B(r)uchstücke - Manuela Sonntag - E-Book

B(r)uchstücke E-Book

Manuela Sonntag

0,0

Beschreibung

B(R)UCHSTÜCKE präsentiert eine Fenstergalerie in die "Realität Plus" - Geister, Götter, Gefahren und Gefährten außerhalb der Normalität tummeln sich in dieser bunten Bonsai-Sammlung. Gedichte und Kurzgeschichten teilen ein interessantes Schicksal: Wir alle können uns genau vorstellen was darunter zu verstehen ist, aber eine genauere Definition stößt schnell an ihre Grenzen. Stattdessen maßt sich dieses Buch daher an eine ganz neue Form von Literatur zu definieren: Bonsai-Geschichten! Kleine Stücke aus ungeschriebenen Büchern, kunstvoll kondensiert und unbehindert von jeglichen Quantifizierungsversuchen. Alle Contentwarnungen zu diesem Titel finden Sie hier: https://www.manuela-sonntag.de/p/blog-page_12.html

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 313

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



A #2 pencil and a dream can take you anywhere.

(Joyce A. Myers)

gewidmet den wertvollen Menschen in meinem Leben, deren unermüdlicher und heldenhafter Einsatz mich vor dem Erwachsenwerden bewahrt

Das Buch

Gedichte und Kurzgeschichten teilen ein interessantes Schicksal: Wir alle können uns genau vorstellen, was darunter zu verstehen ist, aber eine nähere Definition stößt schnell an ihre Grenzen. Der deutsche Duden beispielsweise definiert die Kurzgeschichte als „Form der erzählenden Dichtung, bei der eine [alltägliche] Begebenheit knapp berichtet wird, die Personen nur skizziert werden und der Schluss meist eine Pointe enthält“1, während das britische Cambridge Advanced Learner's Dictionary & Thesaurus unter Short Story „an invented story which is no more than about 10.000 words in length“2 versteht. Hilft uns das wirklich weiter? Vermutlich nicht.

Für den Leser – und auch manchmal für den Autor – ist eine Kurzgeschichte ein Fenster in eine größere Erzählung. Ein helles Spotlight, das nur einen kleinen Teil eines Lebens, einer Handlung oder einer Idee beleuchtet und den großen Kontext im Dunklen lässt. Ob dabei eine Pointe herauskommt oder nicht, oder ob sich dieses Fenster tatsächlich innerhalb von 10.000 Zeichen wieder schließt, ist dabei der Geschichte, dem Autor und vermutlich auch dem Leser zunächst einmal herzlich egal. Wenn wir eine Kurzgeschichten-Sammlung lesen, schlendern wir also eine bunte Schaufensterpassage entlang – hinter jedem dünnen Glas eine neue Idee, ein neues Bild, eine neue Geschichte.

Diese Fenstergalerie zu entwerfen, war meine erste Motivation Kurzgeschichten zu schreiben. Und auch wenn es sehr viel Herzblut und Inspiration kostet, so viele kleine Funken zusammenzubringen, bleibt mir doch das gute Gefühl, dass jede dieser kurzen Geschichten das Potenzial in sich tragen könnte, eine große, eigenständige Saga zu werden. Statt „Kurzgeschichten & Gedichte“ zu präsentieren, maßt sich dieses Buch also an, eine neue Form von Literatur zu definieren: Bonsai-Geschichten! Kleine Stücke aus ungeschriebenen Büchern, kunstvoll kondensiert, garniert mit einigen Gedichten und einem experimentellen Exkurs in die Literaturwissenschaft – und vor allem unbehindert von inhaltlichen oder quantitativen Definitionsversuchen.

Ich wünsche viel Vergnügen!

1 Duden Online, © Bibliographisches Institut GmbH, 2011

2 Cambridge Advanced Learner's Dictionary & Thesaurus Online, © Cambridge University Press 2011

Inhaltsverzeichnis

To see or not to see? Inspiration

Am Bahnhof

Königin Luise (Gesprächsprotokoll)

Das andere Haus

Dame Blanche

Götterdämmerung

Zu Spät … (Gesprächsprotokoll)

Ein Blick zurück: Bon Voyage (Auszug)

Gefühl und Widerspruch

Ein Märchen aus uralten Zeiten

Allein

Weißes Rauschen

Unwillkommen

Ein Hauch von Sommer

Alltag (Gesprächsprotokoll)

If I die before I wake …

Ein Blick nach vorn: Im Schatten des Feuers (Elysion)

Kinderlieder

Mademoiselle Chevalier

Wunschbrunnen

Ghost Story

Dr. Faust

Therapiesitzung (Gesprächsprotokoll)

Frühlingserwachen

Leseprobe

Die Versammlung

To see or not to see? Inspiration

Jede Geschichte beginnt mit einer Idee, einem Bild, einer Situation, oder auch nur einer Formulierung. Aber für ein großes Projekt reicht das nicht. Ein großes Projekt braucht viele Ideen und viele Ansätze, um interessant zu werden – Stroh brennt sehr hell und heiß, ist aber nach ein paar Sekunden verbraucht; ein Holzscheit dagegen braucht eine Weile um Feuer zu fangen, aber dann spendet er Licht und Wärme für eine lange Zeit.

Kurzgeschichten mutieren weniger stark und überraschen den Autor seltener, vielleicht weil sie auch weniger Zeit dazu haben. Jede ist nur ein kleines Fenster in eine größere Geschichte, die weder Leser noch Autor zunächst kennenlernen.

Ein einziger Funke Inspiration reicht für eine Kurzgeschichte und einmal angefangen, ist diese auch mehr oder minder schnell umgesetzt – und dann braucht man einen neuen völlig anderen Funken.

In diesem Buch werden viele verschiedene Genres, Themen, Gedanken- & Textexperimente, Bilder und Ideenfunken zusammengewürfelt, nebeneinandergestellt und gleichwertig beleuchtet. Ein Spaziergang durch diese Galerie eröffnet also viele unterschiedliche Sichtweisen – die Motivation hinter jeder einzelnen Geschichte allerdings hat nichts mit dem großen Kontext zu tun!

