Die verlorene Frau - Emily Gunnis - E-Book
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Die verlorene Frau E-Book

Emily Gunnis

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Beschreibung

1960, Seaview Cottage: Die dreizehnjährige Rebecca und ihre Mutter leiden unter dem gewalttätigen Vater. In einer stürmischen Nacht pocht jemand an die Tür des abgelegenen Cottages. Wenig später sterben beide Eltern, doch die Umstände ihres Todes werden nie aufgeklärt.

2014, Chichester: Eine junge Mutter verschwindet spurlos mit ihrem todkranken Baby. Ihre Schwester Iris, eine Journalistin, soll sie so schnell wie möglich finden. Sie bittet ihre Mutter Rebecca um Hilfe – die ihr nie von der schicksalhaften Nacht vor über fünfzig Jahren erzählt hat. Doch nur mit dieser erschütternden Wahrheit kann es Iris gelingen, das Baby zu retten ...

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Das Buch

1960, Seaview Cottage: Die dreizehnjährige Rebecca und ihre Mutter leiden unter dem gewalttätigen Vater. In einer stürmischen Nacht pocht jemand an die Tür des abgelegenen Cottages. Wenig später sterben beide Eltern eines gewaltsamen Todes, die genauen Umstände werden nie aufgeklärt. Rebecca bleibt traumatisiert zurück.

2014, Chichester: Rebeccas erwachsene Tochter Jessie bekommt ein Baby. Doch sie ist nach der schweren Geburt überfordert, verzweifelt und in großer Sorge um das kranke Kind. Obwohl das Neugeborene dringend medizinische Versorgung braucht, verschwindet sie plötzlich spurlos mit ihm. Ihre Schwester Iris, eine Journalistin, setzt alle Hebel in Bewegung, um das Baby zu finden. Dafür begibt sie sich auch auf Spurensuche in Seaview Cottage. Ihre Mutter Rebecca hat ihren Töchtern nie von der schicksalhaften Nacht vor über fünfzig Jahren erzählt. Aber nur wenn dieses Geheimnis gelüftet wird, kann es Rettung für das Kind geben.

Die Autorin

Emily Gunnis arbeitete lange beim Fernsehen, unter anderem als erfolgreiche Drehbuchautorin. Mit ihrem Debutroman »Das Haus der Verlassenen« gelang ihr auf Anhieb ein internationaler Bestseller. Die Tochter der internationalen Bestsellerautorin Penny Vincenzi lebt mit ihrer Familie im südenglischen Sussex.

EMILY GUNNIS

Die

verlorene

Frau

ROMAN

Aus dem Englischen

von Carola Fischer

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

THELOSTCHILD bei Headline Review,

an imprint of Headline Publishing Group, UK

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 by Emily Gunnis

Copyright © 2020 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München,

unter Verwendung der Motive von © Trevillion (Terry Bidgood),

arcangel (Russ Dixon) und shutterstock

(Nejron Photo, Helen Hotson, LaMiaFotografia, Evannovostro)

Redaktion: Angelika Lieke

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-26072-9V002

www.heyne-verlag.de

Für Steven,

meinen Ehemann, meine Liebe, mein Leben,

der stets nach Höherem strebt.

Ich wusste nicht, dass ich verloren war,

bis ich dir begegnet bin.

Denn stets ist es so, dass die Liebe ihre eigene Tiefe

nicht kennt – bis zur Stunde der Trennung.

KHALILGIBRAN

Prolog

Samstag, 19. November 1960

»Bitte lassen Sie mich kurz hinausgehen, Sir. Mir ist nicht gut.«

Rebecca Waterhouse blickte über den Tisch zu dem Polizisten mit der Drahtgestellbrille, der ihr nicht erlaubte, den Verhörraum zu verlassen, in dem sie sich schon seit zwei Stunden befand.

Detective Inspector Gibbs nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, dann blies er den dichten grauen Rauch in das stickige Zimmer.

Rebecca blickte auf ihre Hände hinunter: Ihr rechter Handrücken war mit eingetrockneten Spritzern des Bluts ihrer Mutter übersät, die sie nun mit den Fingernägeln abzukratzen begann. Sie trug immer noch das weiße Nachthemd, in dem sie geschlafen hatte. Blutspuren zogen sich am Saum entlang. Sie wollte es sich vom Leib reißen, in die Badewanne steigen, im Wasser versinken und nie wieder auftauchen.

»Wir sind fast fertig, es geht nur noch um ein paar Details. Ich will sichergehen, dass ich alles richtig verstanden habe, bevor deine Aussage getippt wird.« Seine schwarzen Augen sahen sie weiter unverwandt an, während er die Hand nach vorn streckte und mit seinem nikotingelben Zeigefinger den Zigarettenstummel zerdrückte. »Ich hole dir ein Glas Wasser.«

Als er aufstand, schabte sein Stuhl über den Fliesenboden und machte dabei ein kreischendes Geräusch, das sie zusammenfahren ließ. Rebecca zog die kratzige Wolldecke um ihren Körper. Sie zitterte, und ihr war kalt, so furchtbar kalt.

DI Gibbs ließ krachend die Tür hinter sich zufallen. Rebeccas Augen brannten, als sie zur Uhr blickte: vier Uhr früh. So lange war sie noch nie aufgeblieben. Manchmal versteckten Harvey und sie sich spätabends im Bombenkeller, um einem Wutanfall ihres Vaters zu entkommen, doch gewöhnlich wurde seine Sehnsucht nach dem whiskyberauschten Vergessen gegen Mitternacht so stark, dass er bis zur Besinnungslosigkeit trank.

Wenn das Brüllen begann, machte sie Harvey von ihrem Zimmer aus mit einer Taschenlampe, die er ihr extra dafür gegeben hatte, Zeichen. Kurz darauf kam er über das Getreidefeld zu ihr gerannt und öffnete die Luke zum Bombenkeller unterhalb von Seaview Cottage. Zu diesem Zeitpunkt war sie meist schon durch die Falltür im Schrank unter der Treppe in den Schutzraum gelangt. Eine kleine unterirdische Höhle, wo ihr Vater Vorräte an Konserven, Büchern und Kerzen hortete, für den Fall, dass der deutsche Feind zurückkehrte und seine Familie niedermetzeln wollte. Die Paranoia ihres Vaters, die ihrer Mutter und ihr das Leben zur Hölle machte, verschaffte ihr unwillentlich eine Fluchtmöglichkeit.

Rebecca saß da wie erstarrt und beobachtete den Sekundenzeiger der Uhr, der sie mit jedem Vorwärtsrucken weiter von dem Moment entfernte, als sie ihre Mutter zum letzten Mal lebend gesehen hatte. Sie hatte ihr Bild noch vor Augen: ihr Mund, der nach Luft rang, ihre schönen Lippen, die sie so oft geküsst hatten, ihre erbleichende Haut, dann ihr letzter Atemzug, mit dem sie ihr Leben aushauchte.

Die Stille in dem verrauchten Raum pochte laut in Rebeccas Ohren. Ihr Körper war erschöpft, doch ihr Gehirn spulte in ihrem Inneren immer wieder die Szene ab, die sie vorgefunden hatte, als sie nach den gellenden Schreien ihrer Mutter aus ihrem Schlafzimmer ins Wohnzimmer von Seaview Cottage gestürzt war: ihre Mutter, die auf dem hellen Teppich lag, den sie so oft auf den sonnenbeschienenen Stufen vor dem Haus ausgeklopft hatte.

Ein Teppich, den das Blut, das aus ihren Ohren und ihrer Nase gelaufen war, jetzt rot gefärbt hatte. Ihre Augen, die von den Tritten der schweren schwarzen Stiefel ihres Vaters so zugeschwollen waren, dass sie ihre Tochter in der Tür nicht sehen konnte.

»Also, Rebecca Waterhouse.« Sie schreckte hoch, als DI Gibbs zur Tür hereinkam. »Gehen wir das Ganze noch ein letztes Mal durch.«

Bereits jetzt schien es in einem anderen Leben gewesen zu sein, dass sie in ihrem Bett gelegen hatte, wenige Stunden, bevor der von Wittering Bay heranziehende Sturm gegen ihr Fenster peitschte. Sie hatte sich noch eine Steppdecke aus dem Schrank geholt und trotzdem vor Kälte am ganzen Körper gezittert.

