Die vergessenen Kinder - Emily Gunnis - E-Book

Die vergessenen Kinder E-Book

Emily Gunnis

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  • Herausgeber: Heyne Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Ein tragischer Cold Case, eine alte Schuld und ein düsteres Geheimnis

Sussex 1985: Holly Moore führt ein trostloses Leben im düsteren Waisenhaus Morgate. Für ein wenig Zuneigung würde die einsame Teenagerin alles tun. Als sie einem jungen Mann begegnet, der sich aufrichtig um sie zu sorgen scheint, keimt Hoffnung in ihr auf.

2015: Jo Hamilton blickt auf eine lange Karriere bei der Polizei zurück. Als die Leiche eines jungen Mädchens entdeckt wird, holt sie ein Cold Case wieder ein, der sie nie losgelassen hat: Handelt es sich bei dem Fund um Holly Moore, die damals spurlos verschwunden ist? Und was ist mit dem anderen Mädchen aus dem Waisenhaus, dessen Tod ebenfalls nicht aufgeklärt wurde? Im Zuge der Ermittlungen wird Jo klar, dass sie sich der furchtbaren Schuld stellen muss, die sie damals auf sich geladen hat.

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Seitenzahl: 556

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Das Buch

1975 wird die junge Polizistin Jo zu einem Fall häuslicher Gewalt gerufen: Ein Familienvater schlägt seine Frau, die Kinder müssen hilflos zuschauen. Die Bedrohung ist zu akut, um auf Verstärkung zu warten, also greift Jo allein ein. Im Chaos der Auseinandersetzung gerät die Situation schrecklich außer Kontrolle: Beide Eltern kommen zu Tode, die Töchter Holly und Daisy müssen fortan im düsteren Waisenhaus Morgate leben. Jo fühlt sich für das Schicksal der beiden verantwortlich, und die Bilder dieses verhängnisvollen Abends verfolgen sie für den Rest ihres Lebens.

Zehn Jahre später wird Holly vermisst. Kann Jo endlich ihre Schuld abtragen, indem sie das Mädchen findet? Die Suche nach ihr ist holprig, niemand vermisst ein aufmüpfiges Waisenkind. Auch bei der Polizei zeigt niemand großes Interesse an dem Fall. Dabei ist Holly nicht das erste Mädchen, das aus dem Waisenhaus verschwunden ist …

Die Autorin

Emily Gunnis arbeitete lange beim Fernsehen, unter anderem als erfolgreiche Drehbuchautorin. Die Tochter der internationalen Bestsellerautorin Penny Vincenzi lebt mit ihrer Familie im südenglischen Sussex. Ebenfalls bei Heyne erschienen sind ihre Romane »Das Haus der Verlassenen«, »Die verlorene Frau« und »Das Geheimnis des Mädchens«.

EMILY GUNNIS

DIE VERGESSENEN KINDER

ROMAN

Aus dem Englischen von Ute Brammertz und Carola Fischer

Die Originalausgabe THEGIRLSLEFTBEHIND erschien erstmals 2023 bei Headline Review, einem Imprint der Headline Publishing Group, UK.

The right of Emily Gunnis to be identified as the Author of the Work has been asserted by her in accordance with the Copyright, Designs and Patents Act 1988.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 09/2024

Copyright © 2023 Emily Gunnis Ltd

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Antje Steinhäuser

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design, München, unter Verwendung von TREVILLION (Evelina Kremsdorf, Yolande de Kort); Shutterstock.com (Evannovostro, KRITGONNGON, Bernulius)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32329-5V001

www.heyne.de

Für meine Schwiegermutter Sue Kerry – unsere liebe Nanny:

Deine Hilfe bei diesem Roman war für mich von unschätzbarem Wert.

Oder wie Grace und Ellie es sagen würden: Ich liebe dich bis zum Mond und wieder zurück.

Man scheitert nie, außer man hört auf, es zu versuchen.

ALBERTEINSTEIN

Kummer ist der Preis, den wir für die Liebe zahlen.

QUEENELIZABETHII

Prolog JO

14. Dezember 1975

An alle Einsatzwagen, ein Fahrzeug zur Nummer 42, Wicker Street in Saltdean. Nachbarin, Mrs. Bubble, meldet häusliche Gewalt.

Police Constable Joanna Hamilton stieß eine adrenalingeschwängerte Atemwolke in den kalten Innenraum ihres Morris 1000, als sie zum Funkgerät links neben ihrem Lenkrad griff.

»Whisky – vier – null – eins. Bin allein auf Streife, aber in vier Minuten vor Ort«, sagte Jo und nahm einen letzten Schluck von dem wärmenden Tee, den Martha vom 24-Stunden-Waschsalon in der Saltdean High Street für sie gekocht hatte – den Tipp, wo sie sich während einer langen Nachtschicht einen dringend benötigten Becher Tee holen konnte, hatte Jo von ihrem Bruder bekommen.

Roger, wenn du dich jetzt auf den Weg machst, schicke ich noch einen weiteren Wagen dorthin.

Die Antwort kam im Moment, als Jo auf dem Armaturenbrett den Schalter für das Blaulicht drückte und Martha winkte, die im warmen Dunst der Trockner an der Theke Wäsche zusammenlegte. Im Losfahren entschied sich Jo, die Sirene nicht einzuschalten; die Nacht war bitterkalt, die Straßen weitestgehend leer, und sie wollte bei ihrer Ankunft in der Sozialsiedlung nicht gleich die gesamte Nachbarschaft aufwecken. Sie trat aufs Gaspedal und warf einen Blick auf das Ziffernblatt ihrer kleinen Lederarmbanduhr, das Mitternacht anzeigte; Sperrstunde der Pubs und – ihrer begrenzten Erfahrung zufolge – die Uhrzeit, wenn gewalttätige Ehemänner nach Hause kamen und auf ihre Frauen losgingen.

Als sie auf die Küstenstraße A259 fuhr, klapperte der kleine himmelblaue Streifenwagen in der eiskalten steifen Brise, die vom Ärmelkanal über die Saltdean Cliffs herüberzog. Ihr Herz fing an zu rasen, denn sie wusste, dass sie sich um Fälle von häuslicher Gewalt nicht allein kümmern sollte, aber sie hoffte, dass der Anblick eines Polizeiwagens genügen würde, um Handgreiflichkeiten bis zum Eintreffen von Verstärkung zu verhindern. Bis zu den erst kürzlich auf der Wache vorgenommenen Veränderungen wäre es undenkbar gewesen, dass sie sich je allein in eine solch ungeschützte Lage begeben hätte. Wie die meisten ihrer Kolleginnen ärgerte sich Jo über das 1975 erlassene Gleichbehandlungsgesetz. Es hatte im Wesentlichen den Schutz von Frauen zum Ziel, was konkret für die Arbeit der Polizei bedeutete, dass Straftaten nicht länger in »blau« für Männer: schwere Verbrechen und Betrug, sowie »rosa« für die Frauen der Dienststelle unterschieden wurden: Bagatelldelikte, Ladendiebstähle, die Betreuung von Gefängnisinsassinnen und ihren Kindern. Tatsächlich waren sie seitdem alle mit vielen Grauzonen konfrontiert, und das Leben war noch schwieriger als vorher. Alle Frauen bei der Polizei erledigten letztlich immer noch die »rosa« Fälle, nur dass sie zusätzlich noch allein für sehr gefährliche Nachtschichten eingeteilt wurden. In ihrer ersten Nacht allein auf Streife hatte Jo schreckliche Angst ausgestanden, aber sie hütete sich, bei ihrem Vorgesetzten, Detective Chief Inspector Bart Bailey, eine Beschwerde vorzubringen, denn dann hätte sie gleich ihre Sachen packen können. Zu ihrer großen Erleichterung schien aber, wenn Tätlichkeiten drohten, häufig schon die Gegenwart einer Frau auszureichen, damit sich die Atmosphäre entspannte. Und bald stellte Jo fest, dass sie ein Händchen dafür hatte, erhitzte Gemüter zu beruhigen. Indem sie beschwichtigend auftrat, leise, aber entschieden sprach und Kinder aus der Gefahrenzone brachte, konnte sie sich in der Regel genügend Zeit verschaffen, bis die Verstärkung eintraf.

Jo schaltete einen Gang zurück und drückte kräftig aufs Gaspedal, als sie den höchsten Punkt der Steilkante erreichte, wo zu ihrer Rechten das Kinderheim Morgate House stand, ein imposantes viktorianisches Gebäude aus rotem Backstein, das in den vergangenen hundert Jahren Pflegekinder im Alter von drei bis siebzehn Jahren beherbergt hatte. Hoch über den Saltdean Cliffs aufragend, war das Heim auf dem Meer aus vielen Meilen Entfernung zu sehen, doch in den letzten zehn Jahren war es gefährlich nah an die zerklüftete weiße Felswand herangekommen, die oben in immer alarmierenderem Tempo auf den darunter gelegenen Strand abbröckelte. Und da nur ein kleiner weißer Lattenzaun das Grundstück, auf dem Morgate House stand, von dem gut sechzig Meter hohen Steilabfall zum Saltdean Beach trennte, war dieser Ort zum Anziehungspunkt für alle möglichen verlorenen Seelen geworden, die sich das Leben nehmen wollten. Ausreißer wie Gemma Smith, eine fünfzehnjährige Bewohnerin von Morgate House. Den Fundort ihrer aufgequollenen und seltsam verdrehten Leiche hatte Jo erst im vorigen Monat am Strand absperren müssen. Nun überlief es sie kalt, als sie an dem gewaltigen neogotischen Herrenhaus vorbeifuhr und sich an Gemmas leblose Gliedmaßen erinnerte – wie die Tentakel einer Qualle hatten sie ausgestreckt auf den unteren Felsen gelegen; Teile von Fischernetzen hatten sich in Gemmas langen Haaren verheddert, und in der stürmischen See waren ihr die Kleider vom Leib gerissen worden. Es war ein bitterkalter Tag gewesen, als Jo versucht hatte, Pfähle in den Grund einzuschlagen, um die sie das Polizeiabsperrband wickeln konnte. Sie hatte Wache gestanden, um die schaulustige Menge davon abzuhalten, zu nah heranzudrängen, und es hatte quälend lange gedauert, bis ihre männlichen Kollegen endlich gekommen waren. In dem eisigen Meereswind hatte sie neugierige Blicke abwehren müssen, während der Kriminaltechniker Fotos von Gemmas übel zugerichteter Leiche machte. Danach hatten zwei Bestatter sie schließlich auf eine Bahre gehoben, um sie zur Untersuchung durch den Pathologen in die Leichenhalle zu bringen.