Die Motivation, die Idee hinter jeder einzelnen Geschichte, jedem Gedicht und sogar hinter jedem Sachtext ist einzigartig, individuell und besteht aus einer Mischung aus Zufall, Geistesblitz, Neugier, Vorstellungskraft und der einfachen Gleichung von Gedanken und Aktion. In den meisten Fällen war der Gedanke:

„Wäre es nicht cool, wenn …“

Am Bahnhof

Dieses Gedicht entstand in einem Zug. Vermutlich ist das eine Art Anti-Klimax, denn der Titel ließ das schon vermuten. Auf dem Weg zur Hochzeit einer Freundin, nach Einbruch der Dunkelheit, ohne störende Ablenkung durch eventuelle Landschaft, kam es mir vor als hangelte sich der Zug nur von einem kalt beleuchteten Bahnsteig zum nächsten. Zwischen diesen Lichtinseln hätte der ICE auch unter Tage fahren können, man hätte den Unterschied nicht bemerkt. Wenn dem Auge nichts mehr zu sehen bleibt, sieht die Inspiration umso besser.

Königin Luise

Die Idee hinter der Mini-Serie Gesprächsprotokolle war, eine durchgehende Erzählsituation zu schaffen, in der die ganze Handlung von der (fast) ununterbrochenen wörtlichen Rede des Protagonisten dargestellt wird. Im Laufe der Geschichten bin ich ein wenig vom Prinzip des „ausschließlichen Monologs“ abgewichen, um den Fakt zu berücksichtigen, dass manchmal eben auch ein simples Gespräch unser ganzes Leben verändern kann.

Luise ist eine typische „Wäre es nicht cool, wenn …“-Geschichte:

Wir wohnten damals in der Luisenstraße, ich hatte gerade eine Biographie über Königin Luise von Preußen gelesen und es war ein langweiliger Essay für die Uni zu schreiben … Langeweile ist ein guter Katalysator für Inspiration und man kann total beschäftigt und trotzdem furchtbar gelangweilt sein. Also stellte sich der Gedanke ein: „Wäre es nicht cool, wenn die historischen Figuren unsere langatmigen Essays über ihr Leben noch kommentieren könnten?“

Zentral hinter dieser Idee steht natürlich meine quasi professionelle Historiker-Meinung, dass viele große Persönlichkeiten nur aus der Entfernung von Jahrhunderten groß und heroisch erscheinen. Eigentlich waren die meisten sicher nur ganz normale Menschen in ungewöhnlichen Umständen.

Das andere Haus

Seit meiner Kindheit war das Haus gegenüber für mich völlig selbstverständlich. Erst, als man behauptete, es sei nicht real, wurde es für mich zum Problem.

Dieser erste Satz – quasi im Halbschlaf komplett und fertig in mein Bewusstsein geliefert – hat eigentlich schon alles, was eine Kurzgeschichte braucht. Und mehr aktive Überlegung hat auch nicht stattgefunden; weitere Umstände, Zustände und Personen entstanden quasi „im Flug“. So macht Schreiben wirklich Spaß! Schade, dass es nur selten so funktioniert.

Dame Blanche

Ich will nicht sagen, ich hätte es wirklich versucht, aber ich glaube die Geschichte hätte sich in keinem Wettbewerb, unter keinem Oberthema unterbringen lassen. Ich nenne dieses Genre einfach mal Ideen mit Wikipedia-Einschlag – eine interessante Idee, entstanden aus einem Traum irgendwo zwischen Mission Impossible und Gefährliche Liebschaften, halb Auftragskiller-Romantik, halb Renaissance-Tragik, mit einem Innenfutter aus Wikipedia-Fakten.

Aber auch ein gutes Beispiel dafür, dass man manchmal eben nicht wochenlang recherchieren muss, um ein wenig „historisches Flair“ in eine Geschichte einzubauen – leichte Unterhaltungsliteratur kommt auch ohne Fußnoten aus. In diesem Fall war die Google-Suchhistorie: Todesarten Monarchen → Liste der Todesarten Britischer Könige → Die Könige des Hauses Bourbon → Ludwig XIV → Ludwig XIII → Anna von Österreich. Et voilà!

Götterdämmerung

Jedermann weiß, dass der erste Satz eines Textes entscheidend sein kann. Letzte Sätze sind allerdings weniger beachtet, aber deswegen nicht weniger wichtig. Diese Geschichte begann quasi aus einem letzten Satz zu sprießen und trieb danach schnell die wildesten Blüten aus – ich möchte aber darauf hinweisen, dass keine Elefanten beim Verfassen dieser Geschichte zu Schaden kamen! Außerdem ist sie ein gutes Paradebeispiel für das Prinzip Bonsai-Literatur – hier könnte ein ziemlich großer Baum wachsen, wenn man die künstlichen Beschränkungen entfernen würde.

Zu Spät …

Eine der wenigen Geschichten, die zu einem bestimmten Anlass entstanden und dann auch noch für diesen Anlass genutzt wurden: Das Thema des ESG Literaturwettbewerbs 2011 war „Über Grenzen“ und diese Geschichte war meine erste Assoziation dazu – man darf daraus schließen, was man will! Die Juroren des Wettbewerbs jedenfalls bevorzugten eine andere Assoziation.

Ein Blick zurück: Bon Voyage

Viele Autoren machen Gebrauch von der Idee einer endlosen Bibliothek, einem Ort, an dem jedes Buch zu finden ist, das jemals geschrieben wurde, geschrieben werden wird, oder vielleicht auch nur geschrieben werden wollte. Bon Voyage ist so eine Geschichte, die seit fast fünfzehn Jahren geschrieben werden will und vielleicht irgendwann geschrieben werden wird. Die Angewohnheit, niemals etwas wirklich wegzuwerfen, mag im normalen Leben eine Krankheit sein, im kreativen Leben kann sie sich allerdings als sehr bereichernd erweisen – welche Frau würde schon ein Kleid aufbewahren, das sie seit über einem Jahrzehnt nicht beachtet hat?

