Das Geheimnis des Mädchens - Emily Gunnis - E-Book
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Das Geheimnis des Mädchens E-Book

Emily Gunnis

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Beschreibung

Drei Generationen zwischen Misstrauen und Angst, Hoffnung und Liebe

England 1945: Als die junge Herrin von Yew Tree Manor bei der Geburt ihres Kindes stirbt, wird der Hebamme Tessa James der Prozess gemacht, obwohl sie als einzige alles unternommen hat, um die Frau zu retten. Dies treibt einen Keil zwischen die Familien Hilton und James, der sich mit den Jahren immer tiefer bohrt.

1969: Während einer Silvesterfeier verschwindet Alice Hilton, die sechsjährige Tochter des Hauses, aus Yew Tree Manor – und taucht nie wieder auf.​

Heute: Als erneut ein Mädchen auf dem Anwesen von Yew Tree Manor verschwindet, weiß Willow James, dass sie das Geheimnis der Hebamme, ihrer Ururgroßmutter, lüften muss, damit sich die Geschichte nicht auf grausamste Art wiederholt.​

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Seitenzahl: 521

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DASBUCH

England 1945: Auf Yew Tree Manor liegt die junge Hausherrin Evelyn Hilton in den Wehen. Die komplizierte Geburt bringt ihren Arzt an seine Grenzen, und so ruft er die Hebamme Tessa James zu Hilfe, um die Verantwortung von sich abzuwälzen. Als Evelyn stirbt, wird Tessa dafür verurteilt. Ihre Tochter Bella und deren kleiner Sohn sind nun dem Zorn des Witwers Wilfred Hilton ausgesetzt, der die beiden um jeden Preis aus deren Haus vertreiben will. Eine folgenschwere Entscheidung.

1969: Während einer Silvesterfeier verschwindet die sechsjährige Alice Hilton spurlos aus Yew Tree Manor – und taucht nie wieder auf. Wieder richtet sich der Zorn der Hiltons gegen die Familie James. Ein Netz aus Lügen und Intrigen zieht den Graben zwischen den beiden Familien immer tiefer und kostet mehr als einen Menschen das Leben.

2017: Als erneut ein Mädchen auf dem Anwesen von Yew Tree Manor verschwindet, weiß Willow James, dass sie das Geheimnis der Hebamme, ihrer Ururgroßmutter, lüften muss, damit nicht wieder ein Kind für eine jahrzehntealte Fehde

DIEAUTORIN

Emily Gunnis arbeitete lange beim Fernsehen, unter anderem als erfolgreiche Drehbuchautorin. Die Tochter der internationalen Bestsellerautorin Penny Vincenzi lebt mit ihrer Familie im südenglischen Sussex. Ebenfalls bei Heyne erschienen sind ihre Romane Das Haus der Verlassenen und Die verlorene Frau.

EMILY GUNNIS

Das Geheimnis

des

Mädchens

ROMAN

Aus dem Englischen

von Carola Fischer

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THEMIDWIFE’S SECRET bei Headline Review, an imprint of Headline Publishing Group, UK.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Emily Gunnis Ltd

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Antje Steinhäuser

Herstellung: Mariam En Nazer

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München,

unter Verwendung von Jaroslaw Blaminsky/Trevillion Images

und Helen Hotson, Konmac, brickrena, Anne Powell,

Jane Biriukova, PJ photography/shutterstock.com

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29722-0V002

www.heyne.de

Für Grace und Eleanor – meine Inspiration

Niemand schadet dem katholischen Glauben mehr als die Hebammen.

JAKOBSPRENGER, MALLEUSMALEFICARUM

(DERHEXENHAMMER, 1486)

Wen jemand liebt, der ist nicht tot

Denn Liebe ist Unsterblichkeit

EMILYDICKINSON

Prolog

Montag, 8. Januar 1945, Kingston near Lewes, East Sussex

»Sie sind schon hier.« Tessa James blickte aus dem Schlafzimmerfenster, als zwei Polizeiwagen vor dem alten Pfarrhaus hielten, in dem sie lebte. Das grelle Scheinwerferlicht ließ sie zusammenzucken. Sie wandte sich ab und eilte zu ihrem Enkel zurück, der vor Furcht zitternd auf dem Treppenabsatz hockte.

»Baba, ich habe Angst. Ich will nicht allein im Dunkeln bleiben.« Die Augen des kleinen Jungen, so eisblau wie die der ganzen Familie James, starrten sie an, und sein durchdringender Blick gab ihr das Gefühl, er bohre sich direkt durch sie hindurch.

Schnell ergriff er die Hand seiner Großmutter, als sie die oberste Treppenstufe anhob und darunter ein kleiner Raum unterhalb der Treppe zum Vorschein kam. Ein Priesterversteck, ein sogenanntes Priesterloch, gerade groß genug, dass eine Matratze und einige wenige andere Habseligkeiten hineinpassten. Tessa hatte es rein zufällig entdeckt, als sie vor mehr als zwei Jahrzehnten, damals war sie mit Alfies Mutter schwanger gewesen, in das nahezu baufällige Cottage gezogen war.

»Kletter hinein, beeil dich«, drängte sie.

Er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, daher krabbelte der kleine Junge widerstrebend in den Geheimraum, sah sich aber sofort nach ihr um. Schwarzes Haar umspielte seine Wangen, über die jetzt Tränen liefen.

»Alfie, hör mir zu, du darfst nur herauskommen, wenn es absolut sein muss. Ansonsten bleib im Versteck. Du hast genügend Vorräte für fünf Tage. Ich habe deiner Mama ein Eiltelegramm geschickt. Sie weiß, dass du hier drinnen bist, und wird vorher da sein, vielleicht schon morgen.«

»Was ist, wenn sie nicht kommt? Was mache ich dann?« Er fing an zu schluchzen.

»Sie wird kommen, Alfie.« Tessa wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht. Sie musste dringend die Klappe des Geheimraums schließen, bevor die Polizei ins Haus gestürzt kam und den verborgenen Einstieg sah. Da Alfies Mutter fern von zu Hause in Portsmouth als Dienstmädchen arbeitete, würde Wilfred Hilton nicht zögern, den kleinen Jungen – seinen unehelichen Enkelsohn – außer Landes zu schicken, und wahrscheinlich würde man ihn nie wiedersehen oder auch nur von ihm hören.

»Versprichst du es mir, Baba? Ich weiß, dass du deine Versprechen immer hältst.« Die Tränen hatten dunkle Spuren auf seinen Wangen hinterlassen, so schmutzig war er vom nachmittäglichen Spielen draußen auf den Feldern geworden. Er war ins Haus gerannt, um dem Regen zu entkommen, ungefähr zu der Zeit, als Sally, das Dienstmädchen der Hiltons, vollkommen durchnässt an die Tür des alten Pfarrhauses gehämmert hatte.

»Sie müssen kommen, Mrs. James«, hatte sie gesagt, mit angsterfülltem Blick und keuchendem Atem, nachdem sie durch den Wald gelaufen war, der Yew Tree Manor und das Pfarrhaus miteinander verband. »Mrs. Hilton liegt in den Wehen, und das Baby steckt fest. Der Doktor sagt, dass es stirbt, wenn es nicht bald zur Welt kommt. Er hat mir befohlen, Sie zu holen. Er weiß nicht, was er tun soll.«

Ihr Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken, dass Evelyn Hilton wegen Dr. Jenkins so viel Leid ertragen musste. »Sally, du weißt, dass Mr. Hilton mir verboten hat, mich seiner Frau zu nähern. Ich habe Mrs. Hilton während der Schwangerschaft nicht betreut. Es ist Aufgabe des Arztes, das Kind sicher auf die Welt zu holen.« Mühsam hielt sie die Tränen zurück und versuchte, dem Dienstmädchen die Tür vor der Nase zuzumachen.

»Bitte, der Doktor hat mich angefleht, Sie zu holen«, sagte Sally. »Er wird Mr. Hilton sagen, dass er um Ihr Kommen gebeten hat, und sämtliche Verantwortung auf sich nehmen, das hat er versprochen. Bitte, Mrs. James, alles ist voller Blut. Er hat gesagt, dass nur Sie allein die Mutter retten können. Sie werden beide sterben, wenn Sie nicht helfen. Ich dachte, ich könnte ihr Wehgeschrei nicht mehr ertragen, aber jetzt ist sie so schrecklich still, und das ist noch schlimmer.«

»Wo ist Mr. Hilton?«, wollte Tessa wissen.

»Er ist weggefahren, nachdem Sie beide sich über Ihr Mietverhältnis für das Pfarrhaus gestritten hatten. Wissen Sie, heute Morgen kam ein Telegramm mit der Nachricht, dass Master Eli an der Front gefallen ist. Mrs. Hilton hat völlig die Fassung verloren. Kurz nachdem er weg war, haben bei ihr die Wehen eingesetzt. Ich habe Dr. Jenkins angerufen, so wie es mir aufgetragen war, aber das Baby liegt in Steißlage, und damit hat der Doktor nicht gerechnet. Er brüllt mich ständig an, ich solle endlich den Master finden. Überall im Dorf habe ich nach ihm gesucht – im Pub, dem Rose-and-Crown, und auch bei den Ställen. Wirklich, ich habe alles abgesucht, aber er ist wie vom Erdboden verschluckt.« In ihrer Verzweiflung fing Sally an zu weinen. »Bitte, Mrs. James, Sie dürfen sie nicht sterben lassen. Bitte!« Sie packte Tessas Arm und zog sie Richtung Tür. »Richard ist erst sechs, er wird ohne Mutter aufwachsen müssen.«

Eli Hilton war tot. Tessa konnte es nicht fassen. Bellas große Liebe und Alfies Vater war in einem Krieg gestorben, der schon beinahe vorüber war. Sie war dabei gewesen, als Eli zur Welt gekommen war, und kurz darauf hatte sie ihr eigenes Kind geboren, Bella. Die beiden waren ihr ganzes Leben lang unzertrennlich gewesen. Eli war wie ein Sohn für sie. Während das Dienstmädchen im Regen stand und sie anstarrte, versagte Tessa beinahe der Atem. Doch es blieb keine Zeit für Erwiderungen, für Weinen und lautes Klagen. Sie wurde gebraucht.