Jo hatte versucht, nicht zu Gemmas totem Körper zu blicken, aber das Mädchen schien sie aus seinen grünen Augen mit den dichten dunklen Wimpern bei der Arbeit zu beobachten. Diese Augen hatte Jo an dem Tag nicht zum ersten Mal gesehen, nur dass bei ihrer vorherigen Begegnung noch Leben in ihnen gewesen war – als Gemma beim Stehlen von Keksen in Jenkins’ Minimarket in der Rottingdean High Street erwischt wurde und Jo während ihrer Schicht per Funk dorthin beordert worden war. Gemma, ein zierliches Mädchen in einem grauen Wollpullover, mit wallenden dunklen Haaren rund um das hübsche Gesicht, hatte im Hinterzimmer des kleinen Lebensmittelladens gesessen und auf ihre Hände hinuntergestarrt, während der Inhaber und seine Frau sie mit finsteren Blicken bedacht hatten.

»Diese verdammten Gören vom Morgate House, immer lungern sie hier rum und wollen was klauen. Ich hab die Nase voll. Warum könnt ihr von der Polizei nicht mal zu den Betreibern raufgehen und denen die Leviten lesen. Die Gören sind außer Rand und Band, bis in die Puppen treiben die sich oben beim Getreidespeicher auf dem Tye rum. Stehlen und saufen.«

»Ich fahr heute noch zu Morgate House rauf, Mrs. Jenkins, bitte entschuldigen Sie die Umstände. Möchten Sie Anzeige erstatten?«

»Nein, ich will keine Anzeige erstatten, für so was hab ich gar keine Zeit, und das Kind hat ja nur Hunger, aber es ist nicht unsere Aufgabe, die durchzufüttern. Wir kommen hier ja selbst kaum über die Runden.« Sie hatte ihre schmutzigen Hände an ihrer braunen Schürze abgewischt und sah böse auf Gemma hinunter, die nicht einmal den Kopf gehoben hatte.

Im Wagen hatte das Mädchen sich geweigert, auch nur eine von Jos Fragen über das Leben im Kinderheim zu beantworten und warum sie Lebensmittel klaute. »Ich möchte dir helfen, Gemma«, hatte sie gesagt, »wenn sie euch nicht genug zu essen geben, kannst du mir das sagen.«

Gemma hatte die Autotür geöffnet, um auszusteigen, dann hatte sie ihre grünen Augen fest auf Jo gerichtet. »Sie glauben, wir wären Ihnen wichtig, aber das sind wir nicht! Sie gehen nach Hause zu Ihrer Familie, und in ein oder zwei Tagen haben Sie mich vergessen. Alle wollen nur, dass wir verschwinden. Also, vielleicht mach ich das eines Tages. Mein Kerl und ich, wir hauen von hier ab.«

»Mrs. Price?« Eine grauhaarige Frau in den Fünfzigern hatte die Tür geöffnet, Gemma ins Haus gescheucht und sich Jo gegenüber kurz angebunden gegeben. »Ich habe gedacht, wir könnten vielleicht über die Mahlzeiten der Kinder sprechen. Gemma sagt, sie sei sehr hungrig.«

»Sie bekommen ordentlich viel zu essen«, hatte die Frau in barschem Ton erwidert. »Sie können jederzeit wiederkommen und sich bei einer Mahlzeit selbst davon überzeugen. Wenn Sie eine Beschwerde haben, wenden Sie sich ans Jugendamt.«

Mrs. Price hatte die Tür geschlossen, und Gemma hatte Jo noch einmal über die Schulter hinweg angesehen – mit dem gleichen unverwandt starrenden Blick, den sie auch am Saltdean Beach auf Jo gerichtet hatte.

Diese Augen hatten Jo seitdem tatsächlich in ihren Träumen verfolgt und den Wunsch in ihr geweckt, der gerichtlichen Untersuchung von Gemmas Tod beizuwohnen. Ihr Bruder Charlie hatte Jo begleitet – er war zehn Jahre älter und ebenfalls im Polizeidienst. Zwar hatte Gemma einen furchtbaren Start ins Leben gehabt, dennoch war sie Jo voller Mut und Elan erschienen. Sie hatte Pläne für die Zukunft geschmiedet, und Jo konnte nicht begreifen, wie eine so lebendige und schöne junge Frau so verzweifelt sein konnte, dass sie sich das Leben nahm.

Zusammen mit Charlie hatte sie im Coroner’s Court in Brighton auf den kalten, harten Holzbänken gesessen und die letzten Minuten der Untersuchung mit angehört, in denen ihr Vorgesetzter, Detective Inspector Bart Bailey, Gemmas schwieriges Leben geschildert hatte. Seinem Bericht zufolge war sie unzählige Male wegen Ladendiebstahls und beleidigenden Verhaltens aufgegriffen worden, oder man hatte sie nach Morgate House zurückgebracht, nachdem sie von dort ausgerissen war. Das Urteil des Coroners, der Selbstmord als Todesursache feststellte, war von ihren Kollegen bei der Polizei nicht angezweifelt worden. Alle wussten, dass Gemma Smith stets für Ärger gesorgt und häufig gedroht hatte, sich etwas anzutun. »Morgate House hat ihr den Lebensmut genommen«, hatte Charlie zu Jo gesagt, als sie nach der Untersuchung in den eisigen Dezembertag hinausgetreten waren. »Wenn irgendjemand Schuld hat, dann dieses Heim.«

Auch als sie jetzt daran vorbeifuhr, konnte Jo spüren, wie die negative Energie durch die Wände des riesigen viktorianischen Gebäudes oben auf der Steilküste drang.

Jo schaltete wieder in den vierten Gang hoch und trat aufs Gaspedal, um einen die Küstenstraße entlangzuckelnden Hillman zu überholen, bevor sie bei der Ampel in Saltdean auf einer schwarzen Eisfläche leicht ins Schleudern geriet und die Kontrolle über den Wagen wiedererlangen musste. Mit angehaltenem Atem gab sie erneut Gas und umklammerte mit zitternden Händen das Lenkrad. Jo versuchte, ihre Atmung zu beruhigen; während ihrer fünfzehn Wochen dauernden Polizeiausbildung in den Kasernen in Wiltshire hatte man ihr kein Fahrsicherheitstraining angeboten, deshalb musste sie sich auf ihre begrenzten Erfahrungen seit dem Bestehen ihrer Führerscheinprüfung vor vier Jahren verlassen. Glücklicherweise war sie auf einem Bauernhof aufgewachsen, wo sie und ihr älterer Bruder Charlie hatten mit anpacken müssen; daher hatte sie seit frühester Jugend Landwirtschaftsfahrzeuge gelenkt und ein gutes Selbstvertrauen als Fahrerin gewonnen.

Auf ihrem Weg zu der heruntergekommenen Sozialsiedlung in Telscombe bog Jo links von der Küstenstraße ab, und ihr Herzschlag ging schneller. Die Wicker Street war ihr wohlvertraut, denn sie lag auf der üblichen Runde ihres Streifendiensts, und ihre Kollegen und sie wurden oft wegen Fällen von häuslicher Gewalt hierhergerufen. Jo fuhr an einem Haus vorbei, wo ein ausgebranntes Autowrack im Vorgarten lag. Erst vorige Woche waren Police Constable Phillip Price und sie hierherbeordert worden, um eine Frau zu entwaffnen, die sich mit einem Hammer gegen ihren Mann verteidigte. Phillip war keine Hilfe gewesen, mit aufgerissenen Augen hatte er in der Ecke gestanden und zugesehen, während sie die Frau ganz allein gebändigt hatte. Als dann Phillip endlich versucht hatte, den Ehemann zu verhaften, hatte die Frau mit einem heftigen Wutausbruch reagiert und sich geweigert, Anzeige zu erstatten, weil sie nicht gewollt hatte, dass Jo und ihr Kollege ihren Mann mitnahmen. Sie hatten das Haus wieder verlassen müssen, und der Hammer steckte immer noch in der Oberfläche der Kommode im Schlafzimmer. »Sollen sie sich doch gegenseitig umbringen, was geht uns das an?«, hatte Phillip gemurmelt, als sie den Gartenweg hinuntergegangen waren. »In diese Gegend komme ich nicht mehr, das ist verdammte Zeitverschwendung.« Das war typisch für Phillip; seit sie sich bei ihrer Polizeiausbildung kennengelernt hatten, lag offen auf der Hand, dass er nicht mit dem Herzen bei der Arbeit war. Als Jo herausgefunden hatte, dass Phillips Eltern Geoff und Lorna Price die Leiter von Morgate House waren, hatte ihr eingeleuchtet, dass er zur Polizei gegangen war, nur um sich vor seinen Verpflichtungen im Kinderheim zu drücken.