Sie stellte sich vor, wie ihr Vater stöhnend das Kaminfeuer entfachte und vor sich hin murmelte, wenn er wegen der Asche husten musste. Ihre Mutter sah zu ihm hinüber, ihr glattes braunes Haar im Nacken zum Knoten zusammengenommen, die müden Beine auf dem Hocker vor sich ausgestreckt, und wartete still darauf, dass sich seine Stimmung mit den aufsteigenden Flammen aufhellte. Sobald das Feuer brannte, nahm ihr Vater einen Schlüssel aus der Schreibtischschublade, ging zu dem verschlossenen Kabinettschrank und holte seine Luger-Pistole heraus. Anschließend nahm er sie, wie jeden Montag, mit äußerster Sorgfalt auseinander und reinigte die Holzgriffe mit Leinöl, wobei ihre Mutter ihn ängstlich beobachtete. »Wir dürfen nicht alle so gutgläubig sein wie du, Harriet«, sagte er dann. »Ein Mann muss in der Lage sein, seine Familie zu verteidigen.«

Rebecca hatte die Anspannung durch den Fußboden ihres Zimmers hindurch gespürt. Es herrschte Totenstille, so wie immer, wenn ihr Vater im Grübeln versank. Der Tag war schwer gewesen, seit ihre Eltern ihretwegen zum Schuldirektor gebeten wurden. Ihr Vater hatte ihr knapp mitgeteilt, dass sie Seaview Cottage früh am nächsten Morgen verlassen würden und dass sie Harvey Roberts niemals wiedersähe. Danach hatte er kein Wort mehr an sie gerichtet.

Der Gedanke an Harvey katapultierte sie zurück in die Gegenwart. »Bitte, ich möchte Harvey sehen«, sagte sie jetzt in flehentlichem Ton.

»Alles zu seiner Zeit. Harvey Roberts hat uns ziemlich viel Ärger bereitet, deshalb haben wir ihn in eine Zelle gesteckt.«

Die Übelkeit stieg wieder in ihr auf, sie konnte Gibbs nicht in ihrer Nähe ertragen. Er erinnerte sie an eine der Ratten, die zwischen den Verschlägen der Lämmer im Stall von Seaview Farm umherhuschten. Seine Zähne waren gelb und spitz; die Enden seines dicken schwarzen Schnurrbarts zuckten, wenn er sprach.

Rebecca schluckte den aufsteigenden Schwall Tränen hinunter. Kurz nachdem sie in den Verhörraum gebracht worden war, hatte sie Harvey draußen auf dem Gang nach ihr rufen gehört. Sie hatte mitbekommen, wie sich mehrere Polizisten gegenseitig darin übertrafen, Harvey lauthals zur Ruhe aufzufordern, und ihm drohten, dass sie ihn über Nacht einsperren würden. Er hatte an die Tür gehämmert, die sie beide voneinander trennte, aber dann, als die Polizisten ihn fortzerrten, war seine Stimme schwächer geworden.

»Und was ist mit Harveys Vater? Ich bin erst dreizehn. Sollte nicht ein Erwachsener bei mir sein?« Rebeccas Stimme zitterte, und DI Gibbs starrte sie wütend an.

»Ted Roberts ist betrunken – im Moment kennt er nicht einmal seinen eigenen Namen, er wird dir also nicht helfen können, so leid es mir tut. Wir rufen bei der Fürsorge an, sobald sie am Morgen im Büro sind. Die prüfen dann, ob du in Pflege kommst.«

»Was soll das heißen?« Panik breitete sich in ihr aus.

Gibbs sah sie weiter durchdringend an. »Das heißt, dass du in die Obhut der Behörden kommst und eine Sozialarbeiterin die Verantwortung für dich übernimmt.«

»Aber ich möchte bei Ted und Harvey leben.« Rebecca konnte die Tränen nicht länger unterdrücken. »Bitte lassen Sie mich zur Toilette gehen. Mir ist wirklich nicht gut.«

»Also, je eher du klar und deutlich sagst, was passiert ist, desto schneller sind wir hier fertig.«

»Aber ich habe alles gesagt, klar und deutlich. Bitte zwingen Sie mich nicht, das alles zu wiederholen.«

Sie wollte sich nicht noch einmal an die erhobene Stimme ihres Vaters erinnern, die sogar den um das Haus tobenden Sturm übertönte. An das Brüllen, das durch die Bodendielen drang, und an den Klang der Stimme ihrer Mutter, die beruhigend auf ihn einsprach. Sie sah ihre Mutter zitternd in ihrem Sessel vor sich, in offenkundiger Angst vor dem, was kommen würde. Unten im Wohnzimmer wurde etwas zerschmettert. Rebeccas Herz pochte schmerzhaft, während der Wind heulte und der Regen gegen die Fensterscheibe prasselte, und sie zog sich die Bettdecke über den Kopf.

»Nun, diesmal werde ich mitschreiben, dann kann die Sekretärin deine Aussage tippen, sobald ihre Schicht beginnt.« Er seufzte und stieß Rauch aus. »Erzähl mir noch mal, was hat deine Mutter an diesem Abend getan, dass dein Vater so zornig wurde?«

Rebecca wischte sich genervt eine Träne aus den Augen. In ihrem Kopf hämmerte es: Sie konnte diesem Mann nicht begreiflich machen, was es bedeutete, mit einem Menschen wie ihrem Vater zusammenzuleben. »Sie hat gar nichts getan. Wir mussten nichts tun. Es genügte, dass ich einen Stift nicht weggepackt oder meine Mutter ein Handtuch nicht richtig zusammengelegt hatte. Mein Vater leidet an einer chronischen Kriegsneurose. Er wurde in der Psychiatrischen Klinik Greenways behandelt, aber er hat sich nie vollständig erholt. Er ist sehr jähzornig, und das leiseste Geräusch, der geringste Ärger kann dazu führen, dass das Trauma des Krieges zurückkommt.«

»Aber heute ist etwas passiert, was ihn wütend gemacht hat, oder? Du hast gesagt, dass du die Schule geschwänzt hattest.« Der Detective musterte sie eindringlich, den Stift gezückt.

Rebecca schloss die Augen und dachte an den vorherigen Tag, als sie noch ein anderer Mensch war, ein Mädchen mit einer Familie, das im Gang vor dem Büro des Schuldirektors saß und auf das Wirbelmuster des orangefarbenen Teppichs starrte, während drinnen laute Stimmen zu hören waren.

»Dieser junge Roberts hat einen schlechten Einfluss auf sie.« Der Schuldirektor sprach mit energischer Stimme, und Rebecca stellte sich vor, wie er mit auf dem Rücken verschränkten Händen auf und ab lief, während ihre Eltern in seinem Büro saßen.

»Sie wohnen auf dem Nachbarhof, und Ted Roberts hat meiner Frau Arbeit gegeben, als ich in Greenways in Behandlung war.« Die Stimme ihres Vaters war leise, wie immer außerhalb ihres abgelegenen Zuhauses. »Rebecca und Harvey sind folglich zusammen aufgewachsen, und leider war ich nicht da, um diese ungesunde Verbindung zu beenden.«

»Nun, Mr. Waterhouse, Sie können sich auf Ihren Instinkt verlassen. Ich dachte zwar, dass Rebecca sich höhere Ziele gesteckt hätte, als Bauersfrau zu werden, doch ich fürchte, dass sich diese Freundschaft mit dem jungen Roberts nachteilig auf ihre Schulleistungen auswirkt – ihre Noten sind schlechter geworden.«

»Ihre Noten?«, fragte ihre Mutter ängstlich nach. »Die Schule ist ihr sehr wichtig – sie möchte Ärztin werden.« Sie hielt abrupt inne, als würde sie sich ihres plötzlichen Ausbruchs schämen.

»Jetzt ist es zu spät, sich darüber aufzuregen. Ich habe dich vor diesen Leuten gewarnt, Harriet.«

»Na ja, ich habe schon öfter festgestellt, dass es mit dem Ehrgeiz junger Mädchen vorbei ist, sobald sie sich verlieben«, sagte der Schuldirektor in nüchternem Tonfall.

»Verlieben?« Die Stimme ihres Vaters wurde unwillkürlich lauter. »Meine Güte, sie ist dreizehn.«

»Dürfte ich Sie fragen, ob es bei Ihnen zu Hause irgendwelche Schwierigkeiten gegeben hat?«, fragte der Schuldirektor in vorsichtigem Ton.

»Nein, nicht, dass ich wüsste. Fällt dir etwas ein, Harriet?« Rebecca hielt den Atem an. Die beiden wussten sehr gut, warum sie an diesem Tag die Schule geschwänzt hatte, warum sie Harvey unbedingt hatte sehen wollen. Ihr Vater brachte sie fort, fort von Seaview und von Harvey, dem Ort und dem Menschen, die sie zum Überleben brauchte.

Ihre Noten waren nicht wegen Harvey schlechter geworden, sondern weil sie von diesem Leben in ständiger Angst erschöpft war. Ihre Albträume endeten erst, wenn der Tag begann und sie erneut einen Eiertanz aufführen musste. Denn sie lebte in einem Haus, in dem sie Angst hatte, ein Zimmer zu betreten, weil ihr Vater sich darin befinden könnte. Bis zu ihrem elften Lebensjahr hatte sie ins Bett gemacht, aus Angst, sie könnte ihm nachts auf dem Weg zur Toilette zufällig begegnen. Manchmal war der Anblick ihres Vaters, der ihre Mutter schlug, beinahe eine Erleichterung, denn dann war die lange Zeit des angespannten Wartens auf den Moment, in dem er handgreiflich wurde, endlich vorbei. Und jedes Mal rechtfertigte ihre Mutter sein Verhalten aufs Neue, brachte Entschuldigungen vor, tupfte ihren Mund ab und versuchte sich über der Küchenspüle das Blut aus dem Gesicht zu wischen.

