Die Versammlung - Manuela Sonntag - E-Book

Die Versammlung E-Book

Manuela Sonntag

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Beschreibung

"Mein lieber Wagner, es geht um nichts weniger, als die Rettung meiner unsterblichen Seele. Und Ihre Karriere." Für Jonas Wagner ist es eine große Ehre, als er vom berühmten Prof. Dr. Dr. Dr. Faust persönlich als kriminalpsychologischer Berater angefordert wird. Eine Reihe vermeintlich zusammenhangloser Todesfälle hält die Polizei in Atem und schnell muss er seiner neuen Kollegin Margaretha beweisen, dass er mehr als nur trockenes Bücherwissen zu den Ermittlungen beitragen kann. Faust währenddessen ist dem Täter längst auf der Spur. Doch bald muss er die gesammelte Lebenserfahrung der letzten Jahrhunderte nicht nur aufbieten, um seinen Gegner zu überlisten, sondern auch alles daran setzen, dass seine Schützlinge ihm nicht in die Quere kommen. Alle Contentwarnungen zu diesem Titel finden Sie hier: https://www.manuela-sonntag.de/p/blog-page_12.html

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Sobald du dir vertraust, sobald weißt du zu leben.

Faust 1, Studierzimmer. (Mephistopheles)

gewidmet meiner ersten Rollenspielrunde, ohne die es die Grundidee der Versammlung nie gegeben hätte

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 0

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

0

Faust spürte das Prickeln des Neumondes in seinem Nacken. Die goldenen Flügeltüren öffneten sich wie von Geisterhand; das leise Surren ihrer Motoren bereits übertönt von den Musikfetzen der Ouvertüre.

Fausts Gehstock klackte im Takt auf dem polierten Marmorfußboden des Foyers und die beiden jungen Menschen hinter der verlassenen Bar schreckten von ihren Telefonen auf. Faust nickte ihnen grüßend zu und bog in den Logengang ein, aus dem ihm schon Giacomos näselnde Stimme entgegenwehte.

‚Im Mittelalter war das Leben noch einfacher. Es brauchte nicht mehr als ein wenig Farbe im Gesicht und ein paar Äste auf dem Kopf, um ein ganzes Dorf in Angst und Schrecken zu versetzen. Heutzutage sind die Menschen so lästig rational’.

Gelächter perlte auf den Gang hinaus und er tauschte einen amüsierten Blick mit der jungen Garderobiere, die ihm schon entgegeneilte, um seinen regennassen Mantel in Empfang zu nehmen. Sie drehte sich um und Faust musterte wohlwollend die elegante Silhouette ihrer Uniform, bevor er die Tür aufschwang und sich seiner geschlossenen Gesellschaft zuwandte:

„Ich würde mich fragen, mein lieber Giacomo, wie diese intime Kenntnis des Mittelalters zustande kommt? Mir scheint, Ihr seid etwas jung, um dessen Vorzüge noch selbst genossen zu haben.“

Mit einer kurzen Verbeugung in die Runde ließ er sich auf einem der Polstersessel nieder, die in einem Halbrund zur Bühne ausgerichtet waren. An manchen Abenden bedauerte er, dass die Oper nur als Tarnung und Abhörsicherung für ihre Versammlung diente, doch die heutige Premiere schien ihm nicht besonders vielversprechend. Schon am Bühnenbild konnte er erkennen, dass hier jemand seinen Hamlet nicht wirklich verstanden hatte. Ein Glück, dass ihr Narr sich gerade in Hollywood aufhielt – auch wenn Faust ihm in der Sache zustimmte, war sein Gejammer über diese Verstümmelungen seines Lebenswerkes wirklich unerträglich.

„Aber aber, nun werden wir mal nicht überheblich, Johann. Jeder weiß, dass gerade du dich in der Täuschung der Landbevölkerung besonders hervorgetan hast. Also ist es doch nur eine Frage der logischen Schlussfolgerung, dass die Menschheit damals noch leichter zu beeindrucken war“, grinste ihn der unverbesserliche Gigolo frech an. Faust bemühte sich um ein schmales Lächeln.

„Nun, wenn man eine Reputation als mächtigster Magier seit Hermes Trismegistos zu verteidigen hat, obliegt es dem umsichtigen Nekromanten eben dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung an solcherlei Dinge glaubt. Eine aufklärerische Mission zur Verbreitung des Skeptizismus wäre wohl kaum meinem Ruf förderlich gewesen.”

„Und wie wir alle wissen, hat das hervorragend funktioniert bei den armen, deutschen Bauern.”

„Im Gegensatz zu den überaus misstrauischen Lesern, die es Eu … dir tatsächlich abgekauft haben, dass du der Inquisition in Venedig allein durch prophetische Macht entkommen konntest? Wie viele amouröse Eroberungen hat dir diese kleine Geschichte wohl eingebracht, hm? Ein Hoch auf die Leichtgläubigkeit hochwohlgeborener Damen würde ich sagen. Anwesende natürlich ausgenommen.“

Er zwinkerte dem hochgewachsenen Italiener in seinem teuren Anzug mit den protzigen Accessoires zu, um den Ton unverfänglich zu halten. Braungebrannt, sonnenblond und mit klassischem Profil war er ermüdenderweise immer noch der gleiche Frauenmagnet alter Zeiten. Man musste ihn ständig daran erinnern, seine neusten Tändeleien nicht zu den Versammlungen mitzubringen. Er schmollte wie ein kleines Kind, wenn sie ihn danach dazu anhielten ihre Seelen zu entlassen, aber die Gesetze der Versammlung waren unerbittlich. Sie brauchten schließlich alle einen Ort, an dem sie ohne jede Maske sie selbst sein konnten.

Heute war glücklicherweise nur eine kleine Runde versammelt. Er begrüßte die Damen zuerst und bedachte die Duchessa mit einem besonders herzlichen Lächeln. Sie hatten einander schon viel zu lange nicht mehr gesprochen, was vielleicht ein Grund für seine schlechte Laune in den letzten Tagen gewesen war.

Lukrezia war heute in ein mehr als offenherziges, weinrotes Abendkleid gewandet, die langen, blonden Haare zu Kaskaden aufgesteckt, den weißen Adler von Ferrara als perlenbesetztes Pendant an ihrem schlanken Hals.

In der linken Ecke saß die Herzogin von Burgund, Flandern, Brabant und Luxemburg, zeitweilige Erzherzogin von Österreich und stützte gelangweilt das prominente Kinn in eine satinbehandschuhte Handfläche. Maria hatte sein Erscheinen mit einem knappen Nicken zur Kenntnis genommen, aber betrachtete ihre Anwesenheit an diesem Abend scheinbar nur als beiläufige Geste der Höflichkeit. Faust musterte ihr elegantes Profil unter einer perlenbesetzten Tiara, während das Licht der Loge in den tiefpurpurnen Falten ihres Abendkleides versickerte.

Und natürlich war da Madame la Marquise, vornehm blass, die schulterlangen Locken feuerrot gefärbt, in einem Ballon aus eisblauer Seide, die unverzichtbare Schachtel Pralinen auf dem Schoß. Selbst die Versammlung bekam ihre ursprüngliche Gestalt dieser Tage kaum noch zu Gesicht, aber heute hatte sie sich offensichtlich auf die rein natürlichen Hilfsmittel der Korsett- und Make-Up-Manufakturen beschränkt.

Auf dem Sessel neben ihr lümmelte der Comte de St. Germain, einen Arm beinahe besitzergreifend über Giacomos Stuhllehne drapiert, auch wenn dieser es betont ignorierte. Drei Stühle waren noch unbesetzt.

„Wer fehlt denn noch in unserer illustren Runde?“, wandte Faust sich an Lukrezia. „Ich muss zugeben, ich habe keinen Überblick über die Tagesordnung.“

Sie reichte ihm erst einmal ein Glas Champagner.

„Dee und sein Engel haben sich angekündigt. Unser Eremit möchte Crowley wieder einmal eine Standpauke halten, aber ich denke es ist fraglich, ob ihn das interessiert.“

Faust seufzte, leerte sein Glas in einem Zug und tauschte es gegen ein Zweites. Seine schlechte Laune drängte sich mit Macht an die Oberfläche zurück, trotz Lukrezias lieblichem Lächeln.

„Ich dachte schon, ich wäre der Einzige von uns, der sich mit seinen neusten Eskapaden herumschlagen muss. Weiß man, was er vorhat?“

„Weiß man das je?“, schaltete sich der Comte in die Unterhaltung ein und ließ sich ebenfalls ein Glas reichen. „Wenn ihr mich fragt, war es ein großer Fehler, diese verkrachte Existenz aufzunehmen. Seine unüberlegten Experimente werden uns noch ernsthaft schaden. Vor allem denjenigen von uns, die darauf bestehen unter ihrem Geburtsnamen in der Öffentlichkeit aufzutreten, nicht wahr, Herr Professor Faust?“

Faust lehnte sich in seinem Sessel zurück.

„Höre ich da ein wenig Neid heraus, mein lieber Leopold? Es ist durchaus nicht meine Schuld, dass ein ‚Professor Faust’ heutzutage kein Aufsehen erregt, während ein Titel wie ‚Comte de St. Germain’ immer merkwürdiger klingt, je weiter die Wellen der Neuzeit voranrollen.”

„Und natürlich hat die Polizeiarbeit auch den Vorteil, dass man der Öffentlichkeit Mörder und Vergewaltiger nicht erst vorgaukeln muss, um eine ‚Karriere’ daraus zu machen.”

Faust ließ den provokativen Stachel an sich abgleiten. Lukrezia hielte ihm nur wieder vor, er zöge zu viel Vergnügen aus diesem ewigen Austausch von Sticheleien.

