Die Verlässlichkeit des Zufalls - Theo M. Schlaghecken - E-Book

Die Verlässlichkeit des Zufalls E-Book

Theo M. Schlaghecken

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Beschreibung

Aktualisierte Auflage Dies ist mein zweites Buch. Das erste ist nie erschienen. Es durfte nicht erscheinen! Dabei fiel es mir so leicht, davon zu schreiben, wie ich an jenem Weihnachtsabend auf die Idee kam, mit einem Motorrad um die Welt zu fahren, wie ich kurz darauf Job und Wohnung kündigte, meine Freundin verließ und zum Abenteurer wurde. Und doch durfte jenes Buch nie erscheinen, denn ich hätte damit allen, die es lesen würden, und auch mir selbst nur etwas vorgemacht. Dieses zweite Buch jedoch war nicht mehr so einfach zu schreiben, denn es ist ein sehr persönliches Buch geworden. Es erzählt, warum ich damals wirklich ausgestiegen bin. Wie wenig ich doch ein Abenteurer war, wie viel die Welt mir doch zugesetzt hatte, und wie grob ich war bei den Versuchen, wieder in ein normales Leben zurückzufinden. Es geht um Landminen und Überfälle, um Armut, Schicksale, das Glück ... und um ein Holztäfelchen. Es geht um Beziehungsflucht und Liebe, um das Ankommen im Leben - und immer wieder darum, wie sehr wir uns auf den Zufall verlassen können.

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Der Autor

Theo M. Schlaghecken, Jahrgang 1967, wuchs auf einem Bauernhof in Kleve am Niederrhein auf und studierte Betriebswirtschaftslehre in Bochum und Manchester. Nach dem Studium arbeitete er als Unternehmensberater in der Nähe von Frankfurt.

Nach Jahren in diesem Beruf beschloss er, eine Weltreise auf dem Motorrad zu unternehmen und gab dafür seine Karriere auf. Nach über zwei Jahren und 53 Ländern kehrte er zurück.

Heute ist er freiberuflicher Unternehmensberater.

Einige Namen in diesem Buch wurden zum Schutz oder auf Wunsch der betreffenden Personen geändert. Die einzelnen Erzählungen basieren auf den Erinnerungen und persönlichen Erfahrungen des Autors.

„… und vielleicht ist „der Zufall“ nur ein künstliches Erklärungskonstrukt, ein dünnes Schleiertuch, das uns schützt vor dem unerträglichen Blick auf unsere immense Ahnungslosigkeit vom zusammenhängenden Großen und Ganzen, das unser Leben und die Welt ausmacht.“

Für Achiko,

den georgischen Polizisten,

der mich auf seine Art davon überzeugte,

dieses Buch zu schreiben.

Inhalt

Leichtsinn

Das Beste

Das Geschenk

Just Do It

Zehn Wochen

Die Georgische Tafel

Der Zufall

Die Optiker

Neben mir

Ihr seid zu viele

Agra

Wartehalle des Todes

Splitter

Hermann

Die Ordnung des Glücks

Halbzeit

Das Buff

Gefährliches Zuckerrohr

Das Lagerfeuer

Der Tinnitus

Das Kräuterbonbon

Die Freiheit

Das Manuskript

Achiko

Heimkehr

Nachwort

Leichtsinn

Damals war ich neununddreißig Jahre alt. Single. Kinderlos. Gutes Gehalt. Firmenwagen. Mietwohnung in der Nähe von Frankfurt. An jenem Tag saß ich an meinem Schreibtisch und grübelte über irgendeine Strategie für einen Klienten nach, wie so oft in den vergangenen zehn Jahren in diesem Job als Unternehmensberater. Doch jener Tag fühlte sich so völlig anders an als alle anderen zuvor.

Nervös rutschte ich auf meinem Arbeitsstuhl umher. Meine Finger hielten verschwitzt den Bleistift, und ich konnte mich nur schlecht konzentrieren auf das vor mir liegende Arbeitspapier der Bank, die ich beraten sollte. Meine Gedanken rotierten in meinem Kopf, wollten weg von dem Papier, sich mit Wichtigerem beschäftigen. Ruckartig stand ich auf, lief in meinem Bürozimmer auf und ab, atmete noch einmal tief ein und sprach laut vor mich hin, was ich dem Inhaber der Beratungsfirma gleich sagen wollte.

Also, am besten so: »Herr Dr. Kreis, Sie müssen mir helfen, ich habe lange nachgedacht, und ich möchte mein Leben verändern.«

Nein, Blödsinn, das klingt nicht gut, klingt so theatralisch und auch irgendwie hilflos. Also anders. Vielleicht so: »Herr Dr. Kreis, ich habe lange überlegt und einen Entschluss gefasst, der mein Leben in nächster Zeit verändern wird.« Ja, ist besser, klingt bestimmter und schon viel selbstsicherer.

Aber noch hatte ich es nicht getan, noch war ich nicht auf dem Weg in sein Büro, um die Bombe platzen zu lassen, noch war nichts passiert. Noch konnte ich hier einfach weiterarbeiten und am Abend wie auch an den letzten bestimmt tausend Abenden zurück in meine Zweizimmerwohnung fahren, von unterwegs schon Pizza Nr. 39 mit zusätzlich schwarzen Oliven bestellen, einen guten Rotwein öffnen, mein Zwergkaninchen kraulen, auf dem Boden vor meinem niedrigen Wohnzimmertisch sitzen und mich beim Fernsehen ein wenig entspannen. Nichts wäre passiert. Ich könnte meinen Firmenwagen behalten, bekäme weiterhin ein gutes Gehalt, könnte herumreisen und mich mit »wichtigen« Leuten unterhalten. Also warum sollte ich hinüber zu Dr. Kreis gehen und das alles beenden?

»Eigentlich ist es schwachsinnig zu kündigen«, sagte ich leise zu mir, als ich mich wieder an meinen Schreibtisch setzte. Ich sollte bald Partner in der Firma werden, das Höchste, was man hier erreichen konnte. Dann fing das Geldverdienen erst richtig an. »Mann, was muss ich verrückt sein«, flüsterte ich leise und schüttelte den Kopf.

»Komm Theo, jetzt tu es«, ermutigte ich mich wieder selbst. Lange genug hatte ich darüber nachgedacht und alles abgewogen. Nein, wirkliche Zweifel gab es nicht. Doch sich für etwas zu entscheiden ist etwas anderes, als es dann auch zu tun. Ich soll einfach meine Karriere beenden, jetzt und hier? Allein der Gedanke daran legte mir einen dicken Kloß in den Hals. Komm schon!

Erneut riss ich mich los von meinem Bürostuhl. Zog mein Jackett über und rückte die Krawatte zurecht. Ich holte noch einmal tief Luft und öffnete schwungvoll die Bürotür. Auf geht's.

Kollegen gingen in ihre Unterlagen vertieft an mir vorbei. Andere wollten Termine mit mir absprechen, doch ich ging nicht auf sie ein. Der Hausmeister tauschte gerade ein paar Glühbirnen aus und grüßte freundlich von der Leiter herunter. Alles war so normal, so wie immer. Nur für mich war in diesen Minuten nichts wie immer.

Die Bürotür von Dr. Kreis stand offen. Mein Herz jagte, als ich anklopfte. »Kommen Sie herein«, sagte er freundlich mit seiner tiefen Stimme, deutete mit einer einladenden Handbewegung auf die schwarze Ledercouch und bat um einen Moment Geduld. »So«, sagte er lächelnd, als er sich kurz darauf in den Sessel mir gegenüber fallen ließ und die Beine übereinanderschlug »Nun bin ich ganz für Sie da. Worum geht es?«

Alle Vorbereitung hatte nichts genutzt, ich hatte vergessen, was ich mir zurechtgelegt hatte und redete einfach drauflos. »Also, ich fall mal gleich mit der Tür ins Haus, Herr Dr. Kreis. Ich möchte mich verändern, möchte meinem Leben eine andere Richtung geben. Eine völlig andere als bisher.« Ich senkte meinen Blick zu Boden, um sofort danach mit großer Entschlossenheit in den Augen aufzuschauen.

