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Einfühlsam und realistisch erzählt Jana Frey den Absturz von Marie ins Drogenmilieu. Ein bewegender Jugendroman, der viele Fragen aufwirft, anregenden Gesprächsstoff liefert und sich somit ideal als Schullektüre eignet. Manchmal hasst Marie die ganze Welt. Und sich am allermeisten. Doch wenn sie eine Pille einwirft, ist alles gut, und sie will lachen und tanzen und fliegen. Dann vergisst sie ihr Zuhause mit all dem Streit und auch den Schmerz, der in ihr wühlt, seit ihr Freund Leon sich in eine andere verliebt hat. Aber der Höhenflug hält nicht an, und Marie fällt tiefer und tiefer. "Behutsam schildert Frey den schleichenden Prozess in die Ecstasy-Sucht, ohne erhobenen Zeigefinger oder Wertung. Der Leser ist beeindruckt durch die schonungslose Darstellung." Süddeutsche Zeitung Deutscher Kinder- und Jugendliteraturpreis - Auswahlliste 2004
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Seitenzahl: 204
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Für Marie
Diese Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten.
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Prolog
„Am schlimmsten sind die Nächte“, sagt Marie. „In den Nächten halte ich es manchmal fast nicht aus. Dann erinnere ich mich. Und es ist alles wieder da. Die Kälte, die merkwürdigen, farblosen Schatten, die Bäume und ihre Augen. Und diese Stille, die mir wehtut.“
Marie schaut mich an. „Manchmal rede ich tagelang kein Wort. Ich denke auch nicht. Ich tue gar nichts. Ich bin dann nur mein Körper. Ein merkwürdiger Gedanke, dass man sein ganzes Leben lang immer nur in einem Körper bleiben muss. Ich würde gerne jemand anderes sein, immer noch. Aber wenigstens sterbe ich nicht. Ein paar Mal dachte ich: Jetzt sterbe ich. Ich war völlig ohne Orientierung in diesem kalten Nichts ohne Anfang und Ende. Ich war richtig krank, körperlich krank. Damals habe ich immerzu Musik gehört. Zu Hause habe ich meine Anlage aufgedreht wie verrückt und unterwegs hatte ich meinen MP3-Player dabei. Jede Busfahrt, jeder Gang durch die Stadt, immer dröhnte mir Musik durch den Kopf. Jetzt mag ich es leise, richtig leise.“
Marie seufzt und runzelt die Stirn. „Ich hätte nie gedacht, dass mir so etwas passieren könnte. Ich meine, ich bin doch nicht blöd. Ich habe Wir Kinder vom Bahnhof Zoo gelesen, als ich dreizehn war, und jeder weiß schließlich, dass Drogen der letzte Mist sind. – Aber trotzdem ist es passiert. Mir ist es passiert. Manchmal will ich es nur vergessen, will einfach aufstehen und es abschütteln, wie ein Hund sich schüttelt, wenn er aus dem Wasser springt.“
Marie ist sechzehn.
„Manchmal versuche ich herauszufinden, wann und warum es angefangen hat. Warum hat es mich erwischt? Was ist mit mir? Manchmal weine ich stundenlang, dann wieder finde ich das lächerlich und versuche, normal, richtig normal zu sein. Ich lese gerne Hermann Hesse und mag Spezi mit viel Limo und wenig Cola. Ich gehe gerne in Museen, weil es dort so gut riecht, nach Staub und Putzmittel und stehender Luft und alten Dingen. Wenn ich im Museum bin, laufe ich stundenlang durch die Räume und schaue mir alles an, immer wieder. Im Museum für Naturkunde kenne ich fast jeden Angestellten. Ich gehe auch gerne in den Waschsalon in unserem Wohnviertel. Dort riecht es nach Waschmittel und in der Luft liegt ununterbrochen das leise, monotone Rauschen der Waschmaschinen. Natürlich haben wir zu Hause eine eigene Waschmaschine und auch einen Trockner, aber ich gehe trotzdem oft in den Waschsalon und setze mich dort auf einen der vielen alten, abgewetzten Plastikstühle. Eine Zeit lang kam ich so oft, dass die Leute, die dort ihre Wäsche wuschen, mir zulächelten, wenn sie mich wiedererkannten. Eine alte Frau kam ein paar Mal zu mir und erzählte mir ihr halbes Leben. Der Weltkrieg, ihre Ehe, ihre Kinder, ihre Einsamkeit, die Angst vor dem Ende.