„Es gibt eben Menschen, die sich nicht damit zufriedengeben können, die Jahrhunderte mit immer denselben Zerstreuungen in immer gleicher Gesellschaft zu verbringen. Und ich muss gestehen, dass das Unterrichten junger Geister äußerst bereichernd ist.“

Er erlaubte sich einen hintersinnigen Blick auf ihren amourösen Italiener, der St. Germains Arm inzwischen zur Seite geschoben hatte und sich die größte Mühe gab, eine junge, juwelenbehängte Dame aus der gegenüberliegenden Loge nur durch Handzeichen ihrem ältlichen Begleiter abspenstig zu machen.

Leopold schüttelte nachsichtig lächelnd den Kopf. Casanova blieb Casanova, auch nach Jahrhunderten bemühte er sich immer noch zu seiner eigenen Legende beizutragen. Noch wurden seine Avancen allerdings sowohl von der Auserwählten, als auch ihrem Mann ignoriert. Man konnte nur hoffen, dass der Abend für Giacomo nicht wieder in einer dunklen Gasse mit dessen Bodyguards enden würde.

„Zweifellos, der Austausch geneigter Geister ist immer eine Bereicherung des Alltags“, beendete der Comte schließlich den Moment der Stille. „Allerdings bleibe ich bei meinem Urteil über unseren unbändigen britischen Freund. In den alten Zeiten der Versammlung hätten wir ihn längst dem Cerberus übergeben. Wie ich damals schon Zarin Katharina sagte: ‚Menschen, die Niemandem nutzen, aber Vielen schaden können, sind unter der Erde besser aufgehoben.‘“

Faust seufzte und bemühte sich dieses ceterum censeo im Keim zu ersticken.

„Das mag schon sein, aber die Zarin hat damals genauso wenig auf dich gehört wie das Orakel heute. Und es würde dir schwerfallen, einen fügsamen Schergen zu finden, der es mit einem Paktierer aufnehmen könnte. Wir sind sehr schwer loszuwerden.“

Er hob sein Glas und prostete der lachenden Gesellschaft zu. Nur Giacomo war zu sehr in seine Tändelei vertieft, um den kleinen Moment der Verbundenheit überhaupt zu bemerken. Plötzlich näherten sich schnelle Schritte ihrer Loge. Dann flog die Tür auf und Dee wirbelte hektisch wie immer herein. Regenwasser spritzte in alle Richtungen, als er sich mit einer fahrigen Bewegung den schlaffen, grauen Hut vom Kopf riss.

„Bitte entschuldigt meine Verspätung, meine Lieben, wichtige Staatsgeschäfte, konnte mich nicht früher freimachen.“

Noch in seinen durchnässten Trenchcoat gehüllt, belegte er den Stuhl neben Lukrezia, die mit einem leisen Quietschen von ihm abrückte.

„Dee, bitte! Das ist Prada!“

Der Doktor bedachte sie mit einem zutiefst verwirrten Blick. Er hielt sich momentan gerne für einen Geheimagenten, sah dabei aber immer noch aus wie ein verschrobener Aktionskünstler mit seinen faltigen Mänteln und überquellenden Aktentaschen. Eine bizarre Mischung aus Picasso und Dick Tracy. Nur die wasserblauen Augen hatten nichts von ihrer analytischen Schärfe verloren.

Hinter ihm betrat Sariel die Loge und streckte mit einem tadelnden Blick die Hand aus. Wie ein ertappter Schuljunge sprang Dee wieder auf, wand sich aus seinem Mantel und reichte ihn mitsamt Hut dem blassen Mädchen in ihrem ewig weißen Kleid. Sie lächelte wie eine Mutterhenne und verschwand in Richtung Garderobe.

„Wie ich sehe, spricht Eure ‚Errungenschaft‘ immer noch nicht. Ich hoffe, sie ist wenigstens in anderer Hinsicht … zufriedenstellend?“

Dee schenkte dem süffisant lächelnden Comte nur einen verächtlichen Blick und kramte dann in seiner Tasche nach einem dicken Bündel Akten. Auf dem obersten Deckel erkannte Faust den Stempel der Kriminalpolizei. Er seufzte. Er wollte gar nicht wissen, wie Dee an diese Fallakten gekommen war. Man traute ihm scheinbar nicht mehr zu, Dinge allein zu regeln.

„Können wir dann zur Sache kommen? Oder warten wir noch …?”

Maria wandte den Kopf, strich sich eine karamellblonde Strähne aus der Stirn, die aus ihrem komplizierten Dutt entkommen war und richtete ihre Augen fragend auf den letzten, leeren Stuhl an Fausts Seite. Dee bewegte unbehaglich die Schultern in seinem engen Abendjackett und hielt den Blick gesenkt.

„Ich hatte … hm …” Er räusperte sich und seine Stimme gewann ein wenig Festigkeit. „Mein Versuch Mister Crowley vorzuladen ist leider erfolglos geblieben, er war nicht erreichbar … und daher schlage ich vor wir beginnen ohne ihn.” Dee richtete sich ein wenig gerade auf und verfiel in das dozierende Leiern, das über die Jahrhunderte unzähligen Studenten beim Einschlafen geholfen hatte. „Ich nehme an, es ist bekannt, worüber wir sprechen. Es hat in den letzten zwei Wochen zwei Mordfälle in Kirchen gegeben und die Presse …”

„Überschlägt sich geradezu vor Begeisterung über Crowleys Exzesse”, warf Leopold dazwischen und rümpfte die Nase. „Ich hatte gehofft, wenigstens Ihr könntet ihm noch ins Gewissen reden, Dee. Aber scheinbar kennt ein tollwütiger Hund keinen Herrn.”

Dees Augenbrauen zogen sich zusammen, aber er wandte sich abrupt Faust zu und schüttelte vorwurfsvoll die Fallakte in seiner Hand:

„War es wirklich notwendig diese unliebsame Geschichte so weite Kreise ziehen zu lassen, Johann? Hätten wir das nicht still und leise regeln können, wie sonst auch?“

Faust ächzte und erhob sich dann, um Sariels Stuhl für sie zurechtzurücken. Sie bedankte sich mit einem flüchtigen Lächeln, setzte sich und sah einmal unbeteiligt in die Runde. Dann heftete sie den Blick auf die Bühne und schien sie alle aus ihrem Bewusstsein zu streichen. Faust erlaubte sich, eine unordentliche Haarsträhne ihres schwarzen Pagenkopfes zu glätten und wandte sich dann wieder Dee zu.

„Ich weiß nicht, wie das hätte funktionieren sollen. Die Situation ist nun einmal nicht ‚wie sonst auch‘. Altarschändungen und zerstückelte Prostituierte sind ein völlig anderes Kaliber als Drogenorgien, Sex-Rituale in der Öffentlichkeit oder das gelegentliche Tieropfer. Solange sich dein zügelloser Sektenführer auf ‚Magie’ beschränkt, die nicht gleich ein Spezialeinsatzkommando auf den Plan ruft, habe ich wenig Mühe, seinen Dreck wegzuräumen – wenn es bisweilen auch sehr lästig ist. Aber Kirchenräume voller Körperteile, beschmiert mit blutigen Zeichen und was auch immer ihm sonst gerade so einfällt? Selbst mit meinem Einfluss und deinen unschätzbaren Kontakten lässt sich so etwas nicht klein halten.“

„Ich möchte Leopold beipflichten: Wir hätten diesen selbstzerstörerischen Unruhestifter schon lange zur Räson bringen sollen!“ mischte sich die Marquise ein. „Er erinnert mich an diesen hysterischen Musiker, mit dem Giacomo damals in Prag herumgezogen ist. Den haben wir gar nicht erst aufgenommen und dabei war er tatsächlich talentiert. Wie hieß er noch gleich?“ Ihre kleine Hand schlug gegen die Schulter des Italieners, der sich seufzend zu ihr umdrehte. „Er konnte so niedliche, kleine Menuette schreiben, sogar noch auf den Bettlaken …“

„Wolfgang”, gab Giacomo kurz angebunden zurück und wandte sich dann wieder seiner Eroberung zu.

Dee räusperte sich nachdrücklich.

„Meine liebe Athénaïs, die Frage wann und wie wir Crowley wegen seines Verhaltens maßregeln, steht momentan noch nicht zur Debatte. Wie sollten wir also diese Sache deiner Meinung nach handhaben, Johann?“

Faust genehmigte sich einen Schluck Champagner und ignorierte Dees auffordernde Geste. Er zog sich Crowleys leer gebliebenen Stuhl näher heran, um sein schmerzendes Bein darauf abzulegen. 500 Jahre seit dieser vermaledeiten Explosion und immer noch zwickte sein Knie bei regnerischem Wetter, sobald der Übergang vollzogen war. Man entkam der Vergangenheit einfach nicht. Schließlich seufzte er ergeben:

„Mein lieber Dee, wir müssen diese Sache überhaupt nicht handhaben, ich habe bereits mit der Schadensbegrenzung begonnen. Auch wenn ich anmerken möchte, dass meine Geduld sich dem Ende zuneigt.”

„Und was soll das heißen?”

Faust verzog das Gesicht zu einem Grinsen, als sein Knie ein weiteres schmerzhaftes Ziehen von sich gab.

„Das soll heißen, dass ich schon alles Notwendige in die Wege geleitet habe. Mein neuer Assistent Doktor Wagner wird die Ermittlungen in diesem Fall unter meiner Führung schnell und erfolgreich abschließen. Aber …“, er hob einen mahnenden Zeigefinger und bohrte seinen Blick in Dees missmutiges Gesicht. „Ich bin nicht bereit mir Crowleys Mummenschanz noch länger anzusehen! Egal, was er sich von diesem Gemetzel verspricht, er gefährdet damit uns alle. Also sieh zu, dass du ihm endlich Manieren beibringst!“

Faust ließ sich schwer in seinen Stuhl zurückfallen. Der Champagner schmeckte plötzlich bitter, aber vielleicht schluckte er auch nur seinen Unmut schon zu lange hinunter. Die Versammlung verdiente einen Fürsten der Finsternis, einen dunklen Meister der Mächte, aber was hatte Dee ihnen beschert? Einen drogensüchtigen Dilettanten, den man ständig daran erinnern musste sein eigenes Bett nicht zu beschmutzen.

