kleinstkindern, weiterhin mörderische Ku-Klux-Klan-Rassisten, Amokläufer, Attentäter. Das Böse ist inhaltlich „natür-lich“, also aus der biologischen Natur, und das geistige Gute insofern nicht aus dieser biologischen Herkunft, also „un-natür-lich.“ Das Natür-liche ist es, was uns daran hindert, göttliche Prinzipien (z. B. die Goldene Regel) zu beachten. Paulus nennt das folgerichtig den „natür-lichen“ Menschen.

"Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes, es ist ihm eine Torheit." (1.Kor. 2,14)

Das Leben auf unserem Planeten ist so gestaltet, dass jeder für die anderen da ist, egal, ob es sich um Lehrer, Pfleger, Händler, Ordnungshüter, Journalisten, Wissenschaftler, Facharbeiter, Manager, Verwaltungsangestellte, Politiker oder Landwirte handelt, aber dem Ego gelingt immer zielsicher die Umkehrung.

Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wie auch Feindesliebe sind Potenziale, die den Menschen vom Tier abheben. Angriffe auf Flüchtlinge, Ausgrenzen von „Andersartigen“, Attentate auf liberale Politiker, Anschläge auf Synagogen, Moscheen oder „Ungläubige“ sind biologisch gesehen unsere „natürlichen“ – tierischen – Angst- und Aggressionsimpulse, so wie Revierinhaber ihre Konkurrenten wegbeißen. Deshalb ist wahres Menschsein, diese tierischen Impulse zu kastrieren. Deren Beherrschung ist das Thema der Weisheitsschriften. Deshalb ist nicht die Säugetiernatur Vorbild für spirituelles Handeln, sondern das speziell Menschliche, unser göttliches Bewusstsein, das wir manchmal „Gewissen“ nennen. Es geht um das Knebeln des egoistischen Selbsterhaltungstriebes und die Entfaltung der verständnisvollen Liebe über den eigenen Tellerrand hinaus, die sich nur mit erzieherischem und kulturellem Aufwand entfaltet.

„Tugend will ermuntert sein,Bosheit kann man schon allein."(Wilhelm Busch: Plisch und Plum)

Zum Basisprogramm des Menschen gehört es, das Du als Gefahrenquelle zu verstehen. Das hat der Regisseur Stanley Kubrick in seinem epochalen Film „2001 - Odyssee im Weltraum“ in der Anfangssequenz dargestellt: Eine Horde Frühmenschen lebt in einer Höhle, neben der sich ein Wasserloch befindet. Es gehört zu ihren Lebensgrundlagen. Eines Tages taucht eine andere Horde auf der Suche nach Wasser auf. Sofort entsteht Streit, der damit endet, dass der Anführer der Höhlenbewohner den der Konkurrenten erschlägt. Da war keine Spur von Nächstenliebe wie beim barmherzigen Samariter; deshalb ist dieses Thema das gemeinsame und zentrale Anliegen aller Weltreligionen.

Dass sich daran bis heute nichts geändert hat und wir nach wie vor bei jedem Konflikt uns gegenseitig an die Kehle gehen, zeigen die unzähligen und unendlichen Rosenkriege, Handelskriege und Weltkriege, die Konflikte zwischen Ehepaaren, Eltern und Kindern, Nachbarn, Geschäftspartnern und Konkurrenten, die Prozessfluten, die Karriereintrigen, die Shitstorms, die Diebstähle, Überfälle, Morde, die Cyberattacken, insgesamt ein Bild des Ignorierens der christlichen, islamischen, hinduistischen, taoistischen, buddhistischen Ideale der wahren Liebe (s. Kap. 7).

Der Selbsterhaltung sind fast alle menschlichen Regungen, Entscheidungen und Handlungen unterworfen. Die Erscheinungsformen sind vielfältig, aber sie gehorchen alle ein und demselben Prinzip. Jeder Mensch kommt mit dieser Software seines Säugetiererbes auf die Welt. Es liegt später in seinem Ermessen, inwieweit er diese Steuerungen, diese Triebe zu beherrschen lernt. Durch kulturelle und zivilisatorische Einflüsse kann er dieses „Tier in sich“ („The beast in me“; Jonny Cash) schon kontrollieren, aber der kulturelle Lack, der mühsam auf dieses animalische Fundament aufgetragen ist, ist durchscheinend:

„Manchmal frage ich mich: Wie dünn ist eigentlich die Zivilisationsschicht, die wir im Umgang miteinander haben?"

