Warum wandert ein Wanderfalke, wenn er doch fliegen kann? - Jürgen Lang - E-Book

Warum wandert ein Wanderfalke, wenn er doch fliegen kann? E-Book

Jürgen Lang

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Beschreibung

Deutsch? Undurchschaubar, willkürlich, verwirrend, chaotisch! »Kaufen kaufte, aber laufen lief. Das Futter, der Kutter, die Butter und der Korpus, die Korpus, das Korpus. Wegen dem und wegen des.« Nicht umsonst heißt es im Volksmund: Deutsche Sprache, schwere Sprache. Der Dreiteiler "Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache" erzählt eine andere Geschichte und nimmt die Leser mit auf einen kurzweiligen wie unterhaltsamen Ausflug in die deutsche Sprache, auf dem sie erfahren, woher die Grammatik eigentlich kommt, wofür man sie braucht, warum sie manchmal chaotisch wirkt oder was sie bewirken und auch nicht bewirken kann – und auf dem so manche Überraschung wartet. In Teil 1 der Reihe wird der Frage nachgegangen, warum die deutsche Sprache als schwer und schwierig gilt und ob sie wirklich schwer und schwierig ist. Wenn es x Wortarten gibt, machen dann alle Ärger? Im zweiten Teil wird in den Tiefen der deutschen Sprache erkundet, warum die Grammatik so funktioniert, wie sie funktioniert und was passiert, wenn wir die Funktionen und das Funktionieren ignorieren. Auch im dritten Teil ist das Ignorieren ein wichtiger Aspekt und das in mehrfacher Hinsicht. Ignoriert die Sprache wirklich die Geschlechter einiger Mitmenschen oder ignorieren einige Mit-menschen bei den Geschlechtern die Grammatik der Sprache?

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Jürgen Lang

Warum wandert ein Wanderfalke, wenn er doch fliegen kann?

Die vergessene Leichtigkeit der deutschen SpracheTeil 2

Warum wandert ein Wanderfalke, wenn er doch fliegen kann?

Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache – Teil 2

ISBN 978-3-347-87506-7 Taschenbuch

ISBN 978-3-347-87508-1 E-Book

Druck und Distribution: tredition GmbH, Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de.

© 2023 Jürgen Lang. Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Trotz sorgfältiger Bearbeitung können Tipp-, Druck- und Formatierungsfehler nicht ausgeschlossen werden. Publikation und Verbreitung des Buchs erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

tredition GmbH

Abteilung Impressumservice

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache

ist eine Buchreihe für alle, die nicht nur wissen möchten, wie im Deutschen etwas gesagt oder geschrieben wird, sondern sich auch für das Warum interessieren.

Bevor es aber losgeht, möchte ich mich bedanken.

Bei den Deutschlernenden, die meine Konversationskurse besucht und mir ihre Schwierigkeiten beim Erlernen der deutschen Sprache in den Kursen öffentlicher wie privater Anbieter und mit den Lehrbüchern und Grammatiken verdeutlicht haben. Sie haben mich auf die Idee zu dem Buch gebracht.

Bei den Deutschlehrern, mit denen ich mich über die Methoden und die Probleme bei der Vermittlung der deutschen Sprache ausgetauscht habe. Sie haben mich mit ihrem Festhalten an den Regeln der modernen germanistischen Linguistik sowie dem gleichzeitigen Gefangensein im System der zu vermittelnden Grammatik in der Idee zu dem Buch bestärkt.

Vor allem aber bei all denen, die sich ganz oder teilweise durch die Vorversionen dieses Werks gearbeitet, ihre Ideen beigesteuert und mich mit zahlreichen Hinweisen und Ratschlägen unterstützt haben.

Danke schön!

Jedem Worte klingtDer Ursprung nach, wo es sich her bedingt.

Johann Wolfgang von GoetheFaust, Der Tragödie 2. Teil

Bei der Rechtschreibung folge ich nicht durchgängig den Vorgaben des amtlichen Regelwerks.

Ein im Sinn der Grammatik unklarer Satz ist mit einem ?*, ein falscher Satz oder ein falsches Wort mit ** oder Durchstreichen markiert.

Die Bezeichnungen Altdeutsch und Mitteldeutsch werden als Oberbegriffe verwendet, wenn eine genaue Unterscheidung unerheblich oder der gesamte Sprachraum gemeint ist.