„Bei allem Respekt Johann, dürfen wir zumindest fragen, was du im Schilde führst? Dein neuer Adlatus sollte besser nicht auf die richtigen Ideen kommen.“

Faust blinzelte überrascht und wandte sich Leopold zu, der sich mit einem skeptischen Ausdruck vorgebeugt hatte. Faust lächelte müde:

„Die richtigen Ideen? Mein lieber Freund, du überschätzt dann doch die Vorstellungskraft des gemeinen Staatsbediensteten.” Er wandte sich an die Runde im Ganzen. „Keine Sorge meine lieben Freunde! Ich versichere euch, es ist viel einfacher, diese Dinge in die richtigen, falschen Bahnen zu lenken, als ihr denkt. Crowley arbeitet nie allein und füttert seine Anhänger mit solchen Unmengen von illegalen Substanzen, dass es wirklich ein Kinderspiel ist, daraus Kapital zu schlagen.“

„Und du denkst, es ist wirklich klug einen von Crowleys Handlangern zu deinem Bauernopfer zu machen? Wer weiß, was er den Polizisten erzählen könnte?“

Lukrezia sah ihn besorgt und auch ein wenig kritisch an. In jenen Momenten, in denen sich diese kleine, steile Falte auf ihrem Nasenrücken bildete, offenbarte sich das spanische Adlerprofil ihres Onkels und wohl auch sein misstrauischer Geist – eine Familienähnlichkeit, die sie normalerweise unter einer lasziven Freundlichkeit verbarg. Faust winkte ab und versuchte ihre Bedenken zu zerstreuen.

„Meine liebste Lukrezia, glaubst du nicht, ich hätte alle diese Einwände schon abgewogen? Aber die beste Lüge ist immer die, die der Wahrheit am nächsten kommt. Ich habe schon einen dieser armen Fehlgeleiteten unter meiner Fuchtel und er wird Wagners Fallstudie darüber werden, wie sich die menschliche Wahrnehmung durch Drogen und Fanatismus so sehr zersetzen lässt, dass am Ende selbst für die grauenvollsten Taten keine besondere Motivation mehr vonnöten ist. Wir alle wissen, dass solche Dinge passieren.

Und es ist zudem soviel einfacher, als alles so zu manipulieren, dass ein völlig Unbeteiligter belastet wird.“

„Polizisten sind so … gewöhnlich.“ Madame la Marquise lag inzwischen über Giacomos Schoss gegossen, den diese kleine Diskussion endlich von seinem Flirt abgelenkt hatte. Sie fütterte abwechselnd ihn und sich selbst mit den restlichen Pralinen, während er ihr Haar durch seine Finger rieseln ließ. „Ich sollte nach Paris fahren und sehen, ob ich auf La Reynies Grab tanzen kann … Oh, ach ja, das habe ich ja schon längst getan!“

Sie kicherte, wie ein kleines Mädchen. Ihre Grübchen waren wirklich hinreißend.

„Also gut, wir vertrauen wie immer auf deine Expertise, Johann. Aber was unseren bizarren Freund Crowley angeht, bin ich nicht sicher, ob wir wirklich abwarten sollten auf welche absurden Ideen er als Nächstes kommt.“

Der Comte de St. Germain drehte sich mit einem streitlustigen Ausdruck zu Dee um. „Ich bin dafür ihn ohne weitere Umschweife zum Anathema zu erklären. Ich erinnere mich noch gut an die Versammlung, in der wir die Damnatio Memoriae über Nero aussprachen! Damals zumindest…“ Faust räusperte sich überlaut und hob erneut ermahnend den Zeigefinger, auch wenn er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Immer dieselben Ammenmärchen. St. Germain unterbrach sich und verbarg sichtlich ein entschuldigendes Grinsen hinter seiner Hand.

„Also gut, kein Nero. Aber mein Einwand steht“, beharrte er. „Wenn es selbst seinem Landsmann und Paten nicht gelingt Crowley zur Vernunft zu bringen, bleibt uns doch nur die Große Versammlung einzuberufen. Meint Ihr nicht, Dee?“

Dee bedachte ihn mit einem finsteren Blick.

„Ich bin Waliser.“

„Wie dem auch sei. Aber irgendeinem Gott schuldet das Orakel doch sicher ein Opfer, oder?” winkte der Comte mit einem ironischen Lächeln ab.

Sariel drehte sich kurz zu ihm um und schüttelte tadelnd den Kopf. Faust beeilte sich, dazwischenzugehen: „Leopold, nimm doch bitte ein wenig Rücksicht auf unseren Gast! Solche Vorschläge sind wohl kaum geeignet für himmlische Ohren.“ Er lächelte Sariel entschuldigend zu. „Aber ich stimme deinem grundsätzlichen Vorschlag zu. Wenn Crowley sich noch einen weiteren Fehltritt leistet, werden wir nicht umhin kommen das Orakel zu informieren.“

„Und was wird dann aus deinem jungen … Schüler?“

Das Interesse ihres Gigolos ließ sich eben doch nur kurzfristig umlenken. Faust hob ermahnend den Zeigefinger.

„Nichts für dich, mein lüsterner Freund! Ich brauche ihn noch und bei deiner Unfähigkeit auch nur das kleinste bisschen Diskretion zu zeigen, hilft nur das vollkommene Kontaktverbot. Sonst werde ich mich noch mit dir duellieren müssen.“

Gelächter wogte auf, sogar Giacomo stimmte mit ein.

„Das könnte ich nicht mit meiner Ehre vereinbaren, alter Mann.“

„Oh, ich denke, wenn wir unser Gefecht noch zehn oder zwanzig Jahre verschieben, bin ich dir durchaus wieder gewachsen. Immerhin“, zwinkerte er ihm verschwörerisch zu, „habe ich ja jetzt einen Nachfolger gefunden, der meine Leiche identifizieren kann.“

Das Blut in der Schale gerann langsam zu einem dickflüssigen Sirup, aber sein Pinsel streichelte weiter sanft und gleichmäßig über die glänzende Marmortäfelung. Er vollendete die letzte Rundung des letzten Siegels. Der Gesang in seinem Rücken stieg triumphierend den himmlischen Sphären entgegen, während er die entscheidenden Formeln und Beschwörungen murmelte. Dann trat er zurück und breitete in ekstatischer Erwartung die Arme aus.

Doch die Allmächtigen blieben stumm.

Stille fiel wie ein grausamer Urteilsspruch auf ihn herab und drohte ihn zu Boden zu drücken. Er senkte den Blick und folgte den blutigen Lachen um den Altar zu ihrem Gesicht, friedlich, entrückt unter den hennaroten Locken. Er konnte nicht aufgeben. Er war es ihnen allen schuldig.

Enttäuscht, aber nicht geschlagen, hob er das Kinn und wandte sich ab.

Er würde einen Weg aus der Dunkelheit finden, mit oder ohne Zustimmung gleichgültiger Götter!

Wagner drehte seine Krawatte zwischen den Fingern, während er zum zwanzigsten Mal die Aushänge am schwarzen Brett des Institutskorridors studierte. Die Luft in den hohen, aber schmalen Gängen war stickig und staubig, Spinnweben sammelten sich in den Ecken der unerreichbaren Fenster und jeder Schritt hallte wie ein dumpfer Schlag durch das ganze Treppenhaus. Also saß er schwitzend und unbequem auf einem der Plastikstühle, die als merkwürdig postmoderne Anhängsel auf den alten Steinfußböden montiert waren und machte sich Sorgen.

Eigentlich war es ein großer Klumpen Sorge, der seinen ganzen Magen ausfüllte und ihm bis in die Kehle stieg.

Zunächst einmal war da die Tatsache, dass Professor Faust als der bekannteste und angesehenste forensische Psychiater des Landes galt - eine Autorität die Wagners Dozenten in ihren Vorlesungen erwähnten und die er selbst mehr als einmal in seiner Doktorarbeit zitiert hatte. Ob es ein Fehler gewesen war, dem Professor ein Vorabexemplar zu schicken? Vielleicht hätte er auf die offizielle Drucklegung warten sollen? Aber wie konnte er sich sonst dafür bedanken, dass der Professor sich persönlich für ihn eingesetzt hatte?

Und dieser Gedanke schwemmte ein weiteres Klümpchen nach oben: Womit hatte gerade er, Wagner, diese Fürsprache verdient? In der Klinik hatte er nicht gerade viele Lorbeeren gesammelt und es war für ihn auch keine Überraschung gewesen, dass man seine Bewerbung abgelehnt hatte.

‚Ein bisschen Ruhe und eine neue Umgebung können ungeahnte Auswirkungen haben’, hatte sein Oberarzt ihm erklärt, was für Wagner nur bedeutete, dass man ihm nahelegte, sich noch einmal gründlich mit seiner Karriereplanung zu beschäftigen. Und gerade als er ernsthaft erwogen hatte wieder einmal alles hinzuwerfen, flatterte ihm ein Schreiben ins Haus mit der persönlichen Unterschrift von Prof. Dr. Dr. Dr. Faust … „Doktor Wagner?“

Er zuckte zusammen. Die Stimme der Sekretärin, die ihn von einer Tür am Ende des Flurs aus ansah, klang wie eine Fanfare in der stickigen Atmosphäre des Instituts.

„Ähh … ja?“

„Der Professor hat jetzt Zeit für Sie.“

Eilig kramte er seine Jacke und Tasche zusammen und stolperte den Gang hinunter. Die Frau mit dem strengen, grauen Dutt machte einen Schritt zur Seite und ließ ihn in das halbdunkle Zimmer eintreten. Das Büro war mit wenigen, heruntergekommenen Möbeln ausgestattet und bis zum Bersten mit Büchern vollgestopft. Selbst die Fensterseite des Raums musste für Regalflächen herhalten. Nur das Fenster im Rücken des großen Eichenschreibtisches war von ihnen verschont geblieben – ein notwendiges Mindestmaß an Licht und Luft. Auch Prof. Faust selbst sah abgewetzt und unordentlich aus, eher wie ein freundlicher Seniorenheimbewohner, als ein gefragter und genialer Psychiater. Aber zu Wagners Glück begrüßte der Professor ihn herzlich, ehe sich die Enttäuschung über den wenig erhabenen Moment auf seinem Gesicht abzeichnen konnte.

