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Juli ist voller Hass. Hass auf seine Mutter, die trinkt, seinen Vater, der einfach verschwunden ist und die erbärmlichen Verhältnisse, in denen er groß wird. Irgendwann sich die Probleme so übermächtig, dass Juli sich nicht mehr zu helfen weiß – und zuschlägt. Seitdem dreht sich die Gewaltspirale immer schneller. Er schafft es nicht, sich daraus zu befreien und landet schließlich hinter Gittern. Diese lebensnahe Geschichte gewährt einen Einblick in die Psyche eines Straftäters, der zugleich Opfer seiner eigenen Lebensumstände ist.
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Seitenzahl: 196
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Für Juli.
Außerdem für meine Mutter Gisela Müller-Frey, die mir Hunderte von Büchern schenkte und Puff, der Zauberdrache und Wart’s nur ab, Henry Higgins für mich sang.
Diese Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten.
Prolog
„Das ganze Leben ist ein Problem“, erklärt mir Juli und trommelt nervös mit den Fingerspitzen auf den kleinen Tisch, an dem wir sitzen. „Zumindest mein Leben“, fügt er nach einer kleinen Pause hinzu. „Und um mich rum waren auch schon immer Probleme.“
Dann schaut er mich an. „Und du willst dir das alles echt anhören, den ganzen Mist?“
Ich nicke und Juli seufzt.
Und dann fängt er an, mir seine Geschichte zu erzählen.
Unsere Gespräche finden in einem stillen, abseitsgelegenen Besuchsraum eines Jugendgefängnisses in Süddeutschland statt.
1
Überall waren immer Probleme. Meine Mutter war schrecklich dick und sie schien immer schlechte Laune zu haben. Alles war ihr zu anstrengend und zu kompliziert. Meine halbe Kindheit über lag sie auf dem Sofa, aß Pralinen oder Schokoriegel und schaute fern. Zwischendurch weinte oder schimpfte oder schlief sie. Oder sie trank Sherry und Bier und Wein.
Mein Vater war auch ein Problem. Ein verschwundenes Problem, denn er war spurlos verschwunden. Schon mein ganzes Leben lang.
Meine Schwester hatte auch eine Menge Probleme. Jahrelang hatten wir keinen Kontakt miteinander, denn sie wohnte für eine lange Zeit bei Gunnar, ihrem Vater, und seiner neuen Frau.
Und dann war da noch Adam.
Und ich.
Ich hatte immer und überall Probleme. Schon so lange ich zurückdenken kann, war alles kompliziert.
Ich mag den Frühling. Er ist die beste Jahreszeit überhaupt. Vielleicht habe ich im Frühling ein paar Probleme weniger mit dem Leben als im Sommer und im Herbst und im Winter. Der Frühling ist eine sanfte, gute, schöne Jahreszeit. Ich weiß, das klingt uncool und normalerweise würde ich so was auch nicht in der Öffentlichkeit sagen, aber wahr ist es eben und eigentlich stammt es auch nicht von mir – sondern von Adam.
Adam war wahrscheinlich der einzige Mensch, der keine Probleme hatte. Zumindest dachte ich, dass er keine Probleme hatte. Dabei hatte Adam an jeder Hand sechs Finger. Streng genommen war er also ein Krüppel. Mein Kumpel Noah, der mich manchmal zu Hause besuchen kam, sagte das immer, wenn er über Adam sprach. „Der Typ von deiner Mutter, der mit den Krüppelhänden, hat mir die Tür aufgemacht, als ich gekommen bin …“
Als Adam ein Baby war, wollten die Ärzte ihn operieren und die beiden kleinen, krüppeligen, überzähligen Finger entfernen lassen. Aber Adams halbe Familie sind Zigeuner, genauer gesagt Sinti. Und Adams Sinti-Großmutter hat erklärt, dass diese Finger Glück für ein ganzes Leben bedeuten und dass man sie darum nicht wegoperieren darf. Und darum hatte Adam sein Leben lang sechs Finger an jeder Hand. Seine Hände waren auch verschieden groß, die linke Hand war ein ganzes Stück größer als die rechte Hand. Leute, die Adam nicht kannten, starrten seine Hände immer verwundert an und manche verzogen die Gesichter. Aber für mich waren Adams Hände natürlich schon lange nichts Besonderes mehr und er konnte gut mit ihnen malen, mit der linken wie mit der rechten Hand. Er konnte beim Schreiben den Stift einfach von der einen Hand zur anderen weiterreichen und schrieb mit beiden Händen ganz und gar gleich. Er konnte auch Gitarre spielen, ebenfalls mit beiden Händen. Früher hat er oft Gitarre gespielt, abends in der Kneipe, und er nahm mich oft mit und spielte alte Zigeunerlieder. Aber nur, wenn er schon ein bisschen betrunken war. Manchmal drehte er die Gitarre mitten im Spiel um und spielte verkehrt herum weiter. Und obwohl dann die Saiten ja falschrum gespannt waren, konnte er ohne Mühe weiterspielen.