Wörter aus der indogermanischen und germanischen Sprachen sind regelmäßig, die der altdeutschen Sprache teils rekonstruiert, was eigentlich mit einem Stern gekennzeichnet wird. In der Buchreihe verzichte ich auf die Markierung, da deren Rekonstruktion jetzt ja bekannt ist.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache

Aus den (Un)Tiefen der deutschen Sprache

Von theodiskus über diutisk zu deutsch

Englisch und französisch, aber kein deutisch

Wieso, weshalb, warum: vergangene und vergessene Systeme

Der Untergang der Deklinationsklassen der Dinge

Das Genus – Chaos mit System

Die Mär vom natürlichen Geschlecht

Die schwachen, starken, regelmäßigen, unregelmäßigen Verben

Wir warten auf das Verb

Zeitformen mit zwei Infinitiven

Elf, zwölf, zwanzig statt einzehn, zweizehn, zweizig

Schwer und schwierig oder einfach nur falsch?

Die Substantivkomposition, der Fugenlaut und die Logik

Die zwei Seiten des Akkusativs

Der Dativ ist dem Genitiv sein Besitzverhältnis

Da, wo der Baum steht

Jugendlicher Leichtsinn bei heißen 40 Grad und wichtige Belanglosigkeiten

Die Vorankündigung vor der Ankündigung

Der grünste Apfel unter dem blausten Himmel

Der Einzigste ist nicht mehr als einer

Adjektive mit sicherem gutem guten Sprachgefühl deklinieren

Nach Hause gehen, aber nicht nach Kino

Wegen des trotz dem und trotz des wegen dem

Liegt oder liegen ein roter und ein grüner Apfel im Korb?

Das Männlein steht im Walde, bis er weggeht

Der Konjunktiv der Sinnlosigkeit

Das losgelöste Möchten

Das Sein mit Infinitiv

Der teilweise Gebrauch des Adverbs

Die scheinbare Substantivierung

Die scheinbare Zusammensetzung

Die getrennte Zusammensetzung

Die kontaminierte Zusammensetzung

Befehl den Imperativ nicht!

Am Sonntag, dem 20. oder Montag, den 21.

Am Sonntag, den 20. und Montag, den 21.

Unnötig schwierig und fraglich per Beschluss

Satzzeichen und Zeichensetzung

Ein Tipp für den Trip mit Stopp oder nonstop

Das schwarze Loch im Schwarzen Loch

Der große rote und saftige, pralle Apfel

Ski laufen erlaubt, aber skilaufen verboten

Das Recht, recht zu haben

Ein Schwank zum schwänken und schwenken

Deutsch – das substantivierte Adjektiv, das keines ist

Von wegen schludrig und verwirrend

Postskriptum

Anhang: Gern und oft gemachte Rechtschreibfehler

Andere Literatur

Warum wandert ein Wanderfalke, wenn er doch fliegen kann?

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Titelblatt

Urheberrechte

Aus den (Un)Tiefen der deutschen Sprache

Andere Literatur

Warum wandert ein Wanderfalke, wenn er doch fliegen kann?

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Aus den (Un)Tiefen der deutschen Sprache

Ein chaotisches Genus, eine Deklination für Kandidaten fürs Irrenhaus, Regeln mit mehr Ausnahmen als Beispiele für die Regel und Satzklammern mit dem Verb auf der nächsten Seite. Nicht nur deshalb hält Mark Twain in seinem Essay »Die schreckliche deutsche Sprache« fest:

„Der Erfinder dieser Sprache scheint sich einen Spaß daraus gemacht zu haben, sie in jeder erdenklichen Weise zu verkomplizieren.“

Im ersten Teil der Buchreihe über »Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache« habe bereits herausgefunden, dass die deutsche Sprache keineswegs

„derart unordentlich und systemlos daherkommt und dermaßen jedem Zugriff entschlüpft“,

wie Twain es darstellt, sie aber auch kein Paradebeispiel für die Leichtigkeit einer Sprache ist, da hier die eine oder andere Zuordnung durch den Sprachwandel verloren geht und dort irgendwelche Kriterien an die menschliche Vorstellung angepasst werden und einige Wortformen sich sogar nur noch mit dem Untergang ihres ursprünglichen Systems im Laufe der Sprachepochen erklären lassen.