»Alfie, bleib hier im Warmen und leg Holz im Ofen nach«, hatte sie noch gesagt, bevor sie ihre schweren schwarzen Stiefel angezogen hatte und in den Sturm hinausgegangen war.

Tessa hatte Evelyns ältere Kinder sicher auf die Welt geholt – Eli und seinen jüngeren Bruder Richard –, doch beides waren komplizierte Entbindungen gewesen. Bei Evelyn schienen die Wehen kein Ende zu nehmen. Sie war sehr klein, ihr Geburtskanal war eng, und ihre Betreuung erforderte eine Menge Geduld, die Dr. Jenkins fehlte, da war sich Tessa sicher. Evelyn musste während der Wehen in Bewegung bleiben, sie hatte ihre ersten beiden Kinder im Vierfüßlerstand auf dem Fußboden ihres Schlafzimmers in Yew Tree Manor geboren. Doch bei Dr. Jenkins, so befürchtete Tessa, würde Evelyn auf dem Rücken im Bett liegen müssen, mit den Beinen in hochgestellten Halterungen, und er würde versuchen, das Baby mit einer Geburtszange aus dem Bauch der Mutter herauszuziehen.

Während Sally und sie vom Waldrand über den gepflasterten Fahrweg zu dem imposanten georgianischen Herrenhaus liefen, dachte Tessa voller Traurigkeit an ihre Auseinandersetzung mit Wilfred Hilton an diesem Morgen zurück. »Ich will, dass Sie und der kleine Bastard meinen Grund und Boden verlassen«, hatte er ihr mitgeteilt. »Sie bringen Schande über unsere Kirche und ebenso über meine Familie. Ich sehe doch, dass Sie versuchen, diese Frauen zu verstecken, deren Fehlgeburten Sie einleiten. Oder glauben Sie etwa, nur weil Sie sie mitten in der Nacht herbringen, würde ich es nicht merken? Sie sind verabscheuungswürdig, Mrs. James, mit Ihren Geheimnissen, Ihren Kräutern und Naturmittelchen. Wir brauchen richtige Ärzte wie Dr. Jenkins, keine gotteslästerlichen Wunderheilerinnen wie Sie, deren Hass auf ordentliche ärztliche Behandlungen wie ein bösartiges Geschwür in unserer Gemeinde wuchert.«

Seit Tessa Hebamme geworden war, hatten Frauen sie gefragt, wie sie die Babys in ihrem Mutterleib loswerden konnten. Sie hatte immer voller Mitgefühl zugehört, aber ihr war bewusst, dass dieses Ansinnen verboten war: Menschen, die eine Abtreibung vornahmen, wurden mit Gefängnis bestraft. Doch viel mehr als das Gesetz schreckte ihr innerster Instinkt sie ab – sie wollte sich der Rettung des noch ungeborenen Lebens widmen, nicht diesem ein Ende setzen. Deshalb bot sie den Schwangeren Trost an. Sie hörte zu und maßte sich kein Urteil an, denn sie wusste, dass eine Frau ihre Gründe hatte, warum sie kein weiteres Kind bekommen wollte. Vielleicht hatte sie schon zu viele Mäuler zu stopfen, oder sie war so erschöpft von den früheren Entbindungen, dass sie ahnte, bei der nächsten sterben zu müssen – und wer kümmerte sich dann um ihre anderen Kinder? Diesen Schwangeren gab Tessa Kräuter, die die Monatsblutungen auslösen sollten, aber meistens nicht wirkten. Einige Frauen waren so verzweifelt, dass sie drohten, sich umzubringen. Sie bereiteten Tessa am meisten Sorgen. Wenn sie ihnen ihre Hilfe verweigerte, würden sie Bleiche trinken oder selbst versuchen, einen Abgang herbeizuführen, mit einer spitzen Näh- oder einer gebogenen Häkelnadel oder mit irgendeinem anderen Hilfsmittel, was oft schreckliche Konsequenzen nach sich zog. Die Welt gehörte den Männern, und nur wenige wussten, welche Schmerzen eine Frau für deren Vergnügen litt.

»Und was hat man Dr. Jenkins an der Universität beigebracht?«, hatte sie im Streit mit Wilfred Hilton erwidert. »Wie viele Babys hat er schon auf die Welt geholt? Im Medizinstudium lernt man nicht, wie man Schwangere beruhigt, eine junge Mutter zum Beispiel, beinahe selbst noch ein Kind, für die die Geburtswehen Todesqualen bedeuten. Oder eine Frau, die nicht entbinden kann, weil ihr Geburtskanal zu eng ist. Was rät man einer Frau, deren Ehemann eine Woche nach der Geburt wieder sein Vergnügen haben will?«

»Sie sollten sich schämen, Mrs. James. Mit Ihrem Gerede haben Sie die Frauen in unserem Dorf verhext. Ich will, dass Sie morgen fort sind.«

Es war der Gedanke an die starken Blutungen, der Tessa zur Eile antrieb, als sie durchs Haus und die Treppe hinauf zu Evelyns Schlafzimmer lief. Das Baby lag in Steißlage, Evelyn war geschwächt durch den Blutverlust und wahrscheinlich nicht in der Lage zu pressen. Wie auch immer Tessa zu Wilfred Hilton stand, sie musste versuchen, ihrer Freundin zu helfen.

Doch der Anblick, der sie beim Betreten des Schlafzimmers erwartete, war schlimmer als ihre düstersten Vorahnungen. In ihren dreißig Jahren als Hebamme hatte sie noch nie so viel Blut gesehen. Die weißen Bettlaken und Evelyns elfenbeinfarbenes Nachthemd waren tiefrot gefärbt. Evelyn befand sich in der Mitte des Himmelbetts mit den vier Pfosten, blass und leblos, die Beine in Halterungen hochgelegt, während der Arzt sich mühte und an den Beinchen des Babys zog, dessen Köpfchen sich noch im Mutterleib befand.

»Um Himmels willen, tun Sie etwas!«, schrie Dr. Jenkins, als er Tessa erblickte. »Die Schultern stecken fest, ich kann das Baby nicht herausholen. Einen Dammschnitt habe ich schon gemacht, aber es kommt immer noch nicht.« Wütend funkelte er sie an, während er vor Anstrengung keuchte, die Arme bis zu den Ellbogen mit Blut verschmiert.

Tessa stürzte zu Evelyn und hob sacht ihre Beine aus den Halterungen. Ein Blick auf sie und das viele Blut hatte genügt, um zu wissen, dass sie die Freundin nicht mehr retten konnte. Doch die Beinchen des Babys bewegten sich, für das Kind bestand noch Hoffnung. Schnell tastete Tessa Evelyns Unterleib nach den Schultern des Babys ab und drückte dann fest auf den Bereich knapp über den Beckenknochen.

»Was machen Sie da?«, keuchte der Arzt schweißgebadet mit noch immer tiefrotem Gesicht.

»Ich verrücke die Schultern des Babys«, erwiderte Tessa. »Helfen Sie mir, Evelyn in den Vierfüßlerstand zu bringen.«

Der Arzt schrie sie mit weit aufgerissenen Augen an: »Das werde ich nicht! Ich will nichts mehr damit zu tun haben!« Er nahm seine Tasche und verließ eilig das Zimmer, das weiße Hemd über und über mit Evelyns Blut bespritzt.

Tessa blickte ihm nach und wusste, was sein Weggehen bedeutete: Er würde sie für sein Tun verantwortlich machen, und das wäre das Ende ihrer Arbeit als Hebamme. Sie sah zu Evelyn und dann zu Sally, die im Flur kauerte und leise weinte.

»Hilf mir!«, fuhr sie das vor Angst erstarrte Mädchen an. »Sally, du hast mich gebeten zu kommen. Bitte, Mrs. Hilton braucht dich jetzt.«

Sally richtete die Augen auf Tessa, dann nickte sie und kam zu ihr.

Zusammen änderten sie vorsichtig Evelyns Lage, dann griff Tessa in den Mutterleib, und unter großen Mühen gelang es ihr, das Baby herumzudrehen.

»Pressen, Evelyn«, flüsterte sie ihrer Freundin ins Ohr, als die nächste Wehe kam. Mit letzter Kraft presste Evelyn, während Tessa so fest zog, wie sie konnte. Dann war das Baby draußen: ein wunderhübsches kleines Mädchen, dessen schmaler Körper weiß und dessen knospenförmige Lippen tiefblau waren.

Lange Minuten vergingen, in denen Sally schluchzend in der Ecke hockte, während Tessa auf dem Boden saß, wo sie ihren Atem in den kleinen Mund des Babys blies und sanft sein Bäuchlein rieb, in dem verzweifelten Versuch, das Kind wiederzubeleben. Schließlich gab sie auf. Als sie den Kopf hob, sah sie, dass Evelyn nicht mehr atmete.

Tessa wusste nicht mehr genau, wann Wilfred Hilton mit dem Arzt im Gefolge ins Zimmer gekommen war, aber niemand schrie oder tobte. Er ignorierte sie völlig, während er langsam zu seiner Frau hinüberging, erst auf ihr Porzellangesicht und dann auf sein lebloses Kind blickte, bevor er das Laken über Evelyns Kopf zog. Zitternd erhob sich Tessa und legte das tote Baby in das Bettchen neben der Tür.