»Herr Dr. Kreis, ich möchte aussteigen. Ich werde mir ein Motorrad kaufen und damit einmal um die Erde fahren.«

»Wie ...?«

»Ja. Über fünfzig Länder habe ich mir vorgenommen, fast alle Kontinente, hunderttausend Kilometer. Das Ganze wird in etwa zwei Jahre dauern. Also, ich kündige heute meinen Arbeitsplatz.«

Ich hörte mich selbst dies sagen und konnte es nicht fassen. Hatte ich das wirklich gesagt?

Dr. Kreis zeigte sich professionell gefasst. Ich sah, wie sich seine Stirn runzelte und er bereits gedanklich die Folgen für die Firma abprüfte.

»Nun, wenn ich das sagen darf, das ist schon überraschend. Sie haben es bis hierher geschafft, sind gut in der Firma und bei den Kunden positioniert, es ist ein sicherer Arbeitsplatz und die Aussichten für die nächsten Jahre sind gut. Sie wissen doch, dass wir Sie als Partner vorgesehen haben?«

Ich nickte nur und blickte ihn an.

»Sind das nicht alles – auch vor dem Hintergrund ihres Alters – gute Voraussetzungen, um sich so langsam einmal zu ›setteln‹, zur Ruhe zu kommen. Finden Sie nicht? Wäre es nicht Zeit für geordnete Bahnen? Eine Familie, Kinder, ein eigenes Haus?«

Ich schaute ihn mit großen Augen an. Nichts von dem, was er sagte, erreichte mich. Im Gegenteil, es war genau das, was ich nicht wollte. Es klang für mich mehr nach einem Endbahnhof, nach der Zielgeraden hinein in die Rente, nach dem Aus für die tausend anderen Möglichkeiten und Erfahrungen, die am Rande dieser »geordneten Bahnen« zu finden waren. Ich sagte nichts, wollte nicht argumentieren und schüttelte nur langsam den Kopf. Dr. Kreis merkte, dass es an dem Entschluss nichts zu rütteln gab.

»Okay«, seufzte er, »ich brauche eine Aufstellung über Ihre aktuellen Projekte, deren Status und was noch zu tun ist.« Dann begann er mit mir über die Formalitäten des Ausstiegs zu sprechen. Dazu, dass ich vorhatte, die Welt mit einem Motorrad zu umfahren, dazu sagte er nichts, gar nichts. Nicht, dass er es toll, mutig, waghalsig, bescheuert, leichtsinnig oder sonst wie fand. Er ignorierte es einfach und besprach mit mir in aller Sachlichkeit meinen Ausstieg.

Hundert Prozent Business, da schien kein Platz für anderes zu sein. Kein Platz für jede Vorstellung, die nichts mit der Businesswelt zu tun hatte, kein Platz für Gedanken, die nicht in die allgemein üblichen Vorstellungen davon, wie ein Leben oder eine Karriere abzulaufen hatte, hineinpassten. Jetzt erst merkte ich, wie geschlossen, in sich abgekapselt hier die Businesswelt operierte, wie sie bei so etwas völlig anderem als »Geschäft« nicht mitreden konnte oder wollte.

Eilig ging ich zurück in mein Büro, vorbei an den Kollegen, vorbei an dem Hausmeister. Alles um mich herum war wie immer, nur ich war es nicht mehr.

Ich wollte nur noch für mich sein, spüren, wie es sich jetzt anfühlte. Die Tür zu meinem Büro fiel ins Schloss, ich fiel in meinen Stuhl, die Anspannung fiel ab von mir. Augen zu. Komm Theo, wie ist das jetzt? Bedauerst du es? Mein Puls beruhigte sich, und mit einem Mal wurde mein Atem so leicht und tief, die verkrampften Muskeln gaben nach, meine Arme baumelten rechts und links vom Stuhl herunter, und eine unerklärliche Gewissheit, gerade eben genau das Richtige getan zu haben, ließ mich so zufrieden, so glücklich grinsen wie selten zuvor.

Es war erst halb fünf, doch es gelang mir nicht mehr, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Für heute machte ich Schluss. Das automatische Tor der Firmengarage öffnete sich langsam. Kaum war es hoch genug, gab ich Gas. Das Dach meines Cabrios war offen, alle Fenster waren unten, der Wind blies mir von allen Seiten um den Kopf, immer noch konnte ich nicht glauben, was ich heute getan hatte; ich riss mir die Krawatte vom Hals, schlug die geballte Faust gegen das Lenkrad und schrie: »Ja, ja, ... jaaa! Ich hab’s getan. Ich habe es getan.«

Gerade eben hatte ich alles, wofür ich jahrelang gearbeitet hatte, einfach über Bord gekippt. Den Job, die Karriere, die Wohnung, den Firmenwagen. All das hatte ich gerade mit einem kurzen Gespräch aufgegeben und dennoch, in diesem Moment war nichts von Traurigkeit darüber, kein Bedauern, kein Zweifel. Ganz im Gegenteil, es war, als hätte jemand einen Stein von meiner Brust heruntergenommen, und immer noch atmete ich so tief, so leicht, so mühelos und voll, wie ich selten zuvor einen Atemzug getan hatte. Und eine Schwere löste sich auf, die sich über Jahre hinweg ganz langsam und unmerklich auf mich gelegt und mir immer mehr die Luft zum Atmen genommen hatte.

Ja, ich hatte es geschafft. Ich war hier ausgebrochen!

Das Beste

So richtig verstanden hatte ich meine Entscheidung, einfach so mit einem Motorrad um die Welt zu fahren, bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich war alles andere als ein Draufgänger oder Abenteurer. Ich war nie mit Interrail-Ticket und Rucksack unterwegs durch Europa gewesen, die Urlaube hatte ich als Jugendlicher möglichst mit meinen Eltern verbracht und die Ferienlager gehasst, zu denen sie mich einfach anmeldeten. Auch Zelten oder Nachtwanderungen waren nichts für mich. Meine Zeit verbrachte ich am liebsten zu Hause auf dem Bauernhof und konnte mir nicht vorstellen, einmal von dort auszuziehen. In mir steckte absolut nichts von einem Abenteurer.

Auch mein Lebenslauf war bis dahin klassisch gewesen: eine Bankausbildung, ein Wirtschaftsstudium, dann gleich in die Unternehmensberatung. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass ich mich mal dafür entscheiden könnte, auf einem Motorrad mit einem Zelt zwei Jahre lang durch Länder wie Pakistan, Iran, Kolumbien oder Tansania zu fahren. In so ein Leben passte das nicht hinein.

Nur meine Leidenschaft für das Motorradfahren war früh da. Mein Vater hatte sie geweckt mit dem Vorschlag, doch mit dem Auto- auch den Motorradführerschein gleich mit zu machen. Da könne man die Grundgebühr der Fahrschule sparen und man wisse nie, wofür sowas mal zu gebrauchen sei.

Kaum hatte ich den Führerschein in der Tasche, wollte ich mir ein Motorrad zulegen, doch er verbot es mir. »Zu gefährlich!«, sagte er und kam, als ich das nicht einsehen wollte, mit Sprüchen wie »Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst …«. Weshalb hatte er mir dann den Führerschein bezahlt?

Ein Jahr später, ich war neunzehn, reisten meine Eltern für zwei Wochen nach Kanada. Sie gönnten sich dort einen der wenigen Urlaube in ihrem Leben als Bauern. Zu der Zeit war ich schrecklich verliebt in eine schwarze Suzuki VX 800, und gegen den Willen meiner Eltern kaufte ich sie einfach. Nun musste ich ihnen, wenn sie wiederkamen, meine Tat nur noch gestehen. Der Tag kam schnell, denn am Samstag darauf sollte ich sie in Düsseldorf vom Flughafen abholen. Wie brachte ich es ihnen nur bei, das mit »Susi«?

