Das Haus der Verlassenen - Emily Gunnis - E-Book
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Das Haus der Verlassenen E-Book

Emily Gunnis

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Beschreibung

Sussex, 1956. Als die junge Ivy Jenkins schwanger wird, schickt ihr liebloser Stiefvater sie fort – ins St. Margaret's Heim für ledige Mütter. Sie wird den düsteren, berüchtigten Klosterbau nie mehr verlassen ...

Sechzig Jahre später stößt die Journalistin Sam in der Wohnung ihrer Großeltern auf einen flehentlichen Brief Ivys. Er ist an den Vater ihres Kindes adressiert – aber wie ist er in den Besitz von Sams Großvater gelangt? Sam beginnt die schreckliche Geschichte von St. Margaret's zu recherchieren. Dabei stößt sie auf finstere Geheimnisse, die eine blutige Spur bis in die Gegenwart ziehen. Und die tief verstrickt sind mit ihrer eigenen Familiengeschichte.

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Seitenzahl: 512

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Zum Buch

Sussex, 1956: Ivy liebt ihren Freund Alistair sehr. Doch als sie von ihm schwanger wird, wendet er sich von ihr ab. Mit Schimpf und Schande wird sie nach St. Margaret’s geschickt, einem »Heim für ledige Mütter« in Preston. Hier soll sie durch harte Arbeit Buße tun, Misshandlung durch die grausamen Nonnen ist an der Tagesordnung. Für sich selbst hat sie schließlich keine Hoffnung mehr – aber zumindest ein anderes Mädchen will sie retten …

2017 findet die Journalistin Sam in der Wohnung ihrer Großeltern einen Brief Ivys an Alistair. Wie ist er in den Besitz ihres Großvaters gelangt? Sam ist selbst alleinerziehende Mutter und von Ivys Geschichte tief berührt. Auch wittert sie eine Story, die sie beruflich weiterbringen könnte. Aber als sie tiefer in die unmenschlichen Zustände in St. Margaret’s eindringt, stößt sie immer wieder auf geheimnisvolle Todesfälle. Eine gefährliche Fährte, wie sich zeigt, denn auch ihre eigene Familiengeschichte ist mit der des dunklen Klosters verwoben.

Zur Autorin

Emily Gunnis arbeitete lange beim Fernsehen, unter anderem als erfolgreiche Drehbuchautorin. »Das Haus der Verlassenen« ist ihr Debütroman. Die Tochter der internationalen Bestsellerautorin Penny Vincenzi lebt mit ihrer Familie im südenglischen Sussex.

EMILY GUNNIS

Das Haus

der

Verlassenen

ROMAN

Aus dem Englischen

von Carola Fischer

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THE GIRL IN THE LETTER

bei HEADLINE PUBLISHING GROUP, UK

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 by Emily Gunnis

Copyright © 2019 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design München, unter Verwendung von Slavko Sereda, Nejron Photo, ZoranKrstic, jianbing Lee, Jan Miko, Vladimir Daragan, andreiuc88, Gordana Sermek, Renato Martinho, Simfalex, Iryna Prokofieva, David Tadevosian, StockPhotosArt/shutterstock.com

Redaktion: Angelika Lieke

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-23572-7V003

www.heyne-verlag.de

Für Mummy

Ich vermisse unsere Spaziergänge,

unsere Gespräche, deine Liebe zum Leben.

Du hast immer gesagt: Weine nicht, mach dir Notizen.

Ich werde es versuchen, das verspreche ich …

Meine Kerze brennt an jedem Ende;

Länger als die Nacht währt sie nicht;

Aber ach, meine Feinde, und oh, meine Freunde –

Sie spendet schönes Licht!

EDNA ST. VINCENT MILLAY, »FIRST FIG«

Prolog

Freitag, 13. Februar 1959

Meine geliebte Elvira,

wie soll ich diesen Brief nur beginnen?

Es fällt mir sehr schwer, einem kleinen Mädchen wie Dir zu erklären, warum ich beschlossen habe, aus dem Leben zu scheiden und Dich allein zurückzulassen. Du bist meine Tochter, und wenn Du auch nicht mein leibliches Kind bist, so gehört Dir doch mein ganzes Herz. Ich weiß, dass mein Tun all dem Kummer, den Du bereits in den acht langen Jahren Deines kurzen Lebens erlitten hast, noch einen weiteren Schmerz hinzufügen wird.

Ivy hielt inne und versuchte, sich zu sammeln, damit ihre Hand zu zittern aufhörte und sie weiterschreiben konnte. Sie blickte sich in dem großen Trockenraum um, wo sie sich in einer Ecke versteckt hatte. Von der Decke hingen dicke Stangen mit Laken und Handtüchern herab, die die aufgerissenen und geschwollenen Hände der schwangeren Mädchen in St. Margaret’s makellos sauber gewaschen hatten und die nach dem Bügeln im unteren Stockwerk bereit waren für die nichts ahnende Welt außerhalb dieser Mauern. Ivy senkte den Blick wieder auf das zerknüllte Blatt Papier auf dem Boden vor ihr.

Wärst Du nicht gewesen, Elvira, ich hätte den Kampf darum, auf dieser Welt zu bleiben, schon viel früher aufgegeben. Seit man mir Rose weggenommen hat, spüre ich keine Lebensfreude mehr. Eine Mutter kann ihr Baby ebenso wenig vergessen wie ein Baby seine Mutter. Ich weiß, dass Deine Mutter, wäre sie noch am Leben, jede Minute eines jeden Tages an Dich denken würde.

Wenn Du von hier fliehst – und Du wirst fliehen, Liebes –, musst Du nach ihr Ausschau halten. In den Sonnenuntergängen und den Blumen, in allem, was dieses wunderbare Lächeln auf Deine Lippen zaubert. Denn sie ist in der Luft, die Deine Lungen füllt, sie gibt Deinem Körper Kraft, um stark zu werden und ein erfülltes Leben führen zu können. Du wurdest geliebt, Elvi, jeden Tag, den Du im Bauch Deiner Mutter herangewachsen bist. Das musst Du ganz fest glauben und stets im Gedächtnis behalten.

Ihre Hand verkrampfte sich, als sie Schritte über sich hörte. Ihr Atem beschleunigte sich ebenso wie ihr Herzschlag, und unter dem braunen Kittel war ihr Körper schweißbedeckt. Sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, bis Schwester Angelica zurückkäme und den einzigen Moment am Tag beendete, in dem sie unbeobachtet war. Ivy blickte auf den hastig hingekritzelten Brief und sah Elviras wunderhübsches Gesicht im Geiste vor sich. Tränen stiegen in ihr auf, die sie eilig unterdrückte, als sie sich die weit aufgerissenen braunen Augen und die bleichen, zitternden Hände der Achtjährigen vorstellte, während sie mühsam Wort für Wort entzifferte.

Jetzt hältst Du den Schlüssel in Händen, den ich mit in das Kuvert stecke. Es ist der Schlüssel zum Tunnel und zu Deiner Freiheit. Ich werde Schwester Faith, so gut ich kann, ablenken, aber Du wirst nicht viel Zeit haben. Sobald der Hausalarm schrillt, wird Schwester Faith aus dem Bügelzimmer kommen. Du musst sofort loslaufen. Schließ die Tür zum Tunnel am Ende des Raums auf und steig die Treppe hinunter. Dann biegst Du rechts auf den Friedhof ab. Lauf zum Nebengebäude und sieh Dich nicht um!

Sie unterstrich die letzten Worte so kraftvoll, dass der Stift ein Loch ins Papier riss.

Es tut mir wirklich leid, dass ich es Dir nicht persönlich gesagt habe, aber ich hatte Angst, Du wärst bestürzt über mein Vorhaben und könntest uns verraten. Als ich gestern Abend zu Dir kam, dachte ich, sie würden mich nach Hause schicken, aber das tun sie nicht, sie haben anderes mit mir vor. Aus diesem Grund benutze ich meine Flügel, um St. Margaret’s zu verlassen, und das ist Deine Gelegenheit zu entkommen. Du musst Dich bis Sonntag in der Früh verstecken, also bis übermorgen, deshalb nimm eine Decke mit. Und pass auf, dass Dich niemand sieht.

Ivy biss sich auf die Unterlippe, und der metallische Blutgeschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Sie hatte den Moment, als sie am Morgen in das Büro von Mutter Carlin eingebrochen war, noch in lebhafter Erinnerung. Wie sich die freudige Erwartung, in den Akten einen Vermerk über den Verbleib ihres Babys zu lesen, in Verzweiflung wandelte, als sie nicht die geringste Spur von Rose fand. Stattdessen enthielt die Akte sechs Briefe. Die Durchschrift eines Schreibens an eine psychiatrische Anstalt mit der Empfehlung, sie sofort aufzunehmen, und fünf von ihr verfasste Briefe, in denen sie Alistair anflehte, sie und das Baby aus St. Margaret’s abzuholen. Die Umschläge waren mit einem Gummiband zusammengebunden, und auf jedem stand in Alistairs krakeliger Schrift: Zurück an Absender.

Sie trat an das kleine Fenster des dunklen, abscheulichen Raums, wo sie so viel Leid erfahren hatte. In dem Wissen, dass es das letzte Mal für sie war, beobachtete sie den Sonnenaufgang. Dann steckte sie Alistairs Briefe in ein Kuvert, das sie im Schreibtisch fand, schrieb eilig die Adresse ihrer Mutter darauf und versteckte es in dem Poststapel. Anschließend war sie die Treppe hinauf in ihr Bett geschlichen.