»Was hat dich dazu bewegt, die Schule heute ohne Erlaubnis zu verlassen?« Gibbs’ Stimme holte sie wieder in die Gegenwart zurück.

»Ich wollte mich von Harvey verabschieden«, antwortete Rebecca leise. Sie zitterte jetzt wie Espenlaub, ihr ganzer Körper befand sich im Schockzustand.

»Weil du wegziehen würdest?« Gibbs wartete auf ihr bejahendes Nicken, bevor er die Worte aufs Papier kritzelte.

»Er hat in der Psychiatrischen Klinik Greenways ausgeholfen. Sie haben einen Hof, auf dem die Patienten arbeiten. Unter der Woche übernachten er und sein Vater im Gasthaus des Orts, daher wusste ich, dass ich ihn vor meiner Abreise zu Hause nicht mehr sehen würde.« Rebecca schloss die Augen und atmete sehr langsam aus, damit die Übelkeit nachließ.

»Du bist verknallt, nicht wahr?«

»Ted und Harvey sind für mich wie eine Familie. Sie haben meine Mutter aufgenommen, als ich noch ein Baby war und mein Vater nach Greenways musste. Ohne sie hätten wir auf der Straße gesessen.«

Detective Inspector Gibbs nickte bedächtig. »Und wie bist du dorthin gekommen, nachdem du dich heimlich aus der Schule gestohlen hattest?«

»Ich habe den Bus genommen.«

Ein schneidender Schmerz fuhr durch Rebeccas Unterleib. Die Monatsbinde in ihrer Unterhose reizte ihre Haut, und sie wusste, dass sie sie dringend wechseln musste, aber sie hatte nichts weiter bei sich als das Nachthemd, das sie am Leib trug. Sie hasste, was ihr Körper ihr antat – das Blut, der Schmerz, nicht nur im Bauch, sondern auch im Rücken und in den Beinen. Sie hasste die Haare zwischen ihren Schenkeln, ihre wachsenden Brüste, die immerzu wehtaten. Sie wollte nicht, dass sich ihr Körper veränderte, sie brauchte das alles nicht. Ihr war bewusst, dass die Aussicht, zu heiraten und Kinder zu bekommen, die den anderen Mädchen ihrer Klasse ein fröhliches Kichern entlockte, sie selbst mit eisigem Schrecken erfüllte.

»Heirate bloß nicht, Rebecca, das bringt nichts«, hatte ihre Mutter ihr eines Abends zugeflüstert, als sie beide Kartoffeln für das Abendessen schälten. »Ich habe Geld für dich gespart, damit du Medizin studieren kannst.« Sie blickte durch die Küchentür zu Jacob, der im Wohnzimmer die Zeitung las, dann richtete sie ihre Augen wieder auf Rebecca. »Du solltest niemandem von dem Konto erzählen. Versprich mir, dass du das Studium beendest, was auch immer passiert.« Sie fuhr zusammen, als ihre Mutter ganz hinten aus der Küchentischschublade ein Postsparbuch hervorholte und es ihr in die Hand drückte. Rebecca meinte, jeden Moment in Tränen ausbrechen zu müssen. Alle Anspannung, die ständig im Haus herrschte, lastete auf ihr. »Versprich es mir.«

»Ich verspreche es.«

Alles hatte an dem Tag begonnen, als er aus der Klinik entlassen wurde und sie zu Hause in seine dunklen, grüblerischen Augen geblickt hatte, die sie scharf musterten, ein gezwungenes Lächeln in seinem von Narben gezeichneten Gesicht.

»Warum, Mummy? Warum schreit er dich an und tut dir weh?«, hatte sie gefragt. Dieser Fremde verursachte ihr Bauchschmerzen, die ihr sonst so sonniges, furchtloses Gemüt trübten. Jetzt folgte ihr eine schwarze Wolke auf all ihren Wegen. Sie hasste es, mit ihm allein zu sein, und versteckte sich hinter den Beinen ihrer Mutter, sobald er, übernächtigt und übellaunig, aus dem Schlafzimmer kam.

»In Zukunft wird es zu Hause etwas anders laufen, Kleines. Daddy hat im Krieg gekämpft und ist jetzt ein bisschen traurig und verängstigt. Man sollte für die Menschen, die man liebt, da sein, auch wenn sie nicht so lieb und freundlich sind, wie man es sich wünscht. Bald wird es ihm wieder besser gehen.«

Im Alter von sechs Jahren war es mit dem Leben, wie sie es bis dahin gekannt hatte, schlagartig vorbei. Über Nacht wurde aus ihrem sorgenfreien, lebensfrohen Zuhause ein Gefängnis. Helles Lachen, der Geruch der Meeresbrise durch das offene Fenster, die Sandhäufchen auf dem Küchenfußboden, die Musik aus dem Radio. Sobald er durch die Tür kam, floh das Herz ihrer Mutter nach draußen.

»Und was geschah, nachdem du in der Klinik angekommen warst?« DI Gibbs beugte sich vor und griff nach einem Becher mit kalt gewordenem Kaffee.

Rebecca dachte an den vorigen Nachmittag zurück. Beißende Kälte war ihr entgegengeschlagen, als sie aus dem Bus gestiegen war, wie eine Warnung, besser umzukehren. Mit Schmetterlingen im Bauch lief sie in Richtung des dreistöckigen Gebäudes im gotischen Stil am Rand von Chichester. Das hohe schmiedeeiserne Tor erinnerte auf bedrohliche Weise daran, dass es, sobald man das Gelände betreten hatte, fast unmöglich war, wieder hinauszugelangen.

Kurz nachdem das Tor krachend hinter ihr zugefallen war, kam ein ordentlich rasierter Mann auf sie zu und stellte sich ihr in den Weg, den Blick von ihr abgewandt.

»Wann bist du geboren?«, fragte er und verlagerte dabei sein Gewicht von einem Bein aufs andere.

»Nur keine Scheu. Sag George dein Geburtsdatum, und er wird dir den Wochentag nennen, an dem du geboren wurdest.« Erleichtert drehte sie sich um und sah Harvey, der sie in seiner schlammverschmutzten Latzhose anlächelte, während sein blondes Haar vor den blauen Augen flatterte. »Okay. Ich bin am achten Januar 1947 geboren.«

Zu ihrer Überraschung stieß George, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, aus: »Mittwoch.« Er starrte sie an und fügte hinzu: »Du bist das Mädchen aus dem Gemälde.«

»Das ist unglaublich. Wie macht er das?«, sagte Rebecca. »Und von welchem Gemälde spricht er?«, fügte sie stirnrunzelnd hinzu.

Harvey zuckte die Achseln. »George hat einen messerscharfen Verstand, aber er muss in der Anstalt bleiben. Er könnte außerhalb dieser Mauern nicht überleben.«

»Es ist nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte – ich dachte, alle wären weggesperrt.« Sie versuchte, die Patienten nicht anzustarren, doch ihre Neugier war größer.

»Na ja, die Ärzte meinen, dass die Patienten, die du hier siehst, sich körperlich betätigen sollen, doch die schweren Fälle, die sich selbst oder andere verletzen könnten, sind auf der geschlossenen Station B, dort oben.« Harvey deutete zu einer Reihe Rundbogenfenster im Hauptgebäude, die auf sie herabzublicken schienen.

»Also, was machst du hier? Solltest du nicht in der Schule sein?« Harvey sah, dass sie vor Kälte zitterte, und führte sie fort aus dem kalten Wind durch eine Tür, hinter der sich ein scheinbar endloser Korridor erstreckte, der direkt einem Albtraum zu entstammen schien. Spannung lag in der Luft, und sie hörte Geräusche, die wie eine Frauenstimme klangen, die um ihr Leben schrie.

»Ich habe Harvey gefunden und ihm erzählt, dass wir weggehen würden«, sagte Rebecca nun leise zu Detective Inspector Gibbs.

»Und was hat er gesagt?« Er schaute von seinen Notizen auf und blickte sie durchdringend an.

Rebecca zögerte. »Er hat gesagt, dass er am Abend zum Seaview Cottage kommen und wir beide zusammen fortlaufen würden.«

Sie konnte ihn in Gedanken vor sich sehen, wie er sie mit seinen blauen Augen musterte. »Aber Seaview Farm ist dein Zuhause. Dein Vater wäre ohne dich verloren«, wandte sie ein.

»Er wird es verkraften. Er weiß, wie viel du … wie viel du mir bedeutest.« Harvey stieß mit der Schuhspitze gegen einen Erdklumpen.

»Wo sollen wir denn hingehen? Und was ist mit der Schule? Wenn ich mit dir gehe, werde ich nie einen Abschluss machen und genauso enden wie meine Mutter.« Tränen der Angst stiegen ihr in die Augen.