Die Idee, diese Geschichte noch einmal herauszukramen, kam mir allerdings eher unvermittelt durch eine Anmerkung in Neil Gaimans Stardust3: Diese Edition enthält den Prolog der Geschichte, die eigentlich hätte geschrieben werden sollen, bevor eine zufällige Begebenheit (eine Sternschnuppe) ein völlig anderes Buch entstehen ließ. In seinen Anmerkungen bemerkt Gaiman dazu, wie interessant es sein kann, zu solchen Geschichtsfetzen zurückzukommen, lässt aber auch durchblicken, dass es durchaus auch möglich ist, dass solche Bruchstücke eben nie über ein Ideenstadium hinauskommen. Die Tatsache, dass er dem schon fertigen Prolog einer ungeschriebenen Geschichte trotzdem einen Platz in seiner Veröffentlichung einräumt, hat mich sehr beeindruckt, denn es hat mitnichten den Eindruck erweckt, dass hier jemand einfach nur noch ein paar Seiten an ein fertiges Buch anstricken wollte, um seine „Unveröffentlichte Werke“-Schublade auszumisten.

Manchmal kann man eben zu solchen Ideen zurückkommen und sie nach all der Zeit noch einmal völlig neu erleben – das wollte ich Bon Voyage auch gönnen. Und ich musste feststellen: Ich hätte auch einen völlig fremden Text lesen können, so wenig konnte ich mich an die ursprünglichen Überlegungen zu diesem Buch erinnern. Und einige haben mich dann doch positiv überrascht.

Gefühl und Widerspruch

Und gleich hinterher noch ein Text ausgegraben in den Tiefen einer alten Festplatte und damit ein weiterer Schwarz-auf-Weiß-Beweis für die Tücken und Chancen einer papierlosen Autorenzukunft.

Ein Märchen aus uralten Zeiten

Eine Geschichte, gedacht für den Koblenzer Literaturwettbewerb 2011 (Einsendeschluss 31.05.), abgeschlossen im Dezember 2011. Der Wettbewerb war zwar vorbei, aber die Inspiration blieb haften. Ursprünglich konzipiert als Fantasy-Splatter-Story mit alten Geistern, Mythen und dem zentralen Thema Blut und Rheinwasser, wollte diese Geschichte partout etwas anderes sein. Aus meinem ursprünglichen Ansatz sind daher nur das „Vorwort“ und ein paar Sequenzen übriggeblieben – den Rest hat sich diese Geschichte selbst zuzuschreiben, der stark reduzierte Splatter-Anteil darf mir nicht angelastet werden!

Allein

Diese Geschichte beschreibt eigentlich jeden Lernprozess unseres Lebens – eine Abfolge sich ständig wiederholender Umstände, in denen wir immer wieder kleine Änderungen anbringen und ausprobieren können.

Jeder Rückschlag bringt uns also im übertragenen Sinne ein Stückchen voran, auch wenn es sich nicht immer so anfühlt.

Sicherlich ist es nicht einfach, sich innerhalb einer relativ kurzen Geschichte auf so viel Wiederholung einzulassen – ich hoffe, dass es der ein oder andere Leser vielleicht doch tut, die kleinen Nuancen der Veränderung werden es ihm danken!

Und wenn man mich fragen sollte, ob dieses Szenario autobiographisch ist, dann muss ich leider sagen … ja!

Weißes Rauschen

So viel Schnee! Das war die tiefsinnige Inspiration hinter dieser Geschichte. Schneeflocken vor dem Fenster, Schneemassen auf den umliegenden Dächern, Autos, Gehwegen und in einer Fensterecke ein kleiner Plüsch-Pinguin. Der Polarforscher und seine Pinguinkolonie kamen quasi natürlich dazu – das Ende der Geschichte allerdings hatte ich selbst zuerst nicht vorausgesehen. Kurzgeschichten mutieren vielleicht seltener, oder auch weniger, unter den Fingern des Autors, aber noch lange nicht nie.

Die winzig kleine Hommage an Twin Peaks ist allerdings völlig beabsichtigt und kein Zufall!

Unwillkommen

Unwillkommen begann ihr Leben als Alptraum, bevor sie zu meiner ersten Kurzgeschichte befördert wurde. Wir hatten in diesem Sommer viele Städtereisen unternommen und uns meist völlig bewusst ohne Straßenkarte und Reiseführer über fremde Straßen und Plätze treiben lassen. Die Erinnerungen daran sind durchweg positiv, warum mein schlafendes Hirn drauf bestand, daraus eine alptraumhafte Irrsuche nach Auswegen und Begegnungen mit nebelhaften Gestalten machen zu wollen, kann ich nicht sagen. Aber es wäre doch vermessen gewesen, einen so vollständigen Inspirationsschub einfach zu ignorieren – wie oft bekommt man schließlich schon eine Geschichte fast auf dem Silbertablett serviert und muss sie nur noch mit ein paar Figuren garnieren?

Ein Hauch von Sommer

Je älter ich werde, desto weniger Gedichte kommen mir so in den Sinn – ich weiß nicht, ob das einen kausalen Zusammenhang hat oder nur ein Zufall ist. Jedenfalls ist auch dieses Gedicht eine neue Überarbeitung eines – zugegebenermaßen ziemlich süßlich-schmalzigen – Gedichts aus der Zeit, als die erste Version des Rosenfriedhof4 entstanden ist.

Die letzte Strophe wurde dabei komplett durch „Negative Verbesserung“ gelöscht und durch die neue abschließende Doppelsequenz ersetzt, was den Ton gleich mal um 180 Grad dreht. Zum Positiven will ich hoffen!

Alltag

Bei dieser Geschichte wird man vielleicht noch am ehesten ihren Beginn als Traum erkennen – Realität im Traum ist schließlich, trotz aller ineinander-fließenden Elemente, immer „inhärent“ logisch, so seltsam es uns auch erscheinen mag, wenn wir endlich aufgewacht sind. Allerdings habe ich mich lange davor gedrückt, diese Idee zu Papier zu bringen und das Aufschreiben an sich hat mich mental auch etwas mitgenommen. Vielleicht wird man es mir ja nachfühlen.

If I die before I wake …

Diese Idee verdanke ich einem kurzen Satz aus A.J. Jacobs Buch The Know-It-All.5 Darin beschreibt er, wie irritiert er war, als er aus der Encyclopaedia Britannica lernen musste, dass Elfen nicht immer bunte Disney-Figuren waren – alte Aberglauben sahen sie als hässliche Kreaturen, die sich auf die Brust von Schlafenden setzten und ihnen böse Träume brachten oder auch Babys raubten. Heutzutage mögen wir über solche Geschichten lächeln, aber sie erzählen viel darüber, wie sich Menschen ihre Welt zu erklären versuchen. Wie wir versuchen, das Böse als etwas Äußerliches wahrzunehmen, das nichts mit uns zu tun hat, einen anderen Schuldigen auszumachen. So werden die Alpträume erträglicher.