Ich stellte das Motorrad mitten in unsere Garage, putzte es blitzblank, schmückte es mit Ballons und Luftschlangen und fuhr zum Flughafen. Auf dem Rückweg erwähnte ich beiläufig, dass ich jetzt in ihrer Abwesenheit »jemanden kennengelernt« hätte.

»Sie sieht wirklich gut aus, hat echt Power, und wir waren schon viel zusammen unterwegs«, erklärte ich meinen Eltern, die mir mit großen Augen zuhörten und nichts dazu sagten. »Ich muss euch noch was sagen«, erzählte ich weiter, und die Augen meiner Mutter wurden immer größer, während ich im Rückspiegel sah, wie mein Vater die Stirn runzelte. »Sie heißt Susi, und sie ist schon bei uns eingezogen. Sie findet auch, unser Haus ist groß genug.« Danach schwiegen meine Eltern während der ganzen Fahrt, keine Fragen, keine Kommentare, nichts.

Zuhause angekommen, standen wir mit dem Wagen vor dem Garagentor. Ich drückte auf die Fernbedienung, das Tor öffnete sich und gab langsam den Blick auf meine Susi in ihrer ganzen Pracht frei. »Das ist sie, meine Susi!«, sagte ich stolz und war auf ein Donnerwetter gefasst. Doch mein Plan ging auf. Ihre Erleichterung, dass Susi nur ein Motorrad war, war so groß, dass sie meine Freundin herzlich willkommen hießen und ich glücklich mit Susi zusammen bei meinen Eltern wohnen durfte. Seit diesem Tag bin ich nie wieder ohne Motorrad gewesen.

Auch wenn mein Vater mir damals strikt verboten hatte, ein Motorrad zu kaufen, wirklich streng war er nicht. Vielmehr war er ein vorsichtiger, planender und vorausschauender Mensch. Ihm war es immer wichtig, auf alles vorbereitet zu sein. Selten überließ er etwas dem Zufall. »Hast du an alles gedacht?«, »Bist du gut vorbereitet?«, »Mach doch zur Sicherheit nochmal dies oder jenes«, waren Sätze, die ich oft von ihm hörte. Sie schienen mich geprägt zu haben, offenbar so sehr, dass ich sogar jahrelang ein kleines Plastikschild auf meinem Schreibtisch stehen hatte, das mich in Großbuchstaben ermahnte: »Sind Sie vorbereitet?« Und vor jedem Klientenbesuch tat ich alles, um wirklich auf jede Frage, auf jedes mögliche Problem eine Antwort zu haben. Nicht vorbereitet sein, das gab es nicht.

Aber war es nicht so, dass man als Kind nach Orientierung suchte, nach Regeln, danach, was man am besten tut und was nicht, um möglichst gut durch das Leben zu kommen? Und wer sollte es besser wissen als die Eltern? Sie waren diejenigen, die sich auskannten im Leben, diejenigen, die mir sagten, was ich tun musste, wie ich mich zu verhalten hatte, wie ich etwas bewerten sollte. Also nahm ich das, was sie mir sagten, als »wahr« an und machte damit das, was sie sagten, zu meiner Wahrheit, zu meinen Glaubensgrundsätzen, zu meinem Drehbuch für mein Leben, für mein Denken, mein Fühlen und mein Handeln. Das Schildchen auf meinem Schreibtisch war ein guter Beweis dafür.

Oft hörte ich meinen Vater auch sagen: »Junge, die Welt steht dir offen, such dir das Beste für dich aus, ich unterstütze dich, was immer du willst.« War das nicht großartig? Ich hatte einen Vater, der mir nicht vorschrieb, was das Beste für mich ist. Er hat niemals gedrängt, niemals gewollt, dass ich sein Lebenswerk fortführte, den Hof übernahm oder einen bestimmten Beruf ergriff. Ich sollte einfach das machen, was das Beste für mich wäre.

Als er zu mir sagte: »Such dir das Beste für dich aus«, war das für mich jedoch mehr als ein Ratschlag, es klang mehr wie ein Auftrag, eine Gebrauchsanweisung für ein glückliches Leben. Doch dieser Auftrag, so gut und so simpel er auch geklungen hatte, hatte mein Leben nicht einfacher gemacht. Im Gegenteil, denn ich las darin zwei Botschaften. Die erste: »Für mich kommt nur das Beste in Frage.« Die zweite: »Es ist an dir zu entscheiden, was das Beste für dich ist.« Nur, woher sollte ich denn wissen, was das Beste ist? Er hatte mir nie gesagt, woran ich »das Beste« erkennen könnte, wie es aussah, wie es sich anfühlte, woran ich es messen könnte. Ich suchte also nach etwas, das ich nicht erkennen würde, selbst wenn es vor mir lag, ich es in Händen hielt. Doch eines wusste ich: Ich musste es suchen.

Wenn man aber nicht weiß, was das Beste ist, ist das, was da ist, demnach nie gut genug, denn es könnte ja noch etwas Besseres geben.

Wenn ich es mir recht überlege, zog sich diese Suche durch mein gesamtes Leben: Ich hasste Entscheidungen, denn bei keiner konnte ich sicher sein, dass ich mich für das Beste entschieden hatte. Also hielt ich immer ein Hintertürchen offen.

Die ersten wichtigen Entscheidungen begannen für mich nach dem Schulabschluss. Ich war neunzehn, als ich das Abitur mit durchschnittlich guten Noten bestanden hatte. Und was nun?

Eltern und Bekannte rieten mir zu einer Banklehre. »Da kannst du nichts mit falsch machen, Jung!« Wirklich interessiert hatte es mich nicht, doch es erschien mir vernünftig, und ich ging zur Bank. Die nächste Entscheidung wurde mir abgenommen. Ich musste zur Bundeswehr. Danach boten mir meine Eltern an, mich bei einem Studium zu unterstützen. Auch ein Studium erschien mir vernünftig, wusste ich doch nichts Besseres.

Am sinnvollsten erschien mir ein Studiengang, der einem alle Möglichkeiten offenhält. So entschied ich mich für Betriebswirtschaftslehre. Damit konnte ich vom Steuerprüfer bis zum Wirtschaftspsychologen, vom Marketingexperten bis zum Controller oder Vorstandsvorsitzenden alles werden. Ja, das schien sinnvoll.

Sinnvoll erschien es mir auch, zusätzlich im Ausland zu studieren, würden sich dadurch doch sicher noch mehr Möglichkeiten ergeben, später einmal.

Das Studium war zu Ende. Ich hatte dabei Einblicke in Buchhaltung, Marketing, Wirtschaftspsychologie, Recht, Personalarbeit, Kostenrechnung und vieles mehr gewonnen. Doch für nichts von alldem empfand ich irgendeine Leidenschaft. Es half nichts, ich musste mich wieder mal entscheiden. Welcher Job?

Auch bei dieser Entscheidung war es mir wichtig, mich nicht festzulegen, keine Türen zu schließen. Ich bewarb mich bei einer Unternehmensberatung. Unternehmensberater sein wollte ich auch nicht wirklich, doch es war sehr vernünftig in meiner Situation, denn ich konnte viele Bereiche und Unternehmen erst einmal kennenlernen und mich dann entscheiden, in welchem Unternehmen, in welchem Bereich und welcher Position ich später einmal in einer »richtigen« Firma arbeiten wollte.

Eines hatte ich in all den Jahren gelernt: den Rückweg offen halten. Unverbindlich bleiben. Sich nicht festlegen. Das konnte ich. Ich hatte nie gelernt, etwas einfach so für mich zu akzeptieren und zu zulassen. Ich hatte nie gelernt anzunehmen, dass das, was jetzt da ist, »das Beste« sein könnte. Und damit war nichts gut genug, nichts das Beste, und immer suchte ich weiter. Ich konnte nicht anders. Es war anstrengend.