„Ah, Doktor Wagner! Bitte entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten. Das Verbrechen schläft nicht, wie man sagt, im Gegensatz zu alternden Gutachtern. Und je älter man wird, desto schwerer wird es Schritt zu halten.“

Professor Faust erhob sich aus dem abgewetzten Ohrensessel, der ihm als Bürostuhl diente, und streckte ihm eine pergamenttrockene Hand entgegen.

Die andere Hand stützte sich schwer auf den polierten Stock, dessen Messing-Hundekopf Wagner nicht mehr wirklich überraschte. In diesem Zimmer war vermutlich seit sechzig Jahren 1953.

„Ich danke Ihnen für Ihre Einladung, Professor Faust. Allerdings muss ich gestehen, dass ich meinen Doktortitel noch nicht offiziell tragen darf, ich bin gerade dabei …“ „Ach, mein lieber Junge, nur eine Frage von Formalitäten. Und bedanken müssen Sie sich auch nicht! Es wäre doch eine Schande gewesen ein junges Talent wie Sie ziehen zu lassen, nur weil sich keine passende Praktikumsstelle ergeben wollte.”

Der Professor drehte Wagners Handfläche nach oben und betrachtete sie eingehend. Wagner unterdrückte den Impuls einen großen Schritt zurückzutreten. Schließlich ließ Faust seine Hand los und zwinkerte wie ein gutmütiger Onkel zu ihm hinauf.

„Nur eine kleine Marotte, mein junger Freund. Wussten Sie, dass Ihre Lebens- und Kopflinien sich beinahe überschneiden? Äußerst interessant …” „Ähm …” Wagner wischte unwillkürlich seine Handflächen an seinem Jackett ab. Es entstand ein unangenehmer Moment der Stille, in dem das Ticken einer Uhr irgendwo im Raum überlaut anschwoll. Der Professor schien noch etwas anfügen zu wollen und Wagner blieb stumm aus Angst ihn zu unterbrechen.

Stattdessen aber fühlte er sich von oben bis unten gemustert mit einem derart abschätzenden Blick, dass es ihm die Hitze in die Wangen trieb.

Wurde hier jeder neue Mitarbeiter begutachtet wie ein Pferd auf einer Auktion?

‚Nervosität lässt uns manchmal Körpersprache und Zeichen falsch deuten’, versuchte die Stimme seines Inneren Therapeuten zu beruhigen, aber ein vages Gefühl des Unwohlseins blieb.

Schließlich hustete Professor Faust kurz, kramte in einer Jackentasche nach einem Stofftaschentuch und schnäuzte sich umständlich. Wagner wartete schweigend, bis das Taschentuch wieder verschwand.

Endlich wandte sich der Professor seinem Schreibtisch zu und wies auf die gestapelten Fallakten.

„Ich sage es Ihnen frei heraus, die Arbeit in einer polizeilichen Abteilung wird Sie anders und vielleicht auch mehr fordern als das Verfassen von Gutachten und die Arbeit im reglementierten Bereich der klinischen Forensik, aber ich sehe das als Bonus an, nicht als Hindernis! Wie mein alter Freund Doktor Bergman mir verriet, waren Sie mit dem Klinikalltag ja ohnehin nicht sonderlich glücklich, die Kriminalpsychologie scheint mir da die perfekte Alternative für Sie zu sein.“

Der alte Mann schlug ihm mit erstaunlicher Kraft auf die Schulter und Wagner schluckte unwillkürlich.

Ihm war nicht bewusst gewesen, dass das Netzwerk des alten Professors auch seinen ehemaligen Vorgesetzten mit einschloss. Er konnte nur hoffen und beten, dass man beim Smalltalk über ihn nicht zu sehr ins Detail gegangen war.

Professor Faust führte ihn zu einem der mottenzerfressenen Stühle, die seinem schweren Schreibtisch gegenüber angeordnet waren.

„Und ich muss mich auch für das Exemplar Ihrer Doktorarbeit bedanken.

Die daraus zu gewinnenden Erkenntnisse für die Kriminalforschung werden Sie schon bald zu einer leitenden Größe auf unserem Gebiet machen. Und Ihre Einsichten zu anti-religiösen Ritualaspekten von Serienmorden?

Faszinierend! Ich habe zufällig gerade den perfekten Fall an der Hand, um Ihre Kenntnisse und Fähigkeiten zu erweitern.“

Jetzt war Wagner sich absolut sicher, dass er puterrot anlief. Er suchte verzweifelt nach einer Erwiderung auf diese unerwartete Lobrede, aber der Professor zog bereits eine Akte aus dem Stapel, aus der dutzende von Post-Its in verschiedenen Farben herausragten.

„Sie müssen leider mit meinen handschriftlichen Notizen Vorlieb nehmen.

Man sagt mir immer wieder, ich solle mich endlich daran gewöhnen, die Fallakten an meinem Computer zu bearbeiten“, eine wegwerfende Geste erfasste einen hochglänzenden Laptop, ein stromlinien-gestyltes UFO inmitten dieser verstaubten Bibliothek. „Aber ich bevorzuge Papier. Ich muss mir Dinge notieren, markieren und Tatortfotos in die Hand nehmen können.

Ich denke, mein Nachfolger wird die technische Einrichtung des Büros wohl mehr zu schätzen wissen.“

Er zwinkerte verschmitzt und überreichte Wagner feierlich den unordentlichen Papierstapel. Dann hob er den Hörer des altersschwachen Telefons von der Gabel und wählte eine kurze Nummer.

„Fräulein Södholm? Ja, Sie können den jungen Herrn jetzt in Empfang nehmen. Ich lege seine Einführung in diesen Fall ganz in Ihre kundigen Hände.“

Damit lächelte er noch einmal freundlich und wies dann zur Tür.

„Die zuständige Beamtin wird Sie mit allen Details des Falles vertraut machen. Wir sehen uns wieder, sobald Sie sich ein Bild gemacht haben!“

„Hi! Polizeihauptmeisterin Margareta Södholm”, begrüßte ihn seine neue Kollegin an ihr Einsatzfahrzeug gelehnt, während sie ihn wenig begeistert musterte.

„Wagner … ähm Jonas Wagner.”

Wagner ergriff überrumpelt ihre ausgestreckte Hand und war sich schmerzhaft bewusst, dass sein Adamsapfel wie ein Jo-Jo auf- und absprang.

‚Nur eine rein körperliche Reaktion auf eine attraktive Frau, kein Grund zur Panik’, ermahnte ihn die Stimme seines Inneren Therapeuten.

„Steig ein, wir müssen gleich los. Leichenfund am Stadtrand.”

Wagner schluckte und klemmte sich den dicken Aktenstapel unter den Arm, um auf den Beifahrersitz zu klettern. Er hatte keine Chance gehabt auch nur einen Blick auf die Fallnotizen des Professors zu werfen, fühlte sich mehr als schlecht vorbereitet und Margaretas abweisende Art machte ihn zusätzlich nervös.

Als wäre es nicht schon schlimm genug gewesen, dass er sich immer noch fragte, was Professor Faust eigentlich von ihm erwartete; wie er überhaupt auf die Idee kam, dass ausgerechnet Wagner für diese Chance geeignet war.

Margareta warf ihm einen skeptischen Blick zu, als sie sich langsam einen Weg durch den Innenstadtverkehr bahnten: „Weißt du schon Bescheid über den Fall, oder brauchst du die Kurzversion?”

Wagner räusperte sich: „Nur was man in der Zeitung lesen konnte, ich … ich hatte noch keine Gelegenheit mich einzuarbeiten.”

Er bemühte sich um einen kühl-professionellen Tonfall. Margaretas einsilbige Anweisungen hatten keinen Zweifel daran gelassen, dass sie an Smalltalk nicht interessiert war. Sie nickte knapp und wischte sich eine rotbraune Haarsträhne aus der Stirn.

„Warst du wenigstens schonmal an einem Tatort?”

Er schüttelte den Kopf und bestätigte damit wohl ihren unausgesprochenen Verdacht, denn sie schnaubte und hupte nachdrücklich einem Fahrradkurier hinterher, der sich gerade durch die Autokolonne vor ihnen schlängelte.

„Dachte ich mir. Die Praktikanten, die der Prof zu uns aufs Revier schickt, sind immer furchtbare Bücherwürmer. Theorie hier, Theorie da, keine Ahnung vom Einsatz.”

Wagner runzelte die Stirn.

„Ich bin kein Praktikant, ich bin …” „Jaja kriminalpsychologischer Berater, hab’ ich schon verstanden”, unterbrach sie ihn mit einer beschwichtigenden Handbewegung. „Aber nimm’s nicht persönlich, dieser Fall ist nichts für Neulinge. Die Presse macht uns die Hölle heiß, alle bis rauf zum Innenminister erwarten Ergebnisse und wir haben bisher gar nichts. Also hältst du dich am besten im Hintergrund, bis du weißt, wie der Hase läuft, ok? Und immer dran denken ja nichts anzufassen!”

Wagner wartete, aber scheinbar hatte seine neue Kollegin ihm erst einmal nichts weiter zu sagen. Er hatte das dringende, irrationale Bedürfnis sie zum Lächeln zu bringen, aber sie begegnete ihm wie eine alte Tante, die gegen ihren Willen als Babysitter eingespannt worden war. Vermutlich traf das die Situation sogar besser, als ihm lieb sein konnte. Wagner verkniff sich ein Seufzen und kramte die Fallnotizen der vorherigen Tatorte aus seiner Aktentasche.

Wenn er den ewigen Neuling endlich hinter sich lassen wollte, konnte er sich keine persönlichen Ablenkungen leisten.