Ich habe weder die Hoffnung, eines Tages frei zu sein, noch, Rose wiederzufinden, deshalb fehlt mir die Kraft weiterzuleben. Aber Du, Elvira, musst weitermachen. In Deiner Akte habe ich gelesen, dass Du eine Zwillingsschwester hast, die Kitty heißt und wahrscheinlich nichts von Dir weiß. Der Name deiner Familie ist Cannon, und sie leben in Preston. Sicherlich werden sie dort sonntags zur Kirche gehen. Bleib im Nebengebäude, und wenn Du die Glocken läuten hörst und die Dorfbewohner zur Kirche kommen, versteck Dich auf dem Friedhof, bis Du Deine Zwillingsschwester siehst. Du wirst sie auf jeden Fall erkennen, auch wenn sie andere Kleider trägt als Du. Versuch, auf Dich aufmerksam zu machen, sie wird Dir helfen.

Du bist ein freier Mensch. Hab keine Angst davor, zu fliehen und hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Schau auf das Gute in den Menschen, Elvira, und sei selbst stets liebenswürdig zu anderen.

Ich liebe Dich, und ich werde auf Dich achtgeben und immer Deine Hand halten. Nun lauf, Liebes. LAUF!

Deine Ivy

Ivy fuhr zusammen, als die Tür aufging und Schwester Angelica in den Trockenraum stürmte, wo Elvira und sie viele Stunden miteinander verbracht hatten. Sie starrte Ivy wütend mit zusammengekniffenen Augen durch die Nickelbrille auf ihrer fleischigen Nase an. Ivy stand hastig auf und versteckte den Brief in ihrer Kitteltasche. Sie senkte den Blick, um der Nonne nicht in die Augen schauen zu müssen.

»Bist du immer noch nicht fertig?«, herrschte Schwester Angelica sie an.

»Tut mir leid, Schwester«, erwiderte Ivy, die Augen fest auf den Boden geheftet. »Schwester Faith hat gesagt, ich könnte ein Antiseptikum bekommen.« Sie vergrub ihre zitternden Hände in den Kitteltaschen.

»Wozu?« Sie spürte Schwester Angelicas bohrenden Blick.

»Einige Kinder haben schlimme Mundgeschwüre und können kaum etwas essen.«

»Diese Kinder gehen dich nichts an«, lautete die barsche Antwort. »Sie können von Glück sagen, dass sie ein Dach über dem Kopf haben.«

Ivy dachte an die langen Reihen von Kinderbetten und an die apathisch ins Leere starrenden Babys, die das Schreien schon lange aufgegeben hatten. Schwester Angelica fuhr fort: »Für das Antiseptikum müsste ich zum Lagerraum gehen, das ist sehr weit. Außerdem ist es jetzt Zeit, Mutter Carlin das Abendessen zu bringen. Glaubst du nicht, dass ich genug zu tun habe?«

Ivy schwieg, dann sagte sie: »Ich möchte den Kleinen nur helfen, Schwester. Ist das nicht das Beste für alle?«

Schwester Angelica blickte sie wieder wütend an, und ihr Kinn mit den feinen Härchen darauf zitterte. »Dort, wo du hingehst, wird dir das wohl kaum gelingen.«

Ivy spürte Adrenalin durch ihren Körper strömen, als Schwester Angelica sich zum Gehen wandte und nach ihrem Schlüsselbund griff, um sie wieder einzusperren. Ivy zog die zitternden Hände aus den Taschen und stürzte zur Tür. Sie packte das Nonnengewand und zog, so fest sie konnte. Schwester Angelica schnappte nach Luft, verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem dumpfen Aufprall zu Boden. Schnell setzte sich Ivy auf sie und hielt ihr mit einer Hand den Mund zu, während sie mit der anderen den Schlüsselbund vom Gürtel löste. Als Schwester Angelica den Kopf zur Seite drehte und ihren Mund öffnete, um zu schreien, brachte Ivy sie mit einer heftigen Ohrfeige zum Schweigen. Schwer keuchend und mit vor Angst und Aufregung rasendem Herzen, erhob sich Ivy und rannte zur Tür, die laut hinter ihr ins Schloss fiel. Ihre Hände zitterten inzwischen so stark, dass sie Mühe hatte, den richtigen Schlüssel zu finden. Als es ihr endlich gelang, ihn im Loch herumzudrehen, rüttelte Schwester Angelica schon heftig an der Türklinke.

Einen Augenblick lang stand Ivy da und rang nach Luft. Dann löste sie den großen Messingschlüssel vom Bund, wickelte ihn in ihren Brief ein und presste die Lippen darauf. Sie wuchtete die schwere Eisenklappe am Wäscheschacht hoch, drückte den Summer und schickte das Päckchen nach unten zu Elvira. Vor ihrem geistigen Auge sah sie das kleine Mädchen, das geduldig auf die trockene Wäsche wartete, so wie jeden Abend. Eine Welle der Verzweiflung erfasste Ivy, und sie spürte, wie ihre Knie nachgaben. Sie lehnte sich vor und stieß einen Schrei aus.

In dem Moment begann Schwester Angelica, zu schreien und mit den Fäusten gegen die Tür zu hämmern. Ivy warf einen letzten Blick in den Schacht, der zum Bügelraum und zu Elvira führte, dann drehte sie sich um und rannte los. Sie lief an der schweren Eichenholztür vorbei, obwohl sie den Haustürschlüssel in den Händen hielt, denn dahinter befand sich eine hohe Steinmauer mit Stacheldraht, und sie war weder kräftig noch mutig genug, dort hinüberzuklettern.

Erinnerungen an ihre Ankunft in St. Margaret’s vor vielen Monaten stiegen in ihr auf. Sie sah sich wieder die schwere Glocke am Tor läuten und dann mit ihrem dicken Bauch ungeschickt den Koffer hinter Schwester Mary Francis die Auffahrt entlangschleppen. Sie hatte gezögert, bevor sie zum ersten Mal über die Schwelle von St. Margaret’s getreten war. Eilig lief sie jetzt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die knarzende Treppe hinauf. Oben angekommen, schrie sie in Gedanken das Mädchen an, das sie einmal gewesen war, schrie, sie solle weglaufen und sich nicht mehr umblicken.

Als sie den Gang entlangschlich, hörte sie murmelnde Stimmen auf sich zukommen und rannte los in Richtung Schlafsaal. Es herrschte Totenstille, da alle Mädchen beim Abendessen waren, wo Sprechen strengstens verboten war. Nur das Weinen der Babys im Säuglingszimmer hallte durch die Flure. Bald schon würde Mutter Carlin ihr Verschwinden bemerken, und das gesamte Haus befände sich in Aufruhr.

Ivy war an der Tür zum Schlafsaal angekommen und lief nun zwischen den Bettenreihen hindurch. In dem Moment begannen die Alarmglocken von St. Margaret’s zu schrillen.

Als sie das Fenster erreichte, erschien Schwester Faith in der Tür. Trotz ihrer Angst lag ein Lächeln auf Ivys Lippen. Wenn Schwester Faith hier im Schlafsaal stand, war sie nicht hinter Elvira her. Sie hörte Mutter Carlin die Treppe heraufkommen und rufen.

»Halten Sie sie auf, Schwester. Schnell!«

Ivy kletterte aufs Fensterbrett und öffnete mit Schwester Angelicas Schlüssel das Fensterschloss. In Gedanken sah sie Elvira durch die Tunnel hinaus in die Freiheit der Nacht laufen. In dem Augenblick, als Schwester Faith bei ihr war und ihren Kittel packen wollte, breitete Ivy die Arme aus und sprang.

Kapitel eins

Samstag, 4. Februar 2017

»Hast du schon mit ihr gesprochen?«

Sam zog die Handbremse ihres zerbeulten Wagens an und wünschte sich, es wäre eine Schlinge um den Hals ihres Redakteurs.

»Nein, noch nicht. Ich bin gerade erst angekommen. Ich musste von Kent hierherfahren, schon vergessen?«

»Wer ist noch alles da?«, bellte Murray ins Telefon.

Sam reckte den Hals und sah einige bekannte Gesichter im Nieselregen auf der Straße vor hübschen Reihenhäusern mit gepflegten Vorgärten stehen. »Hm, also Jonesey, King … gerade steht Jim an der Tür. Wieso sollte ich überhaupt kommen, wenn Jim schon vor Ort ist?« Sie beobachtete, wie einer der erfahrensten Journalisten der Southern News Agency versuchte, einen Fuß über die Schwelle zu setzen. »Wird er sich nicht auf den Schlips getreten fühlen?«

»Ich finde, das sollte eine Frau machen«, erwiderte Murray.

Sam warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war vier Uhr nachmittags, der Redaktionsschluss der überregionalen Zeitungen nahte, und sie konnte sich denken, wie es jetzt im Büro zuging. Murray hing am Handy und brüllte den Kollegen Anweisungen zu, während er gleichzeitig sein Spiegelbild im Glas der eingerahmten Sensationsmeldungen der Southern News Agency bewunderte. Koop, umgeben von Bechern mit kaltem Kaffee und vertrockneten Sandwiches, hackte etwas in den Computer und spielte zwischendurch nervös an seinen zerzausten Haaren herum, während Jen Nikotinkaugummis kaute und hektisch herumtelefonierte, um Lücken in ihrer Berichterstattung zu schließen. Nach dem Gespräch mit ihr würde Murray bei Mirror oder Sun anrufen und lügen, sie wäre schon an der Sache dran, damit die Zeitungen auf ihren Bericht warteten.