»Was macht Tessa James hier, Dr. Jenkins?«

»Sie ist gewaltsam hier eingedrungen, Mr. Hilton. Als ich ging, waren Mrs. Hilton und das Baby noch am Leben«, antwortete der Arzt.

»Sally, ruf die Polizei«, befahl Hilton.

Tiefe Angst beschlich Tessa. Ihr einziger Gedanke galt Alfie, Wilfred Hiltons verstoßenem Enkelsohn, der allein im Pfarrhaus vor dem Feuer saß. Hilton würde alles dafür tun, das Kind loszuwerden.

»Bleiben Sie hier, Mrs. James!«, rief er, doch sie wusste, was sie zu tun hatte. Eilig drängte sie sich an den Männern vorbei und lief die Treppe hinunter nach draußen. Immer weiter rannte sie, bis sie die Post im Dorfkern von Kingston erreicht hatte. Ihre Kleidung und ihre Hände waren noch voller Blutflecken, als sie ein Eiltelegramm an ihre Tochter in Portsmouth aufgab.

Meine geliebte Bella. Komm sofort nach Hause. Alfie wartet an unserem geheimen Ort auf dich. Küsse. Mama.

Auf zittrigen Beinen war sie nach Hause geeilt, wo Alfie tief schlafend vor dem Kamin gelegen hatte.

Bum, bum, bum. »Polizei, öffnen Sie die Tür!«

»Baba, wenn du es mir versprichst, glaube ich dir«, sagte der kleine Junge, als er mit flehentlichem Blick aus dem Geheimversteck zu ihr aufsah.

Tessa zögerte, aus Angst, dass dieses Versprechen eine Lüge wäre, doch es war schlimmer, viel schlimmer, einen sechsjährigen Junge tagelang im Dunkeln zurückzulassen, allein mit seiner Furcht, dass niemand ihn holen kommen würde.

»Ich verspreche es«, sagte sie schließlich und beschloss, Alfies Aufenthaltsort der Polizei mitzuteilen, sollte Bella nicht in den nächsten fünf Tagen nach Kingston zurückkehren. Jeder weitere Tag wäre sein Todesurteil. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um dem Jungen eine Kindheit im Waisenhaus zu ersparen – wohin ihn Wilfred Hilton zweifellos bringen wollte –, aber sie würde nicht sein Leben aufs Spiel setzen.

Tessa beugte sich vor und nahm sein kleines Gesicht in ihre Hände. »Alfie, wenn man dich entdeckt, werden sie dich mitnehmen. Und Wilfred Hilton wird dafür sorgen, dass dein Name geändert wird, dann kann Mama dich nicht finden. Das hier ist unsere einzige Hoffnung.«

Bum, bum, bum. »Wir wissen, dass Sie da drinnen sind, Mrs. James. Machen Sie auf!«

»Mein Liebling, du musst sehr tapfer sein. Nimm den Schlüssel und sperr von innen ab.« Sie reichte ihm den Schlüssel mit dem eingravierten Weidenbaum in der Reide, den sie immer um den Hals trug. »Wenn nötig, kannst du aufschließen und herauskommen, aber versuch es zu vermeiden«, fügte sie mit Nachdruck hinzu.

Langsam ließ sie die Klappe in der Öffnung zu dem kleinen Raum herunter und dachte an den Tag, als sie ihn entdeckt hatte. Sie hatte vorgehabt, die dunkle Mahagonitreppe zu lackieren und war gerade dabei, mit kräftigen Bewegungen die oberste Stufe abzuschmirgeln, als es klick machte und ein Sprungfedermechanismus sie öffnete. Sie hatte eine Kerze geholt und war hineingeklettert. Es war nur ein kleiner Raum, kaum groß genug, um sich hinzulegen, dennoch fühlte er sich nicht klaustrophobisch an. Am Ende gab es ein kleines Fenster aus blauen Glasbausteinen, die gleiche leuchtende Farbe wie Alfies und Bellas Augen. Man hatte den Eindruck, sich in einem Baumhaus, einer Höhle, einer Zufluchtsstätte zu befinden. Als Hebamme war ihr sofort in den Sinn gekommen, dass dieser Ort für Frauen als Versteck dienen konnte, während sie sich von den Verheerungen einer Geburt oder Fehlgeburt erholten. Frauen, denen es nicht möglich war, zu ihren schamerfüllten Familien oder gewalttätigen Ehemännern zurückzukehren.

Bum, bum, bum. »Öffnen Sie die Tür, Mrs. James, oder wir brechen sie auf. Sie haben zehn Sekunden. Zehn …«

Während dem erst sechsjährigen Jungen Tränen über die bleichen Wangen liefen, sprach Tessa mit ernster Stimme.

»Du bist ein echter James, Alfie. Ich liebe dich. Du musst stark sein.«

Der kleine Junge sah sie an, und plötzlich, wie aus dem Nichts, besiegte eine innere Kraft seine Angst, und seine zarte Gestalt schien die Verzweiflung abzuschütteln. Mut und Vertrauen stützten ihn, als er sich aufrecht setzte und seine geliebte Großmutter allmählich losließ.

»Liebst du mich mehr als alle Sterne?«, fragte er leise und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen fort.

»Fünf …«

»Mehr als alle Sterne und den Mond. Halt durch, Mama ist schon unterwegs. Und verhalt dich still, mein Liebling.« Sie bedeckte sein Gesicht mit Küssen, den salzigen Geschmack seiner Tränen auf ihren Lippen.

Bum, bum, bum.

»Ich komme!«, stieß sie laut aus. Sie schloss die Öffnung zum Priesterversteck und wartete, bis der Junge den Schlüssel im Schloss herumgedreht hatte. Klick.

»Drei …«

»Ich komme schon. Bitte brechen Sie nicht meine Tür auf!«, rief sie.

»Zwei …«

Es war nicht einmal eine Stunde her, seit sie an Evelyns Bett gestanden hatte und ihre Freundin vor ihren Augen verblutet war. Seit sie Evelyns lebloses Baby in das Bettchen neben der Tür gelegt hatte.

»Eins!«

Sie öffnete die Haustür und wurde sofort vom grellen Scheinwerferlicht der zwei Polizeiwagen geblendet, als vier Beamte an ihr vorbei in die kleine, nur vom Kaminfeuer erleuchtete Küche stürmten.

»Tessa James, ich verhafte Sie wegen des Verdachts der Körperverletzung mit Todesfolge von Evelyn Hilton. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden.«

»Wo ist der Junge?«, fragte einer der Beamten, als seine Kollegen an ihnen vorbei in Richtung Treppe gingen.

»Bei seiner Mutter«, antwortete Tessa leise.

»Wir haben Anweisung, ihn zu seinem Vormund zu bringen, Wilfred Hilton«, sagte der Mann barsch.

»Nun, daraus wird nichts. Er ist fort«, entgegnete Tessa.

»Wann war das? Es ist uns bekannt, dass Ihre Tochter in Portsmouth arbeitet. Wie haben Sie den Jungen so schnell dort hingebracht?«

»Keine Spur von ihm.« Ein zweiter Polizist tauchte, atemlos von der Hausdurchsuchung, neben ihnen auf.

»Ich habe ihn in den Zug gesetzt.«

»Er ist sechs Jahre alt.« Der Beamte, er hatte einen Schnurrbart und roch nach Knoblauch, beugte sich vor und fixierte sie mit scharfem Blick. »Sie lügen uns an, Mrs. James. Er ist hier.« Er wandte sich an den anderen Polizisten. »Nehmt sie mit auf die Wache und sperrt sie über Nacht in eine Zelle, ich verhöre sie morgen früh. Wenn es sein muss, warte ich hier die ganze Nacht darauf, dass das Kind aus seinem Versteck kriecht.«

Vor Schock und Erschöpfung gaben ihre Beine nach, als Tessa zum letzten Mal, das wusste sie, über die Schwelle ihres geliebten Heims trat. Das Wort von Dr. Jenkins stand gegen ihres, und Wilfred Hilton würde die Version des Arztes mit Begeisterung stützen. Sie würde nie wieder in das alte Pfarrhaus zurückkehren.

Alfie lauschte stumm und verängstigt, als der Polizeiwagen mit seiner Großmutter wegfuhr. Stundenlang saß er im Dunkeln und wagte kaum zu atmen, während im Haus noch Polizisten umherwanderten, laut seinen Namen riefen, auf den Boden stampften und gegen die Wände hämmerten, bis sie schließlich verstummten.

Doch Alfie blieb still, denn ein Blick durch das kleine Glasbausteinfenster in seinem Geheimversteck verriet ihm, dass draußen immer noch ein Polizeiwagen parkte.

Er lag im Dunkeln und dachte an seine Mutter. Als die Sonne aufging, stellte er sich vor, wie das Telegramm von Baba an seine Mama auf holprigen Straßen die Strecke von Kingston nach Portsmouth zurücklegte, und er betete inbrünstig, dass sie zu ihm kommen würde, bevor eine weitere lange, Furcht einflößende Nacht anbrach.

Kapitel eins

VANESSA

Donnerstag, 21. Dezember 2017

Vanessa Hilton stand an der Mündung des Waldes, der Yew Tree Manor und das Pfarrhaus miteinander verband, und blickte über die Felder zu dem baufälligen Haus, das an diesem Wintermorgen in der funkelnden Sonne lag.

Die Baufirma hatte das Gebäude schon mit rot-weißem Band abgesperrt. Daneben stand ein großer gelber Kran, zusammen mit einer Abrissbirne – bereit, die Mauern des denkmalgeschützten alten Pfarrhauses einzureißen, wofür ihrem Sohn Leo aber bislang noch die Genehmigung fehlte.