Keiner von ihnen fragte mich je, warum ich in den Waschsalon kam, ohne Wäsche für die Waschmaschinen mitzubringen. Vielleicht fiel es aber auch einfach niemandem auf.
Außer Hermann Hesse, Spezi, Museen und Waschsalons mag ich Mister Allen, meinen Hund – und Pferde, aber nur aus der Entfernung. Wenn sie direkt vor mir stehen, habe ich Angst vor ihren riesigen, schweren Köpfen und ihrem heißen Atem. Ich mag auch meine Mutter, irgendwie. Und ich mag ein Foto von mir, auf dem ich und die Hände meines Vaters zu sehen sind. Es ist das einzige Foto von mir, das ich mag. Es hängt über meinem Schreibtisch. Ich mochte auch meine Oma, aber sie ist gestorben.“
Marie ist eine Weile still.
„Es gibt viel mehr Dinge, die ich nicht mag, als Dinge, die ich mag“, sagt sie schließlich seufzend. „Es gibt sogar eine Menge Dinge, die ich hasse. Ich hasse das Grab meiner Oma. Und ich hasse Friederike. Und mein Gesicht. Und meinen Körper. Und das, was mit mir passiert ist. Ich hasse meine Schule und meinen Klassenlehrer. Ich hasse meine Unruhe, meine Nervosität und meine Angst, ausgeschlossen und alleine zu sein.“
Plötzlich schaut mir Marie direkt in die Augen. „Ich weiß noch, wie es war, als ich die erste Pille geschluckt habe. ,Elefant‘ stand drauf, und sie war zartgrün, und ein kleiner, kugeliger Elefant war auf der glatten Oberfläche abgebildet. Ich habe sie geschluckt, einfach so, und habe mich wunderbar gefühlt. Es war an Weihnachten, sozusagen …“
1
Damals fing es vielleicht an. Es war vorletzten Sommer nach den Sommerferien. Alles wurde anders. Erst um mich herum und dann in mir. Es passierten eine Menge Dinge gleichzeitig.
Ich kam in die neunte Klasse. Ich ging damals auf die Waldorfschule, in der mein Vater schon seit Jahren Oberstufenlehrer war. Seit der ersten Klasse war ich dort, eben wie es sein sollte. Unsere Klassenlehrerin zündete Tag für Tag zuerst eine schwere, behäbige Bienenwachskerze an, die in einem hölzernen Sternenkerzenständer stand, und danach ein Teelicht, das ein kleines Öllämpchen erwärmte, in das unsere Lehrerin Tag für Tag ein paar Tropfen Aromaöl tröpfelte. Meine ganze Schulzeit roch nach Rosen und Bergamotte, auch wenn mir das damals gar nicht besonders auffiel. Wahrscheinlich fällt einem nichts besonders auf, was ganz und gar normal ist.
Genauso wie die Sache mit der Klassensprecherwahl.
Seit der fünften Klasse wählten wir Sommer für Sommer zwei Klassensprecher. Und immer waren das Leon und ich gewesen. Leon spielt Klarinette und hat ein schönes Gesicht. Weil unsere Mütter Freundinnen sind, gingen wir schon zusammen in die Babykrabbelgruppe und in den Kindergarten. Zu meinem ganzen Leben gehörte Leon. Zu Laternenumzügen, Sommerferien in Holland und Schweden, zu Ausflügen und alltäglichen Nachmittagen, zu allem eben, was mein Leben ausmachte. Ich würde den Geruch von Leons Haut mit geschlossenen Augen unter hundert anderen Menschen heraus erkennen. Wenn ich an Leon denke, gehen tausend Erinnerungen durch meinen Kopf. Ich fühle seine Nähe, höre sein Lachen und sehe seine gerunzelte Stirn, wenn er Klarinette spielt.