Als ich fünfunddreißig Jahre alt war, arbeitete ich bereits seit einigen Jahren als Unternehmensberater und war seit acht Jahren mit Karin zusammen.

Ich lernte sie im Studium kennen, als ich ihr half, die IT-Klausur zu bestehen. Ich lernte mit ihr; sie lud mich dafür auf einen Wein nach Hause ein, und seitdem waren wir zusammen. Wir studierten beide Betriebswirtschaftslehre, brachten unser Studium in Bochum zu Ende, verbrachten noch gemeinsam ein zusätzliches Studienjahr in England und zogen dann in die Nähe von Frankfurt am Main, um dort unsere ersten Jobs anzutreten. Ich in der Beratung, sie bei einer Bank. Wir arbeiteten beide viel und verdienten entsprechend gut. Wir waren »DINKS«, »Double Income, No Kids«.

Uns wurde nie langweilig miteinander. Wir hatten uns immer etwas zu erzählen, hatten den gleichen Humor und unternahmen vieles gemeinsam. Wir arbeiteten jeden Tag zehn bis zwölf Stunden, machten zweimal im Jahr Urlaub, hatten Freunde, feierten jedes Jahr deren und unsere Geburtstage, waren jedes Weihnachten zu Hause bei Karins oder meinen Eltern, trainierten donnerstags im Fitness-Studio und gönnten uns gelegentlich ein Wellness-Hotel. Unser Leben pendelte sich ein, gewann an Rhythmus, an Regelmäßigkeit, an Berechenbarkeit. Jetzt nur noch heiraten, ein Haus bauen, Kinder bekommen und in der Beratung Partner werden, dann wäre alles perfekt. Doch irgendwie war das für mich nichts.

Für mich wäre so ein Leben, so eines, wie Lothar es hatte, nichts. Lothar war seit über zehn Jahren Unternehmensberater in einer Düsseldorfer Consulting-Firma. In dieser Zeit war er dort Partner geworden, hatte Anteile erworben, die er über die nächsten zwölf Jahre noch abbezahlen musste. Er hatte eine recht teure Altbauwohnung mitten in der Stadt gekauft und musste auch die abbezahlen, dazu hatte er einen Schrebergarten gepachtet, in dem er jedes Wochenende seine Gemüsebeete pflegte. Er war verheiratet, hatte drei Kinder, fuhr zwei Mal im Jahr in Wanderurlaub, immer zu denselben Orten, und zeigte mir nach jedem Urlaub die Fotos. Immer sah ich dasselbe darauf, völlig austauschbar, nur seine Kinder auf den Fotos wurden von Jahr zu Jahr älter. Er war erst achtunddreißig, doch für mich fühlte es sich so an, als ob sein Leben schon zu Ende wäre. Was kam da noch außer immer mehr von demselben?

Was ich damals nicht verstehen konnte: Lothar ging es gut dabei. Er schien nichts zu vermissen, genoss sein Leben, wie es war. Er wusste, was er vom Leben erwarten konnte, wusste, was er in den nächsten dreißig Jahren zu tun hatte, und schien mit allem einverstanden zu sein. Ihm war es offenbar egal, was er alles verpasste, während er jeden Tag vor sich hin arbeitete oder Jahr für Jahr seinen Salat anbaute.

In rasender Geschwindigkeit näherte ich mich einem solchen Leben, denn bald schon würde man auch mir die Partnerschaft in der Beratung anbieten und mich damit an das Unternehmen ketten. Auch Karin könnte irgendwann auf »Haus, Heirat und Kinder« drängen. Ich hätte mich festlegen müssen, für viele Jahre, vielleicht für ein Leben. Ein Leben als Ehemann, Familienvater und Berater. Was aber, wenn ein anderes Leben noch besser wäre?

Je näher ich einem solchen Leben kam, desto häufiger meldete sich mein alter Glaubenssatz: »Warte, nicht so schnell, Theo. Leg dich nicht fest, das ist es noch nicht, das Beste kommt doch noch. Such weiter!«

Und wieder stellte ich alles, was war, in Frage. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass ich mich nach über acht Jahren von Karin trennte. Gar nicht, weil es Streit gegeben oder sich etwas zwischen uns verändert hätte, nein, einfach nur aus der Vermutung, ja vielleicht der Befürchtung heraus, dass diese Beziehung noch nicht die beste für mich sein könnte.

Viel Erfahrung mit anderen Frauen hatte ich vor ihr nicht gehabt, und so fühlte ich mich noch mehr dazu aufgerufen, in meinem Beziehungsleben weiter nach »der Besten« zu suchen. Dabei spielte es keine Rolle, ob Karin es vielleicht schon gewesen sein könnte. Es war egal, wie gut diese Beziehung war, sie hatte letztendlich keine Chance.

Meine »Immer-nur-das-Beste«-Logik hatte etwas Unerfüllbares, etwas Fatales, das ich damals nicht erkannt hatte. Würde sie letztendlich nicht von mir verlangen, erst alle Frauen auf diesem Planeten kennenzulernen, um dann ganz sicher zu sein, die richtige gefunden zu haben? Natürlich war das Unsinn, das wusste ich selbst, doch ich verhielt mich, als hätte ich es tatsächlich vor.

Besonders hilfreich dabei waren die Dienste der Partnerbörsen im Internet, die »Marktplätze der Liebe«, die Quelle der Verlockung und gleichzeitig des Zweifels, der jedes Mal dann wie ein langsam wirkendes Gift in alle meine Beziehungen einsickerte, wenn ich mir andere Profile, andere Frauen als die, die gerade an meiner Seite war, anschaute.

Wie war ich nur damals drauf, nachdem ich mich von Karin getrennt hatte? Jeden Tag war ich auf diesen Plattformen unterwegs. Lernte ich dann eine Frau kennen, hatte ich schon wieder die Nase im Wind, um zu prüfen, um zu vergleichen, ob ein nicht noch angenehmeres Parfum in der Luft liegt.

Ich kann mir nicht vorwerfen, nicht genug dafür getan zu haben. In vier Jahren hatte ich mich mit etlichen Frauen getroffen. Viele Male fuhr ich zu einem Café oder Restaurant, erzählte meine Lebensgeschichte und stellte dieselben Fragen: »Hast du Kinder, Geschwister, Haustiere? Was machst du beruflich? Wie lange bist du schon Single? Wie viele Dates hattest du schon? Was machst du in deiner Freizeit? Was ist dein Sternzeichen? Was magst du, was nicht?« Ich ging im Kopf eine Checkliste durch, und meine Dates wurden immer mehr zu einer Art Bewerbungsgespräch.

Die Aufregung, das Gespannt-Sein auf die mögliche Prinzessin, das ich noch bei meinen ersten Treffen verspürte, verflüchtigte sich bald. Die Treffen wurden zur Routine, und um nicht den Überblick zu verlieren, hatte ich meine Suche in guter Beratermanier systematisiert. Spätestens als es peinlich wurde und ich die Namen, Geburtstage, Hobbys oder Wohnorte der »Dates« durcheinanderbrachte, als ich eine Birgit nach ihrem Abschneiden bei dem Reitturnier fragte und sie antwortete, dass sie Pferde nicht ausstehen könne und ich sie wohl mit einem anderen »Bunny« aus dem Internet verwechsele, spätestens dann hatte ich begonnen, eine Excel-Tabelle anzulegen, um zumindest mit den Daten nicht durcheinanderzukommen. Vielleicht hatte das Anlegen der Datei sogar noch einen anderen Grund. Vielleicht wollte ich mir mit der Liste nur selbst dokumentieren, doch alles Erdenkliche getan zu haben, um die Beste zu finden.