»Und was hast du auf diesen Vorschlag erwidert?« Gibbs lehnte sich vor und blickte sie gespannt an, während sein Raucheratem den ganzen Sauerstoff im Raum aufzusaugen schien.

»Ich habe ihm gesagt, dass ich meine Mutter nicht alleinlassen könnte.« Erneut lief eine Träne ihre Wange hinab. Sie hatte Angst zu weinen, denn wenn sie einmal anfing, würde sie nie mehr aufhören können.

»Du bist also weggegangen?«, fragte Kommissar Gibbs.

Rebecca nickte.

»Aber als wir heute Abend zu euch nach Hause kamen, hast du gesagt, du hättest jemanden an der Tür gehört, bevor du nach unten gegangen bist und deinen Vater und deine Mutter gefunden hast. Und diese Person, die du gehört hast, gab Anlass zu dem Streit, der dann zum Tod deiner Eltern führte. Glaubst du, dass diese Person Harvey war?«

»Nein.« Sie konnte immer noch die Fenster ihres Zimmers in dem unerbittlichen Sturm scheppern hören, als würden sie gleich zerbersten, und das ratternde Geräusch des Türklopfers, das der heulende Wind verursacht haben musste.

»Wie kannst du dir so sicher sein?«

»Weil niemand im Haus war, als ich nach unten kam. Ich muss mir das eingebildet haben. Mein Vater und meine Mutter stritten sich die ganze Zeit. Es war furchtbar stürmisch, der Wind rüttelte an den Fenstern, ich konnte nicht gut hören.«

»Aber du hast gesagt, dass du deinen Vater mit jemandem sprechen gehört hast und dass ein Streit ausbrach. Es wäre doch einleuchtend, dass diese Person Harvey war, wenn er gesagt hatte, dass er dich abholen würde?« Gibbs beugte sich weiter vor, und Rebecca spürte, wie sich ihr ganzer Körper anspannte und ihr Magen sich wieder zusammenkrampfte.

»Nein.« Rebecca schüttelte den Kopf. Sie musste irgendwie hier rauskommen. Sie bekam keine Luft mehr. Noch immer hatte sie den beißenden Rauch aus der Luger-Pistole in der Nase.

»Warum?«

»Weil Harvey meine sterbende Mutter niemals auf dem Boden liegen gelassen hätte. Er hat sie geliebt.«

»Könnte er deinen Vater erschossen haben, um deine Mutter zu retten?«

»Nein.«

»Woher willst du das wissen?«

»Weil ich es einfach weiß. Er könnte nichts dergleichen tun. Bitte, Sir, ich muss mich gleich übergeben.«

»Nun, Glück für ihn, dass sein Vater ein Trinker ist. Es gibt also Zeugen, die aussagen, dass die beiden heute Abend im King’s Head waren.«

»Warum stellen Sie mir dann all diese Fragen? Warum lassen Sie mich nicht endlich gehen? Bitte, mir geht es wirklich nicht gut.«

Rebecca spürte, wie ihr Mageninhalt durch ihre Speiseröhre nach oben schoss.

»Weil ich mir nicht vollkommen sicher bin, dass du mir die Wahrheit sagst, junges Fräulein. Ich glaube, dass du mir etwas verheimlichst. Du weißt, wer an der Tür gewesen sein könnte.«

Die Tränen begannen zu fließen. Panik erfasste sie, dass sie an dem Erbrochenen in ihrer Kehle ersticken würde. »Bitte, Sir, es war niemand da, als ich ins Wohnzimmer kam. Es war niemand sonst im Haus.«

»Und dein Vater hatte eine Pistole?«

Rebecca nickte und legte sich die Hand vor den Mund, als die Schreie dieser Nacht in ihren Ohren widerhallten.

Sie hatte den Kopf unter die Bettdecke gesteckt, als der Sturm heftiger wurde, wie ein Echo der Szene unten im Wohnzimmer. Schreie, zersplitterndes Glas, der Zorn ihres Vaters, der dumpf in ihren Adern dröhnte, als wäre es ihr eigener. Sie lag im Bett, gelähmt vor Unentschlossenheit, bis die Schreie ihrer Mutter durch die Bodendielen drangen und sie zwangen zu handeln. »Mutter!« Sie hatte laut nach ihr gerufen, als sie ihre Zimmertür öffnete und die Treppe hinunter zu dem schrecklichen Anblick im Wohnzimmer stürzte.

Ihr Mund füllte sich mit Erbrochenem, und als es zwischen den Fingern vor ihrem Mund hindurchrann und die Säure in ihrem Magen brannte, würgte sie und krümmte sich zusammen.

Detective Inspector Gibbs sprang auf, aber es war zu spät. Das Erbrochene breitete sich aus: auf seinen Notizen, dem Tisch, dem Fußboden. Kleine Stückchen des Abendessens, das sie mit ihrer Mutter zusammen eingenommen hatte – der letzten gemeinsamen Mahlzeit, während der niemand ein Wort gesagt hatte –, bedeckten die glänzenden Schuhe des Kriminalkommissars. Das letzte bisschen Luft im Raum war aufgebraucht, das Verhör nahm ein plötzliches Ende.

Kapitel eins

HARVEY

Mittwoch, 19. November 2014, 9 Uhr

Harvey Roberts ging zum Küchenfenster seines Bauernhauses und blickte über den eisbedeckten Hof auf die Hügel von South Downs. Er war erst seit ein paar Stunden auf den Beinen, doch er konnte vor Erschöpfung kaum laufen, nachdem er zwei Tage lang die Hand seiner in den Wehen liegenden Tochter gehalten hatte. Als er endlich zu Hause in seinem Bett gelegen hatte, hatte er vor Sorge um Jessie kaum schlafen können. Er nahm einen Schluck Kaffee und beschloss, Kraft für eine weitere lange Schicht im St. Dunstan’s Hospital zu sammeln.

Es waren ungemein anstrengende Tage gewesen. Die Wehen hatten bei seiner Tochter drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin eingesetzt, und da Jessies Freund Adam in Nigeria auf einem Fotoshooting war, war es Harveys Telefon, das an einem Sonntag um zwei Uhr morgens klingelte. Er kleidete sich schnell an und fuhr nach Chichester, wo in den Straßen noch die letzten Samstagabend-Kneipenbesucher auf dem Nachhauseweg waren. Als Jessie ihm die Tür zu der schicken viktorianischen Dreizimmerwohnung öffnete, war sie bereits angezogen.

»Ich glaube, die Wehen haben begonnen, Dad«, sagte sie und sah dabei weniger wie eine neununddreißigjährige Feuilletonistin aus denn wie das kleine Mädchen, das er trösten musste, weil es schlecht geträumt hatte. Ihr schulterlanges Haar mit den hellen Strähnchen, normalerweise zu einem glatten Bob geföhnt, war zum Pferdeschwanz zusammengebunden, ihre porzellanzarte Haut war ungeschminkt, und eine Schildpattbrille rahmte ihre Augen.

Sie standen neben den großen Schiebefenstern in Jessies Wohnzimmer und blickten einander erschrocken an. »Ich habe noch nicht aufgehört zu arbeiten«, sagte Jessie schließlich. »Das Kinderzimmer ist nicht fertig, und es ist kein Essen im Haus.« Ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen. »Adam wird erst in einer Woche wieder zurück sein. Ich kann ihn nicht erreichen. Ich schaffe das nicht ohne ihn.«

»Alles in Ordnung, Liebling«, sagte Harvey. »Ich werde ihn ausfindig machen. Er wird in null Komma nichts hier sein – vielleicht ist es nur falscher Alarm.« Instinktiv hatte er die Worte ausgesprochen, die sie hören wollte, auch wenn sie vielleicht nicht der Wahrheit entsprachen. »Ich denke, wir sollten dich ins Krankenhaus bringen, damit du dich untersuchen lassen kannst. Hast du eine Tasche gepackt?«

»Es ist alles schiefgegangen, Dad. Wir haben noch nicht einmal den Geburtspool aufgestellt.« Jessie sah zu dem großen Karton im Flur. »Ich habe gerade meine Hebamme angerufen. Sie hat gesagt, weil die Wehen so früh eingesetzt haben, muss ich in die Klinik. Wir hatten alles geplant – wir wollten eine Hausgeburt, wir wollten nicht ins Krankenhaus.«

Von dem Moment an schien sie sich in einem Zustand großer Angst zu befinden, aus dem sie sich nicht mehr befreien konnte. Er legte den Arm um ihre Schulter und versprach ihr, dass alles gut werde, sie solle sich einfach aufs Bett setzen und ihm mit dem Finger zeigen, wo sich ihre Sachen befänden, dann würde er alles zusammenpacken.

Doch alles, was er anpackte, war falsch: Er holte Kleider und Strickjacken hervor statt Schlafanzüge und Jogginghosen, griff nach dem iPad statt nach dem Geburtsplan, den Adam und sie in stundenlanger Arbeit erstellt hatten und den Harvey nun nicht finden konnte. Jessie hatte starke Schmerzen und konnte nicht still sitzen. Sie lief unruhig hin und her und antwortete schroff auf seine Fragen, bis sie schließlich alles beisammenhatten, was Jessie benötigte.