„Du liebst ihn, das ist klar“, hat Franka einmal gesagt.
„Ich weiß nicht“, antwortete ich damals nachdenklich. „Er gehört zu meinem Leben, aber Liebe?“
Leon und ich haben uns ein einziges Mal richtig geküsst. Es war am Geburtstag seiner Mutter. Ich erinnere mich an den Abend, als wäre es gestern. Meine Mutter und seine Mutter saßen zusammen in der Küche am Tisch und wir hatten Tomaten mit Mozzarella und Ciabatta gegessen. Die Teller standen noch auf dem Tisch, dazwischen zwei leere Weißweinflaschen, eine Sherryflasche, eine Cola- und eine Fantaflasche, auch Leon mag Spezi, eine Mineralwasserflasche und ein paar Gläser. Es roch nach Basilikum und Balsamicoessig und Zigarettenrauch, denn Leons Mutter rauchte damals wie verrückt. Immer, wenn sie unglücklich verliebt war, rauchte sie wie verrückt, und immerzu war sie unglücklich verliebt.
Zwischen all den Flaschen und Gläsern und Tellern und einem überquellenden Aschenbecher stand eine ärgerlich beiseite geschobene viereckige Glasvase mit langstieligen Rosen, die ziemlich die roten Blütenköpfe hängen ließen. Sie waren ein Geschenk ihres damaligen Freundes, aber schon ein paar Tage alt. Heute, an ihrem Geburtstag, hatte er sich nicht blicken lassen.
„Ich wünschte, sie würde aufhören, sich ständig in immer neue Trottel zu verlieben“, sagte Leon kopfschüttelnd. „Eines Tages wird sie garantiert Lungenkrebs kriegen von dieser sinnlosen Qualmerei.“
Leons Stimme klang besorgt und ärgerlich gleichzeitig. „Sie benimmt sich wirklich ziemlich lächerlich. Immer glaubt sie, diesmal das ganz große Los gezogen zu haben, und dann folgt der völlige Einbruch …“ Leon schob seine Zimmertür hinter uns zu. „Ich habe das alles satt“, murmelte er düster und blieb mitten in seinem Zimmer stehen. Und dann küsste er mich plötzlich. Es ging ganz schnell. Er presste einfach seine warmen Lippen auf meinen Mund und legte seine Hände auf meinen Hinterkopf. Ich war völlig überrumpelt. Leon hatte die Augen geschlossen, während meine offen waren. Ich schaute ihn die ganze Zeit an und traute mich nicht, mich zu bewegen. Es war eigenartig, Leon so nah zu sein.
Ich sah seine hellen, zarten Augenlider und seine glatte Stirn und ein bisschen von seiner sommersprossigen Nase. Dann war es vorbei und Leon machte Musik an und lächelte mir zu und sagte in die Musik hinein etwas, das ich nicht verstand. Zuerst wollte ich nachfragen, aber dann traute ich mich doch nicht, weil ich es peinlich fand, jetzt „Wie bitte?“ oder „Was hast du gesagt?“ zu fragen.
Bald danach fuhren meine Mutter und ich nach Hause.
Und dann kamen die Sommerferien, die Leon in Kanada bei seinem Vater verbrachte. Ich war für eine Weile mit Franka in England und für eine weitere Weile mit meinen Eltern in Schweden und den Rest der Zeit zu Hause in meinem Zimmer oder im Naturkundemuseum.
Leon schickte mir vier kanadische Ansichtskarten, die er alle mit „Kuss, dein Leon“ unterschrieb.