Ich notierte das Ergebnis jeder Begegnung in der Datei, vergab dort sogar Schulnoten, erstellte Ranglisten und notierte in der Spalte »Besonderheiten« das, was mir aufgefallen war, wie etwa »gute Figur«, »schöne Stimme«, »zu langweilig«, »zu viele Kinder!!!« oder »zu viele Altlasten«.

Aus einigen dieser Treffen wurde eine »Beziehung«. Sie dauerten ein paar Wochen oder Monate, auch mal fast ein Jahr, doch keine dieser Frauen hatte zu der Zeit eine wirkliche Chance gehabt, mit mir glücklich zu werden.

Manchmal, wenn ich es mal wieder so richtig übertrieben hatte, wenn ich an einem Tag zwei oder gar drei neue Frauen getroffen hatte, wenn ich mich beeilen musste, um von »Miss MoneyPenny« wegzukommen, nur damit ich noch rechtzeitig »Gremlin69« kennenlernen konnte, wenn ich dann nach den Dates mitten in der Nacht allein und völlig verwirrt im Auto saß und nur noch stumpf vor mich hin auf die Autobahn starrte, wenn ich nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand, und ich mich, zu Hause angekommen, nur noch völlig erschöpft auf mein Sofa fallen ließ, dann sehnte ich mich vielleicht doch ein wenig danach, mich endlich einmal wie Lothar zu fühlen, und wenn sein Leben noch so langweilig erschien. So wie er wollte ich mich fühlen können, einfach mal nur einverstanden sein mit dem, was ist. Einfach mal etwas nicht zu hinterfragen, vor allem nicht die Frau, mit der ich gerade zusammen war.

Stattdessen wurde ich nicht nur umtriebig in Sachen Frauen. Ich begann auch, mich wahllos um neue Jobs zu bewerben, begann, neue Hobbys auszuprobieren, suchte mein Glück in den Extremen.

An einem Wochenende fuhr ich nach Österreich, nahm mir einen Bergführer und bestieg den steilsten Klettersteig, den das Land zu bieten hatte. Schwierigkeitsgrad »extrem«. Ich kletterte mit ihm an einer 300 Meter hohen Steilwand, ohne davon überhaupt eine Ahnung zu haben. Ich meldete mich zu einem Rennstreckentraining auf dem Nürburgring an und brachte mich mit einem 170-PS-Motorrad an die Grenzen meines fahrerischen Könnens. Ich probierte mich im Gleitschirmfliegen aus, begann mit dem Golfspielen, versuchte mich im Tennis, ging im Revier meines Vaters auf die Jagd und tötete Rehwild und Wildschweine. Ich versuchte mich im Segelfliegen, begann mit dem Tauchen und hatte zwischendrin immer wieder Dates mit neuen Frauen. Die Suche nach dem »Besten« lief auf Hochtouren. Es war anstrengend.

… und dann kam Weihnachten.

Das Geschenk

Es sollte ein ganz normales Weihnachtsfest werden, nur in ganz kleinem Kreis, wie immer mit meinen Eltern und meinem vier Jahre jüngeren Bruder Georg, so war es Tradition bei uns.

Wie an jedem Heiligabend wurde tagsüber der Hof besonders gründlich gefegt. Der Hof, auf dem mein Vater damals, als er noch nicht in Rente war, etwa 500 Schweine, vier Katzen, einen Hund versorgte und noch einiges an Ackerland bewirtschaftete. Auch wenn der Hof eine respektable Größe hatte, wollten weder ich noch mein Bruder in die Fußstapfen meines Vaters treten. Bauer sein, das war nichts für uns. Auch Georg hatte erst einmal als Unternehmensberater gearbeitet und wurde später Projektleiter bei der Post. Er war verheiratet und hatte in dem Jahr einen Sohn bekommen, ein Haus gekauft und liebte seinen Garten. Er erinnerte mich irgendwie an Lothar.

Weihnachten lief immer gleich ab bei uns: zuerst Kirchgang, dann Festessen. Es gab meist Rinderzunge oder Rouladen, serviert auf dem besten Familiengeschirr. Nach dem gemeinsamen Tischabräumen klingelte meine Mutter mit einem kleinen roten Weihnachtsglöckchen und lächelte uns dann immer so verschmitzt an, so wie früher, als wir noch an den Weihnachtsmann geglaubt hatten. Dann durften wir das gute Wohnzimmer betreten, das nur für solche Anlässe benutzt wurde und in dem die vielen Geschenke schon auf dem Tisch gestapelt lagen.

Früher als Kinder mussten wir an dieser Stelle immer noch singen und Orgel spielen, bevor es an das Auspacken ging. Aber wir konnten uns nie auf die Lieder konzentrieren, spielten und sangen schnell und grausam, hatten wir doch nur die bevorstehende Bescherung im Kopf. Mittlerweile ist es anders. Das Singen ließen wir schon seit vielen Jahren ausfallen. Gemeinsam hatten wir einmal festgestellt, dass unser untalentiertes Weihnachtsgekrächze des Heiligen Abends nicht wirklich würdig war und auch sonst wenig zu einer andächtigen Stimmung beitrug. Also gingen wir lieber gleich zur Bescherung über.

Schon im November hatte mich Georg gefragt: »Sag mal, Brüderchen, was wünschst du dir eigentlich zu Weihnachten?«

»Also, ein Navigationsgerät für mein Motorrad, das wär schon was Feines«, sagte ich und grinste, wusste ich doch, dass die nicht wirklich günstig sind. »Hm ...« brummte er und ließ mich mit der Hoffnung auf ein solches Gerät zurück.

An Heiligabend dann überreichte mir mein Bruder sein Geschenk. »Hier Brüderchen, für dich, Navi war doch zu teuer«, sagte er mit seinem süßesten Weihnachtslächeln. Ich knibbelte die Klebestreifen von dem Papier. Ostereier waren darauf, typisch mein Bruder, wahrscheinlich hatte er dieses Geschenkpapier noch in einer Schublade meiner Mutter gefunden. Einige Löcher oder alte Klebestreifen darauf ließen auch keinen Zweifel daran, dass es schon ein paar Mal benutzt worden war.

Dann riss ich es einfach auf. Es war ein Motorrad-Reisemagazin, und darin war ein Bericht über einen Test verschiedenster Navigationsgeräte. »Jetzt brauchst du dir nur noch eines auszusuchen und es dir zu kaufen«, meinte Georg trocken. »Na, vielen Dank denn auch!«, sagte ich mäßig erfreut und legte das Heft zu den anderen Geschenken, um später darin zu blättern.

Der Abend nahm seinen vorhersehbaren Verlauf. Die Rinderzunge in Pilzsoße mit Preiselbeeren an Kartoffelkroketten war gegessen, alle Geschenke waren verteilt, ausgepackt und von jedem ausreichend gelobt worden, und es dauerte nicht mehr lange, da wurde, wie jedes Jahr zu dieser Zeit, der Fernseher eingeschaltet.

Da ich nicht wirklich Lust darauf hatte, mich gemeinsam mit meinen Eltern von André Rieu befiedeln zu lassen, setzte ich mich mit dem Motorradmagazin auf die Küchenbank, um darin herumzublättern.

Seit fünfzehn Jahren fuhr ich Motorrad, und bei meinen Ausflügen war ich nie über Österreich oder Italien hinausgekommen. Nie hatte ich bis dahin einen Gedanken daran verschwendet, mit dem Motorrad einmal weiter oder länger als drei Wochen unterwegs zu sein. Jetzt lagen Berichte von Fernreisenden vor mir: »Mit dem Motorrad von Deutschland nach Thailand in 90 Tagen« oder »Mit dem Motorrad die Welt erfahren«. Ich sah Bilder von fremden Gegenden in Alaska und Asien, Afrika und Australien und verlor mich in den Erzählungen dieser – wie ich fand – verrückten und waghalsigen Abenteurer. Sie erzählten von schwierigen Offroad-Fahrten, Unfällen, kaputten Motoren und Problemen bei der Verständigung mit anderen Völkern und Kulturen. Ich bewunderte ihren Mut und ihre Offenheit für das Fremde.