Adam war der beste Mensch, dem ich je begegnet bin. Als er zum ersten Mal bei uns auftauchte, war ich fünf. Wir trafen uns auf der Straße vor dem Haus, in dem ich mit meiner Mutter und meiner Schwester wohnte. Ich hockte auf der Türschwelle und weinte leise vor mich hin. Aus dem offenen Wohnzimmerfenster konnte ich meine kleine Schwester hören. Sie weinte auch. Sie war damals erst zwei und saß eingesperrt und vergessen in dem Laufstall, in dem ich früher auch schon gesessen hatte.
„Was hast du? Warum heulst du?“, fragte mich ein fremder Mann und blieb vor mir stehen.
Ich starrte ihn erschrocken an. Ich weiß noch, dass ich sofort seine riesige, verkrüppelte Hand bemerkte und seine andere, die mit den sehr dünnen, schmalen Fingern, die wie eine Kinderhand aussah. Und an beiden Händen waren zu viele Finger, das war mir sofort klar. Es sah falsch und unordentlich aus. Die Finger drängten sich dicht aneinander und schienen nicht genug Platz an den Händen zu finden.
Ich hörte auf zu weinen und starrte den Mann stumm an.
„Da, putz dir mal die Nase“, sagte er schließlich und zog ein Stofftaschentuch aus der Jackentasche. Und dann kam er einfach auf mich zu und wischte mir mit diesem zerknitterten Tuch ungeschickt über das nasse Gesicht. Anschließend setzte er sich neben mich und knotete mir aus dem Taschentuch einen langohrigen Hasen. Er setzte ihn mir vorsichtig aufs Knie und lächelte mich an. Und dann sagte er mir, dass er Adam heiße und erklärte mir den Unterschied zwischen Hasen und Kaninchen. Und nach den Hasen erzählte er mir etwas über Rehe und Hirsche und Wisente.
„Aber meine Lieblingstiere sind Rentiere“, sagte er irgendwann. „Kennst du Rentiere?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Die gibt es in Lappland. Da möchte ich gerne mal hinfahren.“ Wir schauten uns an. Meine Schwester oben im Wohnzimmer schrie immer noch. Aber mir ging es plötzlich gut, sehr gut. Ich lächelte Adam vorsichtig an und wünschte mir, wir könnten immer so sitzen bleiben, zusammen in der Sonne. Und Adam würde mir weiter Geschichten erzählen.
„Die da oben weint, das ist meine kleine Schwester“, sagte ich schließlich, weil Adam nicht mehr sprach. Stattdessen zündete er sich eine dünne, dunkle Zigarette an, die scharf roch. „Meine Mutter ist bestimmt eingeschlafen. Sie schläft oft plötzlich ein. Dann hört sie uns nicht. Ich sitze schon den ganzen Nachmittag hier und habe sehr oft geklingelt. Aber sie hat nicht aufgemacht.“
Ich schaute Adam erschöpft an. In der ganzen Straße waren wir die einzigen Kinder. Überall wohnten nur alte Leute und wir waren in unserem Haus nicht sehr beliebt. Ich wusste damals nicht, warum, ich wusste nur, dass es so war.
Adam nickte. „Und darum hast du geheult“, sagte er lächelnd und fuhr mir mit der großen, schweren Hand über den Kopf. Ganz kurz nur, aber es fühlte sich schön an.