»Ich bin nicht sicher, ob ich die Richtige für diese Sache hier bin.« Sam betrachtete sich im Rückspiegel und entdeckte den Geburtstagsblumenstrauß für ihre Großmutter, der auf der Rückbank vor sich hin welkte. Sie hatte schon vor einer Stunde bei Nana sein wollen, um ihr ein Geburtstagsessen zu kochen und ihr Emma abzunehmen, um die ihre Großmutter sich kümmerte.

»Also, die Crème de la Crème ist schon auf dem Weg zur Preisverleihung heute Abend. Du musst es also machen.«

»Super. Schön zu wissen, dass ich der Bodensatz der Agentur bin«, murmelte Sam.

»Ruf mich an, wenn du etwas herausgefunden hast.« Murray beendete das Gespräch.

»Scheißkerl.« Sam warf ihr ramponiertes Handy auf den Beifahrersitz. Sie hatte an diesem Tag bereits so viele Stunden für ihr jämmerliches Gehalt gearbeitet, dass es an Sklaverei grenzte, und nun sollte sie sich auch noch am Witwenschütteln beteiligen.

Sie legte ihre Fingerspitzen an die Schläfen und fing an, sie mit kreisenden Bewegungen zu massieren. Sie hatte geglaubt, sich mit Müdigkeit auszukennen, bevor sie Mutter wurde. Junge Eltern munterte man mit der Weisheit auf, Babys würden mit sechs Wochen durchschlafen, dabei war das offenkundig gelogen. Dann hieß es, sie schliefen, sobald sie abgestillt wären, danach, wenn sie ein Jahr alt würden. Emma war schon fast vier, und es grenzte an ein Wunder, wenn sie mal eine Nacht durchschlief. Vor Emmas Geburt hatte Sam über Müdigkeit geklagt, wenn sie sechs statt acht Stunden Schlaf bekommen oder sich nach einem nächtlichen Streifzug durch die Clubs wie betäubt zur Arbeit geschleppt hatte. Jetzt fühlte sie sich schon mit fünfundzwanzig wie eine alte Frau; der vier Jahre währende Schlafentzug zog jeden Muskel ihres Körpers in Mitleidenschaft, veränderte ihr Gehirn, sodass sie manchmal kaum einen zusammenhängenden Satz formulieren konnte. Wenn Emma bei Ben war, konnte sie immerhin bis sieben Uhr morgens schlafen. Aber seit er sie nur noch zweimal in der Woche zu sich nahm, unter dem Vorwand, mehr Zeit für seine Jobsuche zu benötigen, musste Sam meist um sechs Uhr aufstehen, um sich fertig zu machen und Emma rechtzeitig zum Kindergarten zu bringen.

Sie seufzte, als sie Jim mit hängendem Kopf den Steinweg zu den anderen Reportern zurückgehen sah, die sich unter einem großen Regenschirm versammelt hatten. Sie kannte das Spiel und wusste, dass vor Haustüren zu lauern ein notwendiges Übel ihrer Branche war, aber es war der Teil des Journalistendaseins, der ihr am allerwenigsten gefiel. Obwohl sie jeden Einzelnen der glücklosen Runde vor dem Haus der armen Frau mochte, wirkten sie dennoch wie über der Beute kreisende Aasgeier.

Sam richtete den Rückspiegel auf sich, holte ihr Schminktäschchen hervor und überlegte, wie sie sich etwas ansehnlicher machen könnte. Sie bräuchte eine Kelle voll Make-up, um allein die Zornesfalte zwischen den Augenbrauen zuzuspachteln. Während sie leicht mit den Fingerspitzen daraufklopfte, schloss sie die Augen, und sofort stiegen Bilder von dem Streit mit Ben am Vorabend in ihr auf. Die Atmosphäre war jedes Mal angespannt, wenn sie Emma in Bens Wohnung abholte. Meist gaben sie sich beide Mühe, in Gegenwart ihrer Tochter nicht zu streiten, doch gestern hatten sie es nicht geschafft. An die gegenseitigen Beleidigungen konnte sie sich nur noch dunkel erinnern, aber wie üblich hatten Ben und sie sich so lange angeschrien, bis Emma in bittere Tränen ausgebrochen war. Sam hasste sich dafür, dass sie Emma in ihre Auseinandersetzungen mit hineinzog, und sie hasste Ben für seine unverhohlene Verachtung ihr gegenüber.

Sam öffnete die Augen und fuhr beim Anblick ihrer zerzausten Haare zurück. Sie suchte in ihrer Tasche nach dem Lockenstab. Morgens blieb ihr nach dem Anziehen von Emma und dem Frühstückmachen kaum Zeit für sich selbst. Ihre roten Korkenzieherlocken nahm sie meist einfach zum Zopf zusammen, und in den verbleibenden fünf Minuten föhnte sie ihren langen Pony. Hohe Absätze waren ihre Uniform, und angesichts ihres Gehalts war eBay ihre beste Freundin. Ohne Schuhe von Louboutin oder Dior an den Füßen konnte sie keinen Tag in dieser Männerwelt bestehen, und oft genug begleitete sie ein höhnisches Kichern, wenn sie auf Killerabsätzen über schlammige Felder oder überflutete Parkplätze lief.

»Hallo, Sam!«, rief Fred, als er sich umdrehte und sie entdeckte. Er löste sich aus der Gruppe und stolperte, als er eilig auf sie zusteuerte. Mit einem verlegenen Lachen strich er sich den langen Pony aus dem Gesicht und schenkte ihr, wie so oft, einen verliebten Blick.

»Hallo, du. Wie lange bist du schon hier?« Sam schob den Beifahrersitz vor, um ihren Mantel und den Blumenstrauß von der Rückbank zu holen.

»Nicht lange, heute ist mein freier Tag. Ich war in Tunbridge Wells klettern und bin erst vor Kurzem angekommen.« In seiner wasserfesten Wachsjacke sah er aus, als käme er geradewegs von der Fasanenjagd, fuhr es Sam durch den Kopf, und sie zog den Gürtel ihres schwarzen Regenmantels fester zu.

»Warum hat Murray dich an deinem freien Tag herbestellt? Das ist nicht fair.« Sie überprüfte die Nachrichten auf ihrem Handy.

»Ich weiß, ich war ziemlich erledigt, aber das Klettern war echt krass«, sagte Fred lächelnd.

»Wie lange sind die anderen schon da?«, fragte Sam, ohne weiter auf Fred einzugehen. Sie näherten sich der Gruppe Reporter.

»Stunden. Die Frau ist eine harte Nuss, wir haben es alle bei ihr versucht. Auch der Guardian und der Independent waren hier, sind aber schon wieder weg. Die kannst nicht mal du knacken, Samantha«, sagte Fred mit seinem Privatschulakzent, für den er von seinen Kollegen bei Southern News stets gehänselt wurde.

Sam lächelte ihn an. Fred war dreiundzwanzig, nur zwei Jahre jünger als sie, aber als frischgebackener Hochschulabsolvent voller hehrer Ideale und ohne Verpflichtungen schien er einer anderen Generation anzugehören. Die meisten Kollegen von Southern News waren der Meinung, dass Fred hoffnungslos in Sam verliebt war. Aber obwohl er groß, gut aussehend und oft unfreiwillig komisch war, unerschöpfliche Vorräte an blauen Wildlederschuhen und bunten Sonnenbrillen besaß, fiel es ihr schwer, ihn ernst zu nehmen. Er war vom Klettern besessen, und soweit sie wusste, erklomm er jedes Wochenende hohe Gipfel und ging mit seinen Freunden trinken, sobald es dunkel wurde. Sie hatte keine Ahnung, warum er sich für sie interessierte. Sie war erschöpft und übellaunig, ihre leidenschaftlichste Schlafzimmerfantasie drehte sich um acht Stunden ungestörten Schlafs. Dennoch flirtete sie hin und wieder mit ihm, damit er im Job für sie einsprang, wenn sie Emma vom Kindergarten abholen musste. Er fand das schrecklich romantisch, als ob sie beide allein gegen den Rest der Welt kämpften.

»Ich weiß nicht, warum Murray dich hergeschickt hat«, rief Jim Sam über die Schulter zu, als sie und Fred bei den anderen Presseleuten ankamen. Sam schenkte ihm ein freundliches Lächeln. Jim war ein Urgestein bei Southern News, und er konnte nicht verhehlen, dass Sam seiner Meinung nach im Büro Kaffee kochen sollte.

»Ich auch nicht, Jim! Sehe ich passabel aus?«, fragte sie an Fred gewandt.

Fred errötete. »Aber ja doch. Nimm dich vor der alten Hexe nebenan in Acht«, setzte er eifrig hinzu, um schnell das Thema zu wechseln. »Sie sieht aus, als wollte sie uns jeden Moment mit ihrem Rollator verprügeln.«

Alle blickten Sam nach, als sie, den Blumenstrauß wie eine verängstigte Braut an die Brust gedrückt, an der Reportergruppe vorbei zum Haus ging. An der Haustür angekommen, erblickte sie eine alte Frau im Fenster des Nachbarhauses. Sie hatte die Gardine aufgezogen und starrte sie durchdringend an. Fred hatte recht, mit ihrem irren Blick und den schulterlangen grauen Haaren erinnerte sie an eine Hexe. Ihre knochigen Finger umklammerten den Gardinenstoff, bis ihre Knöchel weiß hervortraten. Sam atmete tief durch und drückte die Klingel.