Ein Blick nach vorn:

Im Schatten des Feuers

Die Geschichte mit der wahrscheinlich längsten Entstehungsgeschichte des ganzen Buches! Angefangen hatte ich das Kapitel, nachdem ich beschlossen hatte, Bon Voyage einen „Gastauftritt“ zu geben, quasi als Gegenstück zu dieser bisher „versandeten“ Geschichte. Einige Kurzgeschichten/Kapitel aus und um Elysion haben schon einen Platz in den Perlen für die Säue6 gefunden, und waren damals wie heute auch eine Art „Gegenentwurf“ zum historischen Roman – statt endloser Recherche eine völlig von mir bestimmte Fantasywelt, in der eben alles so funktioniert, wie ich das will und deren Geschichte man quasi so nebenher „drumherum erfinden“ kann. Wäre ich ein Leser von Fantasy, wäre mir eventuell aufgefallen, dass man kaum weniger recherchiert, nur eben anders und oft in den eigenen, endlosen Notizen …

Trotzdem hatte ich viel Spaß an der Konzeption dieser kleinen Welt und habe daher den festen Plan, daraus eine größere Geschichte zu stricken, sobald ich genug Ideen gesammelt habe, um die Lücken zu füllen!

Wie schwierig dieses „Anknüpfen“ allerdings sein kann, hat mir dieses Kapitel schon bewiesen, das eben fast sechs Monate auf seine Fertigstellung warten musste, weil es zwischendurch einfach nicht vorangehen wollte. Auch hier kann man also wieder beobachten, dass kurze Geschichten – in diesem Fall ja eher ein Kapitel aus einer nochnicht-entstandenen längeren Erzählung – nicht immer so vorhersehbar und einfach umsetzbar sind, wie man das gerne hätte.

Aber was lange währt, wird dann hoffentlich auch endlich gut!

Kinderlieder

Märchen sind oft düster, teilweise grausam und teilweise ziemlich beängstigend. Trotzdem werden sie von Kindern oft nicht als gruselig empfunden – wichtig ist, dass am Ende das Monster besiegt wird und das Gute bestehen bleibt! Viele Menschen empfinden diese Geschichten heutzutage als „unzumutbar“ für junge Gemüter, aber ich halte es da mit Terry Pratchett7:

Die wichtige Lektion ist nicht, dass Monster existieren, sondern, dass Monster besiegt werden können.

Mademoiselle Chevalier

Die Idee zu dieser Geschichte habe ich Marie Antoinette, oder besser gesagt einer ihrer Biographien, zu verdanken. Dort heißt es: Dies war der berühmte Chevalier d'Eon, halb Mann, halb Frau, der seine Laufbahn als Dragoneroffizier begonnen hatte und einen der zielsichersten Degen seiner Zeit führte.8 Obwohl ich gerne Romanbiographien lese, hatte ich bisher nie den Wunsch selber eine zu schreiben, schon alleine weil es mir vor der Recherche und dem engen Korsett historischer Fakten graut – aber diese Vorlage konnte ich dann doch nicht links liegen lassen, oder? Leider stellte sich zu schnell heraus, dass es natürlich schon Dutzende Bücher – auch zeitgenössische Biographien – zu diesem Thema gibt, was meinen Eifer einigermaßen gedämpft hat. Trotzdem wollte ich diese interessante historische Figur irgendwie aufgreifen, auch wenn ich zuerst skeptisch war, ob „noch eine Rokoko-Geschichte“ neben Dame Blanche für eine Anthologie nicht etwas viel wäre.

Die Inspiration, einen biographischen Roman quasi auf sieben bis acht Briefe zusammenzukürzen, hatte für mich nicht nur den Charme von weniger Recherche und viel Raum für die Ideen des Lesers, sondern ließ sich auch hervorragend mit dem zeitgenössischen Flair von Gefährliche Liebschaften (Erstveröffentlichung 1782) verbinden.

Wunschbrunnen

Ein beliebtes Klischee aus dem Bereich Ideenfindung besagt ja, dass man sich auf der Suche nach Inspiration am besten so weit wie möglich von seinem gewohnten Umfeld entfernen sollte – sei es durch den Rückzug in die Natur oder durch Reisen in ferne Länder oder meditative Kontemplation. Interessanterweise hat sich, wie ich letztlich lernte9, diese

Sichtweise „geistiger Betätigung“ erst in der Neuzeit entwickelt. Im antiken Rom oder Athen entstanden zwar Bücher und Manuskripte vielleicht auch im abgeschiedenen Arbeitszimmer, die „Vordenkarbeit“ aber erledigte der Autor in entspannter Freundesrunde, beim Disput im eigenen Garten oder auf einer eigens zur Diskussion ausgewählten Party. Ich muss sagen, dass diese Vorstellung mir persönlich sehr gut gefällt, auch wenn man sich im Zeitalter der Plagiatsvorwürfe vielleicht gut überlegen sollte, wen man zu so einem kreativen Brainstorming einlädt. Wunschbrunnen ist tatsächlich aus so einer Art von Party-Unterhaltung entstanden; auch wenn der „ferne Länder“-Aspekt hier ein wenig invertiert zum Tragen kam, da ich plötzlich in der Position war, meine Geburtsstadt, in der ich jeden Stein kenne und die ich daher auch kaum noch wahrnehme, jemandem „von Außerhalb“ zu erklären. Diesen Blickwinkel nachzuvollziehen und sich plötzlich selber zu fragen, was die Monumente und Gebäude „bedeuten“, von denen wir täglich umgeben sind, hat sicherlich einiges zur Entstehung dieser Geschichte beigetragen.

Ghost Story

Es gibt eigentlich fast kein interessanteres Thema im Bereich „Inspirationsfindung“ als die Frage: Wie komme ich denn nun von meiner Idee zu einer fertigen Geschichte? Wie entscheide ich, was ich wie wann erzähle, welchen Blickwinkel ich wähle und welche Ereignisse ich nur andeute?