»Was ist mit deiner Zahnbürste?«

»Nimm sie«, brachte sie gerade noch heraus, bevor sie sich mit einer Hand an der Wand abstützte und laute Schmerzensschreie ausstieß. Schnell lief Harvey ins Badezimmer und griff nach der Zahnbürste. Das Schränkchen stand offen, und sein Blick fiel auf die Schachtel Citalopram, ein Antidepressivum, das Jessie seit dem Tod ihrer Stiefmutter vor zwei Jahren einnahm.

»Die werfe ich auch in deine Tasche, einverstanden?«, fragte er, als er aus dem Badezimmer kam.

Jessie schüttelte den Kopf. »Ich habe damit aufgehört – meine Hebamme hat gesagt, ich könnte das Baby nicht stillen, wenn ich das Medikament einnehme.«

Harvey zog sich der Magen zusammen. Beide hatten eine Zeit tiefer Trauer mit vielen Auf und Abs erlebt, und Jessie hatte diese zwei Jahre nur mithilfe einer psychotherapeutischen Behandlung und der Einnahme des Antidepressivums durchgestanden, das sich als ihr Rettungsanker herausgestellt hatte. »Okay«, erwiderte er kurz, denn er wusste, dass es für eine Diskussion zu spät war. »Hat deine Hebamme mit dir über Flaschenernährung gesprochen? Dir hat es nicht geschadet.« Harvey versuchte seine Wut mit einem Lächeln zu überspielen.

»Nein, Dad«, entgegnete Jessie brüsk. »Ich möchte stillen. Das ist das Beste für das Baby. Ich hatte schon länger daran gedacht, das Medikament abzusetzen. Adam meint, ich würde es nicht mehr brauchen.«

Harvey stand vor seiner Tochter und schwieg verblüfft. Er hatte das Gefühl, dass Adam keine Vorstellung von der tiefen Niedergeschlagenheit hatte, die Jessie nach dem Tod von Liz gequält hatte, der Frau, die seit ihren Babytagen wie eine Mutter für sie gesorgt hatte. Und dass Adam sie ermutigt hatte, das Antidepressivum abzusetzen, wenn der Geburtstermin nahte und er beruflich unterwegs war, bestätigte Harvey nur in seiner Vermutung.

Doch gerade als er Jessie bitten wollte, noch einmal darüber nachzudenken, konnte er Liz’ Hand auf seinem Arm spüren, die ihn zurückhielt. Also schwieg er, denn ohne die lenkende Hand seiner Frau fühlte er sich hilflos.

Seit dem Moment, in dem Jessie ihm die Haustür geöffnet hatte, fühlte er, wie der Tod seiner Ehefrau wieder zu ihm zurückkam. Es war, als ob man ihm die Nachricht ein zweites Mal überbrachte. Er wusste, dass Jessie ebenso empfand: Wut über ihrer beider Verlust hing in der Luft; Wut, dass sie ohne Liz zurechtkommen mussten, dass er, wie immer, der Aufgabe nicht gewachsen war.

Als sie schweigend die Wohnung verließen, ging ihm durch den Kopf, dass Jessie ihrer Stiefmutter von der Überlegung, das Medikament abzusetzen, erzählt hätte. Sie hätte das Thema bei einer Tasse Tee angesprochen oder während eines Sonntagsspaziergangs, und Liz hätte einen Weg gefunden, Jessie ihr Vorhaben auszureden. Dank Citalopram konnte Jessie vergessen, wie schlecht es ihr gegangen war – sie hatte heftige Angstattacken und Zwangsstörungen gehabt, bevor sie ein Jahr nach Liz’ Tod Adam kennengelernt hatte. Jetzt war die – möglicherweise katastrophale – Entscheidung gefallen, und Harvey konnte nichts mehr dagegen tun.

»Auauaaua!«, schrie Jessie, als sie an dem am Fahrstuhl angebrachten »Außer Betrieb«-Schild vorbeikam und mit unsicheren Schritten begann, die Treppe hinunterzusteigen. Bei jeder Schmerzwelle blieb sie stehen und umklammerte fest das hölzerne Treppengeländer, bis sie es schließlich die drei Stockwerke hinunter zu Harveys Auto geschafft hatte.

Während Harvey seiner Tochter immer noch hilflos zusah, dachte er an den Abend zurück, als er das Gespräch auf einen möglichen Umzug gebracht hatte. Die beiden hatten ihn in Adams makellose Wohnung zum Abendessen eingeladen. Jessie war dort einzogen, als sie schwanger wurde, nur ein halbes Jahr, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Jessie und Adam hatten ihm mitgeteilt, dass sie ein Mädchen bekommen würden, und sie umarmten einander und beglückwünschten sich mit Tränen in den Augen. Dann fragte er, ob sie sich nicht nach einem Haus umschauen wollten, damit Jessie sich nicht mit dem Kinderwagen mühen müsse, wenn der Aufzug mal wieder streikte, und sie beide nicht weiterhin dem Lärm des Nachtlebens der City von Chichester ausgesetzt seien. Er bot an, in dem Fall noch einmal eine Hypothek aufzunehmen, um ihnen finanziell unter die Arme zu greifen.

Jessie und Adam blickten einander an, und innerhalb von Sekunden hatte Adam sein Angebot bereits abgelehnt. Sie liebten ihre Wohnung, sagte er, während Jessie sich auf dem cremefarbenen Sofa mit den farblich passenden, perfekt arrangierten Kissen an ihn kuschelte. Sie wollten nicht eines von den Paaren sein, die ihr geliebtes Wohnviertel verließen und später darunter litten. Das Baby würde sich problemlos in ihr Leben einfügen, setzte Adam hinzu. Jessie wollte baldmöglichst wieder arbeiten; es würde sich nichts ändern. Jessie sah Adam lächelnd an. Es war das gleiche Lächeln, das sie als Kind Harvey geschenkt hatte, wenn er sie nach ihrem Tag in der Schule gefragt und sie versucht hatte, ihm zu verheimlichen, dass der Klassenbully sie wieder einmal geärgert hatte.

Harvey blickte sich in der eleganten Wohnung um. Alles wirkte perfekt. Sämtliche Oberflächen waren weiß, und an den ebenfalls weiß gestrichenen Wänden hingen vergrößerte und gerahmte Fotos, die Adam während seiner Arbeit als Reisefotograf geschossen hatte. Alles in dieser Wohnung war ebenso sorgfältig geplant und arrangiert wie das Leben von Adam und Jessie. Harvey konnte es sich nicht vorstellen: Babybrei, Chaos, Schlafentzug. Adam war beruflich viel auf Reisen, und wenn die beiden zu Hause waren, ließen sie es sich gut gehen: Sie gingen ins Restaurant oder shoppen oder saßen am Strand. Und wenn sie tatsächlich einmal anfingen, aneinander herumzunörgeln, und die Situation ernst wurde, war es schon wieder Zeit, dass Adam sich zu entlegenen Orten dieser Erde aufmachte. Dann stürzte sich Jessie wieder in ihren Job, was bedeutete, dass sie an Tagen, wenn eine Veranstaltung oder ein Geschäftsessen anstanden, zwölf Stunden lang arbeitete. Harvey hatte den Eindruck, dass sie niemals eine Pause machte, jeden Tag bestieg sie mit ihrem Babybauch den Zug nach Victoria Station und kehrte erst abends wieder zurück. Adam und Jessie hatten sich kaum bemüht, ein wenig innezuhalten und sich auf das bevorstehende Ereignis einzulassen, das ihr Leben für immer verändern würde.

Er hatte sich für die beiden freuen wollen, doch seit Jessie und Adam ihm von dem Baby erzählt hatten, machte sich Niedergeschlagenheit in ihm breit. Sie war noch heftiger als die tiefe Traurigkeit, die ihn bei dem Gedanken befiel, dass Liz nicht da sein würde, wenn das Baby zur Welt kam. Es war mehr eine düstere Vorahnung, die zunahm, je größer Jessies Babybauch wurde.

Er hatte das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, und er befürchtete, dass es mit Rebecca zusammenhing – das Baby war auch ihre Enkelin, dennoch hatte niemand es gewagt, das Offensichtliche auszusprechen.

Adam hatte Jessies leibliche Mutter nie kennengelernt. Obwohl Harvey Jessie mehrmals zu einem Treffen mit Rebecca ermutigt hatte, hatte sie sich nicht dazu entschließen können. Bis letzten Freitag, als Jessie zu Harveys Entsetzen erzählt hatte, dass sie bei ihrer Mutter gewesen war, hatte diese nichts von dem Baby gewusst. Das Treffen war zweifellos unglücklich verlaufen, und Harvey hatte sich noch mehr Sorgen über Jessies wachsende Angst gemacht.

