In die Stille - Manuela Sonntag - E-Book

In die Stille E-Book

Manuela Sonntag

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Beschreibung

Die eine flüchtet vor den Schatten ihrer Herkunft - die andere ist die Prophetin einer vergessenen Göttin. Beide müssen sich dem drohenden Chaos einer neuen Weltordnung stellen - die eine gegen die Mächtigen ihrer Welt, die andere gegen ihren besten Freund. Elysion ist ein Kontinent am Rande des Abgrunds. Im Lichtreich hat ein Krieg gegen die Schatten mehr als nur zerstörte Dörfer zurückgelassen. Während der Hohe Rat die Risse im Gefüge der politischen Ordnung zu kitten versucht, sind Andere nur zu bereit ihren Vorteil aus seiner bröckelnden Autorität zu schlagen. Im Schattenreich dagegen fällt der Krone die undankbare Aufgabe zu Frieden zu stiften, um einen zweiten Eroberungsfeldzug zu verhindern. Doch die Wellen des Fortschritts lassen sich nicht eindämmen und eine neue Apparatur aus den Eingeweiden der Berge könnte alle Bemühungen auf beiden Seiten mit einem Schlag zunichtemachen. Alle Contentwarnungen zu diesem Titel finden Sie hier: https://www.manuela-sonntag.de/p/blog-page_12.html

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Imagination is everything. It is the preview of life's coming attractions.

Albert Einstein

gewidmet all den großartigen Menschen, die mich immer an eine bessere Zukunft glauben lassen

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Die Auserwählte

Prolog: Königin der Schatten

Kapitel 1: Equinox

Kapitel 2: Ort ohne Hoffnung

Kapitel 3: Erntedankfeuer

Kapitel 4: Neue Prüfungen

Kapitel 5: Amorya

Kapitel 6: Die Feuerblume

Kapitel 7: Die Gnade der Göttin

Kapitel 8: Priester und Pilger

Kapitel 9: Nach Norden

Kapitel 10: Die Auserwählte

Teil 2: In die Stille

Kapitel 11: Feuer und Glas

Kapitel 12: Aufbruch ins Ungewisse

Kapitel 13: Willkommen und Abschied

Kapitel 14: Zurück in die Schatten

Kapitel 15: Stimmen in der Tiefe

Kapitel 16: Xandur

Kapitel 17: Vertrauen und Verrat

Kapitel 18: Die Schwester des Königs

Kapitel 19: Das Konzil

Kapitel 20: In die Stille

Epilog: Hinter dem Horizont

Dramatis Personae

Teil 1

Die Auserwählte

Prolog

Königin der Schatten

“Ruhe!”

Das harsche Flüstern in ihrem Rücken ließ Aleia zusammenzucken, aber erstickte auch das aufgeregte Tuscheln ihrer Hofdamen. Ein Blick über ihre Schulter fing noch das missbilligende Blinzeln ihrer Oberhofmeisterin ein. Das Licht der Kristalllampen glänzte auf den goldenen Ketten, die sich zwischen Lady Forsytas geschwungenen Hörnern spannten. Aleia nickte ihr zu, doch die dankbare Geste erwärmte den frostigen Gesichtsausdruck der Minotaurin nicht im Geringsten. Lady Forsyta gab den betreten dreinblickenden Mädchen in ihren steifen, schwarzen Trauergewändern einen auffordernden Wink, der wie unabsichtlich auch ihre Königin miteinschloss. Aleia seufzte leise und ging weiter, das Rascheln ihrer Unterröcke unnatürlich laut in der geisterhaften Stille der schummrigen Palastkorridore. Der Schluckauf des Babys zuckte durch ihre Bauchmuskeln, und sie streichelte beruhigend über den schwarzen Samt ihres Kleides, unter dem sich ihre Schwangerschaft deutlich abzuzeichnen begann. Am Ende des Flurs nahmen zwei Hirschchimären in voller Rüstung Haltung an und stießen die Eichentüren zu den Gemächern der alten Königin mit mehr Elan auf, als Aleia aufbringen konnte. Sie räusperte sich nervös und drehte sich zu ihrer Eskorte um.

“Es ist besser, ich gehe allein.”

“Ich denke nicht, dass das schicklich wäre …”

Aleia hob die Hand und Forsyta verstummte empört. Ihre eisblauen Augen sahen an ihrer geraden Nase entlang auf sie hinunter, ihr schwarzes Fell Ton in Ton mit ihrem Trauergewand. Aleia schluckte nervös. Hinter der entrüsteten Oberhofmeisterin zwinkerte ihr Amalia mitleidig zu. Aleia richtete sich ein wenig gerader auf. Hofzeremoniell hin oder her, hier ging es nicht darum, Lady Forsyta die Anwesenheit bei einer offiziellen Audienz zu verweigern.

“Die Königin hat nach mir verlangt und zu viele fremde Gesichter werden sie nur verunsichern.” Sie versuchte ihrer Stimme einen versöhnlichen Klang zu geben. “Bitte wartet hier im Vorzimmer, ich werde nicht lange brauchen.”

Die Lippen der Oberhofmeisterin pressten sich zu einem dünnen Strich zusammen und sie nickte knapp. Aleias junge Hofdamen wichen einen unmerklichen Schritt zurück, als sie sich mit starrem Rücken abwandte und zu einem der gepolsterten Schemel schritt, die den Salon der Königin bevölkerten. Amalia drückte im Vorbeigehen tröstend Aleias Hand und sie brachte ein trauriges Lächeln zustande. Zumindest was Lady Forsytas Sympathie anging, hatte sie nichts mehr zu verlieren.