Als sie sich der am Ende der Straße gelegenen Hausnummer 42 näherte, fuhr sie langsamer und ließ ihren Blick kurz über die verwahrlosten Vorgärten schweifen. In einem davon lag ein weiteres ausgebranntes Autowrack auf dem Rasen. »Sechsunddreißig … vierzig, zweiundvierzig«, flüsterte sie sich selbst zu, als sie eine Frau in einem langen Morgenrock und Schlappen auf der Straße entdeckte. Nachdem Jo den Motor ausgeschaltet, nach ihrer Mütze auf dem Beifahrersitz gegriffen und die Fahrertür geöffnet hatte, hörte sie sofort das Geschrei aus dem Inneren des Hauses.

Auf der Straße eilte die Nachbarin auf sie zu. »Jim war schon seit Mittag im Pub, er hat eine Mordswut«, sagte die Frau in heller Aufregung. »Er hat meine Kinder aufgeweckt, sobald er nach Hause gekommen war. Die Wände zwischen unseren Häusern sind so dünn wie Papier, und er hat schon angefangen, Pippa anzubrüllen, da war er noch nicht mal durch die Haustür. Wo sind Sie die ganze Zeit gewesen? Mein Notruf ist schon eine halbe Stunde her.«

Jo sah die Frau an. »Danke, dass Sie uns benachrichtigt haben. Wenn Sie jetzt bitte in Ihr Haus zurückkehren würden, Mrs. …« Sie war in einen Frotteebademantel gewickelt, unter dem ihr langes Spitzennachthemd hervorschaute, und hatte altmodische Lockenwickler in den Haaren. Während der zwei Sekunden, die Jo die Frau anblickte, fiel ihr irgendetwas an ihrem Aussehen auf, das nicht zusammenpasste. Ihre Aufmachung war die einer alten Frau, aber ihre Haut war jugendlich frisch. Sie konnte kaum älter als fünfundzwanzig sein, ging es Jo durch den Kopf. Aber sie hatte sich fürs ganze Leben in ihre Rolle eingefunden – Ehefrau, Mutter, Schnüfflerin in der Nachbarschaft. Missbilligend schüttelte sie den Kopf, während ihre Augen vor Begeisterung über die Seifenoper im Nachbarhaus sprühten.

»Bubble, und mein Mann, hihi, nennt mich gern Babbelmonster.« Mit spitzen Lippen nahm sie einen tiefen Zug von ihrer Woodbine-Zigarette und folgte Jo wie eine Wespe an einem heißen Tag.

Jo wandte sich ab und lief den Weg zum Haus hinauf, vorbei an einem Fenster auf der Vorderseite. Ein kurzer Blick ins Zimmer verriet ihr, dass ein etwa ein Meter achtzig großer Mann eine kleine blonde Frau anschrie und dass zwei kleine Kinder weinend in der Ecke hockten.

Jo begann, gegen die Haustür zu hämmern, als das Schreien und Brüllen von drinnen lauter wurde.

»Polizei! Aufmachen!«, rief Jo, während sie wartete, in der Hoffnung, dass die Tür geöffnet wurde und sie Gelegenheit bekam, die Situation zu entschärfen.

Keine Reaktion.

Nun hastete Jo wieder zum Fenster und beobachtete durch einen Spalt in den Spitzengardinen das Geschehen, als der Mann weit ausholte und die Frau mit der flachen Hand hart ins Gesicht schlug. Sie stieß einen Schmerzensschrei aus und hielt sich eine Hand an die Wange, während sich Jos Gedanken überschlugen. Die Welt um sie herum wurde langsamer, so wie jedes Mal, wenn sie neu an einen Tatort kam. Ihre Sinne wurden mit den Geräuschen und Gerüchen aus dem Leben von Menschen im puren Chaos bombardiert – Brüllen, Alkoholfahnen, Angstschreie, die Energie von Menschen, die sich dicht um sie drängten –, während sie versuchte, die Informationen herauszufiltern, die sie zur Beruhigung der Lage benötigte.

»Dieser neue Typ hat sich hier rumgetrieben und Pippa Lebensmittel, Geld und was nich’ noch alles gebracht.« Die Frau eilte Jo mit ihrem abstoßenden Raucheratem weiter hinterher. »Irgendjemand muss das Jim gesteckt haben, und er ist schrecklich eifersüchtig.« Die Frau atmete schwer in die klirrend kalte Luft aus. »Pippa geht nicht mit anderen ins Bett. Sie ist Jim treu, obwohl er ein Schwein ist.«

»Okay, danke für Ihre Hilfe, Mrs. Bubble. Ich kümmer mich jetzt darum, könnten Sie bitte nach drinnen gehen!«, fuhr Jo die Frau an, die daraufhin mit entrüsteter Miene fortschlich. Jo lauschte nach dem Sirenengeheul, aber sie hörte nur Stille und ihr Herz, das laut in ihrer Brust pochte. Entsetzt spähte sie durch die Spitzengardinen, als der Mann, ein stämmiger Kerl mit Bürstenhaarschnitt in einer Steppjacke, die Frau erneut schlug.

Jo zuckte zusammen, als die Frau sich den Kopf hielt und einen gellenden Schmerzensschrei ausstieß, wobei ein Blutrinnsal aus ihrem Mund sickerte. Jos Augen huschten durch das spärlich möblierte Zimmer. Die zwei kleinen Mädchen in übergroßen T-Shirts kreischten laut, als ihre Mutter rückwärtsstolperte, dabei eine Stehlampe umwarf und die Glassplitter der explodierenden Glühbirne auf den fadenscheinigen Teppich rieselten. Der Mann schaute zu und holte kurz Atem, dann ging er zu der Frau hinüber und versetzte ihr einen brutalen Tritt in den Unterleib.

Jo zerrte an dem Funkgerät an ihrem Kragen und drückte einen der Knöpfe. »Whisky-vier-null-eins. Ich bin bei der Nummer 42 in der Wicker Street. Verstärkung dringend erforderlich. Ich muss mir Zugang verschaffen, er greift sie tätlich an.«

Roger, zwei Einheiten sind auf dem Weg. Abwarten – keine Gefahr eingehen. Wiederhole, abwarten.

Als Jo ihren Daumen vom Funkgerät nahm, streckte die Frau im Haus eine Hand nach ihren Kindern aus. Das ältere von beiden stand auf und eilte zu seiner Mutter, warf sich auf sie, um sie zu beschützen, doch der Vater riss das Kind weg und machte mit seinem gewalttätigen Übergriff weiter. Die Frau klammerte sich an ihre Kinder, während der Mann ihr unter Gebrüll weiter Tritte versetzte. Jo musste einen Weg ins Haus finden, sie musste den Mann von seiner Frau fortbekommen, bevor er sie ernsthaft verletzte, ihr blieb keine andere Wahl.

Jo musterte die Fenster, auf der Suche nach irgendeiner Öffnung, einem Weg nach drinnen, aber sie waren fest verschlossen. Eine Scheibe wollte sie nicht einschlagen; mit den überall verstreuten Glasscherben hätte der Mann eine gefährliche Waffe griffbereit. Stattdessen fuhr sie mit zwei Fingern am Fensterbrett entlang und suchte nach einer Schwachstelle im Rahmen, bis sie sich einen großen Holzsplitter einzog. Als Jo ihn entfernte, stöhnte sie vor Schmerz auf, setzte ihre Aufgabe aber beharrlich fort.

An der dritten Leiste fand sie schließlich, wonach sie gesucht hatte: eine Stelle, an der der Holzrahmen verfault war. Sie griff nach einem verrosteten Metallspachtel, der achtlos auf dem Boden lag, rammte ihn in die Lücke und stemmte das Fenster auf. Ein Klicken, es gab nach, und sie schob es mit ganzer Kraft nach oben.

Reglos sahen ihr die Kinder aus ihren schmutzigen, von Tränen überströmten Gesichtern zu.

»Polizei! Hören Sie sofort auf!«, rief sie dem Mann zu.

Er schaute nicht einmal auf; unbeirrt starrte er auf seine Frau und prügelte weiter auf sie ein.

Jo hob ein Bein, und als sie durch das offene Fenster auf ein dunkelgrünes Sofa kletterte, stieß sie mit dem Fuß einen Gegenstand um, der mit einem dumpfen Geräusch leise auf dem Fußboden aufschlug.

»Hören Sie sofort damit auf! Lassen Sie die Frau in Ruhe!«, schrie sie, hastete zu dem Mann und versuchte, ihn zurückzudrängen. »Beruhigen Sie sich jetzt, ich muss Hilfe für Ihre Frau holen, Sie haben sie verletzt.«

Als Jo zwischen die beiden trat, blickte sie in die vor Zorn weit aufgerissenen Augen des Mannes. Er schäumte vor Wut und funkelte sie böse an.

»Eine verdammte Affäre hat sie!«, schrie er Jo Speichel spritzend ins Gesicht.

»Sie machen Ihren Kindern Angst. Gehen Sie ein Stück zurück.« Jo blieb zwischen den beiden Erwachsenen stehen und sah zu den Kindern, die sich beide mit ihren kleinen Körpern über ihre Mutter geworfen hatten.