»Ich will sie nicht in meinem Leben haben, Dad, es ist zu schwierig. Ich will sie nicht in der Nähe haben, wenn das Baby geboren wird.« Jessies Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, und Harvey hatte große Besorgnis in seinem Inneren verspürt.

Nun stellte Harvey seinen Kaffeebecher ab und zog seine Gummistiefel an. Direkt nach dem Aufstehen hatte er geduscht und sich fertig gemacht, um mit den Hunden zu einem erfrischenden Lauf in der eiskalten Morgenbrandung von Wittering Bay aufzubrechen, dem Strand seiner Kindheit, wo er jetzt nur noch im Winter hinfuhr, da er das Verkehrschaos, das dort in den Sommermonaten herrschte, nicht ertrug. Er hatte schon Mühe, mit den zwei Bussen klarzukommen, die im November die schmale Straße versperrten, und in seinem übermüdeten Zustand fiel es ihm an diesem Morgen schwer, seine Wut darüber zu unterdrücken, dass er für einen ihm entgegenkommenden Bus zurücksetzen musste.

Das Morgenlicht fiel auf das »Zu verkaufen«-Schild, als er die Wegmündung erreichte, die zum Seaview Cottage führte. Soweit er wusste, befand sich Seaview Farm immer noch im Besitz der Familie, die Haus und Hof vor beinahe vierzig Jahren von ihm gekauft hatte.

Mit der Zeit hatten die Menschen vergessen, was dort geschehen war, doch in den ersten Wochen und Monaten nach dem schrecklichen Ereignis hatte es kein anderes Gesprächsthema gegeben. »So furchtbar«, raunten sie und steckten aufgeregt die Köpfe zusammen. »Der Coroner meinte, er habe an Kriegsneurose gelitten. Habt ihr das schon gehört? Ihre kleine Tochter, Rebecca, war zu der Zeit im Haus. Hat sie beide gefunden. Grauenhaft.«

Doch das Trauma jener Nacht lastete bis heute auf Rebecca und ihm; es zeigte sich am deutlichsten in der zerrütteten Beziehung zwischen Rebecca und Jessie, ihrer gemeinsamen Tochter.

Während er die Hunde fütterte, reflektierte der Spiegel neben der Hintertür seinen jämmerlichen Zustand: Mit seinen grauen, ungekämmten Haaren, den schweren Tränensäcken unter den Augen und seiner fahlen Haut sah er keinen Tag jünger als neunundsechzig aus. Doch dann brach die Sonne durch die Wolken und schien ihm ins Gesicht, als er über den Hof ging. Er spürte die Wärme auf der Haut, einen Moment lang entspannte er sich, und ein Lächeln zeichnete sich in seinen Mundwinkeln ab.

Er hatte eine Enkeltochter. Sie war Adam in Babygröße, mit seiner hohen Stirn und seinen dunklen Augen, doch sie war wunderschön. Und er war die ganze Zeit über dabei gewesen, zwei Tage und zwei Nächte lang.

Jessie hatte sich zu lange gegen eine Periduralanästhesie gesträubt. Während Harvey ihr über den Rücken strich und bei jeder heftigen Wehe die Hand hielt, sagte sie, dass sie Adam versprochen habe, das Kind auf natürliche Weise zur Welt zu bringen, und dass sie ihn stolz machen wolle. Verzweifelt versuchte Harvey, sie von der PDA zu überzeugen, doch sie wollte nichts davon hören. Als sie die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht hatte und nicht noch mehr Schmerzen verkraften konnte, war es zu spät für eine Anästhesie. Sie musste zu pressen beginnen, doch sie hatte seit mehr als achtundvierzig Stunden weder gegessen noch geschlafen, und es fehlte ihr die Kraft. Das Baby steckte im Geburtskanal fest, und Harvey sah entsetzt zu, wie die Ärzte den schlaffen, kleinen Körper mit scheinbar roher Gewalt aus dem Unterleib seiner Mutter saugten, schnitten, zogen.

Jessie gab dem Baby den Namen Elizabeth Rose. Er hatte damit gerechnet – darauf gehofft –, dass ihr zweiter Vorname Elizabeth sein würde, doch dass es nach Monaten, in denen Jessie den Namen ihrer Stiefmutter kaum ausgesprochen hatte, der Rufname ihrer neugeborenen Tochter sein sollte, war aufwühlend und deutete unmissverständlich auf die Gefühle hin, die unter der Oberfläche brodelten.

Harvey öffnete das Vorhängeschloss an der Tür zu seinem Schuppen und drückte den eingefrorenen Griff auf. Er brauchte dringend eine Beschäftigung, bis er wieder ins Krankenhaus zu Jessie fahren konnte, und klaubte auf der mit Spinnweben überzogenen Werkbank die Werkzeuge zusammen, die er benötigte, um das Tor zur Auffahrt zu reparieren. Ein gebrochener Lichtstrahl fiel durch das kleine Fenster auf Liz’ Gartenhandschuhe. Langsam hob er sie auf, zwängte seine langen Finger hinein und legte sich die Hände vors Gesicht, wie Liz es immer getan hatte. Er schloss die Augen.

Reiß dich zusammen, alter Mann. Er konnte ihre Stimme so deutlich hören wie das Bellen der Hunde im Hof. Du hast das gut gemacht bis jetzt, aber du darfst nicht nachlassen. Jessie braucht dich. Deine Enkeltochter braucht dich.

Und so war es. Als er kurz nach Elizabeths Geburt am Bett seiner Tochter gesessen hatte, schien die Hebamme Jessie in eine Stressspirale hineinzuziehen, weil das Baby nicht an der Brust saugte. Es war vier Uhr nachmittags, und allmählich wurde es dunkel. Auf Jessie kam die dritte Nacht in Folge ohne Schlaf zu, als die Hebamme es für angebracht hielt, von ihren »ungeeigneten Brustwarzen« zu sprechen.

»Du musst versuchen, sie zu stillen, Jessica.« Die Hebamme mit dem kurzen schwarzen Haar und Zwiebelatem war einen Moment zuvor mit Elizabeth im Arm neben ihr aufgetaucht, während Jessies Dammschnitt noch genäht wurde.

Jessica blickte ihren Vater mit weit aufgerissenen Augen an. »Wann kommt Adam endlich her, Dad? Es wird schon dunkel, und du darfst heute Nacht nicht bei mir bleiben, das ist nur den Vätern der Babys erlaubt. Er muss sich um die Kleine kümmern. Ich habe Angst, dass jemand sie mir heute Nacht wegnimmt.« In ihren Augen stand der gleiche gequälte Ausdruck wie damals in Rebeccas Augen, die gleiche Überzeugung, dass jemand es darauf abgesehen hatte, ihrem Baby etwas anzutun.

»Sein Flug geht morgen früh. Morgen Abend wird er hier sein, Liebling«, sagte er sanft und verheimlichte ihr, dass er gerade zum vierten Mal Adams Auftraggeber angerufen und nach dessen Verbleib gefragt hatte.

»Mach dir nicht so viele Gedanken über heute Nacht, Schatz«, sagte er. »Ich hoffe, dass du bald nach Hause gehen darfst. Ich bleibe solange ich darf bei dir und Elizabeth, bis Adam wieder da ist.«

»Warum mag sie mich nicht? Warum trinkt sie nicht?« Jessie, totenbleich im Gesicht, blickte die Hebamme fragend an.

»Jessica, auch wenn es schwierig ist, musst du es unbedingt weiterhin versuchen, das ist wichtig. Das Baby muss innerhalb der ersten Stunde trinken, sonst könnte das schädliche Folgen haben. Wenn du sie ein wenig näher zu dir ziehst, genau so, und ihr Köpfchen hältst, dann ist es für euch beide bequemer. Fühlt sich das besser an?«, fragte die Hebamme, während das Baby aus vollem Halse schrie und Jessie Tränen über die Wangen liefen.

»Könnten wir der Kleinen nicht erst einmal ein Fläschchen geben, um ihren Hunger zu stillen?«, schlug Harvey vor und versuchte, seine Wut zu unterdrücken, doch die Hebamme gab nicht nach.

Sie warf ihm einen strengen Blick zu. »Das Baby braucht das Kolostrum der Mutter«, erwiderte sie kurz angebunden, als Harvey sie aus dem Zimmer auf den Gang hinausdirigierte. »Es könnte sein, dass es einen Grund dafür gibt, dass die Kleine nicht richtig trinkt.«

»Und was ist mit Jessies Bedürfnissen? Wissen Sie, dass meine Tochter an Depressionen leidet und dass sie ihr Citalopram abgesetzt hat, weil ihre Hebamme von der Idee besessen ist, sie müsse ihr Baby stillen?«

»Ich verstehe, dass Sie sich Sorgen machen, Mr. Roberts, aber wir sind über Jessicas Medikation auf dem Laufenden und beobachten das sehr genau. Leider gibt es nur ein kleines Zeitfenster, in dem das Baby mit Kolostrum versorgt werden kann. Später wird Jessie genügend Zeit haben, sich auszuruhen.«

»Sie wird sterben, Dad.« Jessies Augen waren weit aufgerissen, als er zurück ins Krankenzimmer kam. Er war nur einen Moment draußen an der frischen Luft gewesen, um sich zu beruhigen. Jessie schien verstört und hatte das Essen, das auf dem Tisch neben ihrem Bett abgestellt war, nicht angerührt. Seine Tochter verhielt sich genauso wie damals Rebecca – in ihren Augen flackerte die gleiche Panik, sie litt an der gleichen Schlaflosigkeit. Es war, als würde er immer wieder den gleichen Albtraum durchleben.

