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Elina ist eine begnadete Sängerin. Um ihrem Traum, in Musicals zu singen, näherzukommen, nimmt sie an einer Fernsehshow teil - und kommt in die nächste Runde. Während sie auf einmal ganz viele "Freunde" und Fans hat, fühlt sie sich im Alltag immer öfter leer und taub. Sie will dieser Leere entfliehen, will etwas fühlen, irgendetwas. Auch wenn es Schmerz ist. Elina beginnt, sich selbst zu verletzen, und stürzt sich in eine Affäre mit dem smarten Jurymitglied Luuk. Doch liebt er sie überhaupt? Oder sind seine Gefühle einfach nur Show? Borderline betrifft viele Menschen. Jana Frey erzählt realitätsnah und einfühlsam wie eine begabte junges Mädchen von dieser Krankheit fast erdrückt wird - und mithilfe ihrer Freunde wieder den Weg in ein gesundes Leben findet.
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Seitenzahl: 198
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„… ist sie – tot?“
„Ist sie …?“
„Um Gottes willen …“
Sie liegt ganz still.
Ihr Gesicht ist schneeweiß. Regen tropft auf ihre Stirn wie kalte Tränen.
Über ihr steht das Fenster im ersten Stock offen. Die rosa Gardine weht im Wind.
Von ganz weit her kommt ein Gedanke. Es sollte jemand bei ihr sein in diesem Moment.
Sie liegt sehr still. Reglos. – Wer sollte bei ihr sein?
Luuk …? – Nein, er nicht!
Oskar? Vielleicht.
Oder Selma, ihre einzige Freundin.
Stattdessen ist Herr Petry da. Herr Petry aus dem Nachbarhaus. Er und Olga, seine russische Freundin. Die beiden riechen nach Zigaretten und dem Mief von ungelüfteten Zimmern.
„Gott sei's gedankt – sie atmet“, sagt Herr Petry. Er klingt erleichtert und so, als würde er gerade überall lieber sein als hier im verregneten Nachbarsgarten. Seine kalten Finger tasten schon die ganze Zeit an ihrem Hals herum und suchen nach Lebenszeichen. Er kniet ungelenk neben ihr im Gras. Seine Finger fühlen sich rau und wulstig und unangenehm an. Als würden dicke kleine Tiere über sie krabbeln.
„Der Krankenwage ist auf Weg, sie haben gesagt. Dauert paar Minute. Wir soll'n sie auf kein' Fall bewegen.“
Olga spricht nur gebrochen Deutsch. In Kiew war sie mal eine bekannte Pianistin, heißt es in der Nachbarschaft. Hier ist sie nur eine arbeitslose Kettenraucherin, die selten das Haus verlässt.
„Warum zum Teufel hat sie das nur getan?“
Herrn Petrys Stimme klingt fast ärgerlich. „Steht erst endlos am Fenster rum wie nich' ganz bei Trost. Und lässt sich dann …“
Er sucht nach den richtigen Worten. „… fallen. Einfach so. Kopfüber … Von einer Sekunde zur nächsten. Es sah grässlich aus. Was für ein verdammter Schreck! Mir ist fast das Herz stehen geblieben. Sei froh, dass du's nicht gesehen hast.“
„Ein dünnes Ding“, ist Olgas unzusammenhängende Antwort. „Nix dran an der Kleine. Wie alt sie ist?“
Herr Petry, der es eigentlich wissen könnte, zuckt nur mit den Schultern.
Sie ist sechzehn. Und schon immer lief alles verquer. Fast von Anfang an.
* * *
1
Herbst 1998
Hallo Welt, da bin ich. Wahnsinn, ich bin.
Ihre Eltern waren bei ihrer Geburt schon Uhus. Noch nie von Uhus und Bivies gehört? Uhus sind schlicht Leute unter hundert, Bivies solche bis vierzig.