Der Mann achtete nicht auf ihre Worte, er war wie von Sinnen, sein Zorn überwältigte ihn, und er war noch nicht fertig. In der Ferne konnte Jo Sirenengeheul hören, aber das klang noch nicht nah genug. Sie war allein. Das einzige deutlich vernehmbare Geräusch in dem kleinen, miefigen Zimmer war das verzweifelte Wimmern der Frau und ihrer zwei Kinder.

»Okay, wir gehen jetzt in die Diele. Dann erzählen Sie mir, worum es hier geht. Kommen Sie«, sagte Jo und versuchte, den Mann aus dem Zimmer zu drängen.

Unsanft schob er sie beiseite und fing erneut an, seine Frau zu treten. Jos Blick fiel auf die Kinder, und mit ausgestreckten Armen ging sie auf die beiden zu, in der Hoffnung, sie würden zu ihr eilen. Doch sie waren mit weit aufgerissenen Augen wie versteinert, eines hob den Arm zeigte auf etwas hinter ihrem Rücken, dann stießen beide einen gellenden Schrei aus.

Aus dem Augenwinkel sah sie einen Lichtblitz und spürte fast im nächsten Moment eine Hitzewelle. Als sie sich zum offenen Fenster umdrehte, sah sie einen umgekippten Aschenbecher auf dem Boden und erkannte mit Schrecken, dass sie ihn beim Einsteigen ins Haus umgestoßen haben musste. Innerhalb weniger Sekunden hatten die alten Stores Feuer gefangen, und brennende Stofffetzen flogen wie leuchtende Schmetterlinge über den Teppich, auf dem überall Flammen züngelten.

Jo stürzte zum Fenster und versuchte, die Gardinen herunterzureißen, aber das ramponierte Gewebe zerfiel in ihren Händen, als im Zimmer die tänzelnden Flammen das Sofa erreichten und es augenblicklich brannte. Hektisch zerrte Jo am Funkgerät an ihrem Kragen. »Whisky-vier-null-eins, schickt so schnell wie möglich die Feuerwehr zu Nummer 42 in der Wicker Street. Zwei Erwachsene und zwei Kinder befinden sich im Haus, das Wohnzimmer brennt.« Verzweifelt sah sie sich im Zimmer um, wo sich im Nu dicker Rauch ausbreitete.

Als das Feuer sich auf seine ausgestreckt am Boden liegende Frau zubewegte, hob der Mann zum ersten Mal den Kopf und sah Jo direkt in die Augen.

»Wir müssen alle nach draußen bringen, jetzt sofort«, sagte Jo flehentlich. »Allein kriege ich das nicht gelöscht, das Feuer greift rasend schnell um sich, mein Gott, alles hier brennt wie Zunder … die Feuerwehr ist schon unterwegs, aber wir müssen raus, auf der Stelle.«

Einen Moment lang zögerte der große bullige Mann, und er zuckte auch nicht zusammen, als Schutt von der mittlerweile brennenden Decke fiel und Funken wie Wunderkerzen in seinen schwarzen Haaren glühten. Dann schien er langsam besänftigt, kniete nieder und hob seine bewusstlose Frau hoch, fort von dem lodernden Teppich. Jo packte die Kinder und zog sie zu sich, während sie hinter dem Mann aus dem Zimmer stürmte, in der Erwartung, er würde nach links in den Flur zur Haustür gehen, wohin sie ihm mit den Kindern folgen wollte.

Doch zu ihrem Entsetzen wandte er sich in der Diele nach rechts, entfernte sich zusehends vom rettenden Ausgang und drang tiefer in das inzwischen lichterloh brennende Haus. Mit seiner bewusstlosen Frau auf dem Arm begann er, die Treppe in den ersten Stock hinaufzusteigen. Jo blieb das Herz stehen, als sie zusammen mit den schluchzenden Kindern mit ansehen musste, wie der Vater immer höher stieg und die Mutter mit fortnahm in die glühende Hitze des Feuers, das die beiden umschloss.

»Mum!«, schrie eines der Mädchen in höchster Verzweiflung, riss sich mit ganzer Kraft von Jo los und rannte hinter seinen Eltern die Treppe hinauf, als Jo endlich die Sirenen der eintreffenden Polizeiverstärkung vernahm.

»Holly, komm zurück«, rief das jüngere Mädchen, das ebenfalls versuchte, von Jo freizukommen.

Rasch zog Jo das Kind wieder an sich, schlang einen Arm um die Brust des kleinen Mädchens, damit es ihr nicht mehr entkommen konnte, und öffnete mit der freien Hand die Haustür. Kalte Luft strömte herein und ließ einige Rauchschwaden aus dem Flur nach draußen entweichen. Jo schnappte mehrmals nach Luft, ihre Augen brannten von der dicken schwarzen Rauchwolke, die nun das ganze Haus einhüllte.

Jo nahm das Kind auf den Arm und trat ins Freie, gerade als zwei Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirenen kreischend vor dem Haus hielten. Die Wagentüren gingen auf, und vier Beamte liefen auf sie zu.

»Wer ist noch drinnen?«, brüllte einer der Männer, die ins Haus stürmten. Nur Phillip Price blieb, entsetzt über die dichten Rauchschwaden, die aus der offenen Haustür quollen, zurück.

»Ein Mann, eine Frau und ein Kind sind nach oben, das Vorderzimmer steht in Flammen«, rief Jo den ersten Beamten zu, als sie erkannte, dass hinter den Männern ihr älterer Bruder Charlie auftauchte und nun an Phillip vorbeidrängte.

»Geht es dir gut, Jo?«, fragte er und hastete zum Hauseingang.

»Ja«, antwortete sie hustend, »aber das Feuer hat sich schon ausgebreitet, und drinnen ist noch ein kleines Mädchen, Holly. Hol sie schnell dort raus, Charlie!«

Der Rauch war inzwischen so dick, dass ihr Bruder aus ihrem Sichtfeld verschwand, sobald er seinen Kollegen ins Haus hinterhergelaufen war. Das kleine Mädchen mit den blonden Locken und den blauen Augen in ihren Armen weinte, und Jo drückte den schmächtigen Körper an sich. »Alles okay, sie holen sie da raus.«

Phillip war keine Hilfe. Den schmalen Mund vor Schreck weit aufgerissen, stand er da, wie angewurzelt und vollkommen gelähmt, während der Rauch aus jedem Fenster im Erdgeschoss quoll.

»Phillip, hol dem Kind Wasser und eine Decke«, rief Jo. »Phil! Im Kofferraum meines Wagens sind Wasser und eine Decke, kannst du das beides holen?«, wiederholte sie, als Phil endlich zu ihr sah, dann widerstrebend nickte und wegging.

Aus dem Haus war ein klirrendes Krachen zu hören, als eines der Fenster zu ebener Erde explodierte. Durch den Druck der Hitze und des Rauchs wölbten sich die Mauern, und bei dem Gedanken an die Menschen im Inneren – darunter auch ihr geliebter Bruder Charlie – stieß Jo einen angsterfüllten Schrei aus. Sie setzte sich das kleine Mädchen auf die Hüfte und rannte zur Rückseite des Hauses. Ihr Herz raste panisch, als zwei Nachbarn mit einer Leiter aus der Dunkelheit der Straße auftauchten.

»Vielen Dank«, sagte Jo. »Können Sie die Fenster beobachten und mich rufen, wenn Sie jemanden sehen? Klettern Sie nicht selbst hinauf. Wir brauchen nicht noch mehr Verletzte!« Von Fenster zu Fenster eilend, hielt Jo angestrengt nach irgendwelchen Lebenszeichen Ausschau, als das kleine Mädchen zu dem Rauch sah, der aus den Spalten in den Fensterrahmen drang, und laut nach ihrer Schwester rief.

»Holly!«, schluchzte sie, den Kopf an Jos Hals gedrückt, und das Rinnsal heißer Tränen hinterließ eine helle Spur auf ihrem rußgeschwärzten Gesicht.

»Alles okay, sie werden gerettet«, sagte Jo tröstend. In der Ferne heulten die Sirenen der Feuerwehr – es dauerte einfach viel zu lange! In Windeseile lief sie zurück zur Vorderseite des Hauses und rief laut nach ihrem Bruder, als endlich zwei seiner Kollegen an einem Fenster erschienen, es öffneten und den Rauch wie Drachenodem entweichen ließen.

»Hierher! Bringt die Leiter nach vorn!«, rief Jo den Männern zu und übergab Phillip, der mit einer Decke zu ihr gekommen war, das kleine Mädchen. Zu dritt stellten sie die Leiter neben das offene Fenster, und Jo spürte die enorme Hitze durch die Mauersteine dringen.

»Wo ist Charlie?«, rief sie mit kräftiger Stimme, aber bemüht, nicht hysterisch zu klingen, als die ersten beiden Polizisten an der Brandstelle die Leiter nach unten stiegen und sich dann unter heftigem Husten krümmten.

»Keine Ahnung, ich konnte ihn nicht sehen«, brachte einer stockend hervor. »Wir haben das Kind nicht gefunden.«

»Charlie!«, schrie Jo zum offenen Fenster hinauf und fing an zu weinen. Sie hatte den Brand ausgelöst, in dem nun vier Menschen, darunter ein kleines Kind und ihr eigener Bruder, gefangen waren. Wenn sie nicht gerettet werden konnten, würde Jo sich das nie verzeihen. Ihre Mutter würde ihr nie verzeihen, wenn ihrem geliebten Sohn etwas zustoßen würde.

»Charlie! Wo bist du?«, brüllte Jo, und in dem verzweifelten Wunsch, irgendwie zu helfen, begann sie, die Leiter hinaufzusteigen. Sie konnte nicht einfach dastehen und darauf warten, dass er starb.