Vanessa erkannte einige Männer mit Schutzhelmen und Klemmbrettern, die auf das Dach zeigten und ums Haus herumgingen, offenbar damit beschäftigt, den Abriss zu planen. Das Pfarrhaus stand im Zentrum des Geländes, auf dem zehn neue Einzelhäuser entstehen sollten, hatte Leo ihr erklärt. Zweifellos würden alle dabei viel Geld verdienen, aber sie konnte sich nicht erinnern, ihre Zustimmung zu diesem Vorhaben gegeben zu haben. Nun, vielleicht war sie gefragt worden und hatte es nur vergessen. Für sie sahen die Bauunternehmer aus wie Haie, die ihre Beute umkreisten. Ihre unbändige Gier, das alte Haus dem Erdboden gleichzumachen, war deutlich wahrnehmbar.

Vanessa blickte auf ihre durchnässten schwarzen Lederschuhe und bemerkte, dass ihre Füße taub geworden waren. Sie trug nicht das richtige Schuhwerk für einen Spaziergang durch Wald und Felder, und sie konnte sich nicht erinnern, warum sie aus dem Haus gegangen war. Vielleicht hatte sie nur ihre Enkelin Sienna sehen wollen. Oder sie war vor den Männern im Haus geflüchtet, die sämtliche Besitztümer ihres Lebens zusammenpackten.

Sie war diese ständige Suche nach der Erinnerung leid. Der Arzt hatte ihr geraten, geduldig mit sich selbst zu sein. Er hatte gesagt, dass es ihr schwerer fallen würde, sich an die Namen von Menschen zu erinnern, oder an Worte, die ihr auf der Zungenspitze lagen, dass sie aber die ferne Vergangenheit klar im Gedächtnis behalten würde. Was sie vergessen wollte, blieb bei ihr, was sie festhalten wollte, entglitt ihr.

Vermutlich hatte sie mit ihrer Familie über den Grundstücksverkauf gesprochen, aber sie konnte sich nicht an das Gespräch erinnern, nur an das ungute Gefühl, dass alles ohne ihr Zutun geschah, wie bei Ebbe zog sich das Wasser zurück, und sie konnte es nicht aufhalten. Gespräche, in denen sie nicht das Sagen hatte, Umzugsleute, die kamen und gingen, Architekten voller neuer Ideen, die in der Küche Besprechungen abhielten. Ein Gefühl der Machtlosigkeit und Besorgnis folgte ihr wie ein Schatten, begann jeden Tag mit einem nagenden Unbehagen und drang peu à peu in jeden Winkel ihres Inneren vor, sodass sie beim Zubettgehen kaum noch Luft bekam aus Angst vor dem, woran sie sich nicht erinnern konnte. Sie musste ausziehen, das wusste sie. Aber sie konnte sich nicht erinnern, warum.

»Mum! Bist du da draußen?« Sie hörte Leo nach ihr rufen, beschloss aber, ihn zu ignorieren. Das Haus war so voll, es herrschte reges Treiben, Menschen eilten geschäftig hin und her und bereiteten ihren Umzug vor. Sie kam sich wie Ungeziefer vor, das mit dem Besen nach draußen gekehrt wurde. Nach außen hin waren alle nett und höflich zu ihr, ständig wurde ihr Tee angeboten, doch es war offensichtlich, dass man sie und ihr sämtliches Hab und Gut so rasch und sicher wie nur möglich loswerden wollte. Immer wieder fragte sie Leo, wohin sie zogen, aber sie konnte sich nie an seine Antwort erinnern.

Sie drehte sich um und nahm den Weg zurück durch den Wald. Über ihrem Kopf wölbten sich die Bäume zu einem Bogen. Unter diesen Eschen musste Alice hindurchgegangen sein in der Nacht, als sie verschwand. An kalten, windigen Tagen wie heute raschelten die Bäume immer, als ob sie flüstern würden. Als versuchten sie, ihr etwas mitzuteilen. Wenn sie sie nur fragen könnte, was sie von ihrer Tochter gesehen hatten in jener Nacht. Wohin sie gegangen war, als sie im Schnee fortlief. Sicher hatten sie beobachtet, wie sie dem Nachbarssohn Bobby begegnet war, dem letzten Menschen, der Alice gesehen hatte. Bobby James. Selbst jetzt, wo ihr Gedächtnis ständig in dichtem Nebel lag, war sie sicher, dass sie diesen Namen und dieses Gesicht niemals vergessen würde.

Was war danach mit Alice passiert? Fast fünfzig Jahre später war sie der Lösung des Rätsels keinen Schritt näher gekommen. Sie wusste nur, was der Junge der Polizei berichtet hatte: dass ihre sechsjährige Tochter ihrem jungen Hund in Richtung Pfarrhaus hinterhergelaufen war. Und nie wieder gesehen wurde.

Vanessa drehte sich noch einmal zu dem alten Haus um, möglicherweise zum letzten Mal. Ihr fiel ein, dass die Planungsbesprechung am nächsten Tag stattfinden sollte – am Morgen hatte Leo davon gesprochen –, und wenn sie grünes Licht erhielten, das wusste sie, würde der Bauträger keine Zeit vergeuden und das Gebäude sofort abreißen.

Im Licht der Morgensonne hatte sie auf das heruntergekommene Gebäude hinuntergeschaut und bezweifelt, dass es viel Kraft benötigen würde. Seit der Nacht von Alfie James’ Unfall hatte niemand mehr im Pfarrhaus gewohnt – die gleiche Nacht, in der auch Alice verschwunden war. Das war vor beinahe fünfzig Jahren gewesen, und im Laufe der Zeit war das einst hübsche Cottage allmählich zur Ruine verfallen. Jetzt zog es nur noch Teenager und Umherziehende an, die sich im leeren Erdgeschoss um ein Lagerfeuer zusammendrängten, denn die eingeschlagenen Fenster und die kaputte Haustür boten wenig Schutz vor Wind oder Regen.

Sie selbst hatte das Haus schon seit Jahrzehnten nicht mehr betreten; es brachte zu viele Erinnerungen an eine Nacht zurück, die sie ihr Leben lang zu vergessen suchte. In den ersten zehn Jahren, nachdem Alice vermisst wurde, ging sie immer wieder jede Sekunde vor dem Verschwinden ihrer Tochter in Gedanken durch: was sie nicht gesehen oder nicht bemerkt hatte; was sie zu tun versäumt hatte, um für ihre Sicherheit zu sorgen. Mit der Zeit hatte es sie langsam verrückt gemacht. Jetzt konnte sie es nicht mehr ertragen, daran zu denken. Sie hatte aufgehört, sich zu quälen. Stattdessen hatte sie beschlossen, die Erinnerung an Alice auf dem Grundstück von Yew Tree Manor aufrechtzuerhalten. Auf ihren langen Spaziergängen stellte sie sich das kleine Mädchen vor, das in seinem roten Lieblingsmantel vor ihr herlief und endlose Fragen stellte, während sie lachte und hüpfte. Tief in ihrem Herzen fühlte sie, dass Alice noch lebte, irgendwo, in einer anderen Welt, an einem anderen Ort. Nur dass Vanessa diesen Ort nicht besuchen durfte. Noch nicht.

Das Pfarrhaus wurde abgerissen, darüber sollte sie genauso froh sein wie Leo. Das Haus war eine stete Erinnerung an die Familie James, die zum Ende des Ersten Weltkriegs in ihr Leben getreten und mit der ihre Familie seitdem durch viele Tragödien unauflösbar verbunden war.

Doch aus irgendeinem Grund stimmte der Gedanke an den Abriss des Hauses sie traurig, auch wenn sie es sich nicht recht erklären konnte. Es war der prägende Stempel für den Verlauf der Zeit, ein Pflaster, das abgerissen wurde, die Welt drehte sich weiter, während sie in der Vergangenheit erstarrt zurückblieb.

Als sie die andere Seite des Waldes erreichte, kam Yew Tree Manor in Sicht, und Sienna, ihre siebenjährige Enkelin, sauste auf ihrem roten Fahrrad auf sie zu. Sie war Alice so ähnlich, es war kaum auszuhalten. Nicht nur die blonden Locken, sondern ihre Unerschrockenheit und Neugier, das schelmische Funkeln in ihren grünen Augen.

»Hallo, Grandma«, rief sie. »Daddy hat dich gesucht.«

»Hat er das?«, fragte Vanessa. »Sei vorsichtig, mein Schatz, es ist glatt. Und hast du heute keine Schule?«

»Doch, Mummy zieht sich gerade an«, erwiderte das kleine Mädchen, während sie schon den Weg zum Haus hinunterfuhr.

Vanessa stieß einen tiefen Seufzer aus und fühlte sich plötzlich sehr müde. Ihre Beine waren schwer, sie war wohl zu lange draußen gewesen, deshalb begab sie sich zurück zum Haus. Als sie gerade eingetreten war und ihre Handschuhe ablegte, hörte sie Leo in seinem Arbeitszimmer mit leiser Stimme telefonieren.

Kurz darauf kam sie an dem antiken goldenen Spiegel vorbei, der von der Wand abgeschraubt worden war und nun aufrecht zu ihren Füßen stand, und erkannte, dass die ältere Dame mit den gebeugten Schultern, der zerbrechlichen Statur und dem dünnen hellgrauen Haar sie selbst war. Sie blieb stehen und wandte das Gesicht ihrem Spiegelbild zu, obwohl sie am liebsten fortgerannt wäre.