»Sie wird nicht sterben, Liebling«, sagte er und hob Elizabeth aus Jessies Armen, woraufhin sie sofort zu schreien aufhörte, da sie nun nicht mehr an Jessies Brust gepresst wurde. Ein Poster zum Thema Stillen starrte auf sie beide herab: Die Brust ist das Beste. Das Bild zeigte eine Mutter, die glücklich lächelnd auf ihr Baby hinabblickte, während es an ihrer Brust trank. Muttermilch verringert das Risiko des Babys, an Ohrenentzündungen zu erkranken. Muttermilch verringert das Risiko des Babys, Durchfall zu bekommen. Muttermilch verringert das Risiko des Babys, an Lungenentzündung zu erkranken.

Er ging mit seiner Enkeltochter in den Armen zum Fenster und ließ seinen Blick über Chichester schweifen, als eine Gruppe lärmender, Luftballons schwenkender Besucher zum Nachbarbett ging.

»Es ist so laut hier, ich möchte wirklich lieber nach Hause.« Jessie fing an zu weinen, und er versuchte unbeholfen, ihre Hand zu halten, während Elizabeth in seiner Armbeuge lag.

»Versuch mal, dich jetzt ein wenig auszuruhen«, sagte er und gab seiner Stimme einen festen Klang. »Leg dich hin und schließ die Augen. Ich werde mit den Ärzten sprechen und fragen, wann du entlassen wirst.«

»Versprich mir, dass du sie nicht einen Moment aus den Augen lässt, damit du es mitbekommst, wenn sie nicht mehr atmen sollte. Versprich es mir, Dad.« Jessies Fingerknöchel wurden weiß, als sie ihre Fingernägel in seinem Arm vergrub.

»Ich verspreche es, mein Liebling.« Doch während Jessie zu schlafen versuchte, kam eine junge Ärztin zu ihm und berichtete, dass man dem Baby an der Ferse Blut entnommen habe, weil es nicht andockte und nicht an der Brust der Mutter trank. Der Bluttest hatte gezeigt, dass die Zahl der weißen Blutkörperchen bei Elizabeth erhöht war.

»Und was bedeutet das?«, fuhr Harvey die junge Frau an.

»Das sind Anzeichen für eine Infektion. Wir behandeln das vorerst mit einem Breitband-Antibiotikum, bis wir Zeit haben, eine Blutkultur anzulegen. Das dauert vierundzwanzig Stunden. Sobald die Ergebnisse vorliegen, werden wir wissen, ob wir das richtige Antibiotikum verabreicht haben und ob sie es noch weiter bekommen muss.«

»Wird sie wieder gesund?« Harvey stand mit Elizabeth im Arm auf.

Die Ärztin nickte. »Ich vermute, dass es sich um Streptokokken der Gruppe B handelt, diese Infektion tritt häufig auf. Sie wird sieben Tage lang ein Antibiotikum benötigen.«

»Müssen die beiden hier im Krankenhaus bleiben? Oder könnte Elizabeth das Antibiotikum auch zu Hause bekommen? Meine Tochter braucht unbedingt Ruhe, damit sie sich erholen kann.«

Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Wir werden dem Baby jetzt gleich einen Zugang legen, damit das Antibiotikum intravenös verabreicht werden kann. Es tut mir leid, aber die Behandlung muss vollständig abgeschlossen sein, bevor Ihre Tochter das Krankenhaus verlassen kann, sonst könnte sich der Zustand des Babys innerhalb kürzester Zeit ernsthaft verschlechtern.«

Er versuchte sie davon abzuhalten, sagte ihr, dass er Jessie versprochen habe, ihr Baby nicht aus den Augen zu lassen. Doch die Ärztin bestand darauf, Elizabeth mitzunehmen. Und während Jessie endlich in einen unruhigen Schlaf gefallen war, legte Harvey seine Enkelin widerstrebend in ihr Bettchen und sah zu, wie sie fortgebracht wurde. Er hoffte, dass Jessie weiterschlafen würde, vielleicht sogar, bis Elizabeth wieder zurückgebracht würde, doch auf der Station war es so laut, dass Jessie nach wenigen Minuten wieder erwachte. Sie blickte ihn an, sah, dass er Elizabeth nicht mehr im Arm hielt, und richtete ihre Augen dann auf den Platz, an dem eigentlich das Babybettchen stehen sollte.

»Sie ist tot, nicht wahr?«, brachte sie panisch keuchend hervor, setzte sich auf und versuchte, ihren geschwächten Körper aus dem Bett zu hieven.

»Liebling, es geht ihr gut. Die Schwester hat sie mitgenommen, weil sie ein Antibiotikum benötigt. Bitte, Jessie, reg dich nicht auf.«

»Antibiotikum? Weshalb? Wo ist sie?« Jessie war binnen Sekunden hysterisch geworden und verharrte in diesem Zustand, bis er einen Pfleger herbeiholte, der sie in einem Rollstuhl zu Elizabeth brachte. Dann standen sie neben ihrem Bettchen und sahen zu, wie zwei Kinderärzte eine halbe Stunde lang versuchten, eine Vene in Elizabeths winzigen Händen für die Punktion zu finden. Die ganze Zeit über schrie die Kleine wie am Spieß.

Danach hatte Harvey den Eindruck, dass Jessie sich vollkommen in sich selbst zurückzog. Sie aß nichts, sie konnte nicht schlafen, und sie ließ niemanden an ihre Tochter heran.

»Sie versuchen sie zu vergiften, Dad. Das ist keine Medizin, sie tun ihr weh.«

»Schatz, das würden sie nie tun.«

»Ich möchte mit ihr nach Hause. Ich will nicht hier sein. Ich will nicht, dass sie dieses Zeugs in ihre kleinen Adern pumpen. Wir wissen nicht, was das ist. Bitte, Dad, ich will hier raus.«

»Das kann ich nicht zulassen, Süße, du bist noch nicht entlassen worden. Ich werde so lange bleiben, wie es erlaubt ist, und morgen wird Adam bestimmt hier sein. Ehe du dichs versiehst, wirst du nach Hause gehen dürfen.«

»Bitte, Dad, sie bringen sie um. Du musst mich nach Hause bringen, bevor man sie mir wieder wegnimmt. Es geht ihr nicht gut – siehst du denn nicht, was sie ihr antun? Sie ist mein Baby. Warum kannst du uns nicht nach Hause bringen, wenn das mein ausdrücklicher Wunsch ist? Ich hasse es hier.«

»Liebling, wir würden eine Menge Schwierigkeiten bekommen, wenn wir das Krankenhaus jetzt verlassen würden. Elizabeth braucht dieses Antibiotikum. Wenn die Behandlung abgeschlossen ist, kannst du mit ihr nach Hause gehen. Es sind doch nur ein paar Tage.«

Ihr Gespräch setzte sich in diesem Stil fort, drehte sich im Kreis, während die erste Nacht im Leben der kleinen Elizabeth anbrach. Er blieb bis acht Uhr abends an Jessies Bett sitzen und versuchte sie zu beruhigen, dann war die Besuchszeit vorüber. Nachdem er den fahrigen, überarbeiteten Hebammen das Versprechen abgenommen hatte, dass sie Jessie genau im Auge behielten, verließ er das Krankenhaus. Man hatte ihm noch mitgeteilt, dass bald ein Einzelzimmer frei würde, wo Jessie mehr Ruhe bekäme, doch auch diese Nachricht hatte das Gefühl drohenden Unheils, das ihn auf seinem Nachhauseweg überfiel, nicht vertreiben können.

Als er nun den Hof zu seinem Haus überquerte, sah er einen Polizeiwagen vor seinem Grundstück halten.

Er blieb wie angewurzelt stehen und wünschte sich, er könnte die Zeit anhalten. Hundert Möglichkeiten, was Jessie passiert sein könnte, liefen vor seinem inneren Auge ab, doch er wusste sicher, dass die Polizei ihretwegen da war. Eine Frau und ein Mann stiegen aus dem Wagen, öffneten das kaputte Tor und kamen auf ihn zu.

»Harvey Roberts?« Harvey nickte dem großen Mann mit dem langen, schmalen Gesicht zu, der ihn angesprochen hatte. »Ich bin DC Paterson, und das hier ist meine Kollegin DC Galt von der Kriminalpolizei Brighton.«

»Was ist los?« Harveys Kehle fühlte sich trocken an. Die Worte steckten fest, und er wollte sie nicht herauslassen.