Es dauerte eine Weile, bis Jane Connors die Tür öffnete, aschfahl im Gesicht.

»Es tut mir furchtbar leid, wenn ich störe. Ich weiß, Sie machen eine schwere Zeit durch.« Sam blickte die Frau mit den rot geschwollenen Augen offen an. »Mein Name ist Samantha, ich arbeite für Southern News. Wir möchten Ihnen unser aufrichtiges Beileid …«

»Können Sie uns nicht einfach in Ruhe lassen?«, fuhr die Frau sie an. »Als ob es nicht schon schwer genug wäre. Warum verschwinden Sie alle nicht endlich von hier?«

»Mein herzliches Beileid, Mrs. Connors.«

»Ihnen tut gar nichts leid! Sonst würden Sie das nicht tun … in der schlimmsten Zeit unseres Lebens.« Ihre Stimme zitterte. »Wir wollen nur in Ruhe gelassen werden. Sie sollten sich für Ihr Benehmen schämen.«

Sam wartete darauf, dass ihr eine passende Antwort einfiel, dann schaute sie betreten zu Boden. Die Frau hatte recht. Sie sollte sich schämen, und das tat sie.

»Mrs. Connors, ich hasse diesen Teil meines Jobs und wünschte, ich müsste nicht hier stehen. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass manche Menschen gern ihre Anerkennung für den geliebten Menschen ausdrücken wollen. Sie möchten mit jemandem reden, der der Welt ihre Geschichte erzählen kann. Sie könnten darüber sprechen, wie mutig der Versuch Ihres Vaters war, Ihren Sohn zu retten.«

Jane Connors hatte Tränen in den Augen und war im Begriff, die Tür zu schließen. »Tun Sie nicht so, als ob Sie sie gekannt hätten. Sie wissen gar nichts von ihnen.«

»Nein, das stimmt, aber unglücklicherweise ist es mein Job, etwas über sie herauszufinden. Diese Reporter hier, mich eingeschlossen, haben sehr strenge Chefs und dürfen erst nach Hause gehen, wenn Sie mit einem von uns gesprochen haben.«

»Und wenn ich mich weigere?« Mrs. Connors spähte durch die halb geschlossene Tür.

»Dann werden sie mit anderen Familienmitgliedern reden oder mit den Ladenbesitzern in der Gegend, oder sie schreiben einen Artikel, der auf falschen Informationen von wohlmeinenden Nachbarn beruht.« Sam machte eine Pause. »Dieses falsche Bild, das den Lesern in Erinnerung bleibt, könnte Sie in den nächsten Jahren noch mehr belasten als die Situation jetzt.«

Die Frau senkte den Blick und ließ die Schultern hängen. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Sam hasste sich dafür.

»Die sind für Sie.« Sie legte die Blumen vorsichtig auf die Türschwelle. »Also, eigentlich war der Strauß für meine Großmutter, sie hat heute Geburtstag, aber sie wäre einverstanden, dass Sie ihn jetzt bekommen. Ich bitte Sie nochmals um Verzeihung. Der weiße Wagen dort drüben gehört mir. Hier ist meine Visitenkarte. Ich werde eine halbe Stunde warten. Dann fahre ich weg, ohne Sie noch einmal zu belästigen.« Sie wandte sich ab, um auf dem Kopfsteinpflasterweg vorbei an den gelangweilt herumstehenden Reporterkollegen zum Auto zurückzugehen, und hoffte, sie würde in ihren High Heels nicht stolpern.

»Würden Sie mir das, was Sie schreiben, zeigen, bevor es veröffentlicht wird?« Mrs. Connors’ Stimme klang matt.

Sam drehte sich um. »Aber sicher. Sie können jedes Wort lesen, bevor ich den Artikel wegschicke.« Sie lächelte Mrs. Connors aufmunternd an, die das zerknüllte Taschentuch in ihrer Hand inspizierte.

Sam blickte zur Seite und stellte fest, dass die alte Frau von nebenan nun in der offenen Haustür stand und sie immer noch anstarrte. Sie ist bestimmt schon weit über neunzig, dachte Sam. Wie man sich wohl fühlt, wenn man so alt ist und höchstwahrscheinlich schon sehr viel durchgemacht hat? Die Frau hielt sich tief über den Rollator gebeugt, auf ihrer Hand prangte ein Altersfleck wie ein großer Bluterguss. Ihr herzförmiges Gesicht war blass, abgesehen von den dunkelrot geschminkten Lippen.

»Ich denke, Sie sollten hereinkommen«, sagte Mrs. Connors und machte die Tür weit auf.

Sam schaute erst zu den wartenden Reportern und dann zu der alten Dame, die unverwandt ihre wässrig blauen Augen auf sie geheftet hielt. Es war nicht ungewöhnlich, dass Nachbarn sich einmischten, wenn eine Horde Journalisten irgendwo herumlungerte, aber meist wurden sie mit Flüchen und Beschimpfungen bedacht. Sam schenkte der alten Frau ein Lächeln, das nicht erwidert wurde, aber als sie sich noch einmal umdrehte, um die Haustür zu schließen, trafen sich ihre Blicke.

Kapitel zwei

Samstag, 4. Februar 2017

Kitty Cannon blickte aus gut dreißig Meter Höhe von The Roof Gardens auf die Kensington High Street hinab. Während unter ihr Pendler an dem bitterkalten Februarabend nach Hause eilten, lehnte sie sich über die Balkonbrüstung, atmete tief durch und stellte sich vor zu springen. Der tosende Wind in ihren Ohren, wenn sie mit ausgebreiteten Armen und dem Kopf voran hinabstürzte, ganz leicht zuerst, unerreichbar, dann erbarmungslos von der Schwerkraft in die Tiefe gezogen. Wenn sie den Boden berührte, würde die Wucht des Aufpralls ihr sämtliche Knochen brechen, und sekundenlang würde sie zuckend daliegen, während die Menschen gaffend und vor Entsetzen keuchend um sie herum stehen blieben.

Was kann so schlimm sein, würden sie sagen, dass jemand sich das antut? Das ist furchtbar, so tragisch.

Kitty stellte sich vor, wie sie auf dem Pflaster läge, feine Blutrinnsale im Gesicht, ein starres Lächeln auf den Lippen, das sich beim letzten Atemzug in dem Wissen abgezeichnet hätte, dass sie endlich frei wäre.

»Kitty?«

Sie trat von der Brüstung zurück und drehte sich zu ihrer jungen Assistentin um. Rachel stand nur einen halben Meter entfernt, akkurater blonder Bob und grüne Augen, die sie leicht alarmiert anblickten. Abgesehen von den High Heels in Neonpink und einem farblich dazu passenden schmalen Gürtel, war sie ganz in Schwarz gekleidet. Bleistiftrock und Blazer schmiegten sich eng an ihre schmale Gestalt. In den Händen hielt sie ein Klemmbrett, das sie mit ihren langen Fingern so fest umklammerte, dass jegliche Farbe aus ihnen gewichen war.

»Sie erwarten dich«, sagte sie und wandte sich der Treppe zum Festsaal zu, wo sich Kittys Produktionsteam und viele Bühnen- und Fernsehstars aufhielten, die sie in den letzten zwanzig Jahren in ihrer Talkshow interviewt hatte. Sie stellte sich die Akustik im Saal vor, erhobene Stimmen, die Besteckklappern und Gläserklirren zu übertönen versuchten. Stimmen, die abrupt verstummen würden, sobald sie den Raum betrat.

»Wir sollten hineingehen, Kitty.« Rachel, die jetzt oben an der Treppe stand, klang leicht nervös. »Bald wird das Essen serviert, und du wolltest noch ein paar Worte sagen.«

»Ich will nicht ein paar Worte sagen, aber ich muss ein paar Worte sagen.« Kitty trat von einem Bein auf das andere, um den Schmerz in ihren Füßen zu lindern.

»Kitty, du siehst umwerfend aus – wie immer«, erklang eine männliche Stimme hinter ihnen. Beide Frauen drehten sich zu Max Heston um, dem Produzenten von Kittys Fernsehtalkshow. Groß und schlank, in einem perfekt sitzenden blauen Anzug mit rosafarbenem Hemd und frisch rasiert, sah er immer noch sehr gut aus. Dieser Mann altert nicht, dachte Kitty, als er sie aufmunternd anlächelte. Er sah noch genauso blendend aus wie vor dreißig Jahren, als sie beide sich kennengelernt hatten – nein, eigentlich noch besser. Sie warf einen Blick zu Rachel, während Max auf sie zukam. Die junge Frau errötete; den Kopf zur Seite geneigt, spielte sie mit den Fingern an ihrem Pony herum. In Max’ Gegenwart benahm sich Rachel immer wie ein Schulmädchen, was Kitty maßlos ärgerte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er in dem Tonfall, den er immer anschlug, wenn Kitty am Set erscheinen sollte. Es mangelte ihr an Mut, deshalb lobte er sie, machte ihr Komplimente, brachte sie zum Lachen. Er wusste genau, wie er sie aus ihrer Befangenheit befreien konnte.