Auch als junge Frau war sie keine klassische Schönheit gewesen, aber sie war gut darin, das Beste aus sich zu machen: Sie hatte feine Gesichtszüge und ein breites Lächeln, das sie nie im Stich ließ, wenn es um die Erfüllung ihrer Wünsche ging. Megawatt, hatte Richard es genannt. Ihm war jedes Mal das Herz stehen geblieben, wie bei einem Blitzschlag, hatte er ihr bei ihrer ersten Begegnung gestanden.

Groß war sie schon immer gewesen, ihr Vater hatte ihr den Spitznamen »Bohnenstange« gegeben, wegen ihrer langen, sonnengebräunten Arme und Beine, die sie fest um seinen Rücken geschlungen hatte, wenn er sie auf langen Spaziergängen huckepack trug. Seiner Zuneigung und seinem Interesse an ihr, seinem einzigen Kind, verdankte sie ein unerschütterliches Selbstbewusstsein und eine schier unerschöpfliche positive Energie, die nie versiegt war – bis zu der Nacht, in der Alice verschwand.

Ihr dickes, langes blondes Haar war jetzt dünn, fast weiß und auf Kinnlänge geschnitten, um den spärlichen Eindruck zu kaschieren. Ihre Haut war blass, beinahe durchsichtig, und ihre Schlüsselbeine zeichneten sich unter ihrer Bluse ab. Sie starrte in den Spiegel, ihre grünen Augen erwiderten ihren finsteren Blick. In ihrer Jugend waren sie mit funkelnden Smaragden verglichen worden, doch jetzt glichen sie mehr trüben Bierflaschen. Das Alter ist grausam, Vanessa, hatte ihre Mutter sie gewarnt. Als junge Frau war es ihr so weit entfernt erschienen wie ein fremder Stern, doch jetzt war es plötzlich bei ihr angekommen.

»Die Planungsbesprechung ist morgen. Danke, ja, ich melde mich, sobald ich etwas höre. Nein, ich gehe nicht davon aus, dass es Probleme geben wird. Der Leiter der Planungsabteilung will wohl zustimmen, das heißt, es ist so gut wie getan.« Durch die halb offene Tür konnte Vanessa den Stress in der Stimme ihres Sohnes hören.

Er bemerkte sie, wenige Sekunden später hatte er das Telefonat beendet und kam, nervös und stirnrunzelnd, zu ihr in den Flur. »Geht es dir gut, Mum?«

»Mir geht’s gut, Liebling, danke.« Sie zog ihre Jacke aus. Der Garderobenständer war voller Kleidungsstücke, und als sie ihre Jacke aufhängte, fiel etwas anderes herunter.

»Das Ding wird bald umkippen«, seufzte sie. »Es wäre schön, wenn Helen ab und an aufräumen könnte.«

»Entschuldige, Mum, ich mache das.« Leo bückte sich, um den Mantel zu seinen Füßen aufzuheben.

»Du hast genug zu tun«, sagte Vanessa. »Ich weiß nicht, wie du das alles schaffst, wirklich nicht.«

»Ich komme zurecht, Mum.« Sein Blick verdüsterte sich kaum merklich. »Wo bist du hingegangen? Du warst eine Ewigkeit weg. Ich bin dir bis zum Waldrand nach, aber ich konnte dich nirgends entdecken.«

Vanessa lächelte ihn an. Leo war groß, wie sein Vater, und obwohl er stramm auf die sechzig zuging, hatte er noch den ganzen Kopf voller dichter blonder Haare, die ihm nun in die Stirn vor die zurücklächelnden grünen Augen fielen. Er hatte Richards robustes, attraktives Aussehen und wettergegerbte Haut von einem Leben an der frischen Luft, doch da endete die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn auch schon. Richard war ein ungeheuer selbstsicherer Mann gewesen, ein grimmiger Bulle, der das Leben bei den Hörnern packte und wenig Rücksicht auf das Chaos nahm, das er hinterließ. Leo andererseits machte sich immerzu Sorgen, zerbrach sich den Kopf, was andere – meist sein Vater – wohl von ihm dachten, und nahm sich alles zu Herzen. Den größten Teil seines Erwachsenenlebens hatte er damit zugebracht, das heillose Durcheinander zu entwirren, das Richard angerichtet hatte, doch seit Kurzem wusste sie, dass er das Ende der Fahnenstange erreicht hatte. Zu verkaufen war jetzt die einzige Wahl und ließ ihn mit einem Gefühl des Scheiterns zurück.

»Ich wollte nur allein sein«, sagte Vanessa. »Du solltest dir nicht so viele Sorgen um mich machen. Du hast genug zu tun, du machst dich noch kaputt.«

»Mir geht’s gut. Heute findet noch ein letztes Treffen im Dorfgemeinschaftshaus statt, und ich wollte sichergehen, dass mit dir alles okay ist, bevor ich gehe.«

Vanessas Blick wanderte durch den Flur: der überladene Garderobenständer, unzählige dreckverkrustete Wanderschuhe, der Haufen aus Hundeleinen, Mützen und Handschuhen auf dem schmutzigen schwarz-weißen Fliesenboden. Leo arbeitete unentwegt, entweder auf dem Hof oder in endlosen Sitzungen mit Architekten und Mitarbeitern des Bauamts. Seine Frau Helen hingegen schien den ganzen Tag umherzuflattern wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel. Sie zog Aufmerksamkeit auf sich, indem sie Wirbel machte, wo ihre Einmischung nicht gebraucht wurde, wohingegen sie ihre eigentlichen Aufgaben vollkommen ignorierte. Im Haus herrschte immer schreckliche Unordnung, und seine Instandhaltung wurde vernachlässigt. Helen kochte für Sienna, aber nur selten für Leo. Und während Sienna makellos sauber war, sah Leo immer ein wenig verlottert aus. Helen kommandierte Siennas Leben wie der Kapitän eines Marineschiffs, aber Yew Tree Manor, das Haus, um das sich Vanessa ihr Leben lang mit viel Liebe und Mühe gekümmert hatte, schien ihr nichts zu bedeuten. Jeden Tag schmerzte es Vanessa aufs Neue, dass Helen es offensichtlich kaum erwarten konnte, es loszuwerden, um an den Verkaufserlös heranzukommen.

Als hätten Vanessas Gedanken sie herbeigezaubert, erschien Helen im Flur, und sie fuhr zusammen.

»Hallo, Vanessa«, begrüßte ihre Schwiegertochter sie freundlich. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.« Ihr Blick fiel auf Vanessas Schuhe. »Ach du liebe Güte, du bist ja ganz durchnässt. Sicher ist dir eiskalt. Leo hat den Kamin im Wohnzimmer angemacht, wenn du dich aufwärmen möchtest.«

»Okay, danke.«

Vanessa sah Helen ein Moment zu lang an, als würde sie nach etwas suchen, einen Hinweis darauf, was sich wirklich hinter diesen durchdringenden blauen Augen verbarg. Sie sollte sich nicht unbehaglich fühlen, aber sie erinnerte Vanessa an die Maus, die es sich für den größten Teil des Jahres angewöhnt hatte, jeden Abend in ihre Küche zu kommen. Dort saß sie in der Ecke und schaute mit ihr Fernsehen, leistete ihr Gesellschaft, bis sie eines Abends so plötzlich verschwand, wie sie gekommen war. Sie hatte so getan, als würde sie auf den Bildschirm schauen, aber in Wahrheit hatte sie das Tierchen beobachtet und versucht, aus ihm schlau zu werden. Es sah so lieb und unschuldig aus, dennoch war es ständig nervös, bereit loszusausen, mit zuckenden Schnurrhaaren. Bei Helens Mausgesicht und ihrer nervösen Art war es schwer, keine Vergleiche zu ziehen.

Vanessa war sich nie richtig sicher gewesen, was Leo an Helen fand. Nicht, dass sie sie nicht mochte, aber sie wurde nicht recht warm mit ihr. Helen zeigte nie ihr wahres Gesicht, sie schien sich vor ihrem eigenen Schatten zu fürchten. Leo hätte jedes Mädchen heiraten können – alle, mit denen er sprach, schienen in seiner Gegenwart dahinzuschmelzen, und so, wie sich Vanessas Freundinnen nach ihm erkundigten, hätte wohl jede ihrer Töchter die Gelegenheit am Schopfe gepackt, ihn zu erobern – doch er hatte Helen gewählt, an der es zwar nicht viel auszusetzen gab, die jedoch im Gespräch kaum ihre Meinung behaupten konnte. Jetzt war Helen dreiundfünfzig und hatte immer noch diese kindliche Art an sich, in mancher Hinsicht schien sie verletzbarer als Sienna, mit der Helen ganz unerwartet mit Mitte vierzig schwanger geworden war. Sie hatte das verzweifelte Bedürfnis zu gefallen, ein unbeirrtes Lächeln auf den Lippen, das nie ihre traurigen Augen erreichte.

»Hast du Sienna draußen gesehen?«, fragte Helen, als sie ins Wohnzimmer ging und Vanessa ihr folgte. Helen trat zum Fenster, wo sie auf einem Couchtisch in der Ecke völlig unnütz Zeitschriften von rechts nach links räumte. Von einem unordentlichen Stapel auf einen anderen, dachte Vanessa.

»Ja, sie hat viel Spaß beim Radfahren. Aber ihr müsst los zur Schule, nicht wahr?«, fragte Vanessa und sah auf ihre Armbanduhr.

»Ich denke, Leo bringt sie auf dem Weg zu seiner Besprechung hin«, antwortete Helen.