Dann fand ich einen Artikel über einen Martin, der bereits ein halbes Jahr lang mit dem Motorrad unterwegs gewesen war, einfach mal rauswollte aus seinem deutschen Alltag, Luft holen, durchatmen wollte.

»Ja, einmal durchatmen«, wiederholte ich leise und fragte mich selbst, weshalb die Vorstellung davon, einmal eine Pause von meinem üblichen Leben zu machen, selbst einmal durchzuatmen, mich so sehr anfixte, dass ich kaum meine Augen von diesem Artikel lassen konnte.

Eine Atempause, war das nicht etwas, das ich auch für mich wollte, nach der ich mich sehnte? Eine Auszeit von der ewigen, anstrengenden Suche nach dem Richtigen und dem Besten für mich, eine Auszeit von den so schwer abzustellenden immer gleichen und immer kreisenden Gedanken, die mich jeden Tag losschickten auf die Jagd nach dem »Mehr« und dem »Besser«?

In dem Artikel erzählte dieser Martin von seiner Motorradreise. Er war etwa so alt wie ich, hatte studiert, schien kinderlos zu sein und arbeitete als Berater, so wie ich. Unsere Lebensläufe waren recht ähnlich, und er wollte damals »ein wenig Luft holen« von seinem Leben hier in Deutschland und hatte sich »aus dem Bauch heraus« zu seiner Reise entschlossen. Ein bisschen verrückt ist der schon, dachte ich und blieb noch einmal bei den letzten Zeilen hängen: Weitere Pläne: Motorrad-Reise, einmal rund um die Welt, von Europa nach Asien, von Nordamerika über Mittel- und Südamerika bis nach Feuerland, ans Ende der Welt und dann Afrika von Süd nach Nord zurück nach Europa. Start: im Mai. Dauer: 2 Jahre.

Moment Mal, da war also ein Typ, genau so einer wie ich, zumindest einer mit ähnlichem Lebenslauf, und der wollte mit dem Motorrad einmal um die ganze Welt fahren? Auch solche Typen machten das, also Leute wie ich und nicht nur verrückte Abenteurer? Und das allererste Mal kam mir der Gedanke, ob so eine Reise, so eine Auszeit, auch etwas für mich wäre. Mit dem Motorrad einmal um die Welt?

Natürlich nicht! Das würde nicht gut gehen. Ich war kein erfahrener Offroad-Fahrer und hatte keine Ahnung von Motorradtechnik; ich hätte noch nicht einmal einen Reifen allein wechseln können. Ich sprach neben Deutsch nichts weiter als Englisch und hatte keine Ahnung davon, wie ich mich außerhalb von touristischen Gebieten in unbekannten Ländern bewegte, wie ich mich Einheimischen gegenüber verhielt, wann Gefahr drohte, was ich sagen oder tun durfte und was besser nicht. Kopfschüttelnd legte ich das Heft beiseite und ging den weihnachtlichen Klängen von André Rieu wieder entgegen, um meinen Eltern Gesellschaft zu leisten.

Weit kam ich nicht, irgendetwas ließ mich noch in der Küche innehalten. Es war, als riefe jemand nach mir. »Warte mal, Theo. Warte mal! Nicht so schnell«, kam es von irgendwo her, leise und doch sehr deutlich. »Warte, geh noch mal zurück und schau doch noch mal genau hin!«, hörte ich es wieder und merkte erst dann, dass es meine innere Stimme war, die mir diese Worte zuzuflüstern schien.

Irritiert schlug ich erneut den Artikel auf und betrachtete nochmals das Foto von diesem Martin und seinem Motorrad. Irgendetwas war jetzt anders. Irgendwie wurde der Gedanke, selbst auf einer Weltreise zu sein, mit einem Mal so vorstellbar, so wenig abwegig. Und als wäre es völlig klar, was als Nächstes zu tun wäre, fuhr ich mein Firmen-Notebook hoch und tat etwas für mich ungewöhnlich Spontanes, etwas völlig Unüberlegtes. Ich schrieb diesem Martin eine E-Mail:

Hallo Martin,

es ist Weihnachten, ein Motorradmagazin liegt unter meinem Weihnachtsbaum, und ich lese von Dir und von Deiner Auszeit. Ich bin beeindruckt und ein wenig neidisch darauf, bisher nicht den Mut gefunden zu haben, Ähnliches zu unternehmen.

Ich war sehr erstaunt, denn unsere Lebensläufe sind sehr ähnlich, und vielleicht ist das auch der Grund, dass ich Dir jetzt schreibe. Deine geplante Weltreise erweckt in mir ein enormes Fernweh … und ich frage mich, inwieweit es für Dich relevant sein könnte, die bevorstehende Weltreise vielleicht zu zweit anzugehen.

Der Gedanke ist sehr spontan, doch manchmal sind die spontanen Dinge die besten. Vielleicht macht es Sinn, dass wir einmal miteinander telefonieren oder uns persönlich kennenlernen. Und vielleicht greifen wir dabei den Gedanken einer gemeinsamen Tour auf. Was meinst Du?

Melde Dich, es würde mich sehr freuen.

Viele Grüße und noch schöne Weihnachtstage wünsche ich Dir

Theo

Dieser Martin meldete sich nicht, zumindest nicht in den darauf folgenden Tagen. Dabei war er über Weihnachten doch bestimmt nicht unterwegs, sondern zuhause bei seinen Eltern, wie ich auch, und hatte irgendwo Internet-Zugang. Warum meldete er sich also nicht? Ich war ungeduldig und schaute mehrmals in den nächsten Tagen in mein E-Mail-Account. Nichts.

Die Zeit verging schnell, und die Antwort blieb aus. Der Januar war bereits angebrochen, und so langsam fand ich mich damit ab, dass eine solche Reise für mich wohl niemals stattfinden würde. Der Gedanke, allein zu fahren, blitzte einmal kurz in mir auf, doch das kam nicht in Frage, das traute ich mir nicht zu. Mit diesem erfahrenen Martin zusammen fühlte es sich jedoch ganz anders an. Er könnte mir das »Weltreisen« zeigen, er könnte mich mitnehmen auf dieses neue Terrain.

Schon bei dem Gedanken, dass mir irgendwo allein in der Wildnis das Motorrad verreckte, bei dem Gedanken, irgendwo allein im innersten Indien oder Afrika ernsthaft krank zu werden und in einem dieser schmutzigen, schlecht ausgestatteten Krankenhäuser zu landen, wie man sie immer im Fernsehen sah und in denen kein Arzt Englisch oder gar Deutsch sprach, allein diese Gedanken drückten mir schon einen dicken Kloß in den Hals. Nein danke. Oder was, wenn ich einen Unfall hätte und ernsthaft verletzt wäre? Der ADAC holte mich bestimmt nicht innerhalb von zwei Stunden aus Pakistan heraus. Was täte ich, wenn ich Ärger mit den Behörden hätte, vielleicht sogar inhaftiert würde? Ein Albtraum! Ich schüttelte mich bei diesen Gedanken. Nein, allein würde ich das niemals tun.

Just Do It

Es war Mitte Januar. Ich war schon wieder bei der Arbeit und hatte meine E-Mail an Martin fast schon vergessen, als ich dann doch eine Nachricht von ihm im Postfach fand. Er entschuldigte sich für die späte Antwort, fand den Gedanken an eine gemeinsame Reise gar nicht abwegig und schlug ein Treffen vor. Einige Tage später sahen wir uns auf einen Kaffee am Fernbahnhof des Frankfurter Flughafens, um uns zu beschnuppern.

Ich fuhr mit dem Zug dorthin. Martin wartete bereits am Bahnsteig auf mich. Ich erkannte ihn sofort von den Fotos aus dem Motorradmagazin, noch bevor er mich erblickte. Er war groß und kräftig, wirkte dabei jedoch nicht dick. Er war eher stattlich.