Doch an diesem Abend hatte er keine beruhigende Wirkung auf sie, seine mangelnde Aufmerksamkeit trieb sie zur Weißglut. Seit der letzten Staffel ihrer Talkshow war seine Loyalität ins Wanken geraten. Verabredungen zum Mittagessen wurden in letzter Minute abgesagt, ihre Anrufe ignoriert, und er hatte ihr nicht einmal Blumen oder zumindest eine Karte geschickt, als bekannt wurde, dass sie ihre Fernsehkarriere beenden werde. Sie hatte gespürt, dass die Direktoren der BBC das Interesse an ihr verloren; es wurde nicht über den Starttermin einer neuen Staffel gesprochen, obwohl ihr Agent bei den Verantwortlichen mehrmals nachgefragt hatte. Sie hatte geahnt, dass man sie in Kürze bei einem Mittagessen über das bereits beschlossene Absetzen ihrer Talkshow informieren würde. Diese Vermutung hatte sie dazu gebracht, selbst den Rückzug anzutreten. Sie, und nicht Max, sollte entscheiden, wann es Zeit war, Platz zu machen für jüngere, hübschere Moderatorinnen, die ihr auf den Fersen waren. Sie hatte an diesem Abend nicht mit ihm gerechnet, aber dann war er doch gekommen, wohl nachdem er von den vielen Promis unter den Gästen erfahren hatte.

»Ich glaube, ich bekomme Migräne. Wo ist noch mal mein Platz?« Kitty umklammerte fest das Geländer, während sie vorsichtig in ihren weißen High Heels von Dior die Stufen hinabstieg. Das Schildchen ihres neuen rosafarbenen Chiffonkleides pikste sie im Nacken. Sie blickte in den großen Spiegel seitlich der Treppe und fuhr unwillkürlich zurück. Eine junge, energische Verkäuferin von Jenny Packham hatte sie zu dem Rosa überredet. Sie hatte instinktiv gewusst, dass das Kleid zu jugendlich für sie war, doch sie war so begierig auf die Schmeicheleien der Verkäuferin gewesen, dass sie es genommen hatte. Rachel hingegen sah einfach fantastisch aus, neben ihr fühlte sich Kitty wie die alte Jungfer auf einer Hochzeit.

»Tisch eins. Wie gewünscht sitzt du neben Jon Peters von der PR-Abteilung der BBC und Sarah Wheeldon aus der Entwicklungsabteilung von Warner Brothers«, sagte Rachel und huschte hinter ihr her.

»Ich glaube nicht, dass ich darum gebeten habe, neben Jon zu sitzen: Er ist sterbenslangweilig«, entgegnete Kitty barsch, während Rachel nervös in ihren Unterlagen blätterte.

Lichterketten und Kerzen tauchten den Saal in ein warmes Licht, die weißen Tischtücher bildeten den perfekten Hintergrund für Kittys Lieblingsblumen: Pfingstrosen.

»Wo sitzt du, Rachel?«, fragte Max die Assistentin.

Rachel hob die Augen von ihrem Sitzplan und errötete sofort wieder. »Oh, ich weiß gar nicht, ob ich mitesse. Ich glaube, ich werde für anderes gebraucht«, antwortete sie lächelnd an Kitty gewandt, die ihren Blick aber nicht bemerkte.

»Unsinn, es gibt bestimmt noch einen Platz an unserem Tisch. Ich könnte dich ein paar Leuten vorstellen«, sagte Max.

Rachel spielte wieder an ihrem Pony herum, als der erste Beifall einsetzte und allmählich zu grollendem Donner anschwoll. Im Saal waren alle Menschen versammelt, die Kitty geholfen hatten, an die Spitze zu gelangen: Schauspieler, Redakteure, Producer, Agenten, Journalisten, Starsportler. Heute Abend waren sie hier, aber schon bald würden sie sie alleinlassen, so wie Max, der von ihr gelangweilt war, weil er sie nicht mehr brauchte. Menschen, die eben noch durch den Raum zu ihr geeilt waren, um mit ihr zu sprechen, würden sie nun übersehen, ihr das Wort abschneiden, um sich mit einer neuen, jüngeren Kitty zu unterhalten, und sich im Weggehen insgeheim für ihre Bemühungen ihr gegenüber loben.

Kitty sah Rachel lächelnd an. »Könntest du bitte in meine Wohnung fahren und mir mein blaues Kleid und die High Heels von Jaeger holen? Ich möchte mich nach dem Essen gern umziehen.«

Rachel warf Max einen Blick zu und ließ die Schultern hängen, dann drehte sie sich unsicher um und schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch zum Ausgang. Als der Applaus abgeebbt war, räusperte Kitty sich.

»Ich danke euch allen, dass ihr gekommen seid. Vor allem aber danke ich meinem Team für seine unendliche Geduld mit mir während der vergangenen fünfzehn Staffeln: meiner wunderhübschen Assistentin Rachel, ohne die ich verloren wäre, und natürlich meinem Produzenten Max Heston, der seit dem ersten Tag an meiner Seite ist.«

Max schenkte ihr ein breites Lächeln. »Pass auf, was du sagst, Kitty. Ich kann mich noch gut an diese Denver Clan-Schulterpolster aus den Achtzigern erinnern!«

Kitty lachte laut auf. »Schön, dass du uns alle daran erinnerst, und danke für dieses wunderbare, vollkommen unverdiente Galadiner. Wie ihr wisst, stehe ich nicht gern im Mittelpunkt, ich stelle lieber die Fragen. Daher nur so viel: 1960 schaute ich Face to Face, wo John Freeman Gilbert Harding interviewte – von dem Moment an war ich verloren. Eine herausragende Persönlichkeit – einer der wenigen Moderatoren von What’s My Line?, bei denen mein Vater in brüllendes Gelächter ausbrach – war in Tränen aufgelöst, als der Mensch hinter der Maske zum Vorschein kam. Ich war damals erst neun, aber mir wurde schlagartig klar, welche Erwartungen das Leben an mich stellte und dass ich meine Rolle darin zu spielen hatte. Während ich im Wohnzimmer meiner Eltern förmlich am Bildschirm des Schwarz-Weiß-Fernsehers klebte, begriff ich, dass es nicht nur mir allein so ging. Es war eine Offenbarung.«

Sie ließ den Blick durch den Raum über die auf sie gerichteten Augenpaare wandern. »Menschen faszinieren mich. Was sie von sich zeigen, ist meist nicht das, was sie im Inneren bewegt. Ich habe mich immer bemüht, das Fernsehen zur Tribüne der Wahrheit zu machen. Nur wenige von uns haben einen Oscar oder olympisches Gold gewonnen, aber die meisten kennen aus eigener Erfahrung die Schwierigkeiten, die unsere Idole bewältigen mussten. Schwere, einsame Zeiten, in denen ein Funke zündete und sie zum Erfolg anspornte.«

Sie nahm ein Glas Champagner von dem Kellner neben ihr entgegen und lächelte ihn freundlich an.

»Ich möchte das Glas auf all die Menschen erheben, die den Mut besitzen, ihre Maske abzulegen und ihren Schmerz mit anderen zu teilen. Ich bin unendlich stolz auf meine Gäste, deren Geschichte die Herzen der Zuschauer berührt hat – einige von euch hatten die besten Einschaltquoten in der Geschichte der BBC. Natürlich bin ich traurig, diese wunderbare Bühne zu verlassen, aber lieber gehe ich freiwillig, als dass ich hinuntergestoßen werde.«

»Niemals«, rief eine Stimme von hinten, und Kitty lächelte kurz.

»Ich bin als Tochter eines Polizisten in der Nähe von Brighton aufgewachsen und hätte es mir nie träumen lassen, mit so berühmten Menschen zu verkehren. Ich danke euch sehr für euer Kommen. Nun esst, trinkt und benehmt euch ordentlich daneben.«

Nachdem der Beifall verebbt war, ging Kitty zu ihrem Tisch zurück. Als jemand mit einem Messer an Glas klopfte, blieb sie stehen. Max stand auf und lächelte fröhlich in die Runde.

»Ich lernte Kitty kennen, als ich noch recht neu in der Branche war. Die BBC hatte mich gerade zum Produzenten befördert, und soweit ich mich erinnere, war ich ein ziemlich hübscher junger Kerl.«

»Und das wusstest du!«, warf Kitty ein, und Max runzelte missbilligend die Stirn.

»Also, jeder, der Kitty kennt, wird bestätigen, dass sie die entwaffnende Fähigkeit besitzt, dir ihren Willen als deinen eigenen Wunsch zu verkaufen. In den Achtzigern fragte mich ein früherer Kollege von Light Entertainment, ob ich eine Praktikantin beschäftigen könne, die ihm seit einem Jahr jeden Tag einen Brief schrieb und ihn in den Wahnsinn trieb.«

Gedämpftes Lachen breitete sich im Saal aus, bevor Max fortfuhr. »Ich brauchte einen Rechercheur für Parkinson, also sagte ich zu. Am nächsten Tag erschien diese dunkelhaarige, braunäugige, erstaunlich intelligente Frau und nahm die Sache in die Hand.« Er lächelte zu Kitty hinüber, die ihr Glas erhob.

»In den folgenden Jahren kam sie auf der Innenspur rasch voran, und irgendwann überzeugte sie alle von der Idee ihrer eigenen Show: The Cannonball. Falls ihr es nicht wisst: Kittys Kunst besteht darin, die Atmosphäre aufzulockern, ihre Interviewpartner zu entspannen, um dann ihre ungewöhnlichen Fragen abzuschießen. Ich dachte immer, ich kenne mich mit Recherche aus, bis ich Kitty traf. Sie weiß Dinge über ihre Gäste, die nicht einmal deren Ehepartner wissen. Ihre Show wurde über Nacht zu einer Art Nationalheiligtum, und ich bin unglaublich stolz, mehr als dreißig Jahre lang Teil dieser wunderbar wilden Achterbahnfahrt gewesen zu sein. Kitty, du bist ein überaus liebenswerter und großzügiger Mensch, und du wirst nie vergessen werden. Ich bin froh, dich eine Freundin nennen zu dürfen.«

Während das Essen serviert wurde, ging Kitty von einem Tisch zum anderen, um die Gäste zu begrüßen. Sie machte ihnen Komplimente zu ihrem Aussehen und erwähnte auch ihre weniger bekannten Erfolge, das war ihre besondere Stärke.