»Wir möchten uns mit Ihnen über Ihre Tochter Jessica Roberts unterhalten.«

»Was ist mit ihr? Was ist passiert?«

»Ich nehme an, das heißt, dass sie nicht hier ist.«

»Natürlich ist sie nicht hier, sie ist im Krankenhaus.«

»Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen sagen, dass Jessica das Krankenhaus zusammen mit ihrem kleinen Baby heute Morgen kurz nach acht Uhr verlassen hat. Aus Ihrer Reaktion schließe ich, dass Sie nichts von ihr gehört haben?«

Harvey stand da und starrte den Polizisten an, unfähig, ein Wort hervorzubringen.

»Könnten wir vielleicht ins Haus gehen und in Ruhe darüber reden?«

Kapitel zwei

HARRIET

Tag der Befreiung, Dienstag, 8. Mai 1945

Harriet Waterhouse saß an ihrem Toilettentisch aus Kiefernholz neben dem kleinen, zugigen Fenster im obersten Stockwerk des Stadthauses ihrer Herrschaft und holte das Tagebuch aus ihrer Einkaufstasche, das sie an diesem Tag gekauft hatte. Es war noch in braunes Papier eingewickelt, das wie frisch angezündetes Anmachholz knisterte, als sie es auspackte. Der Duft des Postamts, der aus dem Päckchen aufstieg, verlieh ihrer muffigen Kammer seine eigene Note.

Auf der Vorderseite des roten, ledergebundenen Buchs waren in goldenen Buchstaben die Worte »Tagebuch für fünf Jahre« eingeprägt, und Harriet bemerkte, dass sie den Atem anhielt.

Sie wusste nicht, was sie dazu veranlasst hatte, einen ganzen Monatslohn für etwas auszugeben, das sie sich noch nie zuvor gewünscht hatte. Sie hatte das Postamt nur betreten, um dem Gedränge in den Straßen zu entkommen. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind war hellauf begeistert über die Nachricht, dass der Krieg endlich zu Ende war. Die Menschen sehnten sich danach, zusammen zu sein, vereint in ihrer Euphorie; sie sangen und riefen aus jeder Haustür, jedem Fenster, von jedem Dach, jedem Laternenpfahl. Harriet stand eine Stunde lang in der Warteschlange in Wilson’s Lebensmittelgeschäft, um die wöchentlichen Rationen für Miss Clara und Miss Ethel zu bekommen, umgeben von Menschen, die sie ihr Leben lang kannte und die sie nun erwartungsvoll anblickten und ein Zeichen der Begeisterung von ihr verlangten.

»Ich kann es noch gar nicht glauben«, antwortete sie und zwang sich zu einem Lächeln, als man sie fragte, ob sie sich denn nicht darüber freue, dass Jacob bald nach Hause kommen würde. Ihr Gegenüber schien darauf zu warten, dass sie noch mehr dazu sagte, bis – zu ihrer großen Erleichterung – jemand anderes des Weges kam und ihren Gesprächspartner wieder mit sich in den Zug der Feiernden zog.

Es war ein ganz normaler Dienstag. Um sieben Uhr hatte sie Miss Ethel und Miss Clara eine Tasse Tee ans Bett gebracht und dann im Wohnzimmer Feuer im Kamin gemacht. Nach dem Frühstück machte sie die Betten, räumte die Schlafzimmer auf und wischte Staub, dann polierte sie das Silberbesteck und servierte anschließend das Mittagessen. Es war gegen drei Uhr, sie hatte gerade angefangen, sich um die Wäsche zu kümmern, als man nach ihr rief. Miss Ethel und Miss Clara saßen vor dem Radio und waren sprachlos, was für beide höchst ungewöhnlich war, während Winston Churchill seine Ansprache an die Nation hielt.

Draußen hallten Jubelrufe und Gesang durch die Straßen. Harriet stand mit zitternden Beinen und pochendem Herzen da, unfähig, ihre Augen von Miss Ethel und Miss Clara abzuwenden, die sich schluchzend in den Armen lagen.

»Ist das nicht wunderbar, Harriet?« Miss Ethel blickte sie strahlend an, und Tränen glänzten auf ihren geröteten Wangen. »Unsere Männer kommen nach Hause.«

In der Küche, ihrem Rückzugsort, verriegelte sie die Tür hinter sich und setzte sich auf den kalten Fliesenboden. Sie schloss die Augen und versuchte, etwas zu fühlen angesichts der Tatsache, dass Jacob zu ihr zurückkam. Immer wieder tauchte das gleiche Bild vor ihrem inneren Auge auf: Es war der letzte Tag, an dem sie ihn gesehen hatte. Sie verabschiedeten sich am Bahnhof voneinander, er hatte seine Segeltuchtasche über die Schulter gehängt, und seine kastanienbraunen Augen huschten argwöhnisch umher. Sein schönes Lächeln fehlte.

Sie hatten die anderen Paare beobachtet, die sich zum Abschied küssten, und mit Tränen in den Augen hatte er sich zu ihr gewandt und gesagt: »Ich kann das nicht, Hattie. Ich bin nicht stark genug.« Er hatte nur eine Woche Fronturlaub gehabt, und sie war entsetzt darüber gewesen, wie sehr er sich verändert hatte: Sein sonniges Gemüt war von einem aufbrausenden Temperament abgelöst worden, und er litt an Appetitlosigkeit. Er wich zurück, sobald sie ihn berührte, und schlief kaum; die ganze Nacht war er auf und trank, aus Angst vor den Albträumen, die ihn erwarteten, wenn er einnickte. »Bitte hilf mir«, hatte er an ihrem letzten gemeinsamen Abend gesagt, als er sich in ihren Armen in den Schlaf weinte, nur um sie wenige Minuten später gewaltsam aus ihrem Bett zu stoßen, weil sie sich im Schlaf umgedreht und ihn dadurch erschreckt hatte.

Als sie ihre Tränen fortwischte und sich hochzog, um Miss Ethel und Miss Clara ihren Nachmittagstee zu bereiten, dachte sie an Jacobs Briefe, die ordentlich zusammengefaltet in der Schublade ihres Toilettentischs lagen. Viele Bündel Schreibpapier waren ihr über die Jahre zugesandt worden, die sie sorgfältig geplättet und in ihrer Erinnerung lebendig gehalten hatte. Ein Haufen Schnappschüsse aus der Hölle, die er in seiner kindlichen Handschrift auf geborgtem oder gestohlenem Papier aufgeschrieben und in Umschläge verschiedener Größen gesteckt hatte. Wenn sie diese Briefe las, konnte sie sich ihn beim Schreiben vorstellen, in behelfsmäßigen Lagern untergebracht, bei Kerzenlicht. Frierend, verängstigt, allein hielt er über den Worten inne, er wollte sie nicht damit belasten, aber er sehnte sich danach, die Erinnerung abzuschütteln.

Die Landung am Tag X war rau und stürmisch. Als wir endlich an Land waren, blieb keine Zeit mehr zum Durchatmen, bevor wir uns zum Schlachtfeld aufmachten. Darüber werde ich Dir nichts schreiben, denn ich habe Angst, die Bilder, die mich verfolgen, auch in Deinem Kopf entstehen zu lassen; ich erzähle Dir nur, dass ich einen ganzen Tag lang keine Zeit hatte, zu essen oder zu trinken. Wir sind über den Brückenkopf durchgebrochen und dringen nun schnell weiter vor. Kein Schlaf. Ausrüstung und Geld – alles verloren. Der Regen und der Lehmboden waren unsere ärgsten Feinde. Einige der härtesten Gefechte dieses Krieges finden genau jetzt statt, da die Alliierten darum kämpfen, in Frankreich Fuß zu fassen. Fühle mich sehr weit weg von Dir, so, als hätte ich einen Teil von mir dort an diesem Strand zurückgelassen.

In Liebe, Dein Jacob

Der Regen und der Lehmboden waren unsere ärgsten Feinde. In der Nacht hatte sie von seinem Gesicht und den Tränenspuren durch die Lehmschicht auf seiner Haut geträumt, sie sah ihn verletzt und frierend vor sich, Blut und Lehm klebten in seinem Gesicht, in seinen Augen und Haaren. Ein dünnes rotes Rinnsal lief wegen des unaufhörlichen Artilleriefeuers aus seinen Ohren. Davon hatten Soldaten berichtet, die nach Hause gekommen waren. Jeder Brief zerstörte ein wenig mehr die Hoffnung, dass er als lebensfroher, liebevoller Mensch aus diesem Krieg zurückkehren würde.

Heute ist der zwanzigste Tag unserer Kampfhandlungen, obgleich es schon Jahre zu sein scheinen. Was mir und meinem Bataillon passiert ist, würden die meisten Menschen für unmöglich halten. Es ist eine Folter, zusammen mit seinen besten Freunden in die Schlacht geschickt zu werden. Ich habe gesehen, wie viele von ihnen neben mir durch eine Explosion