Er fehlte mir. Von dem Kuss in seinem Zimmer hatte ich niemandem erzählt. Nicht einmal Franka, obwohl ich selbst nicht verstand, warum ich es nicht tat. Der Kuss war mein Geheimnis mit Leon. Es war mein erster Kuss gewesen. Franka hatte schon eine Menge Jungen geküsst, aber ich nur Leon. Und nur dieses eine Mal. Ein paar Mal schaute ich mir mein Gesicht im Spiegel an. Ich sah meine glatten, braunen Haare, meine schiefergrauen Augen mit den geraden Wimpern, meine gewöhnliche Nase und meinen schmalen Mund, den Leon geküsst hatte.
Franka war blond und sie hatte eine Stupsnase und weit auseinander stehende blaue Augen. Ich fand Franka viel hübscher als mich selbst. Franka war laut und lustig und immer ein bisschen verrückt, und sie konnte gut tanzen. Ich selbst tanzte eigentlich nie, ein paar Mal hatte ich es versucht, aber ich fühlte mich nicht besonders wohl auf der Tanzfläche, wo mich alle von Kopf bis Fuß sehen konnten.
Manchmal lag ich stundenlang in meinem Zimmer auf dem Bett und tat nichts weiter, als den hellen Schatten zuzuschauen, die an meiner Zimmerwand tanzten, wenn die Sonne durch die Fensterscheibe schien.
Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wie es sein würde mit Leon und mir nach den Ferien. Waren wir jetzt ein Paar? Liebte Leon mich? Liebte ich ihn? Was würden die anderen sagen, wenn Leon und ich tatsächlich ein richtiges Paar würden? War das Liebe? Wie würde es weitergehen?
Es war lange her, dass ich Leon nackt gesehen hatte, bestimmt sechs, sieben Jahre. Früher hatten wir uns im Schwimmbad immer in derselben Kabine umgezogen, aber irgendwann hatte das aufgehört. Ich erinnere mich noch genau an Leons kantige Schultern, an seine dünnen, sehnigen Arme und seine immerzu aufgeschlagenen Knie. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, mit Leon Hand in Hand über eine Wiese zu laufen, so wie früher. Oder meinen Kopf gegen seinen nackten Oberkörper zu lehnen. Konnte man sich überhaupt in jemanden verlieben, der jahrelang der beste Kumpel gewesen war? Und mit ihm ein Paar werden?
Warum Leon mich wohl geküsst hatte an diesem Abend? Hatte er sich das vorgenommen oder war es ganz spontan passiert? Ob er jetzt in diesem Moment wohl auch an mich dachte?
Ich hatte seine kanadische Telefonnummer natürlich in meinem Adressbuch stehen, schließlich war Leon schon ein paar Mal in den Ferien bei seinem Vater zu Besuch gewesen. Und früher hatte ich ihn ab und zu dort angerufen. Er selbst rief niemals aus Kanada an, seinem Vater war das zu teuer. Aber dieses Mal rief ich auch nicht an, obwohl ich den Telefonhörer schon in der Hand hielt.
Dann begann das neue Schuljahr und wir bekamen einen neuen Lehrer, der sich nichts aus Bienenwachskerzen und Bergamottduft machte, und eine neue Mitschülerin, Friederike.
2
Leon und ich trafen uns auf dem Schulhof. Es war sehr heiß, sogar der leichte Morgenwind war schon warm. Langsam ging ich auf Leon zu, der mit zusammengekniffenen Augen an einem Baum lehnte und sein Gesicht in die Sonne hielt. Es war wie immer nach den Ferien und es war gleichzeitig ganz anders.
„Hallo“, sagte ich zögernd und blieb vor Leon stehen. Ich spürte meinen Herzschlag im ganzen Körper.
„Hallo“, antwortete Leon, stieß sich vom Baum ab und lächelte mir zu.
„Wie braun du bist“, sagte ich.
„Wie lang deine Haare geworden sind“, sagte Leon und nahm vorsichtig ein paar meiner sommerlich ausgebleichten Haarspitzen zwischen seine Finger. Leon mochte lange Haare, das wusste ich.