Als sie sich wieder auf ihren Platz setzte, spürte sie ihr Handy in der Jackentasche vibrieren. Rachel schickte ihr eine Nachricht, dass sie in fünf Minuten mit dem Kleid da sein würde. Rasch tippte Kitty eine Antwort.

Vergiss das Kleid, Süße, alles okay. Du bist sicher erschöpft, fahr nach Hause. Schlaf gut. Xx

Kapitel drei

Samstag, 4. Februar 2017

Der Fahrstuhl war schon wieder kaputt. Sam stieg, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe des Whitehawk Estate hinauf und schloss die Tür zu Nanas Wohnung auf. Seit dem letzten heftigen Streit mit Ben vor zwei Monaten lebten Emma und sie nun schon hier.

»Nana?«, flüsterte sie außer Atem.

Keine Antwort. Sie schlich auf dem braunen Teppich zum Wohnzimmer, wo ein Feuer im Gaskamin brannte. Nana war im Schaukelstuhl eingeschlafen, und Emma lag unter einer Decke zusammengekuschelt auf dem Sofa. Nur eine kleine Tischlampe warf ihr schwaches Licht in den Raum. Der Duft von Kuchen und Gebäck lag in der Luft, und Sam fühlte sich sofort heimisch. Überall an den Wänden und auf dem Fensterbrett waren Fotos verteilt: Nana und Granddad beim Campen. Emma, die nackt mit Granddad am Meer Sandburgen baute. Auf den meisten Fotos war die kleine Sam zu sehen, die einem zahnlosen Mick Hucknall mit Knubbelknien ähnelte.

Während sie vorsichtig über Kreuzworträtselhefte und Zeitungen, vergessene Teetassen, Buntstifte und angeknabberte Reiswaffeln stieg, fiel ihr Blick auf einen handgeschriebenen Brief neben Nanas Schaukelstuhl. Es sah aus, als wäre sie beim Lesen eingeschlafen.

Die verblichene, schräge Handschrift und das vergilbte Papier erregten sofort Sams Aufmerksamkeit, aber als sie sich vorbeugte, um die Zeilen zu entziffern, schlug Nana die Augen auf. Sam lächelte sie an, amüsiert darüber, dass Nana eine Brille auf die Nasenspitze hinuntergerutscht war und eine zweite in ihrem grauen Haar steckte.

»Hallo, Liebes, wie geht es dir?«, fragte Nana schläfrig und kniff die sanften blauen Augen zusammen.

Ein Gefühl der Geborgenheit erfasste Sam, als sie ihre Großmutter und ihre Tochter anblickte. Nana sah wie immer wunderschön aus in dem lila Kleid und der weißen Jacke, die sie abends beim Fernsehen gestrickt hatte. Ihr Haar war hochgesteckt, und trotz der Winterkälte draußen hatten ihre Wangen einen rosigen Schimmer. Mit einem strahlenden Lächeln kaschierte sie, dass es sie durchaus Mühe gekostet hatte, ein müdes vierjähriges Mädchen abzuholen, ihr Abendessen zu machen und sie schlafen zu legen.

Plötzlich wurde Sam von Wut auf Ben gepackt.

»Ach, Nana, du hättest mir sagen sollen, dass der Fahrstuhl schon wieder außer Betrieb ist. Dann wäre ich einkaufen gegangen und hätte die Sachen nach Hause getragen.« Sie gab Nana und der schlafenden Emma einen Kuss auf die Stirn.

»Es geht mir gut, Liebes, wir hatten einen schönen Nachmittag. Emma hat mir die Treppe hinaufgeholfen. Sie ist ein wunderbares Kind, Sammy. Ben und du, ihr könnt wirklich stolz auf eure Tochter sein.«

»Also, es tut mir leid, dass Ben sie dir aufgehalst hat. Ich bin wirklich nicht glücklich über sein Verhalten in letzter Zeit.«

»Er hatte ein Vorstellungsgespräch.« Nana sah liebevoll zu Emma hinüber.

»Am Samstag?«, fragte Sam stirnrunzelnd.

Nana zuckte die Achseln. »Er sagte etwas von einer Restaurantkette. Du solltest dich für ihn freuen.«

Sam schüttelte den Kopf. »Ich weiß einfach nicht, was mit uns beiden werden soll … Ist noch frischer Tee da?« Nana nickte, und Sam verschwand in der Küche. »Ist sie gut eingeschlafen?«, rief sie ins Wohnzimmer.

»Irgendwann ja, aber es war leider ziemlich spät. Sie wollte unbedingt auf dich warten. Ich habe versucht, sie ins Bett zu bringen, aber sie ist einfach hier auf dem Sofa eingeschlafen. Du musst erschöpft sein, Liebes.«

Sam kehrte mit zwei Bechern zurück, die sie auf dem Couchtisch abstellte. »Ich habe einen Exklusivbericht für eine überregionale Zeitung, also war es die Mühe wohl wert.« Sie setzte sich neben Emma aufs Sofa und legte ihr sanft eine Hand auf den Rücken, die sich bei jedem Atemzug leicht hob und senkte.

»Gut gemacht, Liebes. Wird dein Name dann endlich in der Zeitung stehen?« Nana setzte sich im Schaukelstuhl zurecht.

»Nein, nur die Mitarbeiter der Zeitung werden genannt, aber der Beitrag ist gut für mein Portfolio. Du hast jedes Wort gelesen, das ich geschrieben habe, oder?« Sam betrachtete die Zeitungsstapel um sie herum.

»Natürlich«, erwiderte Nana. »Ich bin unheimlich stolz auf dich.«

»Ich bin froh, dass jemand stolz auf mich ist. Ben ist so stinksauer auf mich, dass er mir kaum in die Augen schauen kann.« Sam trank von ihrem Tee.

»Ihr werdet das schon schaffen. Für euch junge Frauen ist es nicht leicht, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Lange sah es so aus, als ständen eurer Generation alle Möglichkeiten offen, aber ich glaube, ihr habt stattdessen nur einen riesigen dampfenden Misthaufen bekommen.«

Sam stieß ein dröhnendes Lachen aus, das Ben immer so sehr an ihr gemocht hatte. Oft hatte er ihr einen Kuss auf den Mund gedrückt, damit Emma nicht aufwachte.

»Wie auch immer …« Sie langte in ihre Tasche und überreichte Nana ein kleines Päckchen und eine große Pralinenschachtel. »Alles Gute zum Geburtstag, Nana.«

»Du ungezogenes Mädchen, was hast du getan?«, scherzte Nana, als sie ein silbernes Bettelarmband mit der Zahl 60, einer kleinen Teekanne, einem Schmetterling und den Initialen S, A und E als Anhänger auspackte. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Alles, was ich liebe.« Sie warf ihrer Enkeltochter einen warmen Blick zu. »Das ist wunderschön, Liebes. Vielen Dank.«

»Es tut mir leid, dass ich nicht bei dir sein konnte an deinem ersten Geburtstag ohne Granddad. Nächste Woche lade ich dich zum Essen ein, versprochen.«

»Red keinen Unsinn. Jetzt bist du hier, und ich hatte Emma bei mir. Granddad war im Geiste bei uns. Weißt du, was ich heute herausgefunden habe?«

»Was denn?« Sam nahm sich eine Scheibe Malzbrot.

»Emma ist ein Spielzeug hinters Bett gefallen, und als ich es hervorholte, entdeckte ich eine Kerbe in der Wand.«

Sam runzelte die Stirn. »Will ich wirklich etwas über eine Kerbe in der Wand hinter deinem und Granddads Bett wissen?«

Nana kicherte. »Granddad hat nebenan immer so laut Radio gehört, dass ich ganz oft mit seinem Spazierstock gegen die Schlafzimmerwand gehauen habe.« Sie hielt einen Moment inne, dann sprach sie weiter. »Nach seinem Tod habe ich das Radio auf volle Lautstärke gestellt und so getan, als wäre er noch da. Man glaubt, man würde nur die guten Seiten eines Menschen vermissen, dabei vermisst man in Wahrheit alles.«

Sam lächelte Nana liebevoll an. Granddad, fünfzehn Jahre älter als Nana, war im Alter von fünfundsiebzig gestorben. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, als Nana an einem verregneten Herbstnachmittag im Jahr 1980 sein Antiquitätengeschäft betreten hatte. Er eroberte ihr Herz im Sturm. Sie waren von Anfang an unzertrennlich und heirateten nur ein Jahr später im Standesamt von Brighton. Immer war Granddad Nanas Fels in der Brandung, besonders als die Nachricht vom Tod von Nanas Tochter Christina kam. Viele Jahre lang hatte Nana keinen Kontakt zu ihrem einzigen Kind gehabt und nicht gewusst, dass sie eine zwölfjährige Enkeltochter hatte. Granddad liebte Sam innig, und die drei waren eine glückliche kleine Familie, bis bei Granddad ein inoperabler Lungenkrebs diagnostiziert wurde.