Für mich hat sich das szenische Schreiben quasi von selbst ergeben – ich nenne es „Camera-Reel-Schreiben“, weil es eigentlich nur ein In-Worte-Fassen von Szenen ist, die sich im Kopf oft ziemlich genau an eine Dramaturgie anlehnen, wie man sie auch aus dem Filmischen kennt. Es gibt sicher auch andere Arten zu schreiben, aber das ist (leider) die Einzige, die für mich funktioniert – was vielleicht auch die eine oder andere stilistische Eigenheit erklärt, die ich weder abstellen kann, noch wirklich will.

Diese Camera-Reel-Geschichte hat ein bewegtes Leben durch mehrere Stadien der Ideenfindung hinter sich: Anfangs war sie nur eine lustige Traumsequenz, dann wollte sie unbedingt eine ernste Geschichte werden, dann ein halb-ernstes Konstrukt mit Drehbuch-Elementen und dann irgendwann eine Liebesgeschichte. Keine dieser ursprünglichen Ideen hat es schließlich zu 100% zur Verwirklichung geschafft und eine kleine Meta-Ebene hat sich auch noch eingeschlichen, bevor ich sie aufhalten konnte.

Dr. Faust

Diese Geschichte hat von allen hier Versammelten mit Sicherheit die meisten Permutationen durchlaufen, bis sie endlich in ihrer jetzigen Form zusammengekommen ist. Am Anfang stand die recht simple Idee einer klassischen Krimigeschichte – das Aneinanderreihen von Hinweisen, Verfolgungen, Befragungen, falschen Fährten, die Manipulation des Lesers durch Gestaltung und Charakterzeichnung. So einen Handlungsstrang zu konstruieren, hatte mich vorher noch nie interessiert und Goethe mochte ich auch noch nie, aber zumindest in den unzusammenhängenden Traumfragmenten, aus denen die erste Idee entstand, sah das alles sehr überzeugend aus. Leider musste ich schnell feststellen, dass mein fehlendes Interesse an Krimis vielleicht auch durch fehlendes Talent bedingt ist sie „zu denken“ – zumindest weigerte sich die Geschichte beharrlich, irgendeine Form anzunehmen.

Im Laufe der beinahe drei Jahre, die zwischen Unwillkommen und Dr. Faust liegen, habe ich oft Ideen „kommen und gehen“ sehen; Fragmente, aus denen sich einfach kein „Anpack“ ergibt und die daher nie über das Anfangsstadium hinauskommen, bis man sich kaum noch erinnern kann, warum man die Idee irgendwann mal interessant fand. Auch das war hier aber nicht der Fall – die Geschichte wollte sich nicht erzählen lassen, aber aus dem Kopf gehen wollte sie mir auch nicht. Beinahe drei Monate hat es gedauert, die Grundidee herumzuwälzen, umzudenken, auf den Kopf zu stellen, von hinten nach vorne aufzurollen, wieder umzudrehen, bis ich schließlich über A Study in Emerald10 stolperte und auf den Gedanken kam, dass Dr. Faust als historischer Charakter in einer modernen Geschichte vielleicht etwas einsam ist?

Danach mussten nur noch die komplette Ausrichtung, die Erzählsituation, die Erzählerstimme, Stimmung und gesamte Storyline neu überdacht werden und „schon“ war Die Versammlung geschaffen. Ein Konstrukt, das es, ähnlich der Götterdämmerung, mit Sicherheit zu einer längeren Erzählung bringen würde, wenn man es ließe.

Was daraus geworden ist, findet ihr in der exklusiven Leseprobe in dieser Ausgabe.

Therapiesitzung

Wenn man über Götter und Göttlichkeit nachdenkt, denkt man in vielerlei Hinsicht über Menschen und Menschlichkeit nach. Beide sind unmittelbar verwoben, da alle Götter der menschlichen Vorstellungskraft entspringen – als dunkler Rachewunsch, als moralisches Vorbild oder als weiße Projektionsfläche für unsere Ängste und Wünsche. Das wäre der Gedankengang, den ich gerne als meine Inspiration bezeichnen würde. Der Reale ging ungefähr so:

„Wäre es nicht cool, wenn Gott einen Psychiater hätte?“

Frühlingserwachen

Noch ein Text mit klarer Intention und Auftrag: Das Thema des Literaturwettbewerbs 2011 der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte war „Neubeginn“ und ich wollte sehen, ob mir in fünf Minuten ein vertretbares Gedicht dazu einfällt. Ich glaube es waren vier Minuten und fünfundvierzig Sekunden.

Von der Kurzgeschichte zur Versammlung

Die Versammlung ist nicht die einzige Geschichte, die bisher aus den Bonsais hervorging, aber die erste, die zu voller Größe herangewachsen ist. Wie man der Leseprobe sicherlich entnehmen wird, waren dazu teilweise ziemlich umfangreiche Einschnitte und Änderungen notwendig, nicht zuletzt eine ganz andere Erzählperspektive.

Auch die Magie und das generelle Worldbuilding der Versammlung hat einige Schlenker und Testphasen hinter sich – vielleicht nicht verwunderlich für eine Geschichte, die so wild zwischen drei Genres

(Mystery, Urban-Fantasy & Krimi) schwankt, dass sie nun wirklich alles andere als einfach zu kategorisieren ist. Aber manchmal muss man eben auch die Entscheidungen treffen, die sonst kaum jemand treffen würde und für mich war der wilde Genre-Mix eben der Weg, den ich gehen wollte. Falls ihr euch für die Details interessiert, schaut doch mal auf meiner Webseite, oder auf meinem YouTube Kanal vorbei, da erzähle ich immer gerne über meine Projekte und was ich im Laufe der Jahre so gelernt habe!