Nun ist eine Grammatik immer dann einfach und geordnet, wenn die Bildung der Wortformen einem klar erkennbaren System folgt, mit Regelmäßigkeiten logisch aufgebaut ist und nachvollziehbar hergeleitet werden kann. Nur ist das in der deutschen Sprache – und generell einer Sprache – leider nicht durchgängig der Fall und so ist die Grammatik vor allem dann kompliziert, wenn sich eine Änderung im System oder gar der Untergang eines Systems in der Sprachgeschichte heute auf die üblichen Wortformen auswirkt. Dabei sind die meisten der ständig verwendeten Konstruktionen als etablierte Konventionen der Sprachgemeinschaft allerdings historisch gewachsen und erklärbar. Doch die Bedeutung von Wörtern wandelt sich, ebenso ändern sich Wortbildung, Wortformen und Wortstellung. Deshalb kann ich die Sprache nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt betrachten, ebenso bedeutend ist die historische Entwicklung.

Letztlich ist die Grammatik in ihrer Gesamtheit aber kein großes einheitliches System, sondern vielmehr ein Ordnungsprinzip aus ineinandergreifenden Systemen – wobei zu konstatieren ist, dass das Ineinandergreifen der Systeme nicht immer reibungslos funktioniert, hin und wieder ins Stocken gerät und manchmal auch aus dem Ruder läuft. Das liegt aber weniger am Gesamtsystem der Sprache, als vielmehr an den Anwendern im Hier und Jetzt und in den jeweiligen früheren Sprachepochen.

Zwar lässt sich in der Regel mit der Vergangenheit kaum etwas für die Gegenwart beweisen, die eine oder andere Ursache für eine Ordnung oder scheinbare Unordnung findet sich aber in einer der Sprachen, die als Vorläufer des Deutschen gelten. Mit dem Blick in die Sprachgeschichte und auf die historischen Randbedingungen werden diese Dinge zumindest verständlicher. Wie zum Beispiel die unerklärliche Zuordnung der Genuskategorien. Heutzutage wird hier gern das reine Chaos vermutet, doch das Genus entsteht im Indogermanischen und ist systematisch – und wie sich zeigen wird, funktioniert sein System trotz seines Alters von weit über 4000 Jahren noch heute bestens. Gleiches gilt für die Stammformen der Verben. Am Infinitiv ist scheinbar nicht erkennbar, ob ein Verb schwach oder stark ist, doch der Schein trügt und welches Verb stark ist und seine Stammformen mit welchem Ablaut bildet, ist genau geregelt und im Unterschied zu den Substantiven sogar sehr wohl erkennbar.

Die Grammatik wird schwierig, wenn eine Konstruktion aus einem Konstrukt der eigenen Logik oder Erwartung in die Quere kommt und sie wird komplex – also quasi kompliziert plus schwierig – und kaum mehr erklärbar, sobald wir Anwender etwas für richtig halten oder für falsch erklären, weil es sonst nicht so ist, wie es unsere Erwartung gerne sieht oder gerne hätte. Aus diesem Gedankenkonstrukt heraus sollen Dinge passend gemacht werden, die nicht passen können. Bleiben beim Aufstellen von Regeln und Theorien oder dem Herleiten von Wortformen die Vorgänge zum Entstehen der deutschen Sprache als Ausgleichssprache unberücksichtigt oder werden sie falsch ausgelegt, führt der Weg meist direkt zu einem Denkfehler. Es ist nun einmal so, dass wenn die Ausgangslage falsch ist, jedes auf ihr basierende Resultat ebenfalls falsch sein muss. Dann wird das angesammelte und unbewusst verwendete Sprachwissen bewusst ignoriert und durch eigene Konstrukte quasi überschrieben. So wird beim Genus verzweifelt das Männliche oder Weibliche gesucht, weil wir Männer und Frauen das Wichtigste auf der Welt sein müssen. Und doch sind und bleiben es nur passend gemachte Denkfehler.

Viele Fallen lauern dort, wo die Wortarten wegen der Systeme nicht eindeutig bestimmbar sind oder sich bestimmte Konstruktionen scheinbar ergeben, wie zum Beispiel die Voraussetzungen für eine Substantivierung oder Wortkomposition. Alle Kriterien scheinen erfüllt und schon ist ein Wort zusammengesetzt oder großgeschrieben. Das ist dann Pech, wenn überhaupt keine Substantivierung vorliegt oder eine Zusammensetzung gar nicht möglich ist, weil die Bedeutung der Wörter nicht beachtet oder falsch ausgelegt wird.