Die dritte Leiche innerhalb von vier Wochen lag in einer kleinen, katholischen Kapelle am Stadtrand, die nur noch gelegentlich für Andachten genutzt wurde. Brütende Spätsommerhitze ließ die Luft über dem Asphalt flimmern und der Geräuschpegel einer großräumigen Ermittlung schlug ihnen schon durch die offenen Wagenfenster entgegen bevor Margareta den Motor abgestellt hatte. Weitläufige Felder säumten die eine Seite der schmalen Landstraße und auf der anderen tröpfelten freistehende Einfamilienhäuser langsam zum Ortsausgang aus und gingen in ein kleines Wäldchen über. Im Grenzgebiet zwischen Natur und Siedlung stand das kleine quadratische Gotteshaus; ein einsamer Wächter, der gerade von einer Lawine von Einsatzwagen überrollt wurde. Vor dem Eichentor tummelten sich etliche Polizisten und weiß gekleidete Spurensicherer krochen durch die Büsche. Margareta wies Wagner an zu warten und sprach mit dem Beamten, der den Zugang des Tatortes bewachte. Dann wies sie mit einer Kopfbewegung auf die Meute Schaulustiger, die aus der Siedlung zusammengelaufen war und das bunte Gewusel von Kamerawagen und Pressemob. Der Polizist zuckte die Schultern. Verbrechen zog Menschen an wie das Aas die Fliegen.

„Doktor Wagner?“

Er schreckte auf und stolperte in Richtung des Absperrbandes. Margaretas Gesichtsausdruck war angespannt und Schweißperlen standen auf ihrer Nase zwischen etlichen Sommersprossen. Wagner hob nur fragend die Augenbrauen.

„Ich gehe rein. Es sieht scheinbar echt übel aus, vielleicht solltest du lieber warten, bis die Gerichtsmedizin die Leiche abtransportiert hat …“ Er schüttelte den Kopf und versuchte abgebrüht auszusehen.

„Wenn ich schon hier bin, sollte ich den Tatort auch begutachten. Dafür bin ich schließlich mitgekommen, Fotos hätte ich auch im Büro ansehen können.“

„Also gut, wenn du meinst. Schuhüberzieher sind da vorne, halt dich immer nah hinter mir und nichts anfassen!”

Sie nickte ihm auffordernd zu, band sich ihre langen Haare im Nacken zusammen und marschierte voran. Wagner beeilte sich, ihr zu folgen.

Kaum waren sie durch das Portal der Kirche getreten, schlug ihnen auch schon eine Wand aus verschiedenen Gerüchen entgegen. Der metallische Blutgeruch war fast unerträglich stark, aber Jahrzehnte von Weihrauch weigerten sich beharrlich zu verschwinden. Unter diesem Gestank allerdings, schwebte noch eine andere Note, chemisch und irgendwie … vertraut.

„Riecht es hier nach Grillanzündern?“ platze er heraus.

Margareta drehte sich um und zum ersten Mal sah er so etwas Ähnliches wie ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Es hätte hübscher ausgesehen, wäre es nicht so angeekelt verzogen gewesen.

„Guter Riecher, immerhin. Die Finger wurden abgetrennt und in der Hostienschale verbrannt. Irgendeine Ahnung, was das heißen soll?“

Er schluckte ein paar Mal schwer und versuchte, die sich aufdrängenden Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben.

„Vielleicht wollte der Täter die Fingerabdrücke unbrauchbar machen?“

Margareta schnaubte und verscheuchte ein paar Fliegen.

„Möglich wär’s, aber irgendwie glaube ich nicht, dass es darum ging, hier etwas zu verstecken. Sieh's dir an!“

Sie hob die weiße Plane zur Seite, die den Altar vor den Blicken der Schaulustigen verbarg und sein Kopf begann sich zu drehen. Bis zu diesem Moment hatte er sich eingeredet, dass ihm eine Leiche nach seinem Dissektionskurs nichts mehr ausmachen konnte und auch die unmittelbare Realität eines Tatorts kaum schlimmer sein würde, als die zahllosen Fotos, die er für seine Arbeit schon hatte studieren müssen. Nun zersprang diese Illusion schlagartig und regnete in eisigen Scherben durch sein Hirn.

Margareta fasste ihn am Arm und drehte ihn herum.

„Tief atmen, Bücherwurm! Immer schön atmen, auch wenn es stinkt! Und gekotzt wird nur draußen!“

Wagner riss sich los, stolperte zur Tür und schaffte es tatsächlich gerade eben noch ins Freie, bevor sein Frühstück Bekanntschaft mit seinem ersten Tatort machen konnte. Als sein Magen endlich leergepumpt war, ließ er sich gegen die Backsteinwand der Kirche fallen und kramte nach einem Taschentuch.

Ein paar tiefe Atemzüge später, fühlte er sich schon fast nur noch elend.

„Geht’s wieder? Mach dir nichts draus, manche Neulinge verunreinigen schon den Tatort bei ihrem ersten Drogentoten. Du hättest auf mich hören sollen.“

Sein Blick folgte dem amüsierten Tonfall nach oben und begegnete Margaretas erstem tatsächlichen Lächeln. Es ließ sie keck wirken, wie eine erwachsene Version von Pippi Langstrumpf. Er strengte sich an, wieder auf die Beine zu kommen und fiel ihr fast vor die Füße.

„Mach langsam, du willst doch nicht in deiner eigenen Kotze landen, oder?“

Sie zog ihn hoch und hielt seine Arme, bis die Welt wieder stillstand.

„Das war … unerwartet“, stammelte er schließlich.

Sie nickte.

„Willst du nochmal rein, oder lieber hier warten?“

Er schluckte gegen den sauren Geschmack in seinem Mund an und schüttelte den Kopf.

„Ich kriege das schon hin.“

„Das ist die richtige Einstellung! Und hochkommen kann ja jetzt auch nichts mehr …“ Sie zwinkerte ihm zu und ging voraus.

Es war tatsächlich ein Glück, dass sein Magen jetzt leer war, denn der Anblick der Körperteile, die überall um den Altar herum verteilt lagen, war auch beim zweiten Mal noch schockierend genug. Große Blutlachen umgaben den Steinaltar an allen Seiten. Getrocknete Rinnsale zogen sich von dem amputierten Torso auf der Steinplatte zu Armen, Beinen und Kopf, die auf dem Boden angeordnet lagen, als hätte jemand ein großes Puzzle ausgelegt. Einige der Rinnsale mündeten in Kelchen. Andere Lachen waren der Ausgangspunkt für Glyphen und wilde Symbole, die aus allen möglichen Kulturkreisen, Epochen und mythischen Traditionen zusammengewürfelt oder teilweise willkürlich ausgedacht waren. Am schlimmsten waren die Fliegen.

„Die Tür stand offen, als der Küster heute Morgen aufschließen wollte.

Deswegen auch die vielen Insekten“, erklärte die Gerichtsmedizinerin, die ihm bei seiner Flucht nach draußen entgegengekommen war. „Können wir sie jetzt mitnehmen? Mir wurde gesagt, ich dürfe nichts verschieben, bis ihr euch alles angesehen habt. Aber wir müssen die Leiche ganz dringend kühlen, ansonsten können wir die Beweissicherung vergessen …“ Sie sah sich fragend um, ihre Augen der einzig sichtbare Teil ihres Gesichts zwischen Einweganzug und Mundschutz. Wagner winkte nur ab. Margareta nickte zustimmend.

„Kann ich mich setzen?“, fragte Wagner Margareta, als sich die Mediziner an den Abtransport machten. „Oder gilt das als ‚irgendwas anfassen‘?“

Als Antwort erntete er nur eine gehobene Augenbraue und den Wink ihr zu folgen. Die frischere Luft des Sommertages draußen war ihm nicht unlieb. Er hatte das Gefühl, sogar seine Haare rochen nach Verwesung.

„Da ist eine Bank hinter der Kirche mit Blick auf das Wäldchen. Wir stehen hier sowieso grade nur im Weg.“

Auch die Rückseite der Kirche war mit Absperrband eingezäunt. Boden und Büsche waren bereits nach Spuren abgesucht worden, aber scheinbar war der Täter einfach zur Vordertür hereinspaziert und auf demselben Weg auch wieder verschwunden. Es gab keine Hinweise auf einen Kampf, keine markanten Reifenspuren, keine Schleifspuren, keinerlei Hinweis, wie er eine gesunde junge Frau überwältigt und sie ohne Gegenwehr in die Kirche gebracht hatte.

„Der Rest des Teams nimmt gerade Aussagen von den Anwohnern und dem Küster auf. Sagt dir unsere Leiche schon irgendwas?“

Margareta ließ sich auf die kleine Holzbank sacken und hob das Gesicht der tiefstehenden Sonne entgegen, die schon fast hinter den nächsten Baumwipfeln verschwand. Wagner seufzte und ließ sich in gebührendem Abstand nieder.

„Bisher nichts Offensichtliches“, musste er zugeben, „Wenn das hier tatsächlich ein Ritual gewesen sein soll, kann ich mir nicht vorstellen wofür.

An allen Tatorten gab es christliche Symbole – das Templerkreuz zum Beispiel, aber auch kabbalistische Zeichen, ägyptische und arabische Glyphen und viele Schnörkel, die ich nicht zuordnen kann und die auch Professor Faust als spezifisch für diesen Täter einstuft. Bisher können wir nur halbwegs sicher sagen, dass derselbe Mörder an allen vier Tatorten war.

Dieses Chaos kann unmöglich zufällig sein. Aber soweit wart ihr auch ohne mich schon …“ Er hielt irritiert inne. Im Halbschatten unter den Bäumen war für einen winzigen Moment etwas aufgeblitzt. Ein Lichtreflex auf einem Stück Müll?

„Hast du das gesehen? Ich glaube, da hinten liegt ein Stück Metall im Gras oder so …“ Margaretas Kopf ruckte herum. Er versuchte, möglichst genau auf die Stelle zu zeigen, obwohl er sich kaum noch sicher war, ob er überhaupt etwas gesehen hatte. Margareta stand auf und machte einen Schritt weg von der Bank.

Und dann implodierte die Zeit um sie herum.