Aleia wandte sich der Schlafzimmertür zu, atmete tief durch und suchte in ihrem Inneren nach dem Murmeln des Quellflusses tief unter dem Palast, um ihren stolpernden Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Auch das rhythmische Pochen unter ihrer Bauchdecke beruhigte sich ein wenig. Schließlich schritt sie äußerlich gefasst auf zwei weitere Wachposten zu, die darauf warteten, sie in das Schlafzimmer einzulassen.

Das Türblatt knarzte in seinen Angeln und gab den Blick auf eine samtige Dunkelheit frei, nur erhellt von einer einzigen Kerze am Kopfende des großen Himmelbetts. Schränke, Beistelltische und Kommoden kauerten überall und Aleia tastete sich nur zögerlich vorwärts. Der scharfe Geruch von Arzneien lag in der unbewegten Luft. Eine Gestalt regte sich in der Zimmerecke und Aleia schrak unwillkürlich zurück. Die gelben Augen des Hofarztes glühten, als er in den engen Lichtkegel der Tür hinaustrat. Aleia atmete hörbar aus. Die graue Schlangenhaut des Gorgonen verschmolz mit den Schatten und sie hatte sich noch nicht an all die fremden Gesichter gewöhnt, die sie plötzlich überall umdrängten.

“Majestät …”

Der Hofarzt versank in einer tiefen Verbeugung, die Aleia nutzte, um ihre Züge zu einer unverbindlichen Maske zu ordnen.

“Man sagte mir, die Königin wünsche mich zu sprechen?”

“Oh ja, es ist ganz erstaunlich! Seit Monaten waren die Gedanken Ihrer Hoheit nicht mehr so ungetrübt, es ist ein höchst willkommenes Zeichen der Hoffnung.”

Aleias Blick wanderte über seinen gebeugten Rücken hinweg und suchte nach dem Gesicht ihrer Schwiegermutter, die nicht einmal wusste, dass sie ihre Schwiegermutter war. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie versuchte die Gestalt in den Kissen mit der früher so würdevollen Königin übereinzubringen. Ihre Reue kicherte mit der Stimme der Zwergenkaiserin in ihren Ohren. Sie wischte mit der Hand durch die Luft, um den salbadernden Arzt und ihre dunklen Gedanken zugleich zu vertreiben.

“Ich danke Euch. Jetzt lasst uns allein!”

Ohne die weiteren Verbeugungen des Gorgonen zur Kenntnis zu nehmen, trat Aleia an das mit Decken überladene Bett heran und zog vorsichtig den Vorhang beiseite. Sie wollte Anathea nicht erschrecken. Der schwache Kerzenschein offenbarte zuerst ihr silbriges Haar, das über die Kissen floss wie erstarrtes Mondlicht. Ihre blasse Haut mit den schwarzen Jormundrlinien spannte über den scharfen Knochen ihres Gesichts. Korins Mutter ächzte leise, aber blinzelte dann und wandte ihr einen Blick zu, in dem tatsächlich ihr wacher Geist erkennbar war. Aleia unterdrückte ein überwältigtes Schluchzen und tastete in den Falten der schweren Decke nach Anatheas Hand, doch die Königin kam ihr zuvor. Kühle Finger legten sich an Aleias Wange und strichen eine dunkelbraune Locke hinter ihr Ohr zurück.

“Mein liebes Kind”, murmelte die Königin und Tränen brannten in Aleias Kehle.

Genauso hatte sie Aleia willkommen geheißen, als verwirrte Gestrandete in einem fremden Land, die Hände ausgestreckt, ein trauriges Schimmern in den Augen. Und nun waren es ihre ersten Worte seit Monaten. Ruvans Hexe hatte den Geist der Königin zu ihrem Nutzen versklavt, doch das gewaltsame Ende ihrer Kontrolle hatte irreparable Schäden an Anatheas Geist zurückgelassen. Es hatte keinen triumphalen Einzug bei ihrer Rückkehr gegeben, keine mütterliche Umarmung, keine zärtlichen Worte für Korins Braut. Nur das bedauernde Kopfschütteln des Arztes.

‘Ihre Hoheit ist nicht bei klarem Verstand, sie kann keine Besucher empfangen.’

Aleia drückte die kalte Hand an ihre Wange. Anathea blinzelte gegen den schwachen Lichtschein der Kerze an und schien irgendetwas in Aleias Ausdruck zu suchen. Schließlich gab sie es auf und seufzte leise.

“Ich dachte, wir hätten mehr Zeit.”

Es war eine Feststellung, kaum mehr als ein bedauerndes Schulterzucken, aber ein grimmiger Zug verwirrte die Linien unter Anatheas Haut, die unverkennbaren Zeichen der Königswürde. Aleia war unsicher, ob ihre Stimme ihr gehorchen würde.

“Mehr Zeit wozu … Majestät?”

Die ehrerbietige Anrede vertiefte die Falten um Anatheas Mund. Sie warf Aleia einen tieftraurigen Blick zu.

“Mehr Zeit für Korin.” Ihre Hand fiel kraftlos auf die Decken zurück. Sie heftete ihren Blick auf den Baldachin über ihrem Kopf, mit seinen heraldischen Symbolen und gestickten Kronen aus Goldfäden. “Er ist nicht bereit, König zu sein.”