Das musste man sich mal vorstellen, ihre Mutter war am Tag ihrer Geburt bereits dreiundvierzig Jahre alt und Papp, ihr Vater, der damals noch bei ihnen wohnte, sogar schon fünfzig. Hatten sie nichts anderes zu tun? Warum sie sich noch mal ein Baby zulegten? In ihrem Alter? Und wo sie sich doch nicht mal mehr gut verstanden? Das weiß keiner. Sie taten es eben. Dabei gab es damals schon Papps Affären und Mas Depressionen, und ihre ältere Schwester – Amara – war schon halb erwachsen. Sechzehn, oder so.
Sie, Elina, war jetzt auch sechzehn Jahre alt, hatte grüngraue Augen und dunkelbraune Haare.
Bei ihrer Geburt mittelwillkommen – heute mittelgroß, mitteldünn, mittelhübsch, mittelfroh und mittelgut in der Schule. Mittel, mittel, mittel.
Davon, dass meine Mutter später immerzu klagen würde, über den Stress, den sie seit dem Augenblick meiner Geburt mit mir hatte, und welch ein nervenaufreibender Säugling ich war, ahnte ich in der Nacht meiner Geburt zum Glück noch nichts.
Ich war einfach nur ich.
„Warum hast du mich überhaupt bekommen?“, habe ich meine Mutter – Maria Lawall, Besitzerin des Café Zucker, ein alter Familienbesitz, den sie nicht gern am Hals hat – mal gefragt, als ich noch etwas jünger war. Dreizehn, oder so. Wir waren im Bad, ich saß in der schaumigen Wanne und meine Ma räumte einen halben Meter weiter einen Stapel gewaschener, getrockneter und zusammengelegter Handtücher in die Kommode. Sie war gerade erst von einem ihrer vielen Kuraufenthalte zurückgekommen. Sie leidet unter Depressionen und solchen Sachen. Weinen, Trübsal, Wut, Schimpfen, Schreien, ins Leere starren. Alles immerzu durcheinander und von Jahr zu Jahr wird es schlimmer.
Nach meiner Frage drehte sie sich um und sah mich einen Moment lang perplex an.
„Wie meinst du das denn, Eli?“
Ich ließ mich am Wannenrand hinabgleiten, tauchte unter und wieder auf.
„Ich meine … du hättest mich doch auch einfach – abtreiben können. Oskars Mutter hat auch abgetrieben, als sie mit vierzig noch mal schwanger geworden ist. Mit einem Tropikind …“
Oskar war mein Kumpel aus Kindergartentagen. Er wohnte damals wie heute nur zwei Häuser weiter. Und ein Tropikind ist ein Trotz-Pille-Kind, aber meine Mutter fragte gar nicht nach. Vielleicht hatte sie meine Abtreibungsfrage so erschreckt, aber sie fragt oft nicht wirklich nach, wenn ich etwas erzähle.
„Elina, was …? Dich abtreiben? Einfach … abtreiben? – Nein, also … wir … wir wollten dich doch, wir … haben uns doch gefreut, Papp und ich.“
Das war eine zum Himmel schreiende Lüge, so viel stand fest. So viel stand hundertprozentig fest. Auf alten Fotos aus meiner Babyzeit sieht meine Mutter nie froh aus. Nur gehetzt und gereizt und müde und – irgendwie immer wie kurz vor dem Zusammenbruch. Als sei ausgerechnet ich schuld, dass ihr Leben absolut falsch verliefe.
An diesem Abend im Badezimmer wischte sie sich eine hellgraue, leicht feuchte Haarsträhne aus der Stirn. Dazu lachte sie ein sehr dünnes Lachen und hörte sofort wieder damit auf. Draußen schrillte das Telefon.
„Oh, das könnte …?“
Sie drehte sich abrupt von mir weg und eilte aus dem Zimmer. Sie nahm sich nicht mal Zeit, die Handtücherschublade zuzuschieben.
„Amara sein“, beendete ich den hoffnungsvoll begonnenen Satz meiner Mutter gereizt. Ich versank wieder im türkisfarbenen Wasser. Irgendwie war mir nach Weinen zumute, aber ich tat es nicht. Erstens kann man unter Wasser schlecht weinen und zweitens weinte ich so gut wie nie.