Blitzartig sprang ein Schatten aus dem hohen Gras auf. Margaretas Hand flog zu ihrer Waffe, der Schatten streckte einen Arm aus, das Glitzern von Sonnenlicht auf der Pistole fuhr Wagner wie ein Stromschlag in die Beine. Er hechtete nach vorne, rammte seine Schulter in Margaretas Kniekehlen und fühlte sie über sich zusammensacken. Im gleichen Moment rollte ein dumpfer Knall über sie hinweg.

Wagner hob vorsichtig den Kopf, während die Sekunden zähflüssig um ihn herumflossen, in einer merkwürdigen Stille, die er mit seiner Zeit in der Notaufnahme verband. Ein Fiepen, wie die Nulllinie eines EKGs lag in der bewegungslosen Luft. Die blauen Uniformen der heranstürmenden Polizisten hätten auch OP-Kittel sein können. Dann schoss die Zeit plötzlich wieder nach vorn und riss alles mit. Der Schatten unter den Bäumen warf sich herum, versuchte durch das hohe Gras zu entkommen und wurde von drei, vier, fünf blaugekleideten Gestalten überwältigt. Ein weiterer Schuss löste sich, aber verhallte harmlos in den Baumkronen. Hände drehten Wagner herum, zogen und zerrten ihn wieder auf die Füße.

„Ist ja gut, mir ist nichts passiert, beruhigt euch wieder.”

Margaretas Stimme klang laut und verärgert in seinen Ohren, während sie die helfenden Hände abschüttelte und schwankend aufstand.

„Scheiße verdammt! Ist alles in Ordnung bei dir?”

Wagner registrierte benommen, dass echte Sorge in ihrem Tonfall schwang.

Vorsichtig tastete er seine Brust und seine schmerzenden Knie ab.

„Ich … alles noch dran, glaube ich.”

Wildes Gekreische aus Richtung des Wäldchens ließ sie alle zusammenzucken.

„Der Meister hat es mir versprochen! Blut für Blut, die Dunkelheit ist eine Lüge …” Wagner und Margareta wechselten einen hektischen Blick, als die Polizisten die abgerissene Gestalt ihres Angreifers langsam zu ihnen herüber schleppten. Der dürre, junge Mann wehrte sich wie von Sinnen, aber eingezwängt zwischen zwei kräftige Beamte blieb ihm nur den Kopf herumzuwerfen und sie aus rotgeränderten Augen anzustarren. Seine strähnigen Haare, die dreckigen Jeans, das zerrissene T-Shirt, alles an ihm war mit Blut besudelt und rötlich gefärbter Schweiß rann über seine Stirn, wo er blutige Symbole verwischte. Wagner machte ein paar unsichere Schritte auf den zappelnden Mann zu. Der saure Schweiß- und Uringeruch seiner Kleidung überdeckte beinahe den metallischen Nachklang der Blutflecken. Wagner versuchte den wandernden Blick einzufangen. Mit einem Mal erstarrte jegliche Bewegung des Verdächtigen. Seine Pupillen waren riesengroß und schienen sich geradezu an Wagners Gesicht festzusaugen.

„Alles ok?” fragte der Beamte zu seiner Rechten, der die Arme des Angreifers immer noch in einem Schraubzwingen-Griff hielt.

Wagner nickte vage.

„Ja ich … alles in Ordnung. Könnte ich mir mal seine Stirn ansehen?”

Die Beamten drehten den Oberkörper herum und Wagner musste den Impuls niederringen zurückzuweichen. Die blutigen Linien im Gesicht des Mannes bildeten eine Art Siegel, aber Hitze und Kampf hatten sie bereits zu sehr verwischt.

Plötzlich lehnte sich der Verdächtige vor und flüsterte in seine Richtung, vertraulich, als wären sie alte Freunde: „Die Dunkelheit ist in uns allen, man muss sie nur finden. Der Meister hat Wege, aber keinen Schlüssel, er sucht …” Seine Stimme erstarb und seine Augen verloren jeglichen Fokus. Wagner machte einen Schritt rückwärts, erleichtert aus seiner Dunstwolke zu entkommen. Die beiden Polizisten schienen Ähnliches im Sinn zu haben.

„Können wir ihn mitnehmen? Das wird eine lange Autofahrt zum Revier,” murrte der Linke und rümpfte angewidert die Nase.

Wagner nickte und die beiden Beamten ruckten den Körper des Mannes wieder herum und bugsierten ihn in Richtung ihres Einsatzwagens. Wagner wandte sich ab und begegnete Margaretas fragendem Blick.

„Irgendwas Brauchbares?”

Er schüttelte den Kopf. Hinter Margareta warteten ungeduldige Sanitäter darauf, dass sie endlich ihre Arbeit machen durften.

Es dauerte mehr als zwei Stunden, bis alle Formalitäten geregelt waren. Ein weiterer Rettungswagen war gerufen worden, also mussten sie mehrere Sanitäter davon überzeugen, dass ihnen nichts fehlte. Dann wurden sie zum Präsidium gebracht, um Bericht zu erstatten und das Gerücht einzudämmen, sie hätten den Serienkiller erschossen. Wagner und Margareta bewegten sich auf einem stetigen Strom aus Worten, bis sie schließlich wieder auf einer Bank strandeten, nur sie beide und die Stille.

„Hey Bücherwurm. Wie fühlst du dich?”

Wagner zuckte die Schultern. In seinen Gedanken drehte sich eine Doppelhelix aus rohem Adrenalin und hilfloser Verunsicherung. In seinen wildesten Träumen hätte er sich nicht ausgemalt, dass ihn die tatsächliche Arbeit an einem realen Tatort so sehr elektrisieren würde. Und er war sich beinahe sicher, dass nicht nur der kurze Moment der Lebensgefahr daran schuld war. Es war der Unterschied einen realen Täter zu jagen oder ein paar leblose Seiten mit nüchternem Fachvokabular zu füllen.

„Erleichtert, erschöpft, ratlos … such dir was aus”, brachte er schließlich hervor.

Margareta nickte verständnisvoll und legte ihm beruhigend die Hand auf den Unterarm. Gänsehaut lief Wagners Rücken hinunter.

‚Du wolltest dir keine persönlichen Ablenkungen erlauben’, ermahnte der Innere Therapeut.

Wagner schluckte ein paar Mal.

„Glaubst du, wir haben ihn?“, fragte er dann, um die Stille zu füllen. Seine Stimme klang völlig falsch.

Margareta schnaubte.

„Du hast ihn doch gesehen. Kriecht in den Büschen am Tatort herum, blutverschmiert und so vollgepumpt mit allen möglichen Drogen, dass er auf Polizisten schießt? Kann man noch lauter ‚schuldig‘ schreien?“

Wagner brummte unbestimmt.

„Ich habe außerdem gehört, dass er schon gestanden haben soll … wenn man dieses unzusammenhängende Gebrabbel ein Geständnis nennen kann.“

Wagner ließ den Kopf sinken als die Ratlosigkeit die Oberhand gewann. Er war sich nicht sicher, dass Professor Faust mit diesem Ausgang glücklich sein würde. Wagners Expertise hatte jedenfalls nichts zur Ergreifung des Tatverdächtigen beigetragen. Er hatte es nur geschafft nicht schon am ersten Tag in seinem neuen Job erschossen zu werden. Er musste einen anderen Weg finden sich zu beweisen und das bald … „Jonas …?“

Er blickte auf, überrascht über Margaretas kleinlauten Tonfall. Sie sah ihn direkt an und er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten.

„Ich wollte nur Danke sagen … wegen vorhin? Der Typ hätte mich ganz sicher getroffen … Ich stand da völlig ohne Deckung, wie ein Idiot. Wie konntest du überhaupt so schnell schalten?“

Wagner runzelte nachdenklich die Stirn.

„Keine Ahnung … Reflex aus der Notaufnahme vermutlich.“

„Hat da öfter jemand auf dich geschossen?”

„Nein, aber der Adrenalinschock funktioniert immer noch.”

Sie lachte laut auf. Das stand ihr wirklich gut. Wagner rückte ein wenig von ihr ab.

„Vermutlich … Hey, wusstest du, dass ich an meinem ersten Tatort einfach umgefallen bin? Irgendeine Hausfrau hatten ihrem Mann das Steakmesser in den Bauch gerammt und bis zum Anschlag hochgezogen … ging einmal durch sämtliche Gedärme. Den Gestank willst du dir gar nicht vorstellen!

Der Typ sah aus wie ein gestrandetes Walross … Naja, jedenfalls, der Gerichtsmediziner nimmt das Tuch von der Leiche und alles wird dunkel.

Dann lag ich auf dem Boden und alle starrten auf mich runter … hat mir sämtliche Lichter ausgepustet … „ Er schenkte ihr seine schönste, hochgezogene Augenbraue.

„Dann habe ich mich ja gar nicht so schlecht geschlagen, was?“

„Werd bloß nicht arrogant, Bücherwurm! Sonst zeig ich dir mal, wer die Klassenbeste in Selbstverteidigung war!“

I

Beim zweiten Versuch ließen ihre Hände schon nach wenigen Sekunden von ihm ab. Ihre Fingernägel waren eingerissen und blutig von ihrem ersten Kampf und er würde neue Handschuhe brauchen. Aber jetzt verdrehten sich ihre Augen zu einem beinahe ekstatischen Ausdruck und ihre Arme glitten wie tanzend durch das schwarze Wasser. Ihr Gesicht schimmerte weiß und geisterhaft unter der Oberfläche zu ihm herauf, die nächste Straßenlaterne so weit entfernt, dass hier nur das reine, milchige Mondlicht zur Geltung kam.

Er zog sie wieder ein Stück nach oben und ihr Haar stob in einer dichten Wolke auf. Ihr grelles Make-Up war verschmiert von Teichwasser und Tränen und die ersten Schatten von Blutergüssen waren schon auf ihren bloßen Handgelenken auszumachen. Aber in dieser Sphäre, in dieser Unterwasserwelt war sie eine Nymphe, wunderschön und zeitlos und friedlich.