»Jo! Was machst du da?«, rief Phil zu ihr hinauf. »Komm zurück! Du kannst da nicht reingehen!«

»Ich muss ihn finden!« Vor Angst bebend, blickte sie zu Phil hinunter, als plötzlich die Stimme ihres Bruders, unterbrochen von krampfartigen Hustenanfällen, erklang.

»Komm jetzt runter!«, verkündete er.

Ein nie gekanntes Gefühl der Erleichterung durchströmte Jo.

Sie bekam weiche Knie, als sie nach oben schaute, und Tränen brannten ihr in den Augen, sowie Charlie am anderen Ende der Leiter erschien – mit Holly über einer Schulter.

Während er auf dem Weg nach unten war, begannen die Fenster vor Hitze zu bersten, und die umstehenden Menschen duckten sich zum Schutz vor den herumfliegenden Glassplittern. Als endlich die Feuerwehr und der Rettungswagen eintrafen, hob Jo die kleine Holly aus Charlies Armen und ging eilig mit ihr zu den Sanitätern. Jo sah zu, wie das Mädchen auf eine Bahre gelegt wurde, Gesicht und Haare waren rußgeschwärzt, und vom ständigen Husten krampfte sich sein Körper zusammen.

»Bitte, helfen Sie meinem Bruder, er braucht Sauerstoff.« Jo hielt die Hand des kleinen Mädchens und deutete auf Charlie. Ein weiterer Sanitäter griff nach einer Sauerstoffmaske und lief rasch zu Charlie, der bereits schwarze Galle spuckte.

Auf einmal durchzogen sprühende Wasserkanonen und Flutlichter den Nachthimmel. Jo wandte sich wieder Holly zu und strich ihr die Haare aus der blassen Stirn, als das Mädchen etwas auf den Boden fallen ließ. Holly stieß einen Schrei aus, drehte sich zur Seite und übergab sich. Mit Tränen in den blutunterlaufenen Augen langte sie nach der am Boden liegenden Halskette, während der Sanitäter verzweifelt versuchte, ihr die Sauerstoffmaske aufzusetzen. Jo bückte sich, hob die Kette mit dem silbernen Christophorus-Anhänger auf und reichte sie behutsam dem Mädchen.

Holly gab ein schwaches Murmeln von sich, das vom Zischen der Sauerstoffmaske übertönt wurde. Jo beugte sich vor, als sie erneut zu sprechen versuchte und eine Träne seitlich ihre verschmutzte Wange hinunterrann. Angestrengt lauschte Jo, als das Mädchen eine Hand an die Sauerstoffmaske legte und diese langsam hochhob, während seine andere Hand die Kette fest umklammert hielt.

Den Blick fest auf Jo gerichtet, sprach Holly ihr mit vernehmlicher Stimme ins Ohr, und ihr Atemhauch jagte ein scharfes Prickeln über Jos Nacken.

»Alles okay«, sagte Jo und versuchte, dem Mädchen wieder die Sauerstoffmaske aufzusetzen, bevor sie begriff, was Holly ihr zugeflüstert hatte.

»Du hast sie getötet. Du hast meine Mum getötet.«

Kapitel einsJO

März 2015, Montagmorgen

»Hast du die Überreste gesehen?«

»Ja, Jo.«

»Und die sind eindeutig von einem Menschen?«

»Ja, es gibt einen Schädel, und es sieht nach einer Kopfverletzung aus.«

»Aber der Rest ist unbeschädigt?«, fragte Superintendent Jo Hamilton, und Detective Sergeant Stanley James nickte.

»Die Spurensicherung ist schon los. Sobald sie sich das angesehen haben, wissen wir mehr«, fügte Stanley hinzu. »Aber da die Leiche an diesem abgelegenen Ort vergraben wurde, bin ich fast sicher, dass wir es mit Mord zu tun haben.«

Jo wandte den Blick über die Schulter zu dem Waldstück, das seit dem grausamen Fund am Morgen von den zuerst eingetroffenen Beamten abgesperrt worden war, und dann auf die offene Weite des Ärmelkanals, der an dieser Stelle an die Telscombe Cliffs heranreichte.

»Okay, schauen wir uns die Sache mal an.« Jo war allein in ihrem Büro gewesen, wo sie die letzten Fallakten für die endgültige Übergabe am Ende der Woche zusammengeschnürt hatte, als das Getuschel und Gemurmel im Flur aufgekommen war. Sie konnte nicht verstehen, was draußen gesprochen wurde, aber es fühlte sich immer wie Elektrizität an, wenn etwas Großes losbrach; Leute steckten die Köpfe zusammen, flüsterten miteinander, die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Voller Ungeduld wartete sie dann jedes Mal auf das Klopfen an ihrer Tür, damit sie die Neuigkeit erfuhr. Heute wurde diese von Detective Inspector Fred Jones in Form eines Telefonanrufs überbracht. »Jo, zwei Bauarbeiter sind beim Graben auf menschliche Überreste gestoßen. In den Wäldern bei Saltdean, auf den Telscombe Cliffs. Stan geht von einer eindeutigen Schädelverletzung aus.«

Der unaufhörliche Märzregen der vergangenen Tage hatte zur Folge, dass ihr BMW es kaum den schlammigen Fahrweg zu dem Waldstück hinaufgeschafft hatte, wo sie den Wagen jetzt neben mehreren Pick-ups mit dem Schriftzug »ARC Bauentwicklung« auf der Seite parkte.

»Wer hat die Überreste gefunden?«, fragte Jo, den Blick fest auf den schlammigen Fahrweg und das Dutzend Bäume auf der Lichtung vor ihr geheftet. Sie wandte sich zu dem Detective Sergeant, der erst seit einem Jahr zu ihrem Team gehörte, sich aber bereits als wertvoller Mitarbeiter erwiesen hatte: sehr fleißig, schnell im Kopf und respektvoll. In vielerlei Hinsicht erinnerte er sie an ihren Bruder Charlie.

»Zwei Männer, die das Fundament für ein Bauprojekt im Luxussegment ausheben, sie verwandeln den Wasserspeicher in ein Wohngebäude. Anscheinend haben sie monatelang auf grünes Licht für den Beginn der Bauarbeiten warten müssen. Na, da brauchen sie jetzt aber Glück«, sagte er kopfschüttelnd. »Kate war die Erste vor Ort. Jetzt spricht sie gerade mit den beiden Arbeitern.«

»Wasserturm?« Jo runzelte die Stirn, als Stan zu Fuß den Weg weiterlief und brauner Matsch auf die blauen Plastiküberzieher an seinen Füßen spritzte.

Jo warf einen Blick in den Kofferraum von Stans Wagen, ob dort noch mehr Schuhüberzieher wären, damit ihre neuen Stiefel nicht ganz schlammverdreckt würden – oder schlimmer noch, als Beweisstück beschlagnahmt. Sie fand welche und zog sie über.

»Nicht viele Leute wissen von dem Wasserturm hier. Er liegt versteckt zwischen den Bäumen«, sagte Stan noch, als Jo zu ihm aufholte und ihr salziger Seewind entgegenschlug. Sie kamen nur mühsam voran; der Boden war eine riesige Schlammlache, bis sie den Wald erreichten, wo die verschlungenen Baumwurzeln einiges von dem Matsch aufgesogen hatten. Als sie den Kopf hob, sah Jo den viereckigen Betonturm auf Pfeilern, den die umstehenden Bäume verbargen. »Ach, das. Seit Jahren bin ich nicht mehr hier oben gewesen«, sagte sie. »Mir war nicht klar, dass das ein Wasserturm ist. Ich weiß noch, dass es in den Achtzigern ein Kornspeicher war. Einmal waren dort ein paar Kids drin gefangen, und ich wurde hergerufen, um sie zu befreien.«

»Die Überreste sind gleich dort drüben, Jo«, sagte Stan und zeigte auf einen mit Polizeiband abgesperrten Erdhügel neben einem gelben Bagger. Langsam ging Jo hinüber und bemühte sich, den nassen Grasboden nicht aufzuwühlen. Sie blieb stehen und blickte hinunter in ein flaches Grab und die zum Teil freigelegten Überreste in der Erde zu ihren Füßen. Vorsichtig ging sie in die Hocke und blinzelte in der Märzsonne, während sie den Fundort eingehend studierte. Ein Schädel, ein Schlüsselbein und ein Oberschenkelknochen ragten aus dem tauenden Schlamm heraus. Ein Körper, auf die Seite gedreht und in Embryonalhaltung.

Trotz der unzähligen Leichen, die sie im Laufe ihrer dreißig Dienstjahre bei der Sussex Police gesehen hatte, machte sie der Beweis für ein – häufig in der Blüte der Jugend – zerstörtes Leben jedes Mal traurig. Einen Moment lang stand Jo da und ließ den unglückseligen Schauplatz auf sich wirken; an Leichenfunde konnte sie sich nie gewöhnen. Aber die lange und glanzvolle Karriere, auf die sie zurückblickte, bedeutete auch, dass ihr Verstand augenblicklich raste angesichts der Fragen, auf die der Rechtsmediziner in den kommenden Tagen eine Antwort zu finden versuchen würde. Wem gehörten diese sterblichen Überreste? Wie waren sie hierhergekommen? Wie lange lagen sie schon hier? Wie war dieser Mensch gestorben?