Und dann blieb Adam. Wir warteten zusammen, bis meine Mutter wieder aufwachte. Und als sie endlich den Türöffner drückte, gingen wir nebeneinander nach oben. Ich hatte meine Hand in Adams große Hand geschoben.
„Wer sind Sie? Was wollen Sie? Sind Sie etwa von einer Behörde?“, fragte meine Mutter misstrauisch und zog mich hastig am Arm über die Türschwelle an ihre Seite. Sie sah verschlafen und zerzaust aus und auf ihrer Wange war der ribbelige Abdruck des Sofakissens.
Aber am Abend saß sie trotzdem zusammen mit Adam im Wohnzimmer und Adam hatte seine Schuhe ins Schuhregal im Flur gestellt und sie tranken Wein und in der Nacht schlief Adam neben meiner Mutter auf dem ausgeklappten Wohnzimmersofa.
Meine dicke, rotbackige Mutter und der dünne, blasse Adam.
Und von da an war Adam fast immer da.
Außer, wenn es Streit gab.
Aber wenn kein Streit war, saß Adam im Wohnzimmer und überall roch es nach seinen dunklen Zigaretten und er sang Lieder, während er rauchte, und er bürstete jede Woche das immer verfilzte Fell unserer Angorakatze Kimberly. Und er machte das Katzenklo sauber. Und er säte Schnittlauch und Petersilie auf dem Balkon. Und Sonnenblumen und Petunien und Kapuzinerkresse.
Wie gesagt, Adam war von da an fast immer da.
Außer, wenn er und meine Mutter sich gestritten hatten. Und außer, wenn er nach Paris fuhr und den Eiffelturm besuchte.
„Denn ich liebe Paris“, sagte er oft zu mir. „Und ich liebe den riesigen, stolzen Eiffelturm. Wenn ich da oben stehe, gehört mir die ganze Welt. Da oben ist man dem Himmel, ohne tot zu sein, sehr nah, Juli, verstehst du?“
Ich nickte, auch wenn ich es nicht ganz verstand, und Adam lächelte mir zufrieden zu und boxte mir mit seiner schmächtigen Hand freundschaftlich vor die Brust. „Jedenfalls, wenn ich da oben stehe, dann bin ich ein König, Juli. Ein richtiger König.“
Erst viel, viel später erfuhr ich, dass Adam noch nie in Paris gewesen war. Dass er noch nie auf dem Eiffelturm gestanden hatte. Dass er nie König gewesen war.
Denn wenn Adam verschwand, um, wie er sagte, nach Paris zu fahren, dann saß er in Wirklichkeit im Gefängnis.
Ich war elf, klein und schmächtig, hatte schwarze wirre Haare, grüne Augen und Sommersprossen auf der Nase. Ich war der schwächste Junge im Viertel und ich hatte Heuschnupfen und eine Katzenhaarallergie. Trotzdem blieb es nicht bei Kimberly, der Angorakatze. Eines Tages schleppte meine Mutter von irgendwoher einen dicken, trägen, schwerfälligen Perserkater an. Sie nannte ihn Johnny und in sein Fell weinte sie hinein, wenn sie mal wieder in ein Loch aus Traurigkeit fiel. Johnny hielt schnurrend still und hinterließ ansonsten überall, wo er ging und stand, büschelweise graues Perserkaterfell.
Die Katzen machten, dass ich husten und niesen musste, stundenlang, und dass meine Augen tränten und ich schlecht Luft bekam.
„Du darfst keine neuen Viecher mehr anschaffen, Nanni“, sagte Adam ärgerlich zu meiner Mutter. „Das ist nix für Juli.“
Eigentlich hieß meine Mutter Tanja und nur Adam nannte sie Nanni, einfach so. Gleich am ersten Abend hatte er damit angefangen. Mich nannte er Juli, weil es der erste Juli gewesen war, als er mich weinend vor der Haustür entdeckt hatte, dabei heiße ich eigentlich Patrick. Nur meine kleine Schwester Patrizia bekam keinen neuen Namen von Adam. Sie war einfach ein quengelndes Kleinkind und später geriet sie mit Adam immerzu aneinander und manchmal gab er ihr so harte Ohrfeigen, dass sie von der Wucht des Schlages hinfiel. Einmal schlug er ihr auf diese Weise einen Backenzahn aus und aus ihrem Mund kam ein Schwall Blut. Aber der Zahn hatte sowieso schon tagelang gewackelt und Patrizia ging stumm ins Bad und wischte sich das Gesicht sauber.