Es tat ihm leid diese Vision zu zerstören, aber es musste sein. Ein Blick auf seine Stoppuhr verriet ihm, dass nicht mehr viel Zeit blieb.

Mit einem einzigen Ruck warf er sie auf die Uferböschung wie man einen Karpfen an Land schleudert und scherte sich kaum um die Kaskaden aus brackigem Wasser, die überall um sie herum niedergingen. Dann machte er sich daran sie zurückzuholen.

Der Sekundenzeiger der altersschwachen Uhr, die ihnen im Verhörraum gegenüberhing, ruckelte die Zeit vorwärts, immer einen Tick vorwärts, dann einen kleinen Tack zurück, dann wieder vorwärts, genau wie Professor Fausts unablässige Fragen.

„Woher kannten Sie Fräulein Ronzowa, Herr Meuritz?”

Der Professor lehnte sich bequemer in seinem Stuhl zurück, aber Wagner bemühte sich professionelle Effizienz wenigstens durch seine Körperhaltung auszustrahlen, wenn ihm schon sonst keine aktivere Rolle zugedacht war, als die des Protokollanten.

„Waren Sie einer von Fräulein Ronzowas Kunden?”

Professor Faust blätterte in seinen eigenen Unterlagen. Wagner hatte gehofft mit ihm vielleicht die Strategie der Begutachtung im Vorhinein durchgehen zu können, aber sein neuer Mentor war erst wenige Minuten vor dem anberaumten Termin zur Tür hereingestürmt und hatte sich sofort in die Arbeit gestürzt, ohne von Wagner auch nur Notiz zu nehmen.

‚Die unerwartete Wendung des Falles hat alle Ermittlungsbeteiligten überrascht. Du musst nicht gleich persönliche Gefühle damit verbinden’, kommentierte die Therapeutenstimme und Wagner unterdrückte ein Seufzen.

„Wo haben Sie Fräulein Ronzowa getroffen?”

Wagners Kopf schmerzte und er fragte sich, warum die Uhr eigentlich im Sichtfeld der Verhörenden angebracht war? Vielleicht ging es darum, dass der Ermittler seine Lebenszeit ständig versickern sah, während der Verdächtige in einer zeitlosen Blase aus Beunruhigung zurückblieb, was beide zu effizienterer Mitarbeit motivieren sollte?

„Wo haben Sie Fräulein Ronzowa getroffen?”

Wagner konnte nur festhalten, dass ihn die Gewissheit keinesfalls motivierte, dass er jetzt schon seit vier Stunden dem verstockten Schweigen von Henning Meuritz gegenübersaß, einem Sohn aus ‚intakten Verhältnissen’, wie es der Kollege vom Sozialamt formulierte.

Wagner blätterte in der Akte vor und zurück, auch eine Imitation der elenden Wanduhr und momentan der einzige Weg sich vom Einschlafen abzuhalten. Aber so sehr er auch auf die ewig gleichen Worte starrte, er konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen. Meuritz war einfach nur ein schulischer Minderleister, der seit Jahren die Abwärtsspirale der Drogensucht beschritt. Es gab Einträge über Entzugsversuche und eine abgebrochene Verhaltenstherapie, aber bisher galt er als gescheiterte, aber harmlose Existenz, sah man von Drogenbesitz, Ladendiebstahl und Obdachlosigkeit ab. Jede einzelne Faser in Wagners Innerem wehrte sich dagegen, dass ein so unorganisierter und schwer psychotischer Abhängiger zu derart komplexen Tat- und Vertuschungsmustern fähig war.

„Wo haben Sie Fräulein Ronzowa getroffen?”

Professor Faust wiederholte die Frage zum dritten Mal, sein Tonfall immer noch genauso unverbindlich freundlich wie am Anfang der Begutachtung und sein mildes Lächeln unbeeinträchtigt. Wagner konnte nur vermuten, dass ihm hier die Lektion vermittelt werden sollte, dass auch Kriminalarbeit nicht nur aus adrenalingeschockten Schießereien am Tatort bestand.

„Was brachte Sie dazu, sich ausgerechnet an diesem Abend Fräulein Ronzowa zu nähern?”

Meuritz rollte die Augen und blinzelte verwirrt durch seinen strähnigen, dunklen Haarschopf. Die Kollegen von der Spurensicherung hatten ihm einen formlosen grauen Trainingsanzug zukommen lassen und nach der gründlichen Untersuchung aller anderen spurenrelevanten Körperstellen hatte er sich auch waschen dürfen, aber viel gebracht hatte es nicht.

Körperhygiene schien, wie viele Dinge des normalen Lebens, keinerlei Bedeutung mehr für den ehemaligen Berufsschüler zu haben, dessen Eltern wohl gehofft hatten, er würde einmal als Fachkraft für Lagerlogistik ein normales Leben führen. Nun saß er ihnen in Handschellen gegenüber, eine Vorsichtsmaßnahme, die der Polizeichef gegen die Bedenken des Professors durchgesetzt hatte. Auf Faust hatte Meuritz ja aber auch nicht geschossen, Wagner hatte daher wenig gegen ein bisschen mehr Sicherheit einzuwenden.

„Kannten Sie auch Fräulein Ronzowas getötete Kolleginnen?”

Wagner seufzte. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen was Faust noch aus dieser gebrochenen Psyche herausholen wollte. Es hatte an keinem der drei ersten Tatorte verwertbare Spuren gegeben. Wäre Meuritz nicht dumm oder high genug gewesen bei der Kapelle auf sie zu schießen, wäre er niemals als Tatverdächtiger überhaupt in Betracht gezogen worden.

„Haben Sie Fräulein Ronzowa Drogen gegeben? Ihnen wird bewusst sein, dass wir Drogen bei Ihnen gefunden haben?”

Das war eine Untertreibung in Wagners Einschätzung. Meuritz war in seiner Abhängigkeitskarriere irgendwie bei der neusten Designer-Droge gelandet, einer Mischung aus LSD und Meth, die hochgradig abhängig machte und tagelange halluzinogene Trips auslöste. Die Kids nannten es ‚Veritaserum’, VS, oder VeeS, eine etwas verschrobene Anspielung, vor allem für jemanden, der nicht mit den Abenteuern von Harry Potter aufgewachsen war. Sicher war jedenfalls, dass die Langzeitfolgen mit Wahrheitsfindung wenig zu tun hatten. Veritaserum löste Psychosen aus und verschlang wie eine gefräßige Raupe nach und nach die Persönlichkeit eines Menschen, wie das lebende Beispiel vor ihnen deutlich veranschaulichte.

Meuritz glaubte im Auftrag des Großen Tieres zu handeln und hatte vor den Polizisten von Blut, Dunkelheit, Tod und Teufel schwadroniert. Nun schien der Höhepunkt des Trips überschritten, aber statt auf wundersame Weise zu dem durchtriebenen Serienmörder zu mutieren, den das Täterprofil vermuten ließ, hatte sich Meuritz in eine Blase aus verstörtem Schweigen zurückgezogen.

„Wie haben Sie Fräulein Ronzowa dazu gebracht Ihnen zu der Kapelle zu folgen, wo wir Sie aufgegriffen haben?”

Die einzigen belastbaren Fakten des Falles lagen währenddessen fernab von psychologischen Wahrscheinlichkeiten und würden Meuritz einen Platz in eben jener klinischen Einrichtung für Schwerkriminelle einbringen, die am Anfang des Jahres Wagners Bewerbung abgelehnt hatte. Unter anderen Umständen hätten sie sich ansonsten durchaus als Patient und Therapeut begegnen können, was vermutlich noch viel mehr seiner Lebenszeit vereinnahmt hätte. Meuritz sandte keine Signale aus, die er irgendwie deuten konnte, keine Risse in der Fassade seiner Psychose, die einen Anpack boten ihm zu helfen.

‚Also genau die Art von Patient, die dich erinnert warum die Klinik nichts für dich war’, stellte der Innere Therapeut fest. Der Gedanke besserte Wagners Laune allerdings nicht.

„Wieso haben Sie Fräulein Ronzowa getötet, Herr Meuritz?”

Wagner richtete sich in seinem Stuhl auf, aber Meuritz starrte nur weiter einen Kratzer auf der Tischplatte an, als vermute er darin Gold zu finden.

„Wieso haben Sie Fräulein Ronzowa getötet?”

Wagners Mundwinkel zuckte, als er sich Margaretas Augenrollen hinter dem Doppelspiegel ausmalte, jedes Mal, wenn der Professor das Opfer ‚Fräulein’ nannte. Selbst wenn es ihm angestanden hätte einen höher gestellten Beamten vor einem Verdächtigen zu korrigieren, er hätte wohl darauf verzichtet. Vermutlich hatte sich selbst Margareta schon längst damit abgefunden, dass man so alten Hunden keine neuen Tricks mehr beibrachte.

Der Proband kippelte auf seinem Stuhl hin und her und blickte verstört in die Ecken des Raumes, als erwarte er einen Angriff unsichtbarer und fliegender Wesen. Wer konnte schon sagen, wie die Realität in der Verzerrung seiner Wahrnehmung aussah?

„Wieso haben Sie auf die Ermittler geschossen? Wollten Sie gefasst werden?”

Wagner runzelte skeptisch die Stirn. Wenn sogar Professor Faust schon verzweifelte Zuflucht in Suggestivfragen suchte, war ihre Begutachtung wohl zum Scheitern verurteilt.

„Wieso haben Sie auf die Ermittler geschossen, Herr Meuritz?”

Meuritz Kopf sackte nach unten und ein Speichelfaden tropfte aus seinem Mundwinkel. Wagner rieb sich müde die Stirn.

Meuritz Motivation für die Tat, sein Geisteszustand währenddessen und die Frage, ob er Reue empfand. Vier Stunden und sie hatten keinerlei Antworten.

„Was wollten sie den Polizisten mitteilen?”