Nana trocknete sich mit Granddads Taschentuch die Tränen.

»Was ist das?« Sam deutete auf den Brief neben dem Schaukelstuhl. »Anscheinend hast du es gelesen, bevor ich nach Hause kam.«

Nana blickte zu Boden. Einen Moment lang hielt sie inne, dann hob sie die Blätter auf. »Das ist ein Brief, Liebes.«

»Von wem?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich habe ihn in Granddads Unterlagen gefunden.« Sie stand vorsichtig auf.

»Er sieht interessant aus. Kann ich ihn mal sehen?«

Nana warf einen Blick auf die Seiten in ihrer Hand und zögerte einen kurzen Moment, bevor sie sie Sam schließlich reichte.

»Alles in Ordnung, Nana?«, fragte Sam.

»Ja, Liebes, ich bin nur müde«, erwiderte Nana und verließ das Zimmer. »Bin gleich zurück.«

Vorsichtig strich Sam die zwei dünnen vergilbten Blätter glatt. Die Handschrift in schwarzer Tinte war ordentlich und energisch; als Datum war der 12. September 1956 vermerkt.

Mein Liebster,

ich mache mir Sorgen, weil ich noch nichts von Dir gehört habe. Alle meine Ängste haben sich bestätigt. Ich bin im dritten Monat schwanger, es ist zu spät, um noch etwas dagegen zu unternehmen. Es ist Gottes Wille, dass unser Kind zur Welt kommt.

Als Nana wieder ins Wohnzimmer kam, holte ihre Stimme Sam in die Gegenwart zurück. »Ich glaube, ich muss jetzt ins Bett gehen, Liebes. Emma sieht so friedlich auf dem Sofa aus, soll sie dort weiterschlafen?«

Sam sah zu ihrer schlummernden Tochter, dann blickte sie wieder auf den Brief, ohne Nanas Frage zu beantworten. »Hier schreibt ein junges Mädchen an ihren Geliebten, dass sie schwanger ist. Sie hört sich sehr verängstigt an.« Nana begann, im Zimmer aufzuräumen. »Woher hatte Granddad diesen Brief?«

»Ich weiß es nicht, Sam. Vielleicht befand er sich in einem antiken Möbelstück aus seinem Geschäft.«

Sam wandte sich der zweiten Seite zu und las die Unterschrift am Briefende. »Weißt du, ob es noch mehr Briefe von dieser Ivy gibt?«, fragte sie.

Nana hielt einen Moment lang inne, dann drehte sie sich um. »Ich weiß es nicht, vielleicht schon.« Sie verschwand in der Küche, kurz darauf hörte Sam Geschirrklappern.

Sie las weiter. »Das arme Mädchen, anscheinend ist ihre Familie sehr wütend auf sie. Sie wollen sie wegschicken, sie soll das Baby in St. Margaret’s zur Welt bringen. Ich dachte, solche Einrichtungen hätte es nur in Irland gegeben. Sie klingt vollkommen verzweifelt. Sie fleht diesen Mann an, sie zu heiraten.«

»Die Fünfzigerjahre waren keine gute Zeit für unverheiratete Mütter.« Nana seufzte schwer. »Ich muss jetzt ins Bett gehen, Liebes. Tut mir leid.«

»Du glaubst nicht, dass der Brief für Granddad bestimmt war? Natürlich, bevor er dich kennenlernte.«

Nana blickte ihr ins Gesicht. »Nein, Samantha, das glaube ich nicht. Könntest du diese Fragerei jetzt bitte sein lassen?«

Sam errötete. »Ja, natürlich, es tut mir leid, dass ich das gesagt habe. Ich habe es durch die Reporterbrille gesehen. Entschuldige bitte, Nana.«

»Ist schon in Ordnung, ich bin nur ziemlich müde. Weißt du, Granddad hatte dieses Antiquitätengeschäft fast sein ganzes Leben lang, und er fand häufig irgendwelchen Kram und auch Briefe in den Schubladen. Manchmal beschäftigten wir uns stundenlang damit, es waren spannende Einblicke in fremde Leben. Ich habe ihn heute sehr vermisst, deshalb habe ich seine Sachen hervorgekramt.«

»Natürlich. Es tut mir wirklich leid, dass ich so lange gearbeitet habe und du auf Emma aufpassen musstest und dass ich deinen Geburtstag verpasst habe und bei dir wohne … Im Grunde tut es mir leid, dass ich geboren wurde.«

»Also mir tut das gar nicht leid, ohne dich wäre ich verloren.« Nana küsste Sam und Emma, dann verschwand sie im Korridor.

Sam nahm ihre schlafende Tochter hoch und trug sie in ihr Zimmer. Sie legte sie ins Bett und knipste das Nachtlicht an. »Ich liebe dich«, flüsterte sie, bevor sie auf leisen Sohlen wieder hinausschlich.

Im Wohnzimmer schaltete sie ihren Laptop ein und tippte »St. Margaret’s, Mutter-Kind-Heim, Sussex«. Ein viktorianisches Herrenhaus erschien auf dem Bildschirm. Sie vertiefte sich in das Schwarz-Weiß-Foto und erkannte zwei Nonnen im Ordensgewand auf dem Gelände. Die Bildunterschrift lautete: St. Margaret’s, Heim für ledige Mütter, Preston, Januar 1969.

Als sie die Geschichte des Mutter-Kind-Heims nachlas, befiel sie eine dumpfe Beklemmung. Geradezu niederschmetternd waren die Berichte von Frauen, die dort gezwungen wurden, ihre Babys zur Adoption freizugeben, und später versucht hatten, sie wiederzufinden. Vor der Erfindung der In-vitro-Fertilisation bot sich unfruchtbaren Paaren keine andere Möglichkeit als die Adoption eines Kindes, und bis in die Mitte der Siebzigerjahre, als St. Margaret’s geschlossen wurde, waren die Betroffenen bereit, viel Geld für ein Baby zu bezahlen.

Sams Gedanken wanderten zu Emma, die friedlich im Nebenzimmer schlief. Die Möglichkeit, dass man ihr das Kind mit Gewalt wegnahm, war für sie unvorstellbar. Aber Ivys Brief und die Berichte anderer Frauen machten ihr deutlich, dass sie, wäre sie 1956 unverheiratet schwanger geworden, vielleicht das gleiche Schicksal ereilt hätte. Von der Familie vor die Tür gesetzt, wäre St. Margaret’s womöglich der einzige Ort gewesen, wo man sie aufgenommen hätte.

Sie scrollte weiter durch die Suchergebnisse. Eine Überschrift, die mehrmals auftauchte, erregte ihre Aufmerksamkeit: »Sterbliche Überreste des vermissten Priesters auf dem Baugelände des früheren Mutter-Kind-Heims gefunden«. Sie überflog den Artikel, der eine Woche zuvor in The Times erschienen war. Gericht tagt zum Tod von Pater Benjamin in einem verfallenen viktorianischen Herrenhaus.

Aufgeregt las sie Ivys Brief weiter.

Am Sonntag nach der Kirche wird Dr. Jacobson mit Pater Benjamin darüber beraten, was mit mir geschehen soll. Ich glaube, es dauert nicht mehr lange, bis sie mich wegschicken. Ich weiß nicht, was ich denken oder tun soll. Bitte, mein Liebster, ich flehe Dich an, ich werde Dich glücklich machen, und wir werden eine Familie sein. Bitte hol mich schnell von hier weg. Ich habe Angst um meine Zukunft.

»Pater Benjamin«, sagte Sam laut und blickte wieder auf den Artikel im Internet. Sie las den Namen des Verfassers und griff nach ihrem Handy.

»Hallo, Carl, hier ist Sam. Hast du diese Woche Nachtschicht?« Im Hintergrund hörte sie die anderen Kollegen und auch Murrays Geschrei. Niemand kam zur Ruhe, bis die großen Zeitungen im Druck waren oder Murray seine Stimme verlor. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Weißt du, wer über die Untersuchung des Todes eines Priesters in Sussex berichtet hat? Er ist im Jahr 2000 verschwunden, und 2016 wurde seine Leiche auf einer Baustelle gefunden.« Sie goss sich Tee nach und machte es sich auf dem Sofa bequem.

Carl musste beinahe schreien, um den Krach der Reinigungskräfte zu übertönen, die bereits ihre Arbeit aufgenommen hatten. »Einen Augenblick, ich hab’s gleich. Pater Benjamin … sagt mir was … Okay, los geht’s. Kevin hat sich damit befasst, es kam in allen großen Zeitungen. Ein Priester starb auf dem Gelände eines leer stehenden Klosters, St. Margaret’s. Befund: Unfalltod. Die Firma Slade Homes reißt das Gebäude ab und plant dort luxuriöse Neubauten, aber die gerichtliche Untersuchung hat das Vorhaben gestoppt. Slade Homes muss das ziemlich gegen den Strich gegangen sein, denn laut einem Beitrag, den ich mal im Fernsehen gesehen habe, hat es schon gut ein Jahrzehnt gedauert, bis der Friedhof verlegt und die Planung abgesegnet war.«

»Ich frage mich, was Pater Benjamin dort gemacht hat. Was ist mit ihm passiert?«, sagte Sam.

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Kevin sich mehr für Kitty Cannon interessiert hat. Die war nämlich bei der gerichtlichen Untersuchung.«

»Wer?« Sam konnte ihn wegen des Staubsaugerlärms kaum verstehen.