(Bundesinnenminister de Maizière über die Sprache des Hasses im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise: ZEIT Nr. 51, 2015)

Der unbewusste Selbsterhaltungstrieb mit all seinen Verhaltensvarianten ist verantwortlich für alles, was die Menschen sich selbst, den anderen und der Erde antun. Er soll im Folgenden in seiner Ausdrucksform als Ego bezeichnet werden.

Ego: Es will nichts außer sich selbst und kreist in letzter Konsequenz nur um sich selbst und das eigene Wohl. Das Wohl jedes anderen interessiert letztlich nur dann, wenn und solange es ihm selbst nützlich ist. Das gilt sogar für die besten und liebsten Nahestehenden; denn wenn die eigene Existenz gefährdet sein sollte, fällt die Maske und es tritt unverfälscht hervor.

Allem, was nicht ich ist, steht das Ego verständnis- und empfindungslos gegenüber: Das sieht man deutlich nicht nur an narzisstischen Präsidenten, Gaffern, Helikoptereltern (Buchtitel „Verschieben sie die Deutscharbeit, mein Sohn hat Geburtstag“), Reichsbürgern oder QAnon-Anhängern. Wenn der SPIEGEL schreibt: „Wir leben in einer hochgradig narzisstischen Gesellschaft! Das Virus vermasselt mir das Ausgehwochenende, das Shoppingerlebnis, den Fernurlaub!“, dann ist das ein Indikator dieser Egozentrik.

Eine 62-Jährige auf ihrem Fahrrad kreuzt die Straße, wird von einem Auto erfasst und fällt. Der Fahrer hält an, würdigt die Verletzte keines Blickes, richtet sein verbogenes Nummernschild und fährt weiter (nach ZEIT ONLINE 30.03.2016).

Die Triebnatur des mitleidfreien Fahrers hat Mitgefühl für die Geschädigte nicht zugelassen. Unsere Hauskatze hätte nicht anders reagiert. Viele Hunderttausende Fahrerfluchten pro Jahr zeigen, dass es sich nicht um Sonderfälle handelt, sondern unterstreichen, was das Selbsterhaltungsprogramm in uns allen anrichtet und dass diese generelle Menschheitspsychose dafür verantwortlich ist, dass jeder, nachdem er unbeobachtet einen Crash angerichtet hat, zumindest mit dem Gedanken spielt zu flüchten. Insofern ist nicht der dreiste Unfalltäter der eigentlich Verantwortliche, sondern das Ego-Programm des Selbsterhalts in ihm.

Was haben die folgenden Vorgänge gemeinsam:

- Verkauf minderwertiger Brustimplantate, die später im Gewebe platzen,

- Mogelverpackungen bei Lebensmittelprodukten,

- Ladendiebstahl,

- Cum-Ex-Geschäfte, bei denen Banker mehrfach Steuerrückzahlungen kassieren,

- Krankenpfleger, die Patienten halbtot spritzen, um aus Geltungssucht erfolgreich Reanimierung vorzuführen,

- Fahrerflucht,

- häusliche Gewalt

- Einkommenssteuer schönen,

- 69 Jugendliche aus Angst vor Islamisierung des Landes erschießen (Anders Breivik),

- Pkw als Waffe benutzen, um aus Fremdenhass Ausländer zu überfahren,

- Ehekrieg um die Kinder,

- Gewalttätiger Nachbarschaftsterror um Grenzsteine.

- Dieselgate.

Es sind unterschiedliche Varianten ein und desselben Programms, der Selbsterhaltung. Was Vorstände der Dieselhersteller mit technischem Betrug machen und Banker finanziell, praktizieren die Normalverbraucher mit Betrug am Finanzamt, mit Ehekrieg oder Fahrerflucht. Oder sie greifen Kriegsflüchtlinge aus Fremdenhass an.

Nachdem der Terrorfahrer von Bottrop an Silvester 2018 versucht hatte, Ausländer zu überfahren, waren in den Medien solche Sätze zu finden wie: „Woher kommt der Hass?“ „Es (!) brodelt in den Menschen!“ usw. Ja, was war es denn nur, was da brodelte? Woher kommt er denn, der Hass? Solche Fragen kann man ständig lesen, und prinzipiell bleiben sie ständig im leeren Raum stehen. Aus lauter blindem Unverständnis wird dann gelegentlich noch die fällige „schwierige Kindheit“ genannt, weil man auf keinen Fall tiefer schaut.