3 Gaiman, Neil; Stardust; Headline Publishing; Paperback Edition, London 2005

4 Aktuelle Auflage veröffentlicht bei lulu.com 2010; ISBN: 9781445215419

5 Jacobs, A.J.; The Know-it-All: One Man's Humble Quest to Become the Smartest Person in the World; Random House UK, 2nd Edition, London 2006

6Perlen für die Säue; Christine Schuhmann & Manuela Sonntag

7 Pratchett, Terry; Hogfather; New Ed.; Corgi Publishing; 1998

8 Haslip, Joan; Marie Antoinette; 2. Aufl.; Piper Verlag GmbH; München; 2006; S. 140

9 Greenblatt, Stephen; The Swerve. How the Renaissance Began; Vintage Publ.; London 2012; S. 51ff.

10 Gaiman, Neil; Fragile Things; Headline Review; Paperback Edition, London 2007; S. 25ff.

Am Bahnhof

Kleine Leben in Koffern

auf Händen getragen

verschleppt, verstellt, vertauscht, verloren

wohin es sie führt

Ans Ende der Reise

oder doch nur im Kreis

Fremde Blicke hinter Glas

und ewig die Frage

Was wäre wenn

Wie wäre ich du

Wozu wärest du ich

An einem Ort

an dem sich Geschichten kreuzen

Bleibt manches zurück

wenn Menschen

schneller als Gedanken kreisen

Bereits erschienen in der Gedichtanthologie „Ausgewählte Werke XIII“ der Bibliothek Deutschsprachiger Gedichte

Gesprächsprotokoll

Königin Luise

Die warme Frühlingssonne schimmerte verheißungsvoll durch das Fenster und ließ kleine Staubkörnchen über meinem Schreibtisch aufglitzern. Einer der ersten wirklich schönen Tage des Jahres und ich verbrachte ihn über Büchern …

Stöhnend beugte ich mich wieder über meine Tastatur und überschrieb das nächste Kapitel:

2.1. Königin Luise und Napoleon

Napoleon und Königin Luise begegneten sich am 6. Juli 1807 in Tilsit. Der selbsternannte Kaiser der Franzosen hatte auf dieses Treffen gedrängt, zu dem Luise in einem weißen Crepékleid nach Art der Kaiserin Josephine erschien und trotz ihrer offensichtlichen Anspannung viel Aufsehen erregte.

Oh ja, ganz fürchterlich haben sie geglotzt und gegafft und der Kaiser erst! Selbsternannt? Aus dem niedersten Dreck emporgeschwungen, das war er! Und ein seltsamer kleiner Frosch noch dazu!

Erschreckt fuhr ich herum und sah mein blasses Gesicht aus dem Spiegel über meiner Kommode zu mir zurückstarren. Dann wanderte mein Blick über die dunkle Oberfläche des Fernsehers und weiter zum unmissverständlichen roten Stumm-Signal meiner Laptop-Soundausgabe. Leicht irritiert setzte ich wieder zu schreiben an.

Luises vertrauter Minister Hardenberg hatte strenge Richtlinien für das Gespräch der Königin mit dem Kaiser ausgegeben. Auf gar keinen Fall sollte sie sich zu sehr auf die Tagespolitik einlassen, da der Kaiser politische Frauen wenig schätzte. Und auch die Anwesenheit Alexanders verkomplizierte das Zusammentreffen Luises und Napoleons erheblich, denn wie Luise schreibt:

»Der Kaiser von Russland hat genugsam bezeugt, er wolle aus den Dir bekannten Gründen kein Zusammensein mit mir.«

Ach, daß man nie Ruhe finden kann vor diesen alten Geschichten! Über hundert Jahre bin ich nun nicht mehr von dieser Welt und immer noch zerreißen sie sich das Maul … Ja, was dieser Mensch mir angetan, das habe ich zur Lebzeit nicht vergessen, aber eine Lebzeit endet so bald, im Gegensatz zum Tratsch der Leute … Wirklich, daß Ihr nichts anderes zu schreiben findet, als über meine dummen Briefe!

„Wer ist da?“, fuhr ich ärgerlich auf. „Mama, bist du das?“

Kein Laut drang durch die Zimmertür. Mit pochendem Herzen sprang ich schließlich auf, warf einen Blick in den Flur, öffnete sogar ein Fenster, nur um die menschenleere Stille der Gärten zu mir hereinwehen zu lassen.

Ich nahm einen Schluck aus meiner Kaffeetasse, die einen unschönen braunen Ring auf meiner Schreibtischunterlage hinter-lassen hatte. Meine Finger zitterten.

Schließlich griff ich hektisch nach einem Buch, das halb unter einem wilden

Haufen Notizen verborgen lag und las wahllos einen Absatz.

Die Königin erlebte eine Überraschung. Statt des gefürchteten Ungeheuers stand ihr mit Napoleon ein beeindruckender, offensichtlich hochintelligenter, angenehm plaudernder Mann gegenüber.

Oh, liebenswürdig war er, der kleine Parvenu! Wie er sich das angehen ließ, daß wir alle kriechen mussten vor ihm! Bis zu seinem Todestag hat er sich daran erinnert, wie glücklich und zufrieden er war, daß die großen Fürsten ihn in Tilsit umschwänzeln mußten!

Mein Puls begann zu rasen, aber ich biss die Zähne zusammen und las weiter.

Luise bat um maßvolles Vorgehen bei den Friedensbedingungen, Napoleon blieb unbestimmt in seinen Antworten, machte der Königin jedoch Komplimente wegen ihrer Garderobe. Als er fragte, wie die Preußen so unvorsichtig sein konnten, ihn anzugreifen, gab Luise die oft zitierte Antwort: »Der Ruhm Friedrichs des Großen hat uns über unsere Mittel getäuscht.« Später äußerte sie sich positiv über ihre persönlichen Eindrücke bei der Unterredung.

Ja, was hätte ich denn sonst sagen sollen? Alle haben sie doch darauf gepocht, wir hätten dem elenden Franzosen zu vertrauen! Und was blieb uns auch übrig in den Ruinen unserer Existenz? Hardenbergs Papagei hat er mich hinterher genannt, der Hund, steht das auch in euren gescheiten Büchern?

Entnervt schleuderte ich das Buch in eine Ecke.

„Wer bist du? Was machst du in meinem Kopf? Halt endlich die Klappe und lass' mich in Ruhe!“

Einen Moment herrschte eine so absolute Stille im Raum, dass ich schon glaubte, nun hätten meine Ohren ihren Dienst quittiert.

Bitte sehr, wenn dich meine Meinung nicht interessiert, jedem sein Pläsir! Aber merk' dir, mein Kind, Bücher lesen hat noch niemand etwas über das Leben gelehrt!

Die kleinen Geräusche des Hauses kehrten zurück, während ich mir den Schweiß von der Stirn wischte. Dann klaubte ich meine Bücher und Notizen zusammen, schlug die Kommodenschublade über ihnen zu und löschte alles, was ich bisher über Luise geschrieben hatte.