Und eines Tages war Patrizia verschwunden.
Adam und ich kamen an diesem Abend gut gelaunt nach Hause. Wir waren zusammen im Wald gewesen, den ganzen Tag.
„Wir sind barfuß gegangen, Mama“, rief ich und ging glücklich zu meiner Mutter hinüber, die auf dem Sofa lag und uns aus verquollenen, nervösen Augen gereizt entgegenschaute.
„Wir waren wie die Indianer“, fuhr ich fort. „Adam hat mir Tierspuren gezeigt. Und wir haben ein Feuer gemacht. Und dann hat Adam mir gezeigt, wie man Gitarre spielt. Ich habe drei Griffe gelernt. Damit kann man schon ein richtiges Lied spielen. Willst du es hören?“
Ich schaute zu Adams alter Gitarre hinüber, die er gerade an die Wand neben dem Fernseher lehnte.
„Die Kleine ist weg“, sagte meine Mutter, ohne mich zu beachten und ihre Stimme klang weinerlich und empört zugleich. Sie suchte Adams Blick, während Adam sich seufzend in einen der Wohnzimmersessel fallen ließ und nach seinen Zigaretten griff, die auf dem Tisch lagen. Der dicke Kater lag schnurrend auf dem weichen Bauch meiner Mutter und war mit der gleichen Decke zugedeckt wie sie.
Adam hob den Kopf.
„Was soll das heißen, Nanni?“, fragte er und runzelte die Stirn.
Meine Mutter streichelte wie verrückt den schnurrenden Kater, lose Katzenhaare wirbelten durch die Luft. „Sie ist heute früh zum Spielen runtergegangen und nicht zurückgekommen“, erklärte sie und ihre Stimme klang dumpf und müde und ratlos und gereizt.
Adam ging zum Fenster, öffnete es und schaute prüfend hinaus.
„Es könnte ihr etwas zugestoßen sein, sie ist doch erst neun“, murmelte meine Mutter. Und so verging der Abend. Irgendwann rief Adam die Polizei an und dann nahm er das Foto von der Wand, das der Schulfotograf im letzten Jahr von Patrizia aufgenommen hatte und fuhr damit aufs Polizeirevier. Am nächsten Morgen klingelte das Telefon und am anderen Ende der Leitung war Patrizias Vater Gunnar, an den ich mich nur noch undeutlich erinnern konnte.
„Er sagt, Patrizia will bei ihm bleiben“, berichtete meine Mutter Adam und schaute ihn hilflos an.
„Tja …“, sagte Adam. Mehr nicht.
„Nein …“, rief ich erschrocken.
„Sei still, Patrick“, sagte meine Mutter sofort.
Ich schaute mich in der Wohnung um, in der meine Schwester plötzlich fehlte, aus der sie fortgegangen war. Ich kroch in ihr Bett und nahm ihre Schlafente in die Hand.
Aber es blieb dabei. Patrizia kam nicht mehr zurück. Dafür kam eine Frau vom Jugendamt und schaute sich bei uns um. Sie schaute sich Adams Hände an, die große und die kleine Hand und die überzähligen Finger. Dann schaute sie meine Mutter an, die auf dem Sofa saß, eingewickelt in eine rosa Decke und mit Johnny auf den Knien, der laut schnurrte. Meine Mutter hatte eine verkrustete, gezackte Schramme am Kinn und einen kleinen blauen Fleck über dem linken Auge.
„Sie sind ja verletzt, Frau Caspari“, sagte die fremde Frau.
„Sie hat sich nur gestoßen“, sagte Adam und lächelte.
Meine Mutter nickte.
Ich saß neben Adam auf dem Sofa und plötzlich sah die Frau mich an.
„Na, Patrick“, sagte sie und nickte mir zu. „Fehlt dir denn deine Schwester?“
Ich zuckte nervös mit den Achseln.