Die Ermittlungen hatten ergeben, dass Petra Ronzowa für einen Zuhälter-Ring anschaffen ging, dem man auch Verbindungen zu einem der größeren Drogenkartelle der Gegend ‚nachsagte’, was bedeutete, dass jeder im Strafvollzug wusste, was vor sich ging, aber niemand etwas beweisen konnte.

Meuritz bezog seine Drogen von eben jenen Leuten, die mit Petras Zuhälter Geschäfte machten, woher sie sich kennen konnten. Eine Bestätigung dieser Verbindung war dem Verdächtigen nicht zu entlocken.

„Was wollten sie uns sagen, Herr Meuritz?”

Unbestreitbar war allerdings, dass einige von Petras Kolleginnen auf dem Straßenstrich hinter dem alten Bahnhof zur Tatzeit einen Opel Astra gesehen hatten, der dem Auto von Meuritz leidgeprüften Eltern erstaunlich ähnlich sah. Und wie es der Zufall so wollte, hatte der abtrünnige Filius gerade an diesem Abend den Wagen ‚ausgeliehen’, in den Worten seiner trauernden Mutter, ‚geklaut’, in den Worten seines wütenden Vaters.

Petra war in diesen Wagen eingestiegen und weggefahren und ein paar Stunden später hatte man sie in der Kapelle gefunden und den blutverschmierten Henning Meuritz gleich dazu. Einige Lücken in der Geschichte – es hatte niemand mit Sicherheit sagen können, dass wirklich er am Steuer saß, als Petra einstieg und natürlich war niemand Zeuge des eigentlichen Mordes gewesen – wurden durch die Last der restlichen Beweise begraben.

Endlich schien auch Professor Faust zu dem Schluss zu kommen, dass an diesem Tag keine weiteren Einsichten von ihrem Probanden zu erwarten waren und er sammelte seine Tatortfotos wieder ein, die Meuritz mit kaum einem Blick gewürdigt hatte.

„Ende der Sitzung vierzehn Uhr dreiundzwanzig Minuten.”

Ein Wärter zog Meuritz auf die Füße und brachte ihn in seine Zelle zurück.

Wagner musste sich einen lauten Seufzer der Erleichterung verkneifen, als sie endlich in den kargen, grauen Vorraum hinaustraten, von dem aus Margareta und ihr Vorgesetzter Hauptkommissar Schmidt der Begutachtung streckenweise zugesehen hatten.

Wagners grummelnder Magen erinnerte ihn daran, dass sie vermutlich nicht auf ihr Mittagessen hatten verzichten müssen. Faust nickte dem Hauptkommissar zu, als die schwere Metalltür hinter ihnen ins Schloss fiel.

„Hallo Bernd, ich wusste nicht, dass du dir unsere kleine Unterhaltung anschauen würdest. Ich fürchte wir haben deine Zeit verschwendet, keine neuen Erkenntnisse bisher.”

Bernd Schmidt, dem der alternde Polizeihauptkommissar beinahe aus dem Gesicht sprang, Sorgenfalten und ergrauender Schnurrbart inklusive, schüttelte Fausts Hand und winkte ab.

„Ach wo, ich wollte mir unseren ersten Serienmörder mal selber ansehen.

Ziemlich trauriger Auftritt, muss ich sagen, etwas enttäuschend, wenn ich ehrlich bin.”

‚Enttäuschend’ war eine bodenlose Untertreibung, zumindest in Wagners Augen, doch Faust zuckte nur gleichmütig die Schultern.

„Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mein psychologisches Gutachten ohne konventionelle ‚Mitarbeit’ des Probanden der Staatsanwaltschaft präsentieren muss.”

„Aber ist das nicht etwas verfrüht?” Die Worte stolperten aus Wagners Mund, bevor er sie aufhalten konnte. Professor Faust, Hauptkommissar Schmidt und Margareta musterten ihn überrascht und er fühlte Schweißperlen auf seiner Stirn aufblühen. Er räusperte sich nervös: „Ich … ähm … ich meine ja nur, ich habe schon mit vielen Tätern gesprochen, die im Drogenrausch straffällig geworden sind und keiner hatte die mentalen Kapazitäten den Ermittlern so lange zu entgehen und auch eine solche Planung …” „Mein lieber Wagner ...” Professor Faust legte ihm begütigend eine Hand auf die Schulter, aber um seinen Mund lag ein angespanntes Lächeln. „Ich verstehe ja, dass Sie sich profilieren wollen, aber ich habe schon mit Serientätern gearbeitet, als Sie noch die Grundschulbank gedrückt haben.”

„Ja, verdammt, und er hat auf uns geschossen! Willst du mir jetzt erzählen, dass du den Arsch für unschuldig hältst?”

Margareta verschränkte genervt die Arme vor der Brust und fixierte Wagner mit einem missmutigen Blick. Wagners Magen sank in seine Kniekehlen und sein Hals fühlte sich an wie ausgedörrt.

‚Wenn du möchtest, dass deine Vorgesetzten dich mehr einbeziehen, solltest du dich nicht zuallererst mit ihnen anlegen’, schalt ihn die Therapeutenstimme und Wagner sank noch ein wenig mehr in sich zusammen.

„Nein, also ich … ich wollte ja nur …” „Darauf hinweisen, dass mein vorläufiges Täterprofil einige Lücken aufwies, wie sich jetzt, da wir den wahren Täter gefasst haben, herausstellt”, zwinkerte Professor Faust nachsichtig. „Wenn Sie erst einmal ein wenig praktische Erfahrung gesammelt haben, werden Sie feststellen, dass das leider ein unvermeidlicher Teil unseres hochspekulativen Berufszweiges ist.”

Er tätschelte noch einmal abwesend Wagners Schulter, aber wandte sich dann an Hauptkommissar Schmidt.

„Wir werden wohl die Auswirkungen des klinischen Entzugs abwarten müssen, ab und zu ergeben sich daraus noch lichte Momente.”

Er bewegte müde den Kopf hin und her, doch sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass für ihn das Thema abgeschlossen war.

„Manchmal allerdings ist die mentale Degeneration schon so weit fortgeschritten, dass keine Kohärenz der Gedankengänge mehr zustande kommt. Wurden Fräulein Ronzowas Angehörige schon ausfindig gemacht?”

Hinter Fausts Rücken verzog Margareta das Gesicht. Wagner versuchte es mit einem entschuldigenden Lächeln und sie rollte nur die Augen zur Decke und streckte ihm hinter dem Rücken der beiden Männer die Zunge heraus.

Dann zog sie einen Müsliriegel aus ihrer Jackentasche und winkte ihm damit zu.

„Braucht ihr uns für heute noch, Chef?” fragte sie dann den Hauptkommissar, der sich von Faust noch einige andere Details des vorläufigen Gutachtens erklären ließ. „Sonst stelle ich Jonas endlich mal den Kollegen vor. Die platzen schon vor Neugier.”

Mit einem abwesenden Wink der beiden Altvorderen waren sie entlassen.

„Danke! Du bist mein Lebensretter!” flüsterte er ihr zu, als Margareta ihm den Müsliriegel zusteckte. Ihre blauen Augen blitzten amüsiert, bevor sie dem Snackautomaten auf dem Gang einen gezielten Fausthieb in die Seite verpasste. Ein weiterer Müsliriegel klapperte in der Ausgabeschublade.

„Dann sind wir ja jetzt quitt. Hatte ich mir schwieriger vorgestellt.”

„So, hereinspaziert, das ist unser Reich!”

Margareta stieß eine dunkelgrüne Tür auf, die sich durch nichts von den etlichen weiteren Türen auf dem senfgelben Korridor unterschied. Wagner konnte nur vermuten, dass der Innenarchitekt einen Preis für diese Farbpalette bürokratischer Einheitlichkeit erhalten hatte.

Margareta trat vor ihm in das geräumige Büro, dass glücklicherweise in einem neutralen Cremeweiß gestrichen und mit Karten, Fotos und persönlichen Mitbringseln dekoriert war, und sah sich unschlüssig um.

„Hm … scheiße, ich dachte sie hätten dir auch einen Schreibtisch hier rein geräumt. Und wo sind überhaupt alle?” Sie verzog entschuldigend das Gesicht. „Sorry, ich war in den letzten zwei Tagen kaum hier. Hab’ die Familie von Meuritz befragt und die SpuSi-Berichte eingesammelt. Weißt du was? Du bleibst einfach kurz hier und ich finde mal raus, wo Elena und Ulf geblieben sind. Und dann suchen wir einen Schreibtisch für dich!”

„Öhm, ich kann auch draußen im großen Büro bei den Uniformierten sitzen, ihr braucht euch wirklich nicht …,” versuchte er einzuwenden, aber sie ließ ihn nicht ausreden.

„Quatsch! Meinst du, ich verschwende meine Zeit damit ständig bis zum Ameisenhaufen zu rennen, wenn ich dich brauche?“ Sie gab sich Mühe herablassend abzuwinken, aber es klang nicht wirklich überzeugt und das leichte Zucken ihrer Nasenspitze verriet, dass sie sich ein Grinsen verbiss.

„Wenn wir schon unseren eigenen Bücherwurm aufgebrummt kriegen, dann soll der gefälligst auch immer verfügbar sein und sich nützlich machen.”

Wagner lächelte im Stillen, als Margaretas langer Zopf ihr um die Ecke hinterhertanzte und sein mulmiges Erster-Schultag-Gefühl legte sich etwas.

Er machte ein paar zögerliche Schritte in den Raum hinein und lehnte die Tür hinter sich an. Er wollte nicht den Eindruck erwecken herumzuschnüffeln, aber andererseits neigten Menschen dazu sich einen individuellen Sozialraum zu schaffen, egal wo sie sich befanden, ob nun in einer geschlossenen Klinikabteilung, einem Studentenzimmer oder an ihrem Arbeitsplatz ...

‚Ist das nicht wieder ein Impuls, Kollegen und Freunde als Fallstudien zu betrachten? Bei deinen Mitbewohnern war das nicht gerade hilfreich,’ ermahnte ihn die Therapeutenstimme, aber Wagners Neugier gewann die Oberhand.