Das Sprechen ist – wie auch später das Schreiben – eine Handlung, die wir Menschen erst erlernen müssen, wie das Sitzen, das Gehen oder das Laufen auch. Wenn wir es dann können, das Sitzen, Gehen, Laufen, Sprechen und Schreiben, führen wir es ohne bewusstes Nachdenken aus. Wir machen uns also keine Gedanken über eine Wortart, den Satzbau, eine Schreibweise oder eine Regel der Grammatik.

All die Dinge sammeln und speichern wir als Wissen ab. Erst wenn wir über ein Wort oder eine Wortform stolpern, setzt das Denken – insbesondere in Bezug auf die Grammatik – ein:

Backte die Tochter einen Kuchen oder buk sie einen Kuchen und melkte der Bauer seine Kuh oder molk er seine Kuh und hat das Kind zum Abschied gewinkt oder hat es gewunken?

Obwohl es nur ein Heiligabend gibt, feiern wir nicht Weihnacht, sondern alle Jahre wieder Weihnachten. Ein Buch kaufen wir nicht in der Bücherhandlung, sondern in der Buchhandlung, stellen es nach dem Lesen aber nicht ins Buchregal, sondern ins Bücherregal.

Der leckere Obstverkäufer am Marktstand ist falsch wegen des Bezugs, beim Bürgerlichen Gesetzbuch ist der Bezug ebenso falsch, was uns aber nicht interessiert.

Erst jetzt gilt es, die jeweiligen Zusammenhänge zu erkennen, gegebenenfalls die historischen Abläufe und Entwicklungen nachzuschlagen sowie die Systeme herzuleiten und nachvollziehen zu können. Sonst fragen wir uns, warum ein Wanderfalke eigentlich wandert, wenn er doch fliegen kann.

Eine andere Quelle für einen Denkfehler ist der situativ motivierte Sprachgebrauch. Wir meinen, dass eine Wortform oder eine Formulierung in einer Situation besser klingt. So bestellen wir in einer Pizzeria zwei Pizzen aus dem heißen Steinofen, da die Pluralform Pizzen im Gegensatz zu Pizzas bestimmt viel italienischer und originaler ist und ein Steinofen ebenso bestimmt nie heiß genug sein kann.

Aber auch jede motivierte Verwendung von Wörtern ist in der Regel nicht nur überflüssig, sondern führt letztlich nur zu einem Fehler.

Die Pluralform Pizzen kann nicht richtig sein, weil erstens die Substantive, die auf a, i, o oder u enden, den Plural im Deutschen regelmäßig mit einem s bilden – also Pizzas – und zweitens der Plural von Pizza nur als klassisches Pseudoitalienisch Pizzen lautet, im Italienischen aber Pizze. Nun sind unsere italienischen Mitbürger so nett, unseren Sprachunsinn zu akzeptieren und uns dennoch zwei Pizze oder Pizzas zu servieren. Und dass die nicht in einem kalten Steinofen gebacken werden, ist offensichtlich.

Wie tief also sind die Untiefen der deutschen Sprache wirklich? Wann ist die deutsche Sprache einfach, wann kompliziert und wann schwierig? Und wo kommen die Untiefen her und wie kommen die Schwierigkeiten überhaupt zustande?

Von theodiskus über diutisk zu deutsch

Zunächst schaue ich, wie weit die Tiefen der deutschen Sprache reichen, ihr Sprachraum erstreckt sich immerhin über mehrere Länder mit einer jeweils eigenen Historie. Beginnt alles im Jahr 786, als der Nuntius Georg von Ostia über die Synode – eine Versammlung von Bischöfen – in England berichtet, dass gefasste Beschlüsse in „latine quam theodisce“ verlesen werden – auf latein und in der Volkssprache –, damit sie jeder verstehen könne?