»Vielleicht solltest du sie hinbringen, Helen. Leo wirkt sehr gestresst. Sein Arbeitspensum scheint nie weniger zu werden.«

Helen lächelte schwach und begann, die im Zimmer verstreuten Siebensachen ihrer Tochter einzusammeln und in ihrem Rucksack zu verstauen. Sienna schien das Einzige zu sein, was Helen interessierte. Nur selten ging sie unter Leute oder traf Freundinnen; nie luden Leo und sie jemanden zum Abendessen bei ihnen zu Hause ein oder gingen in den Pub. Ihre Welt drehte sich um Siennas Nachmittagsaktivitäten, Verabredungen zum Spielen und Hausaufgaben. Sie umkreiste ihre Tochter wie ein scharfäugiger Habicht und gab jedes Quäntchen Energie an sie weiter. Kein einziger von Siennas Gedanken war Helen unbekannt. Auch die meisten Nächte blieb Helen bei ihr, und Leo schlief allein. Richard wäre nicht einmal für eine Nacht damit einverstanden gewesen, ganz zu schweigen von sieben Jahren. Vielleicht war es eine Generationenfrage, aber es ging schon so, seit Sienna ein Baby war. Vanessa hatte sich oft gefragt, ob das der Grund für Leos leicht distanziertes Verhältnis zu seiner Tochter war: Sienna liebte ihren Vater abgöttisch, aber er war stets etwas zurückhaltend ihr gegenüber. Vielleicht hatte er das Gefühl, dass sie sich zwischen ihn und Helen gedrängt hatte. Er hatte immer klargemacht, dass er keine Kinder wollte, und dann hatte Helen mit fünfundvierzig plötzlich ihre Schwangerschaft verkündet. Leo war nicht unfreundlich zu Sienna, ganz und gar nicht, aber er spielte nur selten mit ihr, er schien nicht wahnsinnig entzückt von seiner Tochter und kümmerte sich auch nicht so viel um sie wie Richard damals um Alice. Andererseits war Helen so überfürsorglich, dass Leo kaum Gelegenheit hatte, mit Sienna allein zu sein.

In düsteren Momenten erkannte Vanessa, dass Eifersucht die Quelle für ihre Verärgerung über Helens obsessiven Umgang mit Sienna war. Sie hatte angenommen, dass Alice und sie eine wunderbare Beziehung gehabt hatten, aber Tatsache war, dass Helen Sienna niemals verlieren würde. Nie und nimmer. Dafür würde sie das Kind nie lange genug aus den Augen lassen. Doch vielleicht lag Helens überbehütende Art in Alices Verschwinden begründet. Helen sah an Vanessa, was der Verlust eines Kindes mit einer Mutter machte. Unbestreitbar waren bei ihnen allen in Yew Tree Manor die Nachwirkungen des Verlusts von Alice spürbar, bis zum heutigen Tag, obwohl inzwischen beinahe fünfzig Jahre vergangen waren.

»Hattest du einen schönen Spaziergang?« Mit ihrer Frage holte Helen Vanessa in die Gegenwart zurück, während sie durch das Fenster Sienna hinterherschaute.

»Ja. Ich bin zum Pfarrhaus gelaufen. Wie es aussieht, steht alles bereit, um es abzureißen.«

Langsam wandte sich Helen zu ihrer Schwiegermutter um. Sie errötete, sagte aber kein Wort.

»Es ist eine merkwürdige Vorstellung, dass diese kalte, leere Hülle eines Hauses früher einmal voller Leben war. Ich habe keine Ahnung, was aus der Familie James geworden ist – Nell und Bobby, stimmt’s? Weißt du es, Leo?«

»Was, Mum?« Leo stand in der Tür und runzelte die Stirn. »Hast du meine Autoschlüssel gesehen, Helen?«

Helen hatte ihren Blick immer noch auf Vanessa geheftet. »Hm, ich glaube, sie liegen auf dem Esstisch.«

»Schau mal unter dem Stapel Unterlagen und Zeitungen nach«, riet Vanessa. »Es würde mich nicht wundern, wenn Bobby James im Gefängnis säße. Schrecklicher Junge, er hat den Kuhstall in Brand gesteckt. Erinnerst du dich, Leo?«

»Hm, ja, vage.« Leo sah zu Helen, die ihnen den Rücken zugewandt hatte.

»Vage? Ich werde das nie vergessen. Er war fest entschlossen, die Kühe bei lebendigem Leib zu verbrennen, wirklich. Richard ist gerade noch rechtzeitig gekommen.« Vanessas Miene hatte sich verfinstert. »Wohin gehst du?«

»Hab ich dir schon gesagt, Mum, zur letzten Besprechung im Dorfgemeinschaftshaus. Morgen ist der Tag der Entscheidung.«

Helen ging mit Siennas Rucksack in der Hand an ihnen vorbei.

»Warum überlässt du es nicht Helen, Sienna zur Schule zu bringen?«, fragte Vanessa Leo. »Ich mach uns schnell ein paar Spiegeleier.«

»Ich esse nach der Besprechung etwas, Mum. Helen, könntest du Mum Frühstück machen? Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät.« Endlich fand er seine Autoschlüssel und verließ eilig das Zimmer.

Kurz darauf kam Sienna hereingelaufen. »Bye, Granny!«, sagte sie und warf sich ihrer Großmutter mit vor Kälte geröteten Wangen in die Arme.

»Bye, Liebling, hab einen wunderschönen Tag.«

»Ich sehe dich bei der Besprechung, Helen«, rief Leo durchs Haus. »Ich halte dir einen Platz frei.«

Vanessa blickte zu ihrer Schwiegertochter, die anscheinend in einer ihrer Stimmungen versunken war. Sie blieb nicht gern in Helens Nähe, wenn diese schweigsam und grüblerisch war; dann wurde sie misstrauisch, was wohl unter der Oberfläche in ihr vorgehen mochte. Vanessa war stets bewusst, dass sie Helen nicht richtig vertraute, doch da sie den Grund dafür selbst nicht kannte, fühlte sie sich schuldig und innerlich leer. »Ich werde mich ein wenig hinlegen«, sagte Vanessa. »Ich bin weiter gelaufen, als ich eigentlich wollte.«

Am Fuße der riesigen geschwungenen Treppe, die sich zum Dachgeschoss hinaufwand, blieb sie stehen. Das große georgianische Herrenhaus machte einen vernachlässigten Eindruck. Vom Rahmen des Fensters, neben dem sie stand, blätterte die Farbe ab, der Teppich auf den Treppenstufen war verblichen und abgewetzt, und einige der Fliesen unter ihren Füßen hatten Sprünge. Die Heizung war ausnahmslos auf niedrigster Stufe eingeschaltet, wenn überhaupt, sodass es immerzu kalt im Haus war.

Langsam ging sie die Treppe hinauf, jede Stufe war mit Büchern, Kleidungsstücken und Zeitungen verstellt. Ihr Blick wanderte zur Wand, von der sich schon die Tapete löste, über die großen Kunstwerke und imposanten Spiegel, bis sie oben ankam, wo ein Foto von Richard und Leo gegen die Wand gelehnt stand. Es war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme der beiden auf einem Traktor, und sie konnte sich noch genau an diesen Tag erinnern. Ein heißer Julinachmittag, Leo war etwa fünf Jahre alt gewesen, und Richard hatte ihn auf seine Knie gesetzt, damit er den Traktor lenken konnte. Leo hatte die ganze Zeit über geweint, und Richard war so ungeduldig mit ihm geworden, dass er ihm letztlich eine Ohrfeige gegeben hatte. Damals war sie mit Alice schwanger gewesen, und da Richard wochenlang Heu von den Wiesen erntete, hatte sie beschlossen, ein Picknick vorzubereiten und ihn in seiner Mittagspause zu besuchen. Leo hatte nicht mitkommen wollen, und sie hatte gewusst, dass dieser Ausflug in Tränen enden würde, aber sie machte sich dennoch auf, denn sie war einsam: das Los der Frau eines Landwirts.

Wie auch sie, hasste Leo das Leben auf dem Hof. Doch anders als sie versuchte er diese Tatsache nicht zu verstecken. Er heulte, wenn er hinfiel, er brüllte, wenn eines der Tiere ihn über den Hof jagte oder wenn er sich die Hände dreckig machte. Alice, ganz im Gegensatz dazu, liebte das Landleben ebenso sehr wie ihr Vater. Je schreckenerregender die Erfahrung, umso besser. Die beiden vergötterten sich, und Alice vergoss heiße Tränen, wenn ihr Vater ohne sie auf Abenteuer auszog. Sobald sie laufen konnte, folgte sie ihm überallhin, und wenn sie auf seinen Schultern sitzend vom Füttern der Kühe oder vom Ausbessern des Zauns zurückkam, war sie so schmutzverkrustet, dass Vanessa kaum ihr Gesicht erkennen konnte.

»Noch mal, Daddy!« war ihr Motto, wenn er sie in die Luft warf, auf eine hohe Mauer setzte oder über einen Graben springen ließ, wo sie unweigerlich hinfallen und sich wehtun würde. Während Vanessa entsetzt zurückwich, hatte Alice sich schon nach wenigen Augenblicken den Staub abgeklopft und streckte erneut die Arme aus. »Noch mal, Daddy!«

Vanessa erreichte die Tür zu ihrem Schlafzimmer, und wie immer blieb sie stehen, um sich das Porträt von Alice anzusehen. Eine Auftragsarbeit, die ihre Tochter in dem roten Kleid zeigte, das sie auch am Abend ihres Verschwindens getragen hatte.

»Mummy, warum kann ich nicht meine Latzhose anbehalten?«, fragte ein helles Stimmchen. Vanessa blickte in die grünen Augen ihrer kleinen Tochter, die sie fragend anschauten, als sie über den Flur auf sie zukam. In einer Hand schleppte Alice das rote Kleid und in der anderen eines aus blauem Satinstoff, angezogen war sie mit einer Latzhose, die vom Spielen draußen im Schnee schmutzig und nass war. Um den Mund hatte sie Flecken, die wie von Schokoladenkuchen aussahen, und ihre Wangen und Fingerspitzen waren gerötet, seit sie ins warme Haus gekommen war. Vanessa nahm die kalten Hände ihrer Tochter und drückte sie fest, rieb sie aneinander, um sie zu wärmen. Alices Silberarmband, das sie ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, mit der Initiale »A« als Anhänger, glänzte im Licht.