Und in diesem Moment tat er es wieder. Er beugte sich zu mir hinunter und küsste mich. „Du hast mir fürchterlich gefehlt, Marie“, sagte er.
„Du mir auch“, sagte ich.
Nebeneinander gingen wir auf den Mittelstufenpavillon zu.
„Ich dachte, du würdest mich mal anrufen“, sagte Leon. „Immer, wenn das Telefon geklingelt hat, war ich sicher, diesmal bist du es.“
„Ich wollte dich anrufen“, sagte ich mit Nachdruck. „Aber …“
„Aber?“, wiederholte Leon und schaute mich von der Seite an.
„Ich weiß nicht“, sagte ich.
„Ich habe viel an dich gedacht“, sagte Leon und zog die Pavillontür auf. „Ich habe dich vor mir gesehen, wie du mit selbstvergessenem Blick durch dein Museum wanderst, von Raum zu Raum, und dir alles darin zum tausendsten Mal ansiehst. Deinen Säbelzahntiger, dein Mammut, deinen verrückten Zweitonnen-Stegosaurus mit dem Minigehirn …“
Wir lächelten uns zu. Und in diesem Moment sprach uns ein Mädchen an.
„Hallo, ich bin neu hier“, sagte sie. In ihrer Stimme lag ein leichter Akzent. „Ich heiße Friederike“, fuhr sie fort und schaute mehr Leon als mich an. Und Leon schaute zurück, schaute fasziniert und wie gebannt zurück. Das Mädchen war fast unnatürlich schmal und ihre Augen waren flaschengrün und sie hatte ein wunderschönes Lächeln.
„Ich habe die letzten Jahre in Oklahoma gelebt, mein Dad ist Amerikaner. Aber jetzt sind meine Mom und ich zurückgekommen“, erklärte sie und fuhr sich durch die Haare. „Ziemlich heiß heute“, sagte sie seufzend. Ihre Haare waren lang und rot und wild und lockig. Richtig schön war sie eigentlich nicht, aber trotzdem war sie schön. Genau genommen hatte ich noch nie einen so schönen Menschen gesehen, da war ich mir sicher. Leon schien das genauso zu sehen. Ich fühlte mich plötzlich eigenartig. Ich spürte, dass etwas geschah. Es war so offensichtlich und eindeutig. Es war, als zöge das rothaarige Mädchen Leon an unsichtbaren Gummibändern zu sich hinüber. Und Leon wehrte sich nicht. Natürlich blieb er neben mir stehen, aber das war nur äußerlich, denn er schaute Friederike immerzu an, und es kam mir so vor, als wäre er unter seiner Sonnenbräune blass geworden. Innerlich waren plötzlich Welten zwischen uns. Es war ganz klar: Leon hatte sich verliebt. In einer Sekunde war alles anders geworden.
Leon gehörte nicht mehr zu mir. Unsere Zeit war vorüber. Langsam, sehr langsam rührte er sich plötzlich.
„Ich heiße Leon“, sagte er vorsichtig. „Und das ist … meine Freundin Marie.“
„Hallo, Marie“, sagte Friederike freundlich und richtete ihren Blick auf mich. Ich lächelte zurück, obwohl mir innerlich eiskalt wurde. Ich wollte schreien und aufhalten, was passieren würde. Sie würde mir Leon wegnehmen, einfach nur durch ihre Anwesenheit, durch die Tatsache, dass er sie seit heute kannte. Unsere Vergangenheit, unsere Vertrautheit, unser Kuss, alles würde zu Ende sein.
In diesem Moment kamen, wie in einem Schwall, die anderen. Franka, Kristina, Jakob, Murat, Lilli und Samir. Zwischen Leon und Franka stolperte ich benommen in die Klasse hinein. Friederike blieb irgendwo hinter uns zurück.