Aleia schüttelte ratlos den Kopf. Tief in ihrem Inneren hatte sie auf Trost gehofft, auf Vergebung, oder wenigstens die Gelegenheit, darum zu bitten. Sie suchte nach einer beruhigenden Erwiderung, aber die Königin sprach bereits weiter, gehetzt, atemlos, als müsse sie einem unsichtbaren Verfolger entkommen.

“Sein Vater … wir wollten, dass er eine Jugend hat, ich … ich wäre ja da gewesen nach …” Aleia beugte sich wieder vor, während Anatheas Stimme zu einem Flüstern versickerte. “Und nun bleibt er ganz allein zurück …”

“Ich kümmere mich um ihn”, hauchte Aleia und bemühte sich, die düsteren Befürchtungen abzuschütteln, die sie mit klammen Fingern nach unten zogen.

Anathea drehte den Kopf auf ihrem Kissen herum. Zwischen den Jormundrlinien glänzten Tränenspuren auf ihren Wangen.

“Ich fürchte, das wird es nur schwerer für ihn machen.” Aleias Brustkorb zog sich zusammen und sie rang für einen Moment nach Luft. Auch Anathea stöhnte auf. “Schnell, der Nebel zieht wieder auf! Ich kann nicht …” Sie presste die Augenlider zusammen. Aleia drückte hilflos ihre Hand, aber Anatheas Finger krallten sich in ihren Ärmel. “In der Schatulle auf meinem Schreibtisch … nimm es … sie dürfen es nicht finden …”

Ein spitzer Schrei entrang sich ihrer Kehle und Aleia schreckte hoch. Die Königin ballte die Fäuste und presste sie an ihre Schläfen, ihr gesamter Körper starr vor Schreck oder Schmerz. Dann fiel sie schlaff und leblos in ihre Kissen zurück. Sanfte Hände nahmen Aleia bei den Schultern und sie zuckte erschrocken zusammen. Sie hatte den Hofarzt nicht zurückkommen hören.

“Sie hat Schmerzen, sie …”, stotterte Aleia, aber er schüttelte nur niedergeschlagen den Kopf.

“So ist es leider, Majestät. Sie schläft oder starrt ins Leere und dann ergreift sie eine plötzliche Starre oder ein unvermittelter Schmerz.” Er rieb sich müde über den Schädel. “Wir zahlen den Dienstmädchen den doppelten Lohn, damit sie nicht davonlaufen. Es ist schrecklich, unsere geliebte Königin so zu sehen. Ich hatte wirklich gehofft …”

Er verlor sich in der Betrachtung seiner Patientin, die schwer atmend in ihren Decken versank. Aleia schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an und musste tatsächlich all ihre Willenskraft aufbringen, um nicht einfach in ihr helles, stilles Zimmer zu flüchten.

“Wo befindet sich der Schreibtisch der Königin?”

Der Gorgone blinzelte verständnislos.

“Der was? Ach so … dort hinten, hinter dem Wandschirm.”

Er machte Anstalten vorauszugehen, aber Anathea gab ein schmerzverzerrtes Ächzen von sich und er eilte stattdessen zu seinem Apothekerschrank am Kopfende des Bettes. Fläschchen und Tiegel klirrten, während er in seinem Bataillon von Arzneien kramte, um ihr Linderung zu verschaffen.

Aleia trat vom Bett zurück und bahnte sich ihren Weg zwischen den schweren Möbeln hindurch zur hinteren Ecke des Zimmers, die von einem hölzernen Wandschirm verborgen wurde und in noch tieferer Schwärze versank. Sie angelte den Lichtkristall hervor, den sie an einer langen Kette unter ihrem Gewand trug. Befreit von den schützenden Schichten aus Stoff, funkelte er glitzernde Reflexe über die lichtgrünen Seidentapeten des Zimmers. Aleia blinzelte gegen die Helligkeit an und gegen die erneute Woge aus Erinnerungen, die sie weckte. Vor ihren Augen funkelte der Stein für einen Wimpernschlag in einer Kugel aus Wasser, doch dann schälten sich langsam die Umrisse des Sekretärs der Königin aus der Dunkelheit.

Die linke Ecke des Tisches wurde von einer goldenen Schatulle eingenommen, auf der sich eine Miniatur der mächtigen Seeschlange erhob – Urgart, legendäre Urmutter aller Jormundr. Das weiße Licht verfing sich in ihren Windungen, aber das Knirschen des Mörsers jenseits des Wandschirms trieb Aleia zur Eile an. Sie erwartete ein Schloss, aber tatsächlich ließ sich der Deckel einfach zurückschlagen. Im Inneren befanden sich mehrere Briefe, versiegelt mit rotem Wachs und geprägt mit dem königlichen Wappen. Aleia fragte sich, ob noch irgendjemand diese Depeschen abholte, oder ob all diese Schriftstücke noch vor Ruvans Putsch angefertigt worden waren. Zeugnisse einer Zeit, bevor die bekannte Welt aus den Fugen geriet.

Die Königin hustete und ihr Arzt flüsterte begütigend auf sie ein, verabreichte ihr vermutlich sein angerührtes Gebräu. Aleia hielt den Lichtkristall näher über die Schatulle und fand schließlich einen Umschlag, der keinen Namen trug. Sie drehte ihn unschlüssig in den Fingern und fand die Worte ‘Nach meinem Tod’ auf der Rückseite. Angst kroch ihren Nacken hinauf, die Königin flüsterte in ihren Ohren.