Vanessa betrat ihr Schlafzimmer, ging langsam zum Fenster und schaute auf die Auffahrt zum Haus hinunter. Sienna winkte ihr vom Autofenster aus zu. Vanessa winkte zurück, während der Wagen um die Ecke bog und außer Sichtweite verschwand, das Gesicht des kleinen Mädchens noch klar vor ihrem geistigen Auge.

Genau wie Alice, dachte sie. Sie war Alice so ähnlich, es war kaum zu ertragen.

Kapitel zwei

WILLOW

Donnerstag, 21. Dezember 2017

Ihre Stiefelabsätze hallten laut, als Willow James die Holzstufen hinaufstieg und über die Bühne des Dorfgemeinschaftshauses von Kingston ging, dem Austragungsort Hunderter Krippenspiele, Sommerfeste und Bingo-Abende.

Nachdem sie ihre Notizen auf dem Pult abgelegt hatte, verbarg sie die zitternden Hände hinter dem Rücken und sah hinunter auf das Meer von Gesichtern, die sie erwartungsvoll anblickten. Plötzlich war sie unsicher wegen ihres Outfits, denn sie hatte sich schicker angezogen als üblich: ein neu erworbener marineblauer Blazer und eine weiße Bluse von Zara, Skinny Jeans und braune Stiefel. Die zum Stufenbob geschnittenen Haare hatte sie sorgsam geföhnt, ihren Lieblingslippenstift von Chanel im Nude-Farbton und Lidschatten in rauchigen Grautönen als Kontrast zu ihren eisblauen Augen aufgetragen. Doch jetzt sorgte sie sich, sie könnte zu formell wirken. Bei den letzten Besprechungen mit den Dorfbewohnern war sie immer bewusst leger gekleidet gewesen, um nicht zu geschäftsmäßig rüberzukommen, doch die letzte Präsentation auf der Bühne heute rechtfertigte ihrer Meinung nach etwas Kriegsbemalung.

Der Hausmeister hatte ihr stolz erzählt, dass er als Vorbereitung für die heutige Veranstaltung über einhundert Stühle aufgestellt hatte, die jetzt alle schon besetzt waren, und immer noch drängten Neuankömmlinge durch die Tür. Peter, ein freundlich aussehender Mann mit weißem Haar und lächelnden Augen, hatte ihr auch verraten, dass er die Stellung des Hausmeisters seit fast vierzig Jahren innehatte.

Während sie auf der Bühne wartete, dass die Kakofonie von Stimmen abebbte, suchte sie das Publikum nach bekannten Gesichtern ab und entdeckte ihren Chef, Mike Scott, den Kopf über sein Handy gebeugt. Ihr Kunde, Leo Hilton – mit dem sie seit über einem Jahr an den Plänen für die fünf Millionen teure Wohnsiedlung arbeiteten –, war gerade eingetreten und lief nun den Gang entlang, um sich neben Mike zu setzen. Willows Chef war wie üblich frisch rasiert und in einen schwarzen Rollkragenpullover, sein Markenzeichen, Jeans und einen langen schwarzen Mantel gekleidet. Leo hingegen trug eine gewachste Barbourjacke, schlammverkrustete Halbstiefel und eine Baseballkappe. Der Platz auf der anderen Seite neben Leo war frei, Willow nahm an, dass er ihn für seine Ehefrau reserviert hatte. Sie hatte Helen nur ein paarmal kurz getroffen, eine stille Frau mit feinen Gesichtszügen, die nicht maßgeblich an dem Projekt beteiligt war.

Zwei Reihen dahinter saß Willows Freund Charlie mit seinen Eltern Lydia und John. Stolz strahlten sie sie an, während sie angeregt mit Freunden und Nachbarn aus Kingston plauderten, wo sie schon seit über zehn Jahren lebten. John zwinkerte ihr aufmunternd zu, und Lydia winkte vergnügt.

Schließlich herrschte Ruhe im Saal, mit Ausnahme eines kleinen schreienden Kindes hinten im Raum. Willow atmete tief durch und zwang sich zu einem Lächeln. »Hallo zusammen, und danke, dass Sie alle gekommen sind«, begann sie. Obwohl sie sich zum Mikrofon beugte, drang ihre Stimme in dem vollen Raum kaum durch.

»Wir können Sie nicht hören«, rief eine männliche Stimme von hinten, während sich unter den Dorfbewohnern erneutes Gemurmel erhob. Willow spürte, wie sie rot wurde, und ihre Nervosität wuchs, als ihr Blick dem von Mike begegnete, der sie von seinem Platz aus stirnrunzelnd betrachtete.

Sie machte sich an dem Mikrofon zu schaffen, tippte es vergeblich an, bis Leo mit einem Satz auf die Bühne sprang, sodass ihm die blonden Strähnen unter der Kappe ins Gesicht fielen, und das Gerät einschaltete.

»Bitte schön.« Er zwinkerte ihr zu.

»Oh, danke, Leo«, sagte Willow, als ein schriller Ton aus dem Mikrofon erklang.

Sie bemerkte, dass einige Frauen in den vorderen Reihen ihn bewundernd anblickten, als er mit einem kühnen Sprung in den Saal auf seinen Platz zurückkehrte. Bei jeder ihrer Begegnungen schien er eine – auf Frauen und Männer gleichermaßen – außergewöhnliche Wirkung auszuüben. Er strahlte Charme aus, aber nicht auf offensichtliche Weise: Herzlich, freundlich und liebenswürdig erinnerte er sich häufig an kleine Details aus dem Leben der Menschen, die er traf. Auch sprach er sehr offen über seine eigenen Fehler – dass er chaotisch, zerstreut und vergesslich war –, aber er scheute keine Mühe, um anderen zu helfen. Er musste dringend zum Friseur, und seine Kleidung wirkte häufig abgetragen, aber er sah extrem gut aus und erinnerte Willow an die Cowboys in den Western, die ihr Vater früher geschaut hatte. Sienna liebte ihren Vater zweifellos innig, obwohl Leo ihr keine große Zuneigung entgegenzubringen schien. Zwar war er nie böse zu ihr, aber wenn sie in einer Besprechung auf seinen Schoß kletterte und Fragen stellte, beachtete er sie kaum, und wenn sie ihn bei Besuchen auf einer der Baustellen begleitete, schickte er sie alsbald ins Haus zurück. Aber was wusste sie schon, dachte Willow. Ihre Beziehung zu ihrem Vater war nicht gerade preisverdächtig, im Grunde konnte sie sich keine Meinung erlauben.

Willow holte tief Luft und begann erneut ihre Ansprache. »Guten Morgen, ich danke Ihnen, dass Sie alle an diesem kalten Dezembermorgen hierhergekommen sind.« Ihre Stimme dröhnte, als das Mikrofon endlich ansprang. »In diesem Dorf, Kingston, das ich im vergangenen Jahr sehr gut kennengelernt habe, herrscht ein wundervoller Gemeinschaftssinn. Und dass sich so viele von Ihnen heute hinausgewagt haben, um das fertige Modell unseres aufregenden Bauvorhabens zu sehen, das wir morgen dem Bauamt präsentieren werden, ist ein weiterer Beweis dafür.«

Noch einmal atmete sie tief durch und schaute ins Publikum, wo sie die Blicke mehrerer Einheimischer auffing, mit denen sie im vergangenen Jahr zusammengearbeitet hatte. Sie hatte diesen Menschen zugehört und ihre Sorgen wegen eines erhöhten Verkehrsaufkommens durch die Neubausiedlung beschwichtigt; sie hatte sich mit ihnen zum Kaffee getroffen und ihre Befürchtungen wegen des Verlusts des Dorfgemeinschaftshauses zerstreut; und sie hatte alle Fragen und Zweifel zur Bauweise der Siedlung dem Natur- und Denkmalschutzbeauftragten in Brighton vorgetragen – zu dem sie ein enges Vertrauensverhältnis entwickelt hatte –, um verschiedene Kompromisse zu erzielen, die allen Beteiligten zusagten.

»Inzwischen sind wir am Ende des Planungsprozesses angekommen, und Sie sollen wissen, wie dankbar wir Ihnen sind, die Sie sich an uns gewendet und mit uns zusammengearbeitet haben. Wir freuen uns über alle, die – neben Mr. Leo Hilton – die Zukunftsvision teilen, die uns bei Sussex Architecture antreibt, und auf deren Unterstützung wir für dieses nachhaltige, aufregende Projekt zählen können, von dem Kingston stark profitieren wird. Viele von Ihnen sind traurig, dass dieses wunderbare Gemeinschaftshaus und das alte Pfarrhaus durch neue Bauten ersetzt werden. Sie schätzen das Althergebrachte. Aber ich versichere Ihnen, wir haben aufmerksam zugehört und möchten Ihnen heute das zukünftige Gemeindezentrum, mitsamt einer Bücherei, präsentieren, das hoffentlich bald schon der Dorfmittelpunkt sein wird.«

Willow schaltete den Projektor ein und klickte auf das erste Bild. Sie hatte nur einen Monat für den Entwurf des gesamten Projekts benötigt, das zehn Einzelhäuser und das Gemeindezentrum als Herzstück umfasste. Doch danach hatte sie zwölf Monate lang kämpfen müssen, um dorthin zu gelangen, wo sie jetzt stand: Sie hatte Stellungnahmen eingesammelt, Gutachten angehäuft, die verschiedenen Referenten für ihre Pläne gewonnen, und sie hatte – das war die schwierigste Aufgabe von allen gewesen – die Einheimischen mit ins Boot geholt, damit sie keinen Einspruch gegen den Bauantrag erhoben, der, schon gestellt, in etwas mehr als vierundzwanzig Stunden genehmigt werden sollte.