„Wo willst du sitzen?“, fragte Franka mich und schaute sich um. Immer gab es am ersten Schultag nach den großen Ferien ein Riesengedränge um die Sitzplätze. Alle wollten gerne in die Fensterreihe. Keiner favorisierte die Mittelreihe, wer es nicht schaffte, einen Platz in Fensternähe zu bekommen, wollte in die Türreihe. Und jeder wollte so weit wie möglich hinten sitzen.
„Ich …“, stotterte ich und suchte Leons Blick.
„Marie, komm hier rüber“, rief Leon und ließ seinen Rucksack auf einen der hinteren Tische in der Fensterreihe plumpsen. War es möglich? Konnte doch alles gut sein? Hatte ich mir das alles nur eingebildet? Ich nickte Leon hastig zu und schaute mich dann nervös nach dem neuen Mädchen um. Friederike stand neben Samir. Samir stammt aus Algerien und ist wunderschön. Wie Friederike. Ich fühlte mich beklemmend unscheinbar und gewöhnlich und plump, als ich hastig an den beiden vorüberging.
„Alles klar?“, fragte Leon, als ich mich neben ihn setzte.
Ich nickte, aber ich konnte ihn nicht ansehen.
„Was hast du?“, fragte Leon. Seine Stimme klang angespannt und nervös. Er spürte ebenfalls, dass plötzlich etwas zwischen uns nicht mehr stimmte.
„Nichts“, sagte ich und drehte meinen Kopf weg. Meine Hände zitterten. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass Franka und Jasmin sich an den Nebentisch in der Mittelreihe gesetzt hatten. Mein Platz war also wieder zwischen Leon und Franka, so wie im vergangenen Jahr und im Jahr davor.
Ich war erleichtert, als unser neuer Klassenlehrer zur Tür hereinkam. Ab der Neunten hieß er bei uns Klassenbetreuer. Wir kannten ihn schon: Im letzten Jahr hatte er uns Werkunterricht gegeben.
„Hallo, alle zusammen“, begrüßte er uns freundlich und lächelte uns zu.
Und von dem Tag an gab es keine flackernde Bienenwachskerze und keine Duftöllampe mehr.
Alles wurde anders.
Die erste Schulwoche glitt an mir vorüber. Leon küsste mich morgens zur Begrüßung und mittags an der Bushaltestelle, ehe wir in verschiedene Richtungen davonfuhren. Es waren kleine, kurze, eilige, fast verlegene Küsse, die mich verletzten. Früher hatten wir uns gar nicht geküsst, aber keine Küsse waren besser als eilige Küsse, die irgendwie schuldbewusst und geistesabwesend wirkten.
Friederike fuhr mit dem Fahrrad, zusammen mit Samir, der nur ein paar Straßen von ihr entfernt wohnte. Und alle mochten sie.
„Wann treffen wir uns mal?“, fragte ich Leon, trotz dieser eiligen Küsse, an den ersten drei Schultagen. Aber Leon hatte keine Zeit.
„Zahnarzttermin“, sagte er am Montag.
„Der Hund hat die ganze Nacht gekotzt, der muss zum Dackeldoktor“, sagte er am Dienstag.
„Ich fahre mit Paula zu Theresa“, sagte er am Mittwoch. Paula war Leons Mutter und Theresa war Leons Uroma. Seine Oma lebte seit zwei Jahren auf Lanzarote, was seine Uroma immer noch ärgerte.
Ich könnte im Wartezimmer auf dich warten.
Wir könnten zusammen zum Tierarzt gehen.
Ich bin schon früher mit zu Theresa gefahren.
Nichts davon sagte ich.
„Ach so“, sagte ich stattdessen.
„Sei nicht sauer“, bat Leon und schaute mich halb an und halb nicht an.
Ich schwieg.
„Du bist doch sauer“, sagte Leon.
„Nein“, erwiderte ich schnell.