‘Sie dürfen es nicht finden …’

Aleia kam schwankend auf die Füße und folgte dem Dorfvorsteher von der improvisierten Empore herunter. Ihre Knöchel schmerzten, während sie die lange Reihe von Bauern und Händlern abschritten, um den Beitrag jedes einzelnen Dorfbewohners hervorzuheben. Aleia bemühte sich, die Verbeugungen und Knickse mit so viel Würde entgegenzunehmen wie sie konnte, aber das Baby schlug in ihrem Bauch Purzelbäume und sie musste mehr als einmal ein Stöhnen hinter ihrem Fächer verbergen.

Die terrassenförmig angelegten Felder stiegen in breiten Stufen zu den Hügeln empor, hinter denen die milchige Mondscheibe des Schattenreiches langsam versank. Auf den oberen Terrassen zeichneten sich Netze aus Rankhilfen gegen den blauschwarzen Himmel ab, in den unteren schimmerten seichte Pfützen im Restlicht. Alle Felder waren mit verschiedenen Setzlingen aus Schatten- und Lichtreichpflanzen besetzt, ein lebendiges Experiment, das hoffentlich bald im wahrsten Sinne des Wortes Früchte tragen würde. Im Zentrum dieses Amphitheaters aus Rebstöcken und Reisfeldern stachen die Füße der Apparatur in den weichen Boden, ein Baum aus Metall, dessen Krone aus den Speichen einer Lichtmaschine gebildet wurde.

“… und schließlich dank der Fürsprache Eurer Majestät in Betrieb genommen werden kann.”

Aleia wandte ihre Aufmerksamkeit eilig wieder von ihren geschwollenen Füßen ab und dem stolzen Gesicht des Dorfvorstehers zu. Sie legte den Kopf in den Nacken und lächelte schwach zu ihm auf. Die grünliche Haut des Nephilim war mit Silberringen durchstochen und seine breiten Schultern spannten den Stoff seiner hellgelben Jacke. Die goldene Amtskette glänzte auf seiner Brust. Aleia winkte in die Runde aufgeregter Dorfbewohner und konnte nur hoffen, dass es huldvoll wirkte. Es war ein wichtiger Tag für sie alle.

Auf ein Zeichen des Vorstehers hin teilten sich die Reihen der Umstehenden und eine junge Frau mit hohem Priesterstab schritt würdevoll auf sie zu. Ihre dunkelblaue Robe wirkte schmucklos und trist im Vergleich zu den bunten Trachten des Schattenreiches, aber ihre Augen strahlten Aleia entgegen.

“Breda!”

Alle schmerzenden Körperteile mit einem Mal vergessen, lief Aleia der Priesterin entgegen und umarmte ihre Tempelschwester. Doch schon im nächsten Augenblick machte sie sich los und tastete nach ihrem Diadem, das bei der überschwänglichen Begrüßung gefährlich ins Wanken geraten war. Sie wollte sich Lady Forsytas Standpauke nicht ausmalen, wenn sie es in den Matsch fallen ließ. Breda warf lachend ihren rotblonden Zopf über die Schulter zurück.

“Majestät!”

Sie sank in einen perfekten Hofknicks und Aleia musste sich ein peinlich berührtes Kichern verkneifen.

“Was machst du hier?”

Breda zuckte nur die Schultern.

“Der Hohe Rat hat Freiwillige gesucht für diese ‘Gesandtschaft des Fortschritts’ und ich dachte, es könnte Spaß machen. Wir können uns ja nicht alle verwunschene Prinzen angeln.”

Aleia verzog den Mund und ignorierte Bredas spöttischen Tonfall.

“Wie geht es Lysanna? Und Hilda, ist sie …”

Ein überlautes Räuspern unterbrach sie.

“Wir sollten mit der Einweihungszeremonie fortfahren.”

Lady Forsytas Tonfall ließ Aleias Lächeln gefrieren, aber sie hatte natürlich recht. Alle Augen waren auf sie gerichtet und eine erwartungsvolle Spannung lag in der Luft.

“Später!” flüsterte sie hastig in Bredas Richtung und zog sich wieder auf die Plattform zu ihrem gepolsterten Sessel zurück.

Breda reichte ihren Stab der Tochter des Vorstehers, die sie schon jetzt um eine Handbreit überragte. Die junge Riesin starrte mit staunenden Augen zu den funkelnden Lichtkristallen hinauf, während Breda sich an den Aufstieg über eine schmale Leiter an der Seite der Apparatur machte. Ein stämmiger Minotaur begann eine große Kurbel zu drehen und hoch über ihren Köpfen kam ratternde Bewegung in die Speichen der Lichtmaschine. Breda breitete über der flachen Wasserschale in der Mitte der Plattform die Arme aus. Aleia legte eine Hand auf ihren schwangeren Bauch. Ruvans Hunger nach der Erforschung der Lichtmaschine hatte so viele Leben gekostet, doch wenn diese Ernte gedieh, dann würde aus all dem Leid doch noch etwas Gutes erwachsen. Sie hob den Kopf, als ein ehrfürchtiges Raunen aus ihrem Gefolge aufstieg. Breda war nur noch ein Schemen hinter einem Vorhang aus Wasser, aber von der Spitze der Apparatur fiel ein Schleier aus blendendem Licht herab. Ein paar der älteren Dorfbewohner schlugen schützend die Arme vor die Augen, aber die meisten waren längst an das künstliche Sonnenlicht gewöhnt. Vor ihrer Heirat – und bevor sich die Anstrengungen ihrer Schwangerschaft bemerkbar machten – hatte Aleia selbst den Triumphzug der Lichtmaschine durch die Städte und Dörfer des Schattenreiches begleitet. Die reine Freude und Begeisterung, die ihr dabei entgegengeschlagen waren, hatten wie ein Talisman gegen die einsamen Tage im Palast gewirkt.