„Warum weinst du nie?“, fragte Oskar mich manchmal. Oskar fragte immer und alles. Es gab einfach nichts, für das er sich nicht interessierte.
Und ich war die Meisterin der bescheuerten Antworten.
„Vielleicht, weil ich zum Weinen zu traurig bin“, sagte ich einmal.
* * *
„Sie hat sich einfach so fallen lassen“, erklärt Herr Petry dem Notarztteam im regennassen Garten. „Es war ein schlimmer Anblick. Mit so was rechnet man schließlich nicht, verdammt noch mal. Und das bei meinem Bluthochdruck.“
„Gut, dass Sie so schnell zur Stelle waren“, sagt die Sanitäterin, während Elina in den Rettungswagen gebettet wird. Herr Petry bekommt ein paar Tropfen Beruhigungsmittel. Schwer atmend läuft er in kleinen Kreisen durch das glitschige, zerwühlte Gras.
„Wird sie überleben?“, erkundigt sich Olga unterdessen mit rauer Stimme und zieht mit zittrigen Fingern an einer Zigarette.
Der Notarzt nickt. „Ganz sicher. Machen Sie sich jetzt keine Sorgen mehr. Was wissen Sie über das Mädchen?“
Elinas Augen sind während der Fahrt zur Klinik geschlossen. Sie denkt an ihre Familie, ihre Freunde – alte und neue. Ihre Ma. Ihr ferner Papp, der schon so lange nicht mehr zu ihrer Familie gehören will. Ihre weißhaarige Großmutter Signe. Ihre Schwester Amara, die ihr eigenes Leben führt. Und dann Selma. Und Oskar. Und – Luuk.
Jemand hat ihr eine Spritze gegeben. Sie lebt. Sie friert. Man hat sie festgebunden und jemand hält ihre eisige Hand. Elina ist einfach wahnsinnig müde.
Was ist nur geschehen? Warum hat sie das getan? Warum hat sie sich mit diesem Luuk eingelassen? Wie hätte sie ahnen können, dass es so sein würde? Wie hat überhaupt alles angefangen?
Doch, sie weiß, wie es angefangen hatte. Mit diesem verrückten Casting.
2
JANUAR 2014
Ich hatte nicht viele Freunde.
„Dein Zweitname ist Einsiedlerkrebs, Eli, echt“, sagte Selma manchmal. Selma war tatsächlich so gut wie meine einzige Freundin. Sie selbst hatte einen erschreckend großen Freundeskreis. Aber hin und wieder nahm sie sich menschenfrei, wie sie es nannte, besucht stattdessen mich und übernachtet bei mir. In diesen Nächten reden wir so lange, bis wir irgendwann mitten im Gespräch einschlafen.
„Darf ich vorstellen?“ Sie grinste mir zu und deutete auf mich und mein stilles Zimmer. „Elina Einsiedlerkrebs Lawall in ihrer Enklave.“
Ich widersprach nicht, denn sie hatte recht. Tatsächlich würde ich nur sie und Oskar als Freunde bezeichnen.
Und Signe, meine weißhaarige Oma.
„He, kein normaler Mensch hat seine Oma zum Freund, Eli!“, sagte Selma entschieden. „Auch wenn sie noch so hip ist.“
Und das war Signe auf jeden Fall. Sie war die Mutter von Bernhard, meinem weggegangenen Vater, und schon fünfundachtzig.
„Eigentlich wollte ich immer eine Tochter, verstehst du?“, hatte sie mir mal anvertraut, das war schon Jahre her. „Ich hatte immerhin ein Frauenhaus mitgegründet, ich bin seit gefühlten hundert Jahren mit Alice Schwarzer befreundet, und ich habe 1968 öffentlich meinen einzigen Büstenhalter, der ein teures Ding war, verbrannt, um ein Zeichen für die Frauenbewegung zu setzen.– War sowieso gemütlicher ohne BH…“
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