EGOMERKMALE

Die Angst ist das dominierende Element des menschlichen Lebens. Die Angst beherrscht trotz aller Fortschritte auch unser heutiges Leben. Es ist die Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes, vor finanziellem Einbruch, vor dem Verlassenwerden durch den Partner, vor beruflicher Überforderung, vor pandemischer Ansteckung, vor "Überfremdung" durch Kriegsflüchtlinge, vor Krieg, usw. Aber diese Angst ist immer der Ausdruck des Bangens um den Selbsterhalt, um das irgendwie geartete Überleben. Sie hat im Wesentlichen entweder die Form des Rückzugs (sich drücken, ausweichen, flüchten) oder die der Aggression, des Angriffs, der Vorwärtsverteidigung: „Angriff ist die beste Verteidigung.“

Hier ist es wie bei dem Kanarienvogel, der aus dem Käfig entwischt ist und im Zimmer herumflattert. Um ihn einzufangen, treibt man ihn mit einer Zeitung in der Hand solange hin und her, bis er erschöpft zu Boden geht und in einer Ecke sitzen bleibt. Wenn sich dann die Hand nähert, um ihn zurückzusetzen, versucht er ein letztes Mal auszureißen, und wenn dies nicht gelingt, fängt er an, panisch wie wild mit dem Schnabel zu hacken.

Die Aggression ist letztlich durch ein mehr oder weniger unbewusstes Gefühl eines Mangels bzw. einer Bedrohung ausgelöst, seien es nun die Angst vor „Kommunisten“ (McCarthy-Ära in den USA), das „internationale Finanzjudentum“ der NS-Zeit oder heute „Muslime" oder "Überflutung“ durch „Flüchtlingsinvasoren.“ Das Ego fühlt sich von Feinden umzingelt, verbarrikadiert sich, legt überdimen- sionierte Vorräte an, baut Bunker, stattet sich mit Waffen aus, macht Hetzjagden auf Migranten, schießt in die Menge, bringt Andersdenkende bzw. „Ungläubige“ um, usw.

Angst um den Selbsterhalt als zentrales Charakteristikum der menschlichen Psyche wird auch dadurch deutlich, dass es Machthabern immer wieder gelingt, ihre Macht zu erhalten, indem sie Angst schüren, z. B. in Wahlkämpfen. Es ist das sicherste Rezept, die angstanfälligen Egos mit „Arbeitsplatzverlusten“ oder „Flüchtlingskarawanen“ zu manipulieren. „Mache einem Menschen Angst, und du kannst mit ihm machen, was du willst.“

Wird Angst in welcher Form auch immer thematisiert, kommt unweigerlich das Dogma zum Ausdruck, dass dieses Gefühl eine Art Alarmanlage sei, die zwar nicht angenehm, aber vorsorglich schützend und durch ihre Vorsichtfunktion überlebensnotwendig sei. Das ist zwar nicht unzutreffend, versperrt aber den Blick darauf, dass sie in ebenso großem Umfang die Menschen behindert, bremst, blockiert, abhält und abschreckt, Risiken einzugehen. Bei Kolumbus, Livingstone, Gagarin oder Neil Armstrong konnte die Angst nichts ausrichten, beim Normalverbraucher kann sie das aber sehr wohl, so dass im Alltagsleben und vor allem bei einem Einstieg in das geistige Leben die Existenzangst sich derart massiv breitmacht, dass im Regelfall nur schwere Lebenskrisen es schaffen, sie zu überwinden.

Die Kombination von Variante „flüchten“ und Variante „angreifen“ äußert sich auch in dem Muster „nach oben buckeln und nach unten treten.“  Der Spruch „Statte einen Menschen mit Macht aus und du erkennst seinen Charakter“ zeigt, wie Mischungen aus diesen verschiedenen Egomenüs von Angst und Aggression funktionieren, egal, ob Haustyrann, Lehrer, Abteilungsleiter bis hin zum Diktator. Denn wenn das ängstlich-aggressive Ego Macht in die Hände bekommt, haben die bislang mühsam beherrschten Triebe es leicht durchzubrechen. Das Grundmuster der Amokschützen, die auf Menschen mit anderer Hautfarbe schießen, ist die aggressive Angst vor „Überfremdung.“

Es gibt aber Macht, die keine Gewaltherrschaft über andere ausübt, wie verständnisvolle Eltern, großmütige Vorgesetzte, aufgeklärte und inspirierte Führer wie Mandela, Gandhi oder Rabin. Der Regelfall jedoch ist, dass das Ego, das an der Macht ist, sein unbewusstes Unterlegenheits- und Minderwertigkeitsgefühl durch Macht über andere abreagiert, nicht zuletzt die des Mannes über die Frau.