„Würdest du mir mal euer Kinderzimmer zeigen?“, bat die Frau und stand schon auf. Adam zündete sich eine seiner Zigaretten an.
„Na los, Juli“, sagte er und lächelte mir zu.
„Okay“, sagte ich leise und dann ging ich mit der fremden Frau hinaus. Wir liefen hintereinander her durch den stillen Flur. Und im nächsten Moment standen wir bereits im Kinderzimmer. Ich schaute auf Patrizias Bett, in dem ihre strubbelige gelbe Schlafente lag und einsam aussah.
Und auf meinem Bett stand die kleine Holzkiste, in der ich meine Steinesammlung aufbewahrte, die ich zusammen mit Adam angelegt hatte. Sogar ein Pyrit war dabei, den wir vor ein paar Wochen im Steinschlag im Wald gefunden hatten. Er war dreieckig und glänzte wie ein Edelstein. Und daneben lag das kleine, verlassene Vogelnest, das wir vor ein paar Tagen in einem Baum entdeckt und mitgenommen hatten.
„Schön hast du es hier“, sagte die fremde Frau und dann fragte sie mich, ob ich mich mit meinem Stiefvater gut verstünde.
Ich nickte schnell. Natürlich verstanden wir uns gut, schließlich liebte ich Adam.
„Weißt du, deine Schwester hat mir nämlich erzählt, dass euer Stiefvater manchmal nicht so freundlich ist“, sagte die Frau vorsichtig und setzte sich auf Patrizias Bett. Es quietschte leise. „Sie hat gesagt, er habe sie oft geschlagen. Vor allem in der letzten Zeit. Ist das so gewesen? Und schlägt er dich auch? Du kannst mir ruhig alles erzählen, dafür bin ich da. Und ich passe auch auf dich auf und helfe dir, wenn du Schutz brauchst.“
Ich runzelte verwundert die Stirn und schüttelte den Kopf.
„Das tut Adam nicht“, sagte ich fest. „Adam ist in Ordnung. Patrizia lügt.“
Und so war es doch auch, oder? Adam war in Ordnung, rundherum in Ordnung. Er sang für mich und wir gingen zusammen Äpfel pflücken und er saugte die Wohnung, jeden Tag, wegen meiner Tierhaarallergie.
Als die Frau vom Jugendamt gegangen war, stritten meine Mutter und Adam sich.
„Verdammt nochmal, ich habe wirklich die Nase voll“, brüllte Adam. „Steh auf und kümmere dich um Juli. Du bist doch nicht krank. Was bist du nur für eine Mutter, verdammt?“
Es polterte ein paarmal und dann schlug Adam die Wohnungstür hinter sich zu. Ich hörte meine Mutter weinen, aber ich ging nicht zu ihr hinüber. Ich wollte so gerne bei Adam sein und presste meine heiße Stirn gegen die kalte Fensterscheibe. Dort unten ging er mit schnellen, großen Schritten davon. Ich schaute ihm hinterher, bis er am Ende der Straße um eine Ecke verschwand.
Anschließend schaute ich dem Himmel beim Dunkelwerden zu und betrachtete die vereinzelten Sterne, die allmählich über den Dächern der hohen Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufblitzten.
Adam hatte mir die Sternbilder schon oft gezeigt. Den Kleinen Wagen und den Großen Wagen. Und Kassiopeia. Und den Großen Bären. Aber alleine fand ich mich nicht zurecht.
Irgendwann kroch ich müde und erschöpft in mein Bett und fing an zu warten. Auf Adams Rückkehr.
2
Und er kam wieder. Ein paar Tage später war er wieder da und ich atmete auf.
„Meine sieht aus wie ein dicker Bär“, sagte ich.
„Meine sieht aus wie eine dürre, garstige Hexe“, sagte Adam.
„Der Bär weht davon.“
„Dafür hat meine Hexe jetzt zwei Köpfe.“
„Das ist doch keine Hexe …“, protestierte ich.
„Klar ist das eine Hexe“, sagte Adam.
„Und dahinten kommt ein Elefant!“
„He, das ist kein Elefant, das ist ein wunderschönes, elegantes Rentier“, rief Adam und kniff die Augen zusammen. „Sieh doch nur, das prächtige Geweih!“
„Ich finde, es sieht eher aus wie ein Elefant, der seinen Rüssel hochstreckt“, sagte ich und schaute weiter in die vorbeiziehenden Wolken.