Zumindest gilt dieser Bericht als einer der ältesten – für nicht wenige Sprachwissenschaftler auch als der älteste – Nachweis für die Verwendung des lateinischen Wortes theodiscus. Abgeleitet vom indogermanischen Wort teutā – das bedeutet so viel wie eine große Menge Menschen – wird es in der Bedeutung Volkssprache und vermutlich als Abgrenzung zur beim Klerus vorherrschenden lateinischen Sprache verwendet. Ein gut zwei Jahre jüngerer Fund gilt als Beleg für die Existenz der Volkssprache. Der wegen Fahnenflucht in Ungnade gefallene baierische Herzog Tassilo wird 788 von König Karl dem Großen des Hochverrats bezichtigt, in dem lateinischen Text der Anklageschrift heißt es: „… quod theodisca lingua ‚harisliz‘ dicitur … was in der Sprache des Volkes ‚harisliz‘ heißt“. Während beim Nuntius Georg von Ostia mit der theodisca lingua wahrscheinlich die altenglische Sprache gemeint ist, ist es bei Karl dem Großen die altdeutsche. Die Annahme ist sehr plausibel, da die altenglische und die altdeutsche Sprache aus der westgermanischen Sprachgruppe entstehen, deren Komplexität ein einzelnes Wort wie das lateinische theodiscus nicht fassen kann. Das wiederum hängt vor allem mit dem Begriff Germanen und dem zu dieser Zeit fast vollständigen Untergang der germanischen Sprachen zusammen.

Um die Zusammenhänge verstehen zu können, muss ich in der Zeit noch ein kleines Stück weiter zurückgehen und in das Jahr 1 unserer Zeitrechnung schauen. An der Schwelle von vor Christus zu nach Christus – oder vor unserer Zeit zu nach unserer Zeit – erstreckt sich das römische Imperium komplett über den westeuropäischen Kontinent, grob gesehen ist der Rhein die Grenze zu den Gebieten in Mittel- und Nordeuropa, die bei den Römern Germania heißen. Vermutlich geht die Bezeichnung auf den bei den Römern bekannten griechischen Philosophen Poseidonius zurück, der 85 vor Christus die Germanoi erwähnt, aber weder die gemeinte Volksgruppe oder deren Gebiet, noch die Bezeichnung ansich genauer definiert. Die erste historisch relevante Beschreibung ist somit Gaius Julius Cäsar vorbehalten, der nicht nur die Römer und die Germanen mit seinen Feld- und Eroberungszügen zu Nachbarn macht, sondern in seinen »Commentarii de bello Gallico Kommentare über den Gallischen Krieg« auch ausgiebig über die Germanen schreibt. Noch ausführlicher ist die Beschreibung des römischen Historikers Tacitus in seiner Schrift »Germania« aus dem Jahr 100. Beide, Cäsar und Tacitus, erwähnen die Germanen sowohl als eine große Gesamtheit, berichten aber auch von verschiedenen Stämmen.

Von den Germanen wissen die Römer spätestens seit dem Jahr 113 vor Christus, als die Kimbern mit den Teutonen auf ihren Wanderungen und Eroberungszügen ein römisches Heer besiegen und in Rom für Angst und Schrecken sorgen. Das wissen wir heute ziemlich genau, weil die Römer zu dieser Zeit bereits seit sechs Jahrhunderten Schriften verfassen und hinterlassen. Viel mehr wissen wir aber nicht, denn es fehlen direkte Quellen, da die Germanen keine Schriftsprache kennen und haben. Zu den verwendeten Runen komme ich gleich.

Vor den Römern siedeln die Kelten im Westen und Nordwesten Europas. Denen sind andere Völker rechts des Rheins bekannt, da sie sich auf früheren Wanderungen nachweislich vermischen. Aber auch die Kelten hinterlassen keine schriftlichen Belege, da auch sie keine Schriftsprache kennen.

Somit ist das Jahr 113 vor Christus das älteste solide Datum zu den Germanen. Es existieren zwar frühere archäologische Funde, die haben aber eine eingeschränkte Aussage- und Beweiskraft und liegen für die meisten Historiker im geschichtlichen Dunkel. Schon die Heimat der Kimbern und Teutonen im Norden Mitteleuropas ist eine Vermutung, ebenso ihr Aufbruch im zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Überhaupt können Historiker mit dem Begriff Germanen nur sehr wenig anfangen, da er als Fremdbezeichnung aus den Berichten mit den Sichtweisen und Beschreibungen der Römer mehr als 70 verschiedene Stämme und Völker zusammenfasst – und kein Volk oder Stamm bezeichnet sich selbst als Germanen. Ob bei dieser Vielfalt überhaupt eine germanische Gesamtheit oder eine bestimmte Gruppierung in Volkstum, Kultur und Sprache angenommen werden kann, ist unklar.