“Wir sollten uns verabschieden. Der König erwartet Euch zurück, bevor der Mond untergeht.”

Aleia riss sich nur mühsam von dem Schauspiel aus Wasser und Licht los, das so viele Erinnerungen – schöne wie schreckliche – in sich barg.

“Ich hatte gehofft, ich könnte noch mit Breda sprechen, wenn die Demonstration abgeschlossen ist.”

Lady Forsytas Schmuckketten wiegten sich klirrend hin und her, als sie den Kopf schüttelte.

“Das wird nicht möglich sein, wir sind jetzt schon verspätet. Die Straßen sind zu gefährlich bei Nacht und wir müssen an das Wohl des Kronerben denken.”

Aleia verzog den Mund. Forsytas warmer Atem streifte ihr Ohr. “Und es ist außerdem absolut ausgeschlossen, dass eine Königin eine gewöhnliche Priesterin umarmt, Majestät.”

Die Minotaurin richtete sich auf und richtete mit einer unauffälligen Geste Aleias schiefes Diadem. Dann befahl sie mit einem Fingerschnippen und ein paar knappen Anweisungen, die Kutsche der Königin für die Abreise bereit zu machen. Aleia biss sich wütend auf die Unterlippe.

“In diesem Fall sind eure Königin und die gewöhnliche Priesterin allerdings ein und dieselbe Person”, zischte sie so leise wie möglich und kämpfte sich mühsam wieder von ihrem Stuhl hoch, während ihre Hofdamen wie eine Trauerprozession der langen Reihe von Wagen entgegenströmten.

Forsyta strich ihr tiefschwarzes Gewand glatt und maß Aleia mit einem kühlen Blick. Ihre fein gezupften Augenbrauen verschwanden beinahe unter ihrem hohen, dreieckigen Kopfputz.

“Ein Umstand, den wir vielleicht nicht noch offensichtlicher machen sollten, als er ohnehin schon ist.“

Sie wies mit einer einladenden Geste auf die heranrollende Kutsche und Aleia verfluchte im Geiste ihren ungewohnten Umfang, der es ihr nicht erlaubte, ihre Oberhofmeisterin einfach stehen zu lassen und davonzustürmen. Mit einem bedauernden Blick auf die enttäuschte Versammlung unter der Lichtmaschine stapfte sie auf die goldbeschlagene Kutschentür zu.

Die Kolonne der Kutschen rumpelte über die Brücke nach Ongoro und Aleia zog sich schaudernd vom Fenster zurück. Der Mond lag nur noch als silbrige Ahnung am östlichen Horizont und der Fackelschein der Vorreiter verlor sich im schwindelnden Abgrund der Grenzflussschlucht. Vom höchsten Punkt der Hauptstadt stach der Palast in den pechschwarzen Nachthimmel. Unzählige, hellerleuchtete Fenster, die eine eigene Konstellation in der Dunkelheit bildeten. Aleia zog ihren dicken Mantel zusammen, legte eine beruhigende Hand auf ihren Bauch und begegnete einem kräftigen Tritt des Babys. Trotz des anstrengenden Tages musste sie plötzlich lächeln.

‘Ich bin mir sicher, dass es nicht schicklich ist, eine Königin in den Bauch zu treten’, tadelte sie im Stillen und genoss den Schlag eines zweiten Herzens unter ihren Fingern.

Lady Forsyta schlug ungeduldig mit der behandschuhten Faust an die Kutschenwand und riss Aleia unsanft aus ihren Gedanken.

“Wenn wir nicht schneller fahren, werden wir uns wirklich zum Abendessen verspäten.”

Aleia zog sich wieder in ihre Kutschenecke zurück.

“Ich denke, wir haben genug Zeit gespart durch unseren überhasteten Aufbruch”, konnte sie sich nicht verkneifen anzumerken.

Niedergeschlagenheit steckte ihr tief in den Knochen. Seit Monaten hatte sie kein bekanntes Gesicht mehr gesehen und nun ließ man sie keine Minute mit einer Priesterin sprechen, mit der sie aufgewachsen war? Lady Forsyta drehte nicht einmal den Kopf, sondern starrte nur weiter unleidlich in die Nacht hinaus.

“Nicht annähernd! Ihr müsst Euch noch umziehen. Ihr könnt kaum mit schlammbespritzten Schuhen und zerzaustem Haar im Palast herumlaufen.”

Aleias Kiefer verkrampften sich. Vor ihrem inneren Auge spielte sie mit den Puka in leeren Korridoren Verstecken und schlich mit Korin in den Schlossgarten hinaus. “Es ist von immenser Wichtigkeit für das Ansehen der Krone, dass ihr unserer geliebten Königin nacheifert, Majestät.”

Aleia ertrug Lady Forsytas tadelnden Blick nur mühsam gefasst. Sie wollte eine versöhnliche Antwort formulieren, aber die Erinnerungen an gestohlene Momente und Korins glückliches Lächeln stachen ihren müden Geist wie ein Mückenschwarm.