Adam grinste mir zu. Wir lagen zusammen in einem Sonnenblumenfeld, mittendrin. Um hierher zu kommen, waren wir extra mit dem Überlandbus gefahren. Eine halbe Stunde lang.
Zu Hause auf dem Balkon hatten wir auch eine Menge Sonnenblumen. Wir hatten sie zusammen gezogen, immer ein einzelner Sonnenblumenkern in einem kleinen Tontopf.
„Ihr krümelt alles voller Erde“, hatte meine Mutter geschimpft und uns unzufrieden gemustert. „Der ganze Teppich wird dreckig.“
„Allerdings“, hatte Adam geantwortet. „Und hinterher saugen wir alles wieder weg.“
Seine Stimme klang gereizt, und er warf meiner Mutter einen merkwürdigen Blick zu. Aber die Sonnenblumen auf unserem Balkon waren natürlich nicht so riesig wie die Sonnenblumen in der freien Natur.
„Das hier ist das große Glück, Juli“, sagte Adam im Sonnenblumenfeld zu mir und boxte mir leicht gegen die Schulter. „Und zu Hause haben wir uns ein kleines Glück auf dem Balkon angepflanzt, habe ich recht?“
Ich nickte.
Wir lagen noch lange zwischen den riesigen Sonnenblumen, die sich über unseren Köpfen im Wind wiegten und irgendwann standen wir auf und schlenderten nebeneinanderher durch die Felder.
„Das sind Maisfelder, Juli“, sagte Adam und zeigte mir die versteckten Maiskolben.
Auf dem Rückweg blieb er neben einem anderen Feld stehen. „Und was wächst hier, Juli?“, fragte er und schaute mich gespannt an. Seine große und seine kleine Hand steckten in den Taschen seiner schwarzen Jeans. Ich schaute, weil ich ja erst elf war, immer noch weit zu ihm auf. Adam war fast zwei Meter groß.
Dann warf ich einen prüfenden Blick auf das grüne Getreide, das sich leise raschelnd im Wind bewegte.
„Hafer?“, fragte ich vorsichtig.
Adam nickte zufrieden und legte seinen Arm um meine Schulter. Hinter seinem Ohr steckte eine seiner dunklen Zigaretten, aber er würde sie, dass wusste ich, hier nicht rauchen. Nicht hier, mitten in den Natur, so etwas tat Adam nicht.
„Du bist wirklich und wahrhaftig das Beste, was mir in meinem Leben bisher begegnet ist, Juli, du sommersprossiger Winzling“, sagte er schließlich. Dann fuhren wir schweigend zurück in unsere graue Stadtrandsiedlung und Adams Worte umhüllten mich friedlich. Unser sonnenblumengelber Balkon leuchtete uns schon von Weitem entgegen. Schön sah das aus, wunderschön.
Kurz darauf wurde ich zwölf. Adam spielte auf seiner Gitarre für mich.
„Immer diese Klimperei“, sagte meine Mutter. „Hör schon auf damit, Adam, ich habe Kopfschmerzen.“
Es war ein Sonntag und wir frühstückten zu dritt im Wohnzimmer. Adam schenkte mir zwölf kleine Blumentöpfe, die er am Tag zuvor in einer Gärtnerei für mich gekauft hatte. In jedem wuchs eine winzige, frisch gezogene Pflanze.
„Levkojen“, sagte er und tippte leicht gegen den ersten kleinen Topf. „Lupinen. Rittersporn. Mohn. Margeriten. Eine Königskerze. Habichtskraut. Ein gelber Enzian …“
Den Rest habe ich vergessen.