Mehr sagten wir nicht. Aber ich sah die Blicke, mit denen er Friederike anschaute, ihren Rücken anstarrte. Friederike saß ganz vorne, neben Samir. Samir hatte mittellange, schwarze Locken und Friederike hatte lange, rote Locken. Schön sah das aus. Manchmal drehte Friederike sich ganz plötzlich für einen Moment um, so als spüre sie Leons Blick, und dann schaute Leon hastig weg. Ich konnte den Ruck, der durch seinen Körper ging, sehen und fühlen, und er tat mir weh.
„Was ist los mit dir?“, fragte Franka am Donnerstag.
Ich zuckte mit den Achseln und schwieg.
„Gehst du heute Nachmittag mit ins Schwimmbad?“, fuhr Franka fort. Wir saßen zusammen auf der kleinen Schulwiese neben der Sporthalle. „Die halbe Klasse kommt.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Warum nicht?“, fragte Franka.
„Keine Lust“, sagte ich und dachte an Leon. Würde er wohl mit ins Schwimmbad gehen? Aber Leon hatte donnerstags Klarinettenunterricht. Was war mit Friederike?
„Ich glaube, ich gehe ins Museum“, murmelte ich und dachte an die Museumsmitglieder-Einladung, die zu Hause in meinem Zimmer an meiner Pinnwand steckte. Heute Nachmittag fand im Museum ein paläontologischer Vortrag über die Dinosaurier der Kreidezeit statt.
„Ist es okay, wenn ich mitkomme?“, fragte Franka.
„Hast du denn Lust?“, erkundigte ich mich misstrauisch.
Franka zuckte mit den Achseln. „Geht so“, sagte sie. „Aber ich mag mit dir zusammen sein. Wenn es sein muss, sogar zwischen deinen geliebten Dinosaurierknochen und verstaubten Fossilien. Und der Donnerstag ist, wie du weißt, mein einziger freier Nachmittag.“
Das stimmte, Franka war fast immer verplant. Sie spielte Cello, war in der Theater-AG und machte Tai-Chi.
Also trafen wir uns am frühen Nachmittag im Museum. Draußen war es so heiß, als wollte der Sommer noch einmal alles geben, was er zu bieten hatte. Natürlich war das eher Schwimmbadwetter als Museumswetter, aber das war mir egal.
„Hallo, Marie“, sagte die Frau an der Kasse und lächelte mir zu, als ich meinen Mitgliedsausweis vorzeigte, mit dem ich kostenlosen Zutritt zum Museum hatte.
„Hallo, Bernadette“, sagte ich.
Als Franka ihr Portemonnaie hervorholte, um sich eine Eintrittskarte zu kaufen, winkte Bernadette großzügig ab und ließ meine Freundin ebenfalls umsonst hinein.
„Marie, wenn ihr noch zum Vortrag wollt, müsst ihr euch aber beeilen“, rief in diesem Moment ein baumlanger, sehr dünner Mann von der Treppe und tippte auf seine Armbanduhr. Es war Simon, der stellvertretende Museumsleiter. „Der Professor hat schon angefangen und es ist ziemlich voll!“
Franka und ich schauten uns an.
„Wir gehen lieber nur so ein bisschen herum“, sagte ich zu Simon und sah, dass Franka aufatmete. Wir liefen schweigend durch den Fischfossilien-Saal und anschließend durchquerten wir die Dinosaurierfrühzeit. Schließlich standen wir vor einem hermetisch verschlossenen Schaukasten, in dem ein mumifizierter Pterodactylus-Saurier lag.
„Es ist wegen Friederike, habe ich Recht?“, sagte Franka plötzlich.
„Was?“, stotterte ich.
„Dass du so mies drauf bist, meine ich“, fuhr Franka fort.
Ich schwieg und starrte weiter auf den knittrigen, mumifizierten Dinosaurierkörper.
„Es ist ja nicht zu übersehen, was mit Leon los ist“, sagte Franka.
Also sahen es alle.