“Es scheint mir kaum der Mühe wert, Lady Forsyta, wenn man mich doch nie vergessen lässt, dass ich nur eine arme Priesterin aus dem Lichtreich bin. Zumindest passen meine dreckigen Schuhe zu diesem Bild.”

Forsyta richtete sich in ihrem Sitz auf, bis ihre Hörner beinahe das Kutschendach berührten. Ihre Augen verengten sich und ihr lag sichtlich eine schneidende Zurechtweisung auf der Zunge, aber Aleia wandte sich einfach ab und presste ihre heiße Stirn an das Glas des Fensters. Tränen prickelten wieder einmal in ihren Augenwinkeln.

Die Kutschenräder holperten lautstark durch die beinahe ausgestorbenen Gassen von Ongoro und die Warnrufe der Vorreiter für Wagen und Passanten brachen sich in Echos an den Wänden der schemenhaft vorbeifliegenden Häuser. Schließlich hallte das Schnauben der Pferde von den Außenmauern des Palasthofes wider und ein diensteifriger Page riss die Kutschentür so unvermittelt auf, dass Aleia beinahe aus dem Gleichgewicht geriet. Ohne einen weiteren Blick für ihr Gefolge ergriff sie die ausgestreckte Hand und kletterte mühsam die ausgeklappten Stufen herunter. Dann schritt sie so schnell es ihr schwerer Bauch zuließ auf den rechten Seiteneingang zu, der zu den Gemächern des Königs führte.

“Majestät, wartet!”

Forsytas aufgebrachte Stimme verlor sich im Lärm der Kutschenkolonne, aber Aleia scherte sich nicht darum. Einer der Torwachen nahm wortlos eine Fackel aus einer Halterung neben der Tür und lotste sie durch die dunklen Gänge.

Aleia blinzelte die Erinnerung an ihr Turmzimmer fort, als sie den schleppenden Aufstieg über die schmalen Stufen des Seitentrakts begann.

Küchenhilfen und Bedienstete kamen ihnen in den schmalen Fluren entgegen und blieben wie angewurzelt stehen, bis die Königin und ihre spärliche Eskorte um die nächste Ecke verschwanden. Aleia erlaubte sich nicht stehen zu bleiben, nicht nachzudenken, zwang sich, die fassungslose Stille zu ignorieren, die ihr entgegenschlug. Schließlich kam sie vor der Tür zu Korins Arbeitszimmer zum Stehen, außer Atem und eine Hand in die schmerzende Seite gepresst. Ihr stummer Begleiter beugte sich besorgt vor, doch Aleia stieß einfach die Tür auf und stolperte ohne Vorwarnung in den Raum.

Korins Kopf ruckte erschrocken von den Plänen und Diagrammen hoch, die auf seinem Tisch ausgebreitet lagen und Aleia fand sich einem Rund von Ratsältesten gegenüber, die sich irritiert bis neugierig zu ihr umdrehten.

“Aleia, was …?” stammelte Korin und musterte erstaunt ihr hochrotes Gesicht.

“Ähm … können wir diese Unterredung vielleicht später fortführen?” wandte er sich dann an die Umstehenden, unter denen Aleia mit Schaudern Ser Dagna ausmachte.

Die Klanälteste der Kelpie trug ihr ewig feuchtes Haar zu einem kompliziert geflochtenen Dutt aufgesteckt, aber erschien bei Hofe nur in derselben Militärrüstung, die sie auch schon beim Sturm auf Kanarkad getragen hatte.

Die Blutflecken waren mit der Zeit verblasst, doch sie verpasste keine Gelegenheit, aus ihrem ‘wundersamen’ Überleben Kapital zu schlagen. Um ihre dünnen Lippen lag ein spöttisches Lächeln, als sie Aleia von oben bis unten musterte, angefangen bei der verrutschten Krone bis hin zu den schlammigen Stiefeln. Aleia fühlte ihre Wangen heiß werden.

“Es … ist schon gut. Ich kann warten.”

Damit zog sie sich auf einen der Lehnstühle am Feuer zurück und ließ sich mit kerzengeradem Rücken darauf nieder. Ihre Knöchel pochten ärgerlich. Korin räusperte sich und hatte sichtlich Mühe, seinen Faden wiederzufinden.

“Also … ja … was war unser nächster Schritt bezüglich der Kristalllieferungen?”

Der Klanälteste der Zyklopen hatte als einziger Aleias aufgelösten Auftritt ignoriert und hob mit einem schweren Seufzer den Blick von seinem dicken Bündel Aufzeichnungen.

“Verhandlungen mit dem Lichtreich schleppend. Unsere Experimente zur Maximierung der Ausbeute mehr als erfolgreich, wirklich erstaunlich, wie Potenz der Wirkung mit Grad der Zersplitterung ansteigt! Für die Lampen im Palast …”

“Das ist ja gut und schön, aber wenn sich die Lage unserer Bauern nachhaltig verbessern soll, dann brauchen wir mehr als nur ein paar Leselampen”, unterbrach Ser Dagna, immer noch mit einem ironischen Schmunzeln.

“Abgesehen davon, dass trotz der Bemühungen unserer verehrten Königin noch immer Tausende Bürger und Händler darauf warten, immunisiert zu werden.”

Aleias Herzschlag beschleunigte sich, aber Korin wischte den Einwand mit einer ungeduldigen Geste beiseite.