»Na, Kitty Cannon, die Talkshow-Moderatorin.«

»Das ist ein Witz, oder?« Sam richtete sich in ihrem Stuhl auf.

»Nein. Sie war wohl sehr aufgewühlt, hat den Saal verlassen, bevor die Todesursache öffentlich gemacht wurde.«

»Was hatte Kitty Cannon denn bei der gerichtlichen Untersuchung des Todes eines alten Priesters aus Preston zu suchen?« Mit klopfendem Herzen stand Sam auf und ging zum Fenster, um besseren Handyempfang zu haben. Wenn sie ein Exklusivinterview mit einem Medienstar wie Kitty Cannon bekäme, hätte sie endlich einen Fuß in der Tür einer der großen Zeitungen. Sie mühte sich schon viel zu lange bei Southern News ab. Seit Emmas Geburt konnte sie nicht mehr so viel arbeiten wie zuvor, und Murray schien sie absichtlich kleinhalten zu wollen. Zwar deckte sie fast jede Story auf, die man ihr anvertraute, so wie die von Jane Connors, aber bei Beförderungen wurde sie regelmäßig übergangen. Sie wollte endlich ein anständiges Gehalt bekommen, denn auch wenn sie Nana sehr liebte, musste sie bald eine Wohnung für Emma und sich finden. Sie wusste, dass Murray am nächsten Tag einen Berg langweiliger Geschichten für sie zum Recherchieren parat hielt, aber bis zu ihrem Arbeitsbeginn um zehn Uhr morgen früh blieb ihr noch etwas Zeit, der Sache mit Kitty Cannon und St. Margaret’s nachzugehen.

»Ich habe keinen blassen Schimmer. Kevin hat mit Murray darüber geredet. Er hielt das für eine Story, aber er hatte keine Fotos, und Cannons Agentur hat alles abgestritten. Das war’s dann.«

»Er hat das Thema einfach fallen lassen? Das ist merkwürdig. Kannte sie diesen Pater Benjamin denn?« Sam zog ihr Notizbuch aus der Tasche und begann mitzuschreiben.

»Ich weiß es nicht. Das ist auch nicht von öffentlichem Interesse, Sam. Sie hat ja nichts Verbotenes getan, deshalb gab’s auch keinen Grund, weiter nachzuforschen.«

»Aber … Ist Kevin da? Kann ich mit ihm sprechen?«

»Nein, er war heute früh dran. Hör mal, Murray brüllt nach mir. Tut mir leid, ich muss auflegen.«

»Natürlich, danke dir«, sagte Sam, aber das hörte er nicht mehr.

Sie blickte zu dem Artikel auf ihrem Laptop, schlug eine neue Seite in ihrem Notizbuch auf und schrieb: Pater Benjamin in die erste Zeile.

Dann nahm sie wieder den Brief zur Hand und las ihn noch einmal von vorn.

Kapitel vier

Mittwoch, 12. September 1956

Ivy Jenkins saß auf der Bettkante, die Fingernägel tief in die Knie gebohrt, während Onkel Franks Stimme durch die Bodendielen zu ihr drang. Sie hatte Dr. Jacobson kommen hören. Als es an der Tür geläutet hatte, war sie ängstlich zusammengezuckt und hatte ihre Zimmertür einen Spaltbreit geöffnet. In dem Moment huschte ihre Mutter über den verblichenen, braunen Teppich und ließ den Arzt herein. Ivy lauschte der aufgeregten, atemlosen Stimme ihrer Mutter, die nervös hin und her lief.

»Guten Abend, Dr. Jacobson. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.«

Ivys Mutter hatte kaum ein Wort gesagt, seit sie mit ihr vor ein paar Tagen bei Dr. Jacobson in der Praxis gewesen war. Während seine Worte sie wie Gewehrkugeln trafen, starrte Ivy den Arzt schweigend an, getrieben von dem Wunsch, diesen Bruchteil einer Sekunde festzuhalten, der ihr von ihrer Unschuld blieb, bevor die Welt, wie sie sie kannte, zusammenbrach.

»Folgendes, Ivy«, sagte er zu ihr, als sie sich nach der Untersuchung auf einen Stuhl neben seinem Schreibtisch setzte. »Du hast dich in letzter Zeit unwohl gefühlt, weil du ein Kind bekommst.«

Ihre Mutter rang nach Luft und hielt sich eine Hand vor den Mund. Ivys Schreck war so groß, dass sie nach der anderen Hand der Mutter griff, aber die entzog sie ihr.

Sie sprach nur mit Dr. Jacobson und fragte ihn, was zu tun sei. Was würden die Nachbarn sagen? Er wusste doch, dass Ivy nicht verheiratet war? Wenn der Kindsvater nicht bereit sei, Ivy zu heiraten, meinte Dr. Jacobson, gebe es noch eine andere Möglichkeit. Am Mittwochabend würde er zu ihnen nach Hause kommen, um alles in Ruhe durchzusprechen.

Danach verließen sie die Praxis, und während der langen Busfahrt nach Hause und in den drei darauffolgenden Tagen redete ihre Mutter kaum ein Wort mit ihr.

Onkel Frank fiel das Schweigen ihrer Mutter nicht auf. Er wetterte unentwegt, wie es seine Art war: über das fade Abendessen, die Zugluft von der Hintertür, die lauten Nachbarskinder. Aber Ivy bemerkte das Schweigen ihrer Mutter sehr wohl; sie sah, wie ihre hängenden Schultern noch ein Stück weiter nach unten sackten und ihr Blick glasig und leer wurde.

Von dem Moment an, als Ivy erfahren hatte, dass sein Baby in ihr heranwuchs, hatte sie Alistair treffen wollen. Sie hatte ihm bereits erzählt, dass ihre Periode ausgeblieben war. Er hatte sie angelächelt und gemeint, sie solle sich keine Sorgen machen, aber seine Stimme hatte kalt geklungen.

Am nächsten Samstag wartete sie den ganzen Morgen aufgeregt darauf, dass er sie zu ihrem wöchentlichen Ausflug aufs Land abholte, aber er erschien nicht. Hübsch zurechtgemacht in dem neuen hellblauen Baumwollrock und der weißen Bluse, saß sie im Wohnzimmer, während Onkel Frank lautstark das Pferderennen im Radio kommentierte. Irgendwann wurde ihr klar, dass Alistair nicht kommen würde.

In ihrer Verzweiflung schlich sie sich am nächsten Abend aus dem Haus ins Preston Arms, einen Pub, in den Alistair häufig ging. Als sie die verrauchte Kneipe durchquerte, zupfte sie vor Nervosität an ihrem Rock herum. Dann entdeckte sie die Freundin eines anderen Fußballspielers, nahm all ihren Mut zusammen und bat sie, Alistair auszurichten, dass sie ihn dringend sprechen müsse. Das Mädchen lächelte und versprach es. Doch als Ivy sich abwandte, hörte sie die Freundin des Mädchens laut auflachen.

»Schon wieder so ein verknallter Backfisch, der ohne Alistair nicht leben kann.«

»Sag das nicht«, antwortete das Mädchen. »Das ist uns allen schon mal passiert.« Ivy hatte sich noch einmal zu den kichernden Mädchen umgedreht, bevor sie aus dem lärmenden Pub auf die stille Straße getreten war.

Onkel Franks Brüllen im Erdgeschoss holte sie in die Gegenwart zurück. »Warte nur, bis ich dieses Gör in die Finger kriege!«

»Nein, Frank!«, versuchte ihre Mutter, ihn zu beruhigen. Dann sprach Dr. Jacobson mit leiser Stimme.

In der verzweifelten Suche nach Ablenkung ging Ivy zu ihrem Schreibtisch, zog ein Blatt Papier aus der Schublade und begann zu schreiben.

12. September 1956

Mein Liebster,

ich mache mir Sorgen, weil ich noch nichts von Dir gehört habe. Alle meine Ängste haben sich bestätigt. Ich bin im dritten Monat schwanger, es ist zu spät, um noch etwas dagegen zu unternehmen. Es ist Gottes Wille, dass unser Kind zur Welt kommt.

Seit Dr. Jacobson die Schwangerschaft festgestellt hat, höre ich Mutter im Schlafzimmer weinen. Ich habe ihr eine Vase mit Blumen neben ihr Bett gestellt, aber sie hat sich nur weggedreht. Wie kann man von einem Augenblick auf den anderen aufhören, sein eigen Fleisch und Blut zu lieben? Seit Daddys Tod haben wir einander alles bedeutet. Onkel Frank denkt, Mutter liebe ihn, aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Ich habe meine Eltern beim Tanzen im Wohnzimmer beobachtet und gesehen, wie Mummy Daddy anlächelte, wenn er sie herumwirbelte – so lächelt sie Onkel Frank nie an. Sie serviert ihm nur Essen und Trinken auf einem Tablett im Wohnzimmer. Er bedankt sich nie.

Wir dürfen nicht mehr von Daddy sprechen, seit wir bei Onkel Frank wohnen, aber ich weiß, dass Mutter heimlich ein Foto von ihm in einer Schachtel im Schrank unter der Treppe aufbewahrt. Manchmal verstecke ich mich dort, wenn Onkel Frank wütend ist, und schaue mir das Foto im Schein meiner Taschenlampe an. Es zeigt Daddy in Uniform, er sieht schrecklich gut aus. Das glänzende Haar ist zurückgekämmt, und sein Blick schweift in die Ferne, als ob dort eine sehr wichtige Person zu sehen wäre.