Natürlich war die Forensische Pathologie imstande, DNA aus den Knochen zu gewinnen, aber das nützte nicht viel, solange sie keine Ahnung hatten, wessen Skelett das war, und somit keinen Anhaltspunkt, mit wem sie die gewonnenen Daten abgleichen sollten. Sobald sich eine Verwandtschaftsbeziehung auftat, konnte man die Familienmitglieder einem DNA-Test unterziehen. Aber momentan musste Jo nach anderen Wegen suchen, um die Identität der Leiche zu klären, nämlich den bruchstückhaften Hinweisen zu ihren Füßen; den Kleidungsfetzen, die nach einer geblümten Damenbluse aussahen – vielleicht war es auch nur ein altes Laken, in das die Leiche gewickelt worden war – und noch etwas, das möglicherweise ein Schmuckstück an einer Kette war. Beides würde sie, zusammen mit allem anderen, was die Kriminaltechniker noch finden würden, genauestens untersuchen lassen. Sobald der Rechtsmediziner ihr einen Zeitrahmen nannte, könnte sie die Fotografien der zu dieser Zeit vermissten Personen durchgehen. Anschließend wäre vielleicht auch das allerkleinste Detail, das sie leicht übersehen konnte, der Schlüssel zur Klärung der Identität dieses toten Menschen. Normalerweise würde dieses Sammeln von Informationen Wochen dauern – Zeit, die sie nicht hatte. Tatsächlich blieben nur noch fünf Tage bis zu ihrer Pensionierung, dann würde sie ihr Büro, ihren Rang, ihre Macht abtreten und diesen Fall jemand anderem übertragen müssen, der sich wahrscheinlich nicht so sehr in den Fall hineinfuchste wie sie.

Jemand, der nicht so hart an dem Fall arbeiten würde wie sie. Der nicht automatisch alles Nötige tun würde, um zur Wahrheit vorzustoßen.

Und ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass diese Überreste zu einem Mädchen gehörten, dessen Verschwinden sie schon seit Jahrzehnten quälte. Zwar hatte sie im Moment noch keinerlei Beweise, doch ihr war klar, dass sie einen Weg finden musste, so lange wie möglich an dem Fall dranzubleiben.

Als könnte er ihre Gedanken lesen, drehte Stan sich zu ihr um. »Wenn der Rechtsmediziner bestätigt, dass es Mord war, müssen wir eine Einsatzzentrale einrichten. Du hast ja nun nicht mehr lange, möchtest du, dass ich mich hierum kümmere? Sicher willst du dir so einen Fall nicht in deiner letzten Arbeitswoche aufhalsen.« Stan blinzelte in die Märzsonne und griff nach seiner Sonnenbrille in der Manteltasche.

»Ja, wahrscheinlich hast du recht, ich denke darüber nach«, erwiderte sie, als er sich stirnrunzelnd die Sonnenbrille auf seine Adlernase schob. »Das wird nicht viel Rennerei«, überlegte Jo laut. »Der Großteil der Ermittlungen wird historischer Natur sein, am Schreibtisch sitzen und die ganzen alten Vermisstenakten durchgehen. Wahrscheinlich mache ich den Anfang, prüfe, passe auf, dass alles in den richtigen Bahnen läuft, und dann übergebe ich«, sagte sie.

»In Ordnung«, erwiderte er. »Gib mir Bescheid, wenn du Hilfe benötigst.«

Jo lächelte Stan an, während er neben ihr stehen blieb. Er war groß und blond, mit einem freundlichen Gesicht und strahlenden blauen Augen, die sie an ihren Vater erinnerten. Streng genommen war er noch nicht ihr Schwiegersohn, da aber die Hochzeit von ihm und ihrer Tochter Megan noch für dieses Jahr anberaumt war, würde er bald zur Familie gehören. Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen und errötete peinlich berührt. Er war ein umgänglicher Typ, ehrgeizig und strebsam, aber vor allem konnte er nach Schichtende abschalten und nach Hause zu seiner Verlobten und seiner eineinhalbjährigen Tochter Phoebe, Jos Enkelin, gehen. Jo mochte Stan sehr, er liebte Megan und half dabei, den Graben zwischen ihr und ihrer Tochter zu überwinden. Dennoch war es eine Tatsache, dass Megan alles, was Jo tat oder sagte, sofort erfahren würde, und sie wäre entsetzt, dass ihre Mutter fünf Tage vor ihrer Pensionierung mit dem Gedanken spielte, einen vor Langem zu den Akten gelegten Cold Case an sich zu ziehen. Ihre Tochter zählte bereits die Tage, bis Jo zu arbeiten aufhörte und sich endlich vollends Megans Hochzeit widmen konnte: den Einladungen und Kleideranproben, der Tischordnung und der Weinauswahl. Gespräche, die, das wusste Jo, unweigerlich in Streit ausarten würden, denn Megan würde die Traurigkeit ihrer Mutter über die gähnende Leere, die sich mit der Pensionierung in ihrem Leben auftat, spüren können.

Im Bewusstsein, dass sie von ihrem zukünftigen Schwiegersohn beobachtet wurde, beugte Jo sich vor und widmete ihre Aufmerksamkeit dem flachen Grab. Nur schwer ließ sich ausmachen, was Blätter und Schutt und was Kleidung war, aber um das Schlüsselbein schienen wirklich einige Stoffstreifen gewickelt zu sein.

»Außer dir und Kate ist niemand hier gewesen? Abgesehen von den Bauarbeitern?« Sie sah ihn fragend an.

»Nein«, antwortete Stan kopfschüttelnd.

»Die Kriminaltechniker könnten einige Stofffetzen sicherstellen, sieht aus, als befände sich dort etwas«, sagte sie und zeigte auf die Stelle unter dem Schädel. »Aber ich bezweifle, dass diese Reste nach all der Zeit noch irgendeine Flüssigkeit oder Blutspuren aufweisen. Hoffentlich können sie herausfinden, was für ein Kleidungsstück das mal gewesen ist.« Sie zeigte auf die schlammbedeckten Stofffetzen, die an dem dunkel verfärbten Skelett hafteten.

»Ich komme mit dir, um mit den Bauarbeitern zu sprechen«, sagte Jo und erhob sich. »Selbstverständlich kann hier nicht weitergebaggert werden, und niemand Unbefugtes darf den Fundort betreten. Kate muss vor Ort bleiben und für eine Ablösung sorgen, wenn ihre Schicht endet. Hier muss immer jemand Dienst tun, Tag und Nacht. Und protokollieren, wer hier ein und aus geht, ich will nicht, dass die Fundstelle verunreinigt wird. Hast du das CID benachrichtigt?«

»Ja, sie sind schon unterwegs«, antwortete Stan und warf einen finsteren Blick in Richtung von Kate, die noch nicht ahnte, dass sie das neu gefundene Grab in der frostklirrenden Kälte bewachen sollte.

»Es ist so offen und ungeschützt hier. Früher war das mein Gebiet, aber inzwischen bin ich schon seit Jahren nicht mehr auf dem Tye gewesen«, sagte Jo wehmütig. »Komm, wir unterhalten uns mal ein bisschen mit den Männern, die das Grab gefunden haben.«

Beide sahen zu einem Polizeiauto, das neben einem Geländewagen parkte. Der Kofferraum stand offen, und auf der Stoßstange saß ein Mann in einer dicken Bomberjacke und trank aus einem Becher mit einem dampfenden Heißgetränk.

Jo ging wieder in die Hocke und neigte sich vor. »Du hast recht, es liegt eine Schädelverletzung vor. Können wir sicher sein, dass das nicht die Arbeiter mit dem Bagger waren?« Sie blickte zu den Zähnen der Baggerschaufel, die hoch über dem nun mit Polizeiband abgesperrten Gebiet aufragte.

»Wohl schon. Sie haben den Schädel nicht bei der Arbeit gefunden. Gestern haben sie in der Nähe eine große Fläche geräumt, dabei müssen sie die oberste Erdschicht über dem Grab abgetragen haben, anschließend hat der heftige Regen die Überreste freigelegt. Die haben sie dann bei ihrer Ankunft heute Morgen gefunden.«

»Sorg dafür, dass du die Schuhabdrücke von den Männern bekommst sowie deren DNA. Sie könnten den Fundort schon kontaminiert haben«, sagte sie, und der frostige Seewind strich ihr über die Wangen. Sie hatte vergessen, wie eisig es hier oben war. In den Siebzigern war sie als junge Polizistin unzählige Nächte lang allein die Straßen von Rottingdean und Saltdean abgelaufen, bis sie ihre Füße nicht mehr gespürt hatte. Ihr war klar, dass Kate nicht begeistert sein würde über ihre Anordnung, hier oben zu bleiben, aber das war Jo gleichgültig. Sie würde ihren Mitarbeitern keine Aufgabe übertragen, die sie in der Vergangenheit nicht auch selbst versehen hatte, und das wusste Kate.

Stan sah zum Wasserturm hinauf. »Meiner Einschätzung nach muss die Person, die die Leiche hierhergebracht hat, die Gegend kennen oder gekannt haben. Vielleicht war es jemand, der sich früher hier rumgetrieben hat. Dieser Wasserturm ist seit fast fünfzig Jahren nicht mehr in Betrieb. Ich glaube, ich war mal als Teenager in einer Sommernacht hier oben, auf einer Party. Niemand kann einen hören, das nächste Haus liegt über eine Meile entfernt in Telscombe.«

»Abgesehen von Morgate House.« Jo nickte in Richtung des Kinderheims, das riesige längliche rote Backsteingebäude aus der viktorianischen Zeit, das seit einem Jahrhundert über den Saltdean Cliffs aufragte und für die vorüberfahrenden Schiffe wie ein Puppenhaus wirkte. »Jetzt ist es verlassen, weil es so nah an der Felskante steht, aber bis in die Neunziger hinein war es bewohnt. Die Spurensicherung wird uns sagen müssen, ob diese Überreste so alt sein können.«

Jo drehte sich halb um und sah in Richtung Meer, fuhr mit den Augen die Umrisse von Morgate House entlang, das in Kürze zum Abriss bereitstand. Schon häufiger hatten sich Brocken aus der Kreidefelswand gelöst und waren auf den Fußweg unterhalb des Kliffs gestürzt, sodass sich die Vorderseite des Hauses nun gefährlich nah an der Felskante befand. Die Stadtverwaltung lebte in ständiger Sorge, das Kliff könnte abbrechen und Teile des Hauses auf den darunter gelegenen Strand stürzen, doch bevor sie das Vorhaben umsetzen konnten, waren Probleme bei der Finanzierung aufgetreten. Die waren nun endlich gelöst.