“Der Hohe Rat ist uns in vielerlei Hinsicht schon mehr als genug entgegengekommen. Ihr solltet nicht vergessen, Ser Dagna, dass wir nur sehr wenig Druck auf die Regierungen des Lichtreiches ausüben können. Wer verhandeln will, muss auch etwas anzubieten haben und in diesem Punkt befinden wir uns in einer schwierigen Situation.”

“Und dass nur, weil die technologischen Errungenschaften unserer Akademien dem Lichtreich von feigen Überläufern vor die Füße geworfen werden, ohne dass wir daraus irgendeinen Nutzen ziehen. Astax und Lorn hätten vor ein Kriegsgericht gehört!”

“Ich bin es leid, mir jedes Mal dieselben Vorhaltungen anzuhören!” Korin schlug ungeduldig mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Dagnas graue Fischaugen blitzten angriffslustig, aber der König ließ sich davon nicht beeindrucken. “Und gerade Ihr solltet vorsichtig sein, wenn Ihr das Wort Kriegsgericht in den Mund nehmt.”

Aleias Herz machte einen kleinen Freudensprung, als Ser Dagna sich indigniert zurückzog, das Gemurmel der Ratsältesten in ihrem Rücken. Korin fuhr sich erschöpft mit der Hand über die Stirn und begann die verstreuten Depeschen auf seinem Schreibtisch zusammenzusammeln.

“Ich werde dem Konzil der Neriaden noch einmal unseren Wunsch nach einer größeren Auswahl von Kristallen mitteilen. Vielleicht können wir eine Einigung erreichen, was einen Austausch von Wissen betrifft. Ich bin mir sicher, die Steinmetze des Lichtreiches würden von der Expertise unserer Werkstätten profitieren.” Der Zyklop blinzelte überfordert, eine Reise in den weit entfernten Süden entsprach offenbar nicht seinen Zukunftsplänen. “Wir vertagen den Rest dieser Besprechung auf morgen. Eine angenehme Nachtruhe allerseits!”

Korin verabschiedete die tuschelnden Ältesten, schloss das schwere Türblatt vorsichtig und lehnte sich dann erschöpft dagegen. Aleia beugte sich vor und angelte nach ihren Stiefeln. Korin sah mit einer Mischung aus Besorgnis und Belustigung auf sie herunter.

“Was tust du denn da?”

Aleia streifte mit einem Gefühl der Erleichterung den linken Stiefel ab und wandte sich dem rechten zu.

“Meine Füße sind schrecklich geschwollen und ich will endlich diese engen Schuhe loswerden!”

Korin runzelte die Stirn.

“Solltest du dazu nicht in dein Ankleidezimmer gehen? Und wo sind deine Hofdamen? Als du eben hier hereingestürmt bist, dachte ich für einen furchtbaren Moment, wir würden angegriffen.”

Er ließ sich in den Lehnstuhl ihr gegenüber fallen und wollte nach ihrer Hand greifen, aber Aleia hob stattdessen ihre Füße und legte sie mit einem wohligen Seufzer auf seinen Knien ab. Korin lächelte müde und die Jormundrlinien brachen sich an den Narben auf seiner Wange. Aleia ließ den Kopf gegen das Sesselpolster sinken und wäre am liebsten einfach eingeschlafen, aber ein kalter Dorn saß immer noch in ihrer Brust.

“Erklär mir noch mal, warum wir Ser Dagna nicht mit Ruvan in den Kerker werfen lassen?”

Korin ächzte leise und schlug seinen langen Purpurmantel über Aleias kalten Füßen zusammen.

“Weil sie die Unterstützung der Kelpieklans hinter sich hat, ohne die sich das Grenzgebiet nicht sichern lässt. Der Hohe Rat hat genug damit zu tun, die Ordnung aufrechtzuerhalten und ein Erbfolgekrieg im Kelpiereich würde ungeahntes Chaos nach sich ziehen. Angriffe auf die nördlichen Königreiche durch Banditenbanden würden zunehmen. Niemand will, dass sich das Bild der brandschatzenden ‘Daevas’ noch mehr in den Köpfen der Lichtvölker festsetzt.”

“Also musst du dich ewig mit ihr herumschlagen.”

Korin zuckte die Schultern.

“Wenn das unser größtes Problem wäre, würde ich mit Freuden jeden Tag mit Ser Dagna Tee trinken.”

Aleia schloss die Augen und versuchte das Bild der selbstgefälligen Kelpie aus ihrem Kopf zu verbannen. Korins Kummer lag wie ein Mühlstein auf ihrer Brust.

‘Das wird es nur schwerer für ihn machen’, flüsterte die Stimme der Königin.

“Ich war bei der Einweihung der Lichtmaschine in Unadar. Breda, die Priesterin, die der Wassertempel geschickt hat, ist eine meiner ältesten Freundinnen und ich durfte keine fünf Sätze mit ihr wechseln. Eine Königin umarmt keine Priesterin …” Sie hustete spöttisch, aber die aufgestaute Einsamkeit der letzten Wochen ließ die Worte nur so aus ihr heraussprudeln.

“Das ist, wie Forsyta mich sieht! Eine ärmliche Priesterin, die niemals Königin hätte werden dürfen. Und mit so einem ‘Gefolge’ muss ich meine Zeit verbringen, während ich meine Freunde nicht begrüßen, oder ihnen auch nur schreiben darf? Warum kann ich Forsyta nicht einfach fortschicken? Es gibt bestimmt genug andere hochwohlgeborene Damen, die ihre ständigen Zurechtweisungen mehr zu schätzen wissen …”

Aleia presste eine Hand über ihren Mund, ärgerte sich über sich selbst, über ihren trotzigen Ton und die heißen Tränen, die ihre Wangen herunterliefen.