Ich blieb stehen und schaute ihn an: Den haut so schnell nichts um, genau so jemanden hatte ich mir vorgestellt. Das ist einer, der hat Erfahrung, der weiß, wo es langgeht, einer, der feststeckende Motorräder allein aus dem Schlamm heraustragen könnte, der mit korrupten Grenzbeamten genauso fertigwürde wie mit Räubern und Banditen, einer, der mich sicher durch jede schwierige Situation bringen würde. Kurz gesagt: Er war so, wie ich mir einen Begleiter vorstellte. So einer wäre mir sehr recht, wenn ich mich als verwöhnter Schönwetterfahrer und Club-Urlauber auf ein solches Abenteuer einließe. Nein, es wäre mir nicht nur recht, es wäre Bedingung.

Ich ging auf ihn zu, und irgendwie hoffte ich, dass wir uns von Beginn an bestens verstehen, dass wir ähnlich ticken, schon beim ersten Blick so etwas wie eine »Verbundenheit« miteinander verspüren, wir schnell warm miteinander werden würden.

»Ahh, du bist also der Theo«, sagte er, als ich mich zu erkennen gab, und reichte mir die Hand. »Du willst also mitfahren?« Dabei klang er so geschäftlich wie ein Reiseveranstalter.

Ich nickte nur, musste leicht zu ihm aufschauen und war jetzt, da ich so dicht vor ihm stand, erstaunt, ja vielleicht ein wenig verwirrt über seine Körpergröße, seine kräftige Stimme, sein breites Lächeln und seine Augen, die mich dabei fixierten.

»Gut, ich schlage vor, wir gehen oben in ein Café und trinken was!«, meinte er und lief mit festen Schritten voran.

Ich folgte ihm und merkte schon in den ersten Sekunden, dass es nicht so war, wie ich erhofft hatte. Kein spontanes Wohlfühlen, Lachen, Herumalbern über die gleichen Dinge. Stattdessen war unsere erste Begegnung mehr ein vorsichtiges Beäugen, mehr ein trockenes Abprüfen von Fakten und Fähigkeiten, die für oder gegen eine gemeinsame Reise sprachen. Unsere Begegnung erschien mir eher wie ein Vorstellungsgespräch. Warm bin ich mit Martin an dem Tag nicht geworden.

Natürlich war es wichtig, gut miteinander auszukommen, wenn man vorhat, monatelang sieben Tage die Woche, vierundzwanzig Stunden am Tag miteinander zu verbringen, mehr Zeit also als mit jedem Ehepartner. Doch warum auch immer, es war an diesem Tag nicht so entscheidend für mich.

In dem Moment saß ich lieber Martin gegenüber als irgendeiner wahnsinnig netten und sympathischen »Weichflöte«, die ich vielleicht gleich in mein Herz geschlossen hätte, mit der ich vielleicht viel mehr Spaß als mit Martin haben würde, der ich aber nicht zugetraut hätte, mir zu helfen, wenn es einmal schwierig würde. Martin aber traute ich dieses zu, vom ersten Augenblick an.

»Also, wenn du wirklich mit willst«, sagte Martin irgendwann, »dann solltest du dich schnell entscheiden. Wir müssten bald loslegen mit den Vorbereitungen, um am 1. Mai wie geplant zu starten. Wir sollten dann wirklich aufbrechen, um bei guten Verhältnissen durch alle Klimazonen zu kommen. Also sag mir doch bitte bis Ende der Woche, ob du mit dabei bist.«

Bis Ende der Woche? Ich sollte mich bis Ende der Woche entscheiden? Das waren nur noch vier Tage. Vier Tage, um mich dafür zu entscheiden, meinen Job zu kündigen, meine Wohnung zu kündigen, meine Familie und meine Freunde zwei Jahre nicht mehr zu sehen und mich auf ein solches unberechenbares Abenteuer einzulassen? Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Martins Ansage machte alles so schrecklich konkret und drängend. Meine Gedanken, die bisher doch eher um das Abenteuer »Weltreise« herumgetänzelt waren, bekamen eine andere Qualität. Schluss mit den Gedankenspielerein, mit Träumen: Jetzt wird es ernst!

Ich versprach ihm, mich bis zum Ende der Woche zu melden. Schon auf Weg zurück nach Hause war mir klar, dass es keine einfache Entscheidung sein würde. Gerade für mich, der Entscheidungen mehr hasste als alles andere. Es gab bestimmt Hunderte von guten Argumenten, so etwas nicht zu tun. Da war ich mir sicher.

Zu Hause angekommen, setzte ich mich im Schneidersitz mit einem Weizenbier vor dem niedrigen Couchtisch. Hier hatte ich schon so viele Abende meine Fertiggerichte, mitgebrachten Pizzen oder Döner nach der Arbeit vertilgt und gleichzeitig im Internet irgendwelche Dates mit »Babe69«, »Rotkäppchen-71«, »Halleluja 1000« oder sonst einem vermeintlichen Glück vereinbart. Jetzt aber wollte ich alle Gründe, die für oder gegen diese Reise sprachen, festhalten, säuberlich notieren, einzeln bewerten und dann entscheiden. Ich riss einen großen Bogen Papier von einem A3-Zeichenblock, teilte ihn längs mit einer Linie, schrieb »PRO« und »CONTRA« über die jeweiligen Spalten und begann, Argumente zu sammeln.

Entscheidungen traf ich grundsätzlich nach Faktenlage. Was machte Sinn, was nicht. Dabei hatte mir mein Kopf mit seinem logischen Denken immer gute Dienste geleistet.

Doch dieses Mal war irgendetwas anders als sonst. Ich hatte bereits vor jeder Überlegung, vor jedem Argument ein Gefühl für diese Reise, ohne dass ich es hätte beschreiben können. Ein Gefühl, das mit einer logischen Vorgehensweise nichts zu tun haben schien. Doch was sollte ich anderes tun, ich verließ mich auf meinen Kopf, wie ich es immer tat.

»Also, mein lieber Kopf«, sagte ich lachend zu mir selbst, »was meinst du dazu?«

»Viel zu teuer, so eine Reise!«, fiel ihm sofort ein. Und ich schrieb »Viel zu teuer« in die Contra-Spalte des Blattes.

»Hm, du scheinst diese Reise nicht zu mögen, wenn du gleich mit so einem unbegründeten Killerargument beginnst, oder?«, sagte ich immer noch lachend. Doch dann stockte ich. Mir fiel auf, dass ich gerade mit mir selbst sprach, und doch fühlte es sich fast an wie ein richtiges Gespräch mit jemand anderem. Mit wem spreche ich denn hier? Mit meinem Kopf etwa, mit meinem Verstand? So ein Blödsinn, ich bin doch mein Verstand und meine Gedanken, oder etwa nicht?

»Zu teuer!«, schoss es mir schon wieder durch das Hirn.

»Ach, komm«, sagte ich, »du hoffst doch nur, dass die Kosten für so eine Reise viel zu hoch sind. Dann hättest du einen guten Grund, dich nicht weiter damit zu beschäftigen, das ist dir unangenehm.«

Also gut, dann schauen wir mal. Ich kramte das Notebook hervor, um die Kosten grob zu überschlagen.

Als Erstes musste ich wissen, welche Länder wir in etwa vor uns hätten. Ich nahm den Globus vom Regal. Er war von innen beleuchtet. Deshalb dimmte ich das Licht im Zimmer, setzte mich wieder auf den Boden vor dem Couchtisch und blickte mit glänzenden Augen, wie ein Kind, auf die bunte, leuchtende Weltkugel vor mir.