»Könnte jemand bitte das Licht ausschalten? Danke, Peter – mein Held!«, sagte Willow, als Peter am anderen Saalende den Daumen in die Höhe reckte und den Raum in Dunkelheit tauchte. »Zu Weihnachten werde ich dir wohl einen roten Mantel besorgen müssen«, fügte sie hinzu, und das Publikum lächelte anerkennend.

Willow begann, über das Bild auf der Projektorleinwand zu sprechen – es zeigte die ersten Entwürfe auf einer Seite mit dem Titel »Yew Tree Estate: eine Version wird Wirklichkeit«. In Gedanken kehrte sie zu dem Tag zurück, als Mike sie in sein Büro gerufen und ihr die Leitung ihres ersten großen Projekts angeboten hatte. Seit fast fünf Jahren schon versuchte sie, sich im Job zu beweisen, die meiste Zeit hatte sie am Schreibtisch die Entwürfe anderer Architekten gezeichnet, nur selten war sie zu Baustellenvisiten oder Planungsbesprechungen geladen worden. Die ganze Zeit lang hatte sie den Wunsch gehabt, ihre eigenen Bauten zu entwerfen, und niemals die Gelegenheit dazu bekommen, nun übertrug man ihr plötzlich ein fünf Millionen Pfund teures Projekt von der ersten groben Skizze an.

»Nun, das wird keine leichte Aufgabe, Willow«, hatte Mike gesagt und sich zu ihr vorgebeugt. »Denn wir reißen nicht nur ein denkmalgeschütztes georgianisches Herrenhaus nieder, um Platz für die neuen Wohnhäuser zu schaffen, nein, auch das Dorfgemeinschaftshaus und weitere Bauten müssen weichen, um die Straßenführung zu optimieren.« Er hatte mit seinem Kugelschreiber so lange auf seine Schreibtischunterlage geklopft, bis das Papier Risse bekam. »Dieses Haus ist sehr wichtig für das Denkmalerhaltungsgebiet, doch es liegt mitten im Gelände, wir können nicht drumherum bauen. Es steht groß und imposant mitten im Dorf, und das Herz der Einheimischen hängt sehr daran. Du musst also ein neues Gebäude entwerfen, das besser aussieht als das derzeitige. Dann brauchen wir einen Denkmalschutzbeauftragten, der bestätigt, dass unser Entwurf das Gebiet sowohl verschönert als auch bewahrt, und außerdem noch Umweltschutzspezialisten, die offiziell erklären, wie grün die Gegend wird.«

Während Mike weitersprach, war allmählich die Erkenntnis in ihr erwacht, dass das Haus, von dem er sprach, das Herzstück dieses Projekts, ihr erschreckend vertraut war. In Windeseile hatte sich ihre Hochstimmung in Angst gewandelt, und ein brennendes Gefühl stieg ihr den Nacken hoch.

»Absolut entscheidend ist die Zustimmung aus der Bevölkerung, dass das existierende Gebäude ein Schandfleck ist. Hier kannst du zeigen, was du draufhast. Darüber hinaus musst du natürlich noch einen Baustatiker ausfindig machen, der das Haus für baufällig erklärt, das wird nicht einfach.«

»Du sprichst von Yew Tree Manor?«, fragte sie ihn mit weit aufgerissenen Augen.

»Ach, schön, du kennst es. Dann ist dir klar, womit wir es zu tun haben.« Mit beiden Händen strich er sich den langen Pony aus dem Gesicht und setzte sich im Stuhl zurück.

»Warum will Leo Hilton das Haus abreißen? Es ist seit Generationen im Besitz seiner Familie. Lebt seine Mutter noch?«, fragte Willow, unfähig, ihr Entsetzen zu verbergen.

Mikes Miene verfinsterte sich. »Ich denke, über Leo Hiltons Mutter sollten wir uns zu diesem Zeitpunkt nicht den Kopf zerbrechen. Er hat erwähnt, dass es ihr nicht gut geht und er mit allen Vollmachten ausgestattet ist. Das allein zählt. Du klingst, als würdest du die Familie kennen.«

»Oh, nein. Nein. Die Eltern meines Freundes leben in Kingston, sie haben Yew Tree Manor mal erwähnt. Die Familie Hilton ist dort gut bekannt.« Sie errötete.

»Ist doch toll, wenn deine Schwiegereltern in Kingston wohnen, dann können sie uns helfen, die Unterstützung der Einwohner zu bekommen. Aber wenn das Projekt ein Problem für dich ist, kann ich es Jim anbieten. Ich dachte, du wärst völlig aus dem Häuschen.«

Die Frage lag ihr auf der Zungenspitze, ob das alte Pfarrhaus, das Zuhause ihres Vaters in seinen ersten dreizehn Lebensjahren, auch abgerissen werden sollte, doch das hätte zu viel Argwohn geweckt. Sie würde es schon bald herausfinden. Einen Moment lang überlegte sie, ob Leo Hilton sich im Büro direkt nach ihr erkundigt hatte, aber sie war sich nicht sicher, ob er überhaupt von ihrer Existenz wusste, geschweige denn von ihrem Job. Und selbst wenn, warum sollte er den Kontakt zu ihr suchen?

Während ihr Chef sie mit zusammengekniffenen Augen durchdringend ansah, und seine Finger auf dem Stuhl klopften, sehnte sie sich mit jeder Faser ihres Herzens danach, das Projekt abzulehnen. Ihre Gedanken rasten angesichts der Situation, die sich ihr bot: eine Chance, sich nach den Jahren des Studiums, in denen sie Schulden angehäuft hatte, zu beweisen. Selbst als sie endlich ihren Abschluss in Architektur in der Tasche gehabt hatte, war es schwierig gewesen, in einer von Männern dominierten Welt ernst genommen zu werden. Jetzt wurde ihr plötzlich ein Projekt auf dem Silbertablett serviert, von dem sie zu Beginn ihrer Berufszeit nur hatte träumen können, aber mit dem Haken, dass sie mit den Hiltons arbeiten musste – der Familie, die das Leben ihres Vaters zerstört hatte.

»Ich bin völlig aus dem Häuschen, danke dir, Mike«, sagte sie schließlich. »Ich glaube, ich bin nur gerade etwas überwältigt. Das kam ziemlich unerwartet.«

»Stimmt«, bemerkte er nachdenklich. »Nun, das Angebot sollte nicht so unerwartet für dich kommen. Du hast hart gearbeitet, Willow, und wir denken, dass du dieser Aufgabe gewachsen bist, aber wenn nicht, dann sag es mir gleich.«

»Ich bin der Sache gewachsen, absolut«, hatte sie erwidert und in Gedanken das Gespräch, das sie mit ihrem Vater würde führen müssen, beiseitegeschoben. Ein Gespräch, das sie ein Jahr später immer noch nicht geführt hatte – und jetzt, wo das Projekt beinahe abgeschlossen war, hoffte sie, es gänzlich vermeiden zu können.

Doch während es ihr gelungen war, ihren Vater vollends aus ihren Gedanken zu verbannen, hatte sich jemand anderes hineingeschlichen.

Das große ungelöste Geheimnis um die vermisste Alice Hilton, hatten die Zeitungen damals getitelt. Die sechsjährige Alice, Leo Hiltons kleine Schwester, die sich im Jahr 1969 von der Silvesterparty ihrer Eltern in Yew Tree Manor fortgestohlen hatte. Ein kleines Mädchen, das seinen jungen Hund im Schnee gesucht hatte und vor seinem Verschwinden in dieser Nacht einem älteren Jungen begegnet war – Bobby James, Willows Vater.

Unzählige Male hatte er der Polizei gegenüber erklärt, dass er nicht wisse, was mit Alice passiert sei, doch man fand sein Taschentuch voller Blutflecken, und auch heute noch, beinahe fünfzig Jahre später, hegte die Polizei – und Vanessa Hilton – den Verdacht, dass er etwas mit Alices Verschwinden zu tun hatte. Im Laufe der Jahre hatte Willow herausgefunden, dass ihr Vater der Polizei zu jener Zeit kein Unbekannter gewesen war, er hatte bereits Schwierigkeiten bekommen, weil er den Kuhstall der Hiltons in Brand gesteckt haben sollte. Sie glaubte an einen Unfall, doch Bobby, zu einer Erklärung gedrängt, hatte dichtgemacht, wie immer.

Die Polizei hatte drei Tage und Nächte lang versucht, ein Geständnis zu erpressen, bis er schließlich ausrastete, auf den Beamten losging, der ihn verhörte, und einen Stuhl gegen das Fenster des Verhörraums schleuderte. Danach wurde er in eine Jugendstrafanstalt geschickt, wo er täglich von Wächtern und Mitinsassen verprügelt und misshandelt wurde, bis man ihn drei Jahre später endlich entließ.

Die Szene auf der Polizeiwache hatte Willow so klar vor Augen, als wäre sie selbst dabei gewesen. Sie wusste, dass ihr Vater Alice nichts angetan hatte, aber wenn er hartnäckig schwieg und jedes Wort verweigerte, konnte sein Schweigen leicht als Schuldeingeständnis interpretiert werden. In jungen Jahren hatte auch sie unzählige Male mit diesem Charakterzug zu kämpfen gehabt, wenn ihr Vater es rundheraus ablehnte, über die Vergangenheit zu sprechen, egal, wie sehr sie ihn auch darum bat. Irgendwann hatte sie es aufgegeben.