Als Jo sich wieder zu den frei liegenden Überresten wandte, fiel ihr die im Sonnenlicht glänzende Kette neben dem Schädel auf. Sie beugte sich vor und erkannte, dass es eine Halskette war. »Da ist etwas, das wie Schmuck aussieht, genau dort, sieh mal, halt das in deinen Aufzeichnungen für die Kriminaltechnik fest.« Jo holte ihr Handy aus der Jackentasche und machte ein Foto von der Kette, die zum Teil noch von Schlamm bedeckt war. Stan warf ihr einen zweifelnden Blick zu, als sie ihr Handy wieder einsteckte. »Schreib die Namen von allen auf, die hier kommen und gehen. Wir werden den Tatort ausweiten müssen; sicher will die Spurensicherung nach weiteren Beweisen graben, so was wie Schuhe oder eine Tasche des Opfers. Ich werde prüfen, ob es computergestützte Voruntersuchungen des Gebiets gegeben hat, ob mal irgendetwas in der Art entdeckt wurde«, sagte Jo und bezog sich dabei auf die historischen, geologischen und archäologischen Aufzeichnungen über das Gelände, auf dem sie sich befanden, für den Fall, dass in den vergangenen dreißig Jahren etwas gefunden worden war, das ihnen bei ihren Ermittlungen helfen könnte.

»Hast du eine Ahnung, wer das Opfer sein könnte?«, fragte Stan argwöhnisch.

Jo hielt seinem Blick stand und schaute dann wieder auf die von Schmutz und Schlamm verkrusteten Gebeine. Der Regen hatte den Dreck so weit von der Halskette abgewaschen, dass ein Medaillon des heiligen Christophorus zu erkennen war. Der Anblick versetzte ihr einen schmerzhaften Stich ins Herz.

»Nein«, log Jo, denn sie wollte nicht zugeben, dass sie in Gedanken längst alle möglichen Szenarien durchspielte. »Ich fahre ins Büro zurück und beginne mit den Vermisstenakten.«

Dann ging sie auf Police Constable Kate Harris zu, die den Mann befragte, der im offenen Heck des Geländewagens hockte. Er trug eine verdreckte Jacke mit dem Schriftzug »ARC Bauentwicklung« auf der Rückseite. »Ich bin Superintendent Jo Hamilton. Sie haben den Fund gemeldet?«, wandte Jo sich an den Mann. »Danke, dass Sie uns benachrichtigt haben. Die Überreste stammen definitiv von einem Menschen, daher können Sie auf diesem Grund nicht weiterbaggern. Ich schlage vor, alle Arbeiter für heute nach Hause zu schicken.«

Der Mann runzelte die Stirn, holte ein Päckchen Tabak aus seiner Jackentasche und drehte sich eine Zigarette. Dann stand er auf. »Von mir aus«, sagte er und trank noch einen Schluck Kaffee, »aber der Chef wird nicht erfreut sein. Wie lange wird das hier dauern? Wir hinken dem Zeitplan schon Monate hinterher.«

Jo nickte. »Zwischen einigen Tagen bis hin zu drei oder vier Wochen ist alles möglich. Wir werden eine zehn Quadratmeter große Fläche auf weitere Gebeine oder Beweisstücke wie Schuhe absuchen müssen, jeder Gegenstand könnte mit dem Fundort in Verbindung stehen«, sagte sie und zog sich die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf. »Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie dieses Wissen für sich behalten könnten. Sobald die Spurensicherung ihre Zelte aufbaut, wird die Presse Wind davon bekommen. Aber wir brauchen Zeit für die Grabungen auf dem Gelände, bevor wir eine Erklärung rausgeben.«

»Kein Problem. Also gehen Sie davon aus, dass hier jemand ermordet und verbuddelt wurde?«, fragte der Mann und nahm einen Zug von seiner Selbstgedrehten.

»Im Moment wissen wir das nicht. Wie schon gesagt, sind wir für Ihre Diskretion dankbar.« Jo sah aufs Meer hinaus und beobachtete, wie zwei Ford Fiesta schlitternd den Anstieg zu dem Waldstück nahmen, wo sie standen.

»Da kommen die Kriminaltechniker«, sagte Kate, als Stan neben ihnen erschien.

»Vergiss nicht, sie über die Halskette zu informieren. Und einer von euch sollte jetzt dort oben sein, der Fundort darf in keinem Moment unbeaufsichtigt bleiben. Hast du dein Notizbuch?«

Kate nickte.

»Schreib die Namen aller Anwesenden auf, auch die von der Spurensicherung, von jedem, der hier auftaucht. Verstanden?«

»Ja, Jo«, erwiderte Kate ohne zu klagen, bevor sie sich zum Schutz vor dem Wind die Kapuze über den Kopf zog und sich umdrehte, um wieder nach oben zu gehen.

Jo sah Kate nach. Sie hatte es weit gebracht, seit sie vor fünf Jahren direkt nach der Schule bei der Polizei angefangen hatte. Jo hatte Kate unter ihre Fittiche genommen, ohne sich dies allzu sehr anmerken zu lassen, aber sie hatte eine Menge Potenzial in ihr gesehen und ihr Rat angeboten, wo immer sie konnte. Kate war stets die Erste, die sich freiwillig meldete, und besaß eine Energie, die Jo an sich selbst in ihrer Anfangszeit erinnerte. Als eine junge Frau, die ihr Herz auf der Zunge trug, hatte Kate zunächst nicht allzu begeistert auf Jos Ratschlag reagiert, dass sie, wie zuvorkommend und freundlich ihre männlichen Kollegen sich auch geben mochten, keinem von ihnen ihre wahren Gefühle zeigen dürfte, oder sie würde nie ernst genommen werden. Wollte sie von ihnen respektiert werden, so müsste sie tough sein, sich reinhängen, sich nie beklagen und jeden Fehler zugeben. Doch sie hatte Jos Rat beherzigt; folglich war sie bei den Kollegen beliebt und galt auch in schwierigen Momenten als absolut verlässlich. Jo, die den Stab weitergeben und darüber hinaus gern miterleben wollte, wie Kate ihr gesamtes Potenzial ausschöpfte, hatte sie für eine Beförderung zum Sergeant empfohlen. Nun hoffte sie, dass das noch vor ihrem Abschied über die Bühne ging.

Jo wandte sich an Stan, der zusah, wie die Kollegen von der Spurensicherung mühevoll in dem schlammigen Untergrund parkten. »Ich fahre jetzt zurück und werde schon mal die Ermittlungen eröffnen. Ruf mich an, sobald die Pathologie fertig ist. Kannst du denen sagen, dass ich heute noch mit ihnen über den Zustand der Überreste und einen grob geschätzten Zeitrahmen sprechen muss? Bist du einverstanden, dass ich den Streifenwagen nehme, während du hier vor Ort die Kollegen informierst und mich über deren Fortschritte auf dem Laufenden hältst? Ich schicke eine Ablösung für Kate vorbei, und sie soll dich mitnehmen. Geht das in Ordnung?«

Jo drehte sich weg, sie hatte es eilig, ins Depot der Polizeiwache zu kommen und die dort archivierten Vermisstenakten zu durchforsten. Auch ihre Notizbücher – die sie seit ihrem ersten Tag im Dienst 1973 gewissenhaft geführt hatte – lagerten dort und könnten einiges enthalten, was ihrem Gedächtnis auf die Sprünge half.

Im Regen ging sie von Stan und Kate fort, und das vertraute Gefühl kroch ihr den Nacken hoch, dass gleich über sie geredet würde. Da es nur noch fünf Tage bis zu ihrer Pensionierung waren, wünschte Stan sich wahrscheinlich Megan zuliebe, man hätte die Überreste ein wenig später gefunden. Jo malte sich aus, wie er nach dem Heimkommen in das Reihenhäuschen in Hove ein Bier aus dem Kühlschrank nahm, während Megan sich ums Abendessen kümmerte. Ihre Tochter war eine zufriedene Hausfrau und Mutter, was auf sie selbst nie zugetroffen hatte. »Wie lange mögen diese Überreste schon dort liegen?«, würde Stan sagen, während Megan den Blick in den Himmel hob. »Zwanzig oder vielleicht sogar dreißig Jahre? Und man findet sie genau eine Woche, bevor deine Mutter aufhört. Es wird ihr schwerfallen, diesen Fall abzugeben.«

Jo nahm auf dem Fahrersitz Platz und startete den Motor. Durch den heftigen Wind von der Küste strahlte die Landschaft etwas Feindseliges aus. Sie fuhr auf die Küstenstraße und kam kurz darauf an dem weitläufigen Schatten von Morgate House vorbei. Augenblicklich davon angezogen, betätigte sie den Blinker und bog kurz entschlossen in die Morgate Lane ein. Der Wagen holperte über die kaputte Zufahrt, die zu den verriegelten Toren des inzwischen baufälligen Kinderheims führte.