„Aber es war doch klar, dass sich einer von euch mal verlieben würde, in irgendwen“, sagte Franka. „Deswegen bleibt ihr doch trotzdem Freunde.“
Aber wir hatten uns gerade verliebt – ineinander – irgendwie. Der Kuss. Warum hatte ich Franka nur nichts von dem Kuss erzählt? Jetzt war es zu spät. Schließlich wollte ich mich nicht noch lächerlicher machen.
„He, Marie, nun sag mal was“, bat Franka.
Aber ich schwieg weiter. Ich fühlte mich wie ausgeknipst. Ganz aus der Ferne bekam ich mit, wie ich meine heiße Stirn gegen die kühle Scheibe des Schaukastens lehnte.
„Und überhaupt“, fuhr Franka fort und streichelte kurz meinen Rücken, während sie sprach. „Ich glaube, Friederike will gar nichts von Leon. Sie hängt doch dauernd mit Samir zusammen.“
Ich schwieg und schwieg und schwieg.
„Komm, gehen wir mal weiter“, sagte Franka irgendwann. Und das taten wir. Wir sahen den Archaeopteryx und den kleinen Compsognathus und das nachgebaute Skelett des riesigen Tyrannosaurus Rex. Ganz am Ende des Saales stand mein Lieblingsdinosaurier: der plumpe Stegosaurus mit den unzähligen, stumpfen Zähnen und dem winzigen Gehirn in seinem riesigen Schädel. Friedlich, freundlich, naiv lächelte er vor sich hin. Genau hier hatte ich schon unzählige Male zusammen mit Leon gestanden. Alles, was er über dieses Museum wusste, hatte ich ihm erzählt. Dabei war es seine Mutter gewesen, die uns beiden zu unseren neunten Geburtstagen im März und im April den ersten Museumsmitgliedsausweis geschenkt hatte. Aber nur ich hatte meinen seit damals immer wieder verlängert.
Stumm starrte ich auf den stummen Stegosaurus-Saurier. Und dann fing ich an zu weinen.
„Mensch, Marie“, sagte Franka erschrocken und legte ihren Arm um mich. „Du bist eben doch in den Blödmann verliebt!“
Ich zuckte mit den Achseln und weinte weiter. Tonlos, aber unfähig, wieder aufzuhören. Ich spürte, wie nass mein Gesicht war, und als ich zu dem gesprenkelten Museumsboden hinunterschaute, tropften meine Tränen auf die Erde wie dicke Regentropfen.
„Marie, um Himmels willen, was ist passiert?“, hörte ich plötzlich Simons Stimme. Ich machte mich so klein wie möglich. Eine Antwort hatte ich für den besorgten Museumsleiter nicht.
„Nach Hause, bitte …“, flüsterte ich Franka zu.
Und dann gingen wir.
Marie, um Himmels willen, was ist passiert?, hatte Simon gefragt. Wir liefen die backofenheiße Straße entlang. Ich wusste, was passiert war. Ich war unwichtig, unbedeutend, unscheinbar. Eine lästig gewordene Kindheitserinnerung, dürr, blass, nichtssagend. Vergangenheit, eben.
„Ich hasse alles“, flüsterte ich und trat gegen eine zerbeulte Coladose, die vor mir auf dem Gehweg lag. Die Dose schepperte trostlos davon, überschlug sich ungelenk und blieb nahe des Bordsteins liegen.
Am Freitag hatte ich Kopfschmerzen und ging nicht in die Schule.
3
Am Montagmorgen in der ersten Stunde sagte Herr Winter es.
„Klassensprecherwahl. Ihr kennt das ja. Ich nehme an, ihr bekommt die Angelegenheit schnell über die Bühne.“
Er griff nach einem Stück Kreide.
Klassensprecher sind, wie gesagt, immer ich und Leon gewesen. Jahr für Jahr.
„Vorschläge?“, fragte Herr Winter und warf das Kreidestück von einer Hand in die andere. Es war gelb, ich kann mich genau erinnern.
„Marie“, sagte Jasmin.
„Leon“, sagte Murat.