In der nächsten Sprechstunde war ich beruhigt zu erfahren, dass das Thema Geistesströmungen des Vormärz noch zur Bearbeitung offen war.

Das andere Haus

Seit meiner Kindheit war das Haus gegenüber für mich völlig selbstverständlich. Erst als man behauptete, es sei nicht real, wurde es für mich zum Problem.

Verwundert hielt Elena an der Tür inne und betrachtete das Chaos aus Papieren und Beweisumschlägen, das den Boden ihres Büros und ihren gesamten Schreibtisch bedeckte. Ein dicker Notizblock hatte den Telefonhörer von seiner Gabel verdrängt und die Statusanzeige des Anrufbeantworters blinkte vorwurfsvoll unter einem Aktenberg hervor. Ein einsamer kleiner Bleistift schwamm in einer Tasse mit kaltem Kaffee. Hinter einem Stapel Aktenordner und Asservatenkisten wies ein verhaltenes Schnarchen darauf hin, dass der Übeltäter sich nicht weit vom Tatort entfernt hatte.

Behutsam einen Weg zwischen den ausgestreuten Dokumenten hindurch suchend, tastete sie sich um ihren Tisch herum. Hinter seinem improvisierten Fort aus altem Archivmaterial schlief ihr neuer Kollege Ulf den Schlaf der Gerechten. Der geflickte Bürostuhl, auf dem er zusammengesunken saß, war genauso ein Provisorium wie alles andere in dieser erzwungenen Büro-WG. Und nun hatte sie nicht einmal mehr genug Platz, ihre Tasche abzustellen.

Seufzend griff Elena nach dem Notizbuch, das halb unter Ulfs Arm hervorschaute.

Die gelbe Verweisnummer auf dem Einband trug den Vermerk:

Therapie-Tagebuch Emily Franke 1998

„Oh nein, nicht schon wieder …“, stöhnte sie laut und stieß mit ihrem Fuß nachdrücklich gegen Ulfs Stuhl.

„Hey, du Schlafmütze! Hat deine Frau dich rausgeworfen, oder warum sieht mein Büro aus, als hätte hier ein Messie gehaust?“

Ulfs Kopf ruckte nach oben. Sein müder Blick fand sie nicht gleich und mit seinen verworrenen Haarsträhnen und seinem fleckigen, zerknitterten Hemd passte er gut ins Gesamtbild.

„Hallo Chefin … ist noch Zeit nach Hause zu gehen oder schon wieder Zeit zu arbeiten?“

„Letzteres, befürchte ich. Nur leider ist auf meinem Schreibtisch eine Bombe eingeschlagen, was die Frage aufwirft, wie ich in dem Durcheinander gescheit arbeiten soll. Warst du die ganze Nacht hier?“

Jetzt war es an ihm, herzhaft zu stöhnen. Beide Hände vor das Gesicht geschlagen, warf er sich in seinem Stuhl zurück, der diese ungewohnte Belastung mit einem beunruhigenden Knirschen quittierte.

„Scheiße, ja! Susanna wird mich umbringen! Ich wollte noch aufräumen, aber das Tagebuch …“

„Du meinst dieses Ding hier?“, Elena hielt ihm das Corpus Delicti vor die Nase. „Das ist nicht dein Ernst, oder? Ich meine, dir muss doch klar sein, dass dieser Fall über zehn Jahre alt ist?“

„Ja, ich kann lesen! Aber gestern war diese alte Dame hier und …“

Elena stieß scharf die Luft aus.

„Schon wieder? Langsam geht mir die Geduld aus! Wenn das nicht bald aufhört, dann …“

„Sie will doch nur wissen, was mit ihrer Enkelin passiert ist! Was ist schlimm daran?“

„Ulf, sie weiß, was mit Emily passiert ist! Sie hat sich umgebracht. Punkt, Aus, Ende der Geschichte! Was sie will, ist diese Tatsache ungeschehen machen, und dabei wirst du ihr nicht helfen.“

Elena blickte in den störrischen Ausdruck über Ulfs zerknittertem Kragen und wollte sich die Haare raufen. Das hatte ihr am frühen Morgen noch gefehlt!

„Hör mir jetzt gut zu. Diese nette, alte Dame hat fast jeden Neuzugang hier schon für sich eingespannt. Diese Akten sind schon so oft aus dem Archiv angefordert worden, dass wir sie auch gleich in der Kaffeeküche aufbewahren könnten.“

„Hast du dir die Beweise angesehen? Als du neu warst?“

Elena stutzte, alle Wut plötzlich verflogen und sah betreten zu Boden.

„Es ist nichts da, Ulf. Das Mädchen hat Selbstmord begangen, das ist alles. Solche Dinge passieren nun mal.“

Doch in dem zufriedenen Lächeln ihres lieben Kollegen erahnte sie bereits ihre Niederlage.

„Also hast du dir den Fall angesehen! Was ist dir daran aufgefallen? Hast du die Leute von der Spurensicherung befragt? Hat man damals mit dem Therapeuten gesprochen? Der müsste doch eigentlich gewusst haben, dass Emily sich umbringen wollte, oder? Und hast du …“

„Hör auf damit, ok?“, unterbrach sie ihn müde. Sie hatte das alles schon so oft durchgekaut. „Emily Franke war ein psychisch krankes Mädchen. Ihr Therapiebericht weist eindeutig darauf hin. Ja, niemand weiß genau, warum sie sich umgebracht hat und wir haben keinen Abschiedsbrief gefunden. Aber so was passiert, verstehst du? Menschen tun manchmal dumme, furchtbare Dinge ohne nachvollziehbaren Grund. Es war niemand im Haus, es gab keine Hinweise auf einen Einbruch, sie hatte keine Verletzungen, die auf einen Unfall hindeuteten. Sie ist gesprungen, Ulf! Was glaubst du finden zu können, was Dutzende vor dir übersehen haben?“

„Was du übersehen hast, meinst du wohl?“

Ein vernichtender Blick war Elenas einziger Kommentar.

Ulf seufzte theatralisch.

„Ich weiß nicht, ob ich etwas Neues finden kann, aber …“, Er ließ eine dramatische Pause entstehen, dann zauberte er das Kaninchen aus dem Hut.

„… es gibt da einen neuen Ort zum Suchen!“

Elenas Blick schoss von den Aktenbergen zu ihm zurück.