Jo hielt an, schaltete den Motor aus und öffnete langsam die Fahrertür. Der Wind pfiff ihr in den Ohren, während sich unten am Kiesstrand die Wellen brachen. Nun blies die Brise kräftiger und brauste heulend durch die zerbrochenen Fenster. Jo schloss die Augen und zog den Mantel fester um sich, dann fuhren ihre Hände über das Tor und die Eisenkette, die im Wind rasselte.

»Ob wir zusammen in einem Zimmer bleiben dürfen?« Vor ihrem geistigen Auge blickte Jo zu Daisy Moore hinunter, die weinend die Hand ihrer Schwester umklammerte.

Die Mädchen waren ein schönes Paar, beide hatten feine blonde Haare und graublaue Augen. Im Alter von gerade mal sechs reichten Daisy die Engelslöckchen schon bis auf die Schultern, während Holly mit ihren acht Jahren das Haar auf Kinnlänge trug. Sie war sehr reif für ihr Alter und verhielt sich beinahe wie eine Mutter zu ihrem Kind. »Ich lasse nicht zu, dass sie uns trennen, Daisy, versprochen«, hatte sie gesagt und ihre Schwester an sich gezogen.

Vierzig Jahre waren seit der Brandnacht vergangen, doch dass sie die beiden Mädchen hier in Morgate House zurückgelassen hatte, verfolgte sie immer noch in ihren Träumen. Sie war wachsam gewesen, als Morgate House in jener Nacht zum Leben erwacht war, als das fahle Außenlicht angegangen war und eine grauhaarige Frau die Haustür geöffnet hatte. Jo hatte sich unwillkürlich vor die Schwestern gestellt, als wollte sie verhindern, dass Mrs. Price die beiden mit sich fortnahm, als wüsste sie, dass ihre Kindheit im Moment der Übergabe für immer verloren wäre.

Und sie hatte recht gehabt. Zehn Jahre lang hatte sie Mrs. Price nicht wiedergesehen. Im Frühjahr 1985 war sie gerade wieder einen Monat nach der Erziehungszeit mit Megan im Dienst gewesen, als ein Anruf auf der Wache eingegangen war, dass Holly Moore vermisst wurde. Voll ängstlicher Beklemmung war Jo zum Morgate House hinaufgefahren, um Lorna Price’ Erklärung des Vorfalls anzuhören. Holly reiße immer wieder aus, hatte die Heimleiterin behauptet und in ihrem Zuhause, einem Seitentrakt des Haupthauses, an ihrer Porzellanteetasse genippt, während ihr Ehemann am Kamin die Zeitung gelesen hatte. Sie wolle der Polizei keinen Ärger bereiten, fügte sie hinzu, habe aber gedacht, es sei besser, ihnen mitzuteilen, dass Holly nicht ins Heim zurückgekehrt sei. Sie schien verärgert über Jos Sorge, dass sie zwei Tage lang mit der Vermisstenmeldung gewartet hatte. Wertvolle Zeit, während der sie nach dem verschwundenen Mädchen hätten suchen können, betonte Jo.

Lorna Price funkelte sie wütend an. »Wenn ich Sie jedes Mal anrufen würde, wenn eines der Mädchen hier abends nicht zurückkommt, wären Sie jeden Tag hier oben.«

Außer sich vor Zorn fuhr Jo auf die Wache zurück, wo sie Detective Inspector Carl Webber von dem Vorfall berichtete. Anscheinend war ihr Vorgesetzter kaum stärker beunruhigt als Mrs. Price. Erst nach flehentlichem Betteln und der Drohung, sich an den nächsthöheren Beamten zu wenden, willigte er schließlich ein, dass einige Vermissten-Plakate aufgehängt wurden und zwei Beamte in Saltdean von Tür zu Tür gingen, um Erkundigungen einzuziehen. Doch dabei war nichts herausgekommen, und Mr. und Mrs. Price wurden nie für ihre verspätete Vermisstenmeldung zur Verantwortung gezogen. Gemma Smith hatte zu Recht gesagt, dass sich niemand um die Mädchen von Morgate House scherte. Am allerwenigsten Carl Webber.

Jo wandte sich von dem schmerzvollen Anblick ab und ging zum Rand des Kliffs. Sie starrte auf den Strand hinunter, es pochte in ihren Schläfen, als sie vor ihrem geistigen Auge sah, wie ihr jüngeres Ich 1975 den Fundort der Leiche von Gemma Smith absperrte. Die eiskalte Brise in ihrem Gesicht fühlte sich genauso an wie damals, als sie versucht hatte, Pfähle in den Kiesstrand zu schlagen, umgeben von Schaulustigen, die wie magnetisch angezogen wurden von dem aufgedunsenen Körper des Mädchens mit den langen schwarzen Haaren, dessen Augen Jo anstarrten.

Als die Erinnerung sie schwindlig machte, trat Jo einen Schritt zurück, wobei ihr Fuß gegen einen Stein stieß. Er rollte über die Kante des gut sechzig Meter tiefen Steilabfalls, um – nach langem Schweigen – wie eine Gewehrkugel auf die Felsen unten zu knallen. Jo spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Endlich hatte sie die Chance bekommen, ihren lang gehegten Verdacht über Morgate House zu beweisen: dass die sich dort in Obhut befindenden Kinder vernachlässigt wurden und dass die Heimleiter Lorna und Geoff Price eingehend zum Verschwinden von Gemma Smith und Holly Moore verhört werden müssten – gesetzt den Fall, dass das Ehepaar noch am Leben war.

Tief in ihrem Inneren hatte Jo immer gewusst, dass Gemma keinen Selbstmord begangen hatte. Im Streifenwagen auf der Fahrt zurück zum Kinderheim waren nur wenige Worte gefallen, dennoch hatte Jo erkannt, dass das Mädchen Mut besaß. Sie war wütend auf das Heim, aber sie schien nicht deprimiert, eher entrüstet und entschlossen, von dort wegzukommen und sich ihren Platz im Leben zu erkämpfen. Wie auch immer, als zwanzig Jahre junge Polizistin war Jos Verdacht damals ignoriert worden. Doch wenn die Leiche auf dem Tye Holly Moore war und die Kerbe in ihrem Schädel von einer Kopfverletzung herrührte, hätte Jo den notwendigen Beweis, dass es bei Hollys Verschwinden zu Fremdeinwirkung gekommen war, was wiederum den Weg für Ermittlungen in den Todesfällen beider Mädchen ebnen könnte.

Doch die Zeit war gegen sie. Jo müsste das Unmögliche vollbringen. Sie müsste Berge versetzen, um genügend Beweismaterial zur erneuten Aufnahme des Falls, eventuell als Doppelmorduntersuchung, zu sammeln, und das konnte sie unmöglich innerhalb einer Woche leisten. Vierzig Jahre lang hatten ihr Gemmas Tod und Hollys Verschwinden Kopfzerbrechen bereitet, mehr als alles andere in ihrer glanzvollen Karriere, aber nun befürchtete sie, dass Hollys Leiche zu spät gefunden worden war. Dennoch, sie musste es versuchen.

Jo ging zu ihrem Auto zurück und warf noch einen letzten Blick auf die Steilkante, als sie den Motor startete. Die augenscheinlich solide Felswand stürzte ab, war unkontrollierbar geworden und würde bald für immer verloren sein – wie ihre Chance, einige der schrecklichen Ungerechtigkeiten wiedergutzumachen, die sie in all den Jahren gepeinigt hatten.

Kapitel zweiGEMMA

November 1975

Gemma Smith saß auf dem kalten Ledersitz des Streifenwagens und beobachtete im Rückspiegel, wie die Frau, die sie beim Ladendiebstahl erwischt hatte, ihr wütend hinterherstarrte, als der Wagen aus der Rottingdean High Street fuhr. Das Mädchen ließ den Kopf hängen; sie konnte immer noch spüren, wie sich die langen Finger der Frau wie Adlerklauen in ihre Schulter gebohrt und sie über die Türschwelle zurück in den Laden gezerrt hatten, als sie sich aus dem Staub hatte machen wollen. In einem Anfall von Panik hatte sie versucht wegzulaufen, aber die Frau hatte sie fest umklammert und ihren Mann herbeigerufen, während sie an Gemmas Jacke gezerrt und die darin versteckten Dinge zum Vorschein gebracht hatte.

Mit glühend heißen Wangen trotz der kalten Temperaturen sah Gemma in eine Handvoll Gesichter, die sie alle mit Blicken durchbohrten, als ihre Jacke aufging und vier Packungen Kekse auf den Boden fielen. Wie in Zeitlupe purzelten sie durch die Luft, die Verpackungen rissen auf, der Inhalt zerbrach und verstreute sich im ganzen Laden.

Instinktiv kniete sie sich hin und begann verzweifelt, die Kekse aufzusammeln. Das Herz pochte heftig in ihrer Brust, sie senkte den Kopf, im Bewusstsein, dass alle sie angafften, und wäre am liebsten im Boden versunken. Eine Hand zog sie hoch und bugsierte sie in den hinteren Teil des Ladens.

»Komm mit mir mit, ich rufe die Polizei, ich hab’s satt, dass ihr Gören meinen Laden überfallt«, brüllte der Mann sie an. Sein Atem roch säuerlich nach Kaffee, als er sie in sein verrauchtes, düsteres Büro im hinteren Teil des Ladens zerrte.