Unten auf der Straße spielten ein paar Jungen aus unserer Siedlung, die seit Kurzem am Ende unserer Straße in einem neu gebauten Haus wohnten. Zwei von ihnen waren in der Hauptschule in meiner Klasse. Ich ging nie zu ihnen hinunter. Ich war schlecht in der Schule, vor allen Dingen in Mathe und Deutsch. Meine Diktate wimmelten immer von Fehlern und im Rechnen verstand ich noch viel weniger. Nur in Sachkunde kam ich mit. Was immer unsere Klassenlehrerin uns über Gewitter, über die Gezeiten, über Pflanzen und Tiere erzählte, alles hatte Adam mir schon vorher beigebracht. Aber davon wusste meine Lehrerin nichts, denn ich meldete mich nie. Ich war müde im Unterricht, weil es abends bei uns immer spät wurde und ich hatte, wie meine Mutter, oft Kopfschmerzen und ich konnte mich nicht lange konzentrieren. Außerdem ließ es mir keine Ruhe, dass die anderen mich nicht leiden konnten. Sie hänselten mich oder sie schlossen mich aus. Beides war gleich schlimm. Und nach und nach verstand ich, dass wir arm waren, dass meine Mutter unser Geld vom Sozialamt bekam und dass Adam keine Arbeit hatte. Warum war das so? Warum hatten andere mehr Geld als wir? Warum flogen sie im Sommer nach Spanien? Warum fuhren sie teure Autos und wohnten in besseren Häusern?
Warum war alles so, wie es war?
„Was ist, wollen wir in den Wald fahren und zum Steinbruch laufen?“, fragte Adam nach dem Frühstück und scheuchte Johnny vom Tisch. Sofort nahm meine Mutter den Kater auf den Schoß.
„Ja“, sagte ich.
„Ohne mich“, sagte meine Mutter.
Ich sah, wie Adam sie anschaute. Da seufzte meine Mutter und stand mühsam vom Tisch auf. Sie war noch im Morgenmantel und sie war sehr dick damals. Während wir darauf warteten, dass sie sich anzog, saß ich im Wohnzimmer auf der Lehne des Sofas und schaute vor mich hin. An der gegenüberliegenden Wand war immer noch ein viereckiger Schatten an der Tapete, wo früher Patrizias Foto gehangen hatte. Seit Adam es abgenommen hatte, um es zum Polizeirevier zu bringen, hatte niemand es je zurückgehängt. Wo es wohl geblieben war? Das Bild war genauso verschwunden wie Patrizia selbst. Sie war auch nie zurückgekommen. Nur ihr Vater war eines Tages aufgetaucht und hatte ein paar von ihren Anziehsachen und die Schlafente abgeholt.
„Hallo Patrick“, hatte er gesagt und mir zugelächelt. Da hatte ich mich an ihn erinnert. Er war viel kleiner als Adam und er hatte helle Haare und war stämmig. Er hatte mal auf einer Wiese mit mir Ball gespielt. Und er hatte meine Mutter manchmal geschlagen. Und eines Tages war er weg gewesen.
„Hallo …“, murmelte ich und schaute zu, wie er die Schlafente kopfüber in einen Stoffbeutel stopfte.
„Sie heult sich die Augen nach dem Vieh aus dem Kopf“, sagte Gunnar zu meiner Mutter, die im Sessel saß und zum Fernseher hinüberschaute.
Meine Mutter gab keine Antwort. Da ging Patrizias Vater wieder.
„Tschüss, Patrick“, sagte er, als er schon in der offenen Tür stand. „Du kannst uns ja mal besuchen kommen, irgendwann.“
Und damit verschwand er.
Mit dem Bus fuhren wir zu dritt in den Wald.
„Meine Füße tun weh“, sagte meine Mutter und machte ganz kleine Schritte. Zwischendurch blieb sie immer wieder stehen.
„Weil du so dick und träge bist, Nanni“, sagte Adam und wollte meine Mutter an die Hand nehmen, aber meine Mutter zog die Hand weg.
„Du musst dich mehr bewegen“, sagte Adam.
Der Spaziergang mit meiner Mutter wurde nicht schön. Sie jammerte und klagte und hatte Schmerzen und war erschöpft und Adam wurde immer gereizter.
„Fahren wir heim“, sagte er schließlich kurz angebunden und wir drehten um und gingen zurück. Adam lief mit großen Schritten vorneweg, hinter ihm kam ich und hinter mir ging meine dicke, schwerfällige Mutter.
Bevor der Bus losfuhr, saßen wir schweigend darin zusammen. Und dann kam die Sache mit dem Baum. Und dann die Sache mit dem Baby.