„Was meinst du damit?“

„Sophia Franke war gestern hier, um uns mitzuteilen, dass Emilys Eltern das Haus endlich zum Verkauf freigegeben haben. Du weißt, dass es seit Ende der Ermittlungen leer steht und sie niemanden mehr reinlassen wollten.“

Elena nickte. Im Gegensatz zur Großmutter hatten Emilys Eltern akzeptiert, dass der Tod ihrer Tochter kein Verbrechen war. Besser damit zurechtgekommen waren sie jedoch nicht.

Ulfs Grinsen vertiefte sich triumphierend.

„Die Eltern sind ein halbes Jahr nach Emilys Beerdigung ausgezogen, verkaufen wollten sie den alten Kasten aber trotzdem nicht, weiß der Himmel warum. Aber jetzt brauchen sie wohl das Geld … Erzähl mir nicht, dass es dir da nicht in den Fingern juckt!“

Elena stöhnte. Aktenberge, ungelöste Fälle, Berichte, Anhörungs-protokolle türmten sich vor ihrem inneren Auge auf und ihr inneres Ohr hörte bereits die Vorwürfe, mit denen ihr Vorgesetzter garantiert nicht sparen würde.

Dann drehte sie sich brüsk zur Tür um.

„Ich besorge uns einen Kaffee. Und wenn ich wiederkomme, dann will ich meinen Bürostuhl ausgegraben sehen, verstanden?“

Als ich nicht einmal acht Jahre alt war, wurde ich so schwer krank, daß ich beinahe gestorben wäre. Die Ärzte sagten, es wäre ein angeborener Herzfehler, und daß ich überhaupt noch lebte, wäre schon ein Wunder.

Meine Eltern hatten ab und zu darüber gesprochen, noch ein zweites Kind zu bekommen, und ich hatte mich darauf gefreut, eine große Schwester zu sein. Aber nachdem ich ins Krankenhaus kam, sprachen sie nie wieder mit mir darüber.

Auf der Kinderstation lernte ich andere Kinder kennen, die noch viel kranker waren als ich, und manchmal dachte ich, daß ich vielleicht noch lebte und gesund wurde, weil das andere Kind – das ungeborene, über das nicht gesprochen wurde – irgendwie für mich gestorben war. Es fällt mir schwer, diese Gedanken heute noch nachzuvollziehen, aber so war es.

Natürlich wurde ich nie wirklich gesund; ich denke, das war mir schon als kleines Kind viel bewusster, als meine Eltern es wahrhaben wollten. Es war mir peinlich, wenn sie sich verstellten und versuchten meine Krankheit vor mir zu verheimlichen, denn ich dachte, jeder müsste es bemerken und Mitleid mit ihnen haben.

Aber nach ein paar Monaten durfte ich wieder nach Hause, auch wenn ich die meiste Zeit in meinem Zimmer verbringen musste. Meistens schlief ich. Mein Hauslehrer kam jeden Tag für ein paar Stunden und abends las ich mit meinen Eltern Bücher, sah fern oder spielte Brettspiele.

Aber manchmal sah ich auch nur stundenlang aus dem Fenster auf die Straße. Ich wurde so schnell müde und konnte mich nicht konzentrieren – dann war ich lieber allein, andere Menschen gaben mir nur das Gefühl, irgendetwas sagen oder tun zu müssen.

Wir wohnen in einer sehr schönen Straße voller alter Häuser und Bäume. Es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, daß sich etwas verändert hatte. Das Haus schräg links gegenüber von unserem hatte lange aus der Reihe der restaurierten Fassaden herausgestochen wie ein fauler Zahn.

Solange ich denken konnte, hatte niemand dort gelebt, und ich hatte immer vermieden, die blinden, dunklen Fenster in der rußgeschwärzten, mit Graffiti beschmierten Außenwand länger anzusehen. Ich bekam davon oft Alpträume. Doch jetzt leuchteten die roten Backsteine. Und die weißen Stuckverzierungen lagen auf den Fenstern und Türen wie schwere Zuckergußschleifen auf einem Kuchen. Silhouetten bewegten sich hinter den Fenstern, und warmes Licht floss nachts auf die Straße hinaus.

Es machte mich fröhlich, das Haus so schön zu sehen und ich fragte mich, wer wohl jetzt dort wohnte.

Unruhig trat Ulf neben ihr von einem Bein aufs andere, doch Elena trug den Zorn ihres Chefs mit Fassung.

„Habt ihr euch mal überlegt, was dieses Hirngespinst unsere Abteilung kostet?“, fuhr der mit seiner Tirade fort. „Nicht genug damit, dass ich seit Jahren immer wieder irgendeinen leichtgläubigen Polizeischüler, oder auch den ein oder anderen überdurchschnittlich naiven Kommissar mit Gewalt davon abhalten muss, seine Zeit mit dieser Geisterjagd zu verschwenden!“, der vorwurfsvolle Gesichtsausdruck wandte sich kurz Ulf zu. „Jetzt lassen sich sogar schon meine leitenden Beamten dazu überreden, dass Steuergeldverschwendung im Polizeidienst eine gute Sache wäre!“

Vorwurf und Blick trafen jetzt Elena, die sich ein wenig gerader aufrichtete.

„Wir wollen doch nur einen kurzen Blick in das Haus werfen, Bernd. Du tust gerade so, als wollten wir das ganze Sondereinsatzkommando mitnehmen und einen kompletten Wohnblock absperren.“

Der Schreibtisch ächzte, als sich Hauptkommissar Schmidt mit beiden Fäusten darauf abstützte. Er seufzte schwer.

Elena entspannte sich etwas.

„Und was soll das bringen, kannst du mir das bitte erklären? Welche Spuren, die wir nicht schon gefunden und analysiert haben, könnten den Auszug der Frankes aus dem Haus überlebt haben? Schließlich bin ich der arme Sünder, der die Genehmigungen ausstellen und dem Präsidium erklären muss, warum ich zwei vielbeschäftigte Polizisten einen uralten, abgeschlossenen Fall untersuchen lasse. Was soll ich in den Antrag schreiben? Hm?“

Elena und Ulf wechselten einen raschen Blick, dann zuckte Ulf ratlos die Schultern. Elena verdrehte die Augen und wandte sie sich wieder ihrem gewichtigen Vorgesetzten zu.