In der Sprachwissenschaft werden die germanischen Sprachen als Sammelbegriff für die verwandten, aber jeweils eigenständigen Sprachen der verschiedenen Stämme und Völker gesehen. Drei große Sprachgruppen sind bekannt, üblich ist die Unterteilung in die Nord-, die Ost- und die Westgermanen, wobei mit letzteren die Nordseegermanen, Elbgermanen und Weser-Rheingermanen zusammengefasst werden. Ihrerseits entstehen die germanischen Sprachfamilien aus der indogermanischen Sprache durch eine – erste – Verschiebung im Konsonantensystem – einer Lautverschiebung, die zeitlich plausibel zwischen das fünfte und zweite vorchristliche Jahrhundert eingeordnet werden kann. Unbekannt ist, ob es je eine einheitliche germanische Sprache gab, eine urgermanische Sprache oder Protosprache gilt aber als unwahrscheinlich.

Noch weiter zurück stoße ich mit dem Indogermanischen also auf eine noch viel größere Sprachfamilie. Die baltischen, germanischen und slawischen Sprachen gehören wie das Griechische, Indische, Iranische, Italische und Keltische alle zur indogermanischen Sprache, einem Sprachstamm des Urindogermanischen. Gegen Ende des 18.

Jahrhunderts entdecken Sprachwissenschaftler etliche Ähnlichkeiten in der altindischen, altgriechischen und lateinischen Sprache, die nicht zufällig sein können. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wird in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft anhand von regelmäßigen Entsprechungen und Gemeinsamkeiten der Einzelsprachen die urindogermanische Sprache rekonstruiert, auch wenn das Urindogermanische nicht als eine fest zusammenhängende Einzelsprache zu sehen ist. Folglich gehen fast alle heutigen europäischen Sprachen letztlich auf das Indogermanische zurück und in allen gibt es grammatische Kategorien wie Kasus, Tempus oder Modus, während in den außereuropäischen Sprachsystemen dafür Aktionsarten oder Tonfärbungen stehen. Überaus interessant wäre eine zeitliche Einordnung, nur verliert sich der genaue Ursprung des Urindogermanischen leider in den Zeiten der Jäger und Sammler irgendwann in den Jahren zwischen 3000 und 5000 vor Christus. Das liegt so weit in der Geschichte zurück, dass wenn ein Historiker nach einem indogermanischen Volk gefragt wird, der nur mit den Achseln zuckt. Für die Existenz eines solchen Volks fehlt jedwede archäologische oder sonstige Bestätigung – und damit auch der gesicherte Nachweis für eine indogermanische Ursprache.

Auf dem Weg aus dem Dunkel der Geschichte zurück zu den Römern und Germanen kann ich also nicht von den Indogermanen sprechen und nicht mit Gewissheit sagen, dass wirklich ein nordöstlich des Schwarzen Meeres in einem vermuteten indogermanischen Ursprungssprachraum lebendes Volk um das Jahr 4000 vor Christus beginnt, auf Wanderschaft zu gehen. Vielleicht besiedelt ein solches Volk mit den Jahrhunderten nach und nach ganz Europa sowie weite Teile des westlichen und südlichen Asiens und vermischt sich mit der dort jeweils lebenden Bevölkerung. Rein zufällig trifft das wandernde Volk auf einen aus Schnurkeramik und Trichterbecherkultur vermischten Kulturkreis, der gegen Ende des zweiten Jahrtausends vor Christus in Mitteleuropa und im südlichen Skandinavien entsteht. Dessen Existenz ist dank archäologischer Funde gesichert, eine Zuordnung zu einem bestimmten Volk aber fraglich. Es ist allerdings durchaus möglich, dass sich dieses Volk gegen Ende des zweiten Jahrhunderts vor Christus vom Norden Mitteleuropas aus auf Wanderungen begibt, dabei auf die Römer trifft und von diesen für Germanen gehalten wird.

Dass das wandernde Volk und jedes ansässige Volk die gleiche Sprache sprechen, ist sehr unwahrscheinlich. Bei meinen vermuteten – aber auch den nachweislich stattgefundenen – Wanderungen hat die Sprache der Einwanderer meist den Status eines Superstrats, die der Einheimischen eines Substrats. Das bedeutet, dass die Sprache der Einwanderer – oder Eroberer – die Sprache des ansässigen Volks nachhaltig beeinflusst, weil sie höher bewertet wird. Oder anders gesagt: die eine Sprache erobert die andere.