Das letzte Mal, als ich mir einen Globus so intensiv angeschaut hatte, war ich noch ein kleiner Junge gewesen. Ich fand Länder, von denen ich noch nie gehört hatte, wie Belize, irgendwo in Mittelamerika, oder Andorra, ein Land, das fast bei mir um die Ecke war. Ich staunte darüber, was ich alles nicht wusste, wo ich das eine oder andere Land fand, das ich ganz woanders vermutet hatte.

Ich ließ meinen Verstand, meinen Kopf, diesen neuen Stoff beschnuppern und merkte, wie er bei der Vorstellung, durch diese fremden Länder zu fahren, zurückzuckte, wie ängstigend für ihn dieses Terrain war, auf dem er sich mehr ahnungslos als neugierig herumtastete. Verstohlen und sehnsüchtig schaute er zurück, hin zu meinem jetzigen Leben in Frankfurt, dorthin, wo er sich auskannte, wo er sich sicher fühlte, wo er mich beschützen konnte. Wie wenig war er doch mein Freund, wenn es um Neues ging. »Hey, komm, schau dir das hier vor dir an«, rief ich ihm zu. »Vergiss den Sicherheitsdenker doch mal. Nur für einen Moment!«

»Ach Theo, hör doch auf zu träumen, rechne doch mal nach, was das kostet!«, wiederholte er seinen Gedanken, um mich davon zu überzeugen, hier zu bleiben. Also gut, wir erstellten die Rechnung.

Über die grobe Reiseroute hatten Martin und ich schon am Bahnhof gesprochen. Vielleicht hunderttausend Kilometer würden es werden, schätzten wir. Dabei wollten wir Australien und Neuseeland auslassen, da die Flugtransporte dorthin und das Leben dort sehr teuer waren.

Also, ich benötigte ein Offroad-Motorrad, denn mit meiner Straßenmaschine war eine solche Tour nicht möglich. So kalkulierte ich mit irgendeiner gebrauchten Geländemaschine. Weitere Kosten würden anfallen für das Aufrüsten auf Weltreisetauglichkeit. Dazu gehörten zwei große Motorrad-Aluminiumkoffer für das Gepäck, Zusatztaschen, ein großer Tankrucksack und ein Kühlerschutz gegen Steinschlag. Mehr fiel mir dazu erst einmal nicht ein. Dann kalkulierte ich noch Beträge für Benzin, Reparaturen, etwa 10 Sätze Reifen, Verschleißteile, Transporte des Motorrads über die Ozeane und natürlich für Übernachtungen und Essen. Kosten für Krankenversicherung, Unfallversicherung, Outdoor-Ausrüstung, eventuelle Heimflüge bei Krankheiten, Vorsorge-Impfungen, Visa, Reiseapotheke, Auflösung und Renovierung meiner jetzigen Wohnung und so weiter.

Dann drückte ich die Summentaste: 45.750 Euro. Weniger, als ich gedacht hatte. Sofort startete ich das Onlinebanking und addierte alle Kontostände zusammen. Etwas mehr als siebzigtausend Euro hatte ich angespart, und es gab keine Hypotheken, keine Kredite und auch keine Alimente, die zu bedienen wären. Passte also. »Siehst du, mein Lieber, dein Argument sticht nicht. Das Geld reicht!«, sagte ich leicht triumphierend, und so langsam fand ich Gefallen an dem inneren Schlagabtausch mit meinem Verstand.

»Aber es wird dir nicht gefallen unterwegs. Tagelanges Sitzen auf dem Motorrad, Unfälle, Krankheiten, der Dreck, das Elend, dass du in den armen Ländern sehen wirst, das ist doch gar nichts für dich. Du hast dich doch schon viel zu sehr an dein angenehmes Leben hier gewöhnt. Du wirst Heimweh haben, und außerdem fandest du Zelten als Kind schon scheiße!«, dachte mein Verstand zerknirscht.

»Ja, stimmt, da ist was dran«, wollte ich ihm gerade zustimmen, als sich mit einem Mal wieder diese innere Stimme in unser Gespräch einmischte.

»Komm, Theo«, flüsterte sie verführerisch, »lass dich darauf ein, du kannst jederzeit abbrechen, keiner zwingt dich dazu. Dein Verstand erkennt nicht die Chancen in dieser Reise, denn er ist der Bewahrer, der dich festkleben lässt an den Mustern, die du in deiner Vergangenheit gelernt hast, er kann nicht anders, denn er kennt nur das, was war, alles Neue macht ihm Angst. Er ist klar und geschickt in seiner Vorgehensweise, er ist pure Ratio, er hat kein Gefühl, hörst du? Kein Gefühl für das Wunderbare, das noch alles auf dich wartet. Höre ihm zu, denn er kann dich vor dem warnen, was er kennt, doch lass ihn so etwas nicht entscheiden, hier kann er nicht mitreden. Gebrauche deinen Verstand, ja, aber lass dich nicht von ihm gebrauchen.«

Irgendwie hörte sich das richtig für mich an. Und mit einem respektvollen Lächeln über die Sorgen meines Verstandes ließ ich auch diesen Punkt nicht gelten.

»Denk an deine Freunde und deine Familie, die du einfach hier im Stich lässt. Jetzt, wo dein Vater alt und krank ist, willst du ihn alleinlassen und um die Welt streunen, ein toller Sohn bist du!«

»Nein, wart mal, nicht so schnell mit der Verurteilung. Mein Vater ist krank, ja, doch die Ärzte haben ihm noch mehr als vier Jahre mit seiner Krankheit gegeben, und in zwei Jahren wäre ich wieder hier. Er kommt gut klar zusammen mit Mutter, und außerdem ist Georg auch noch da«, murmelte ich und erinnerte mich daran, was mein Vater sagte, als ich ihm das erste Mal von der Reiseidee erzählt hatte. »Du bist komplett verrückt«, hatte er lachend gesagt, »Aber mach, was du willst.«

Nein, keiner meiner Freunde und keiner aus meiner Familie brauchte mich so, dass ich hier bleiben müsste.

Eines jedoch musste ich meinem Verstand zugestehen: Gäbe es eigene Kinder in meinem Leben, so hätte er hier tatsächlich ein sehr gutes Argument gegen eine solche Reise. »Kinder hab ich aber noch nicht. Nur Toffi. Und Toffi wüsste ich schon in gute Hände abzugeben«, sagte ich lächelnd, nahm mein Bier und prostete meinem Zwergkaninchen in seinem Käfig zu.

Mein Verstand ließ nicht locker: »Wenn du wiederkommst, bist du einundvierzig Jahre alt. Überlege mal, wie lange suchst du schon nach deiner Prinzessin? Willst du etwa noch einmal zwei Jahre verstreichen lassen?«

»Ja, will ich!«, antwortete ich fast schon patzig. »Du siehst doch, dass es jetzt nichts bringt. Überleg mal, wie viele Frauen ich schon getroffen habe. Und? Nichts! Ich habe eh das Gefühl, dass es meine Prinzessin noch nicht gibt. Vielleicht irgendwo da draußen in der Welt. Also eigentlich ein Grund mehr, jetzt zu fahren. Das war ein Eigentor!«

»Du läufst vor etwas davon, du Feigling. Du stellst dich nicht dem Leben hier«, begann mein Verstand mit der nächsten Provokation. »Typisch du, kurz vor dem Ziel brichst du ab! Jetzt kannst du endlich Partner in der Beratung werden, das, was du immer wolltest, und was machst du? Du gehst vom Spielfeld, Schwächling. Los, nimm den Job, dann erst geht es dir richtig gut, dann hast du dein Ziel erreicht. Wofür sonst die ganze Schinderei?«

»Nein, nein, nein«, wehrte ich mich spontan, denn ich wusste noch genau, wie es war, als Dr. Kreis mir die Partnerschaft in Aussicht gestellt hatte. »Ab November haben wir Sie als Teilhaber in unserem Unternehmen vorgesehen«, hatte er mir freudig verkündet, und noch heute spüre ich den heftigen Widerstand, den schmerzenden Ruck, den diese Aussichten in mir ausgelöst hatten.