Korin seufzte noch einmal schwer, bettete ihre Füße auf ein Kissen und setzte sich auf die Armlehne ihres Sessels. Aleia vergrub dankbar ihr Gesicht in seinem Mantel, der nach Rauch und den Lavendelkissen roch, die sie für seine Kleidertruhen genäht hatte. Korin löste vorsichtig das Diadem aus ihrem wirren Haar und drehte es nachdenklich in den Fingern.

“Lady Forsyta ist die älteste Freundin meiner Mutter und eine der wenigen an diesem Hof, denen ich absolut vertraue. Ich bin sicher, sie will dir nur dabei helfen, dich an den Hof und die Etikette zu gewöhnen.”

“Und mich bei jeder Gelegenheit daran erinnern, wie viele Fehler ich mache!

Wie unzulänglich ich bin …”

“Hat sie das so gesagt?”

Aleia schniefte ärgerlich.

“Nein, aber sie wird mir vermutlich nie verzeihen …”

Sie brachte den Satz nicht zu Ende, die peinliche Szene stand ihr noch zu nah vor Augen. Eine achtlos ausgesprochene Frage, weil Ruvan sich zu tief in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte und schon war sie in ein unverzeihliches Fettnäpfchen getreten, das keine ihrer Entschuldigungen wieder ausbügeln konnte.

“Aleia, ich bitte dich, diese Zankereien irgendwie zu regeln. So kann es nicht weitergehen!” Korin sprang auf und warf das Diadem mit einer ungeduldigen Geste auf den Schreibtisch. Aleia blinzelte verblüfft, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen. “Du hast doch gehört, wie schwierig die Situation für uns ist.

Weißt du, wie sehr dieses Getuschel im Palast uns schadet? ‘Die Königin hat Heimweh, sie fühlt sich unwohl unter ‘Daevas’‘, ‘Die Königin kann eine Minotaurin nicht von einem Lykaer unterscheiden’, ‘Die Königin streitet mit ihren Hofdamen, am liebsten würde sie alle entlassen und den Hof mit Lichtvolk füllen’.”

“Das ist nicht wahr!” fuhr Aleia ärgerlich auf, aber Korin winkte nur müde ab und strich sich das wirre, schwarze Haar aus der Stirn.

“Ich weiß das, mein Herz. Aber es genügt, wenn die Versammlung und der Hofstaat es glauben.”

Aleia biss sich auf die Unterlippe und versuchte, über ihre persönliche Kränkung hinwegzusehen.

“Vielleicht würde es helfen”, druckste sie schließlich unsicher, “wenn ich einfach für ein paar Monate nach Hause reise? Wenn unser Kind alt genug ist?”

Korin fuhr zurück wie vor den Kopf geschlagen. Dann setzte sich der traurige Ausdruck wieder durch. Mit einem leisen Seufzer ging er neben ihrem Sessel in die Knie und legte ihre Hand an seine Wange. Die schwarzen Linien auf seiner grauen Haut legten sich um ihre Berührung und seine blauen Augen schimmerten feucht.

“Ich glaube nicht, dass das möglich sein wird, mein Herz … die Kosten allein

… Du bist jetzt hier zu Hause … bei uns.” Korins freie Hand streichelte über ihren Bauch und das Baby quittierte die Aufmerksamkeit mit einem kräftigen Tritt. Er versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. “Erzähl mir von deiner Freundin! Du sprichst so selten über den Wassertempel, ich bin nicht sicher, ob ich sie wiedererkennen würde.”

Aleia blinzelte immer noch gegen ihre Tränen an, aber die peinlich berührte Spitze in Korins Lächeln entzündete einen Funken Zärtlichkeit in ihrem zu engen Brustkorb. Ihr Kuss schmeckte salzig, als sie sich zu ihm herunterbeugte.

“Ich hatte fast vergessen, dass du den Tempel mit dem Allsehenden Spiegel beobachtet hast.”

“Weniger den Tempel, mehr die hübsche Priesterin mit den samtbraunen Augen.”

Korin richtete sich auf. In seine Wangen war endlich etwas Farbe gekommen. Er fischte das Diadem von seinem Schreibtisch und setzte es ihr vorsichtig auf. Dann ließ er sich wieder auf die Sessellehne fallen und griff nach ihrer Hand. Aleia brummte müde, aber von einer Wärme durchzogen, die nichts mit dem prasselnden Feuer zu tun hatte.

“Breda war immer eine bessere Schülerin als ich”, gab sie zu. “Auch wenn sie furchtbar tollpatschig und zerstreut sein konnte, wenn es nicht um die Beherrschung der Elemente ging. Einmal hat sie einen ganzen Trog Sauerteig verdorben, weil sie vergessen hat, die Tür zur Küche zu schließen, als der Gong zur Abendandacht rief. Mitten im tiefsten Winter …” Aleia kicherte über ihre eigene Erinnerung, aber noch mehr, als sie Korins völlig verständnisloses Gesicht bemerkte. “Sauerteig darf nicht auskühlen, sonst geht er nicht auf”, belehrte sie den König des Schattenreiches.

Korin hob ihre Hand an die Lippen.

“Was hältst du davon, wenn wir Breda zu einem Festbankett hier im Palast einladen? Immerhin war die Einweihung der ersten landwirtschaftlichen Lichtmaschine doch ein Erfolg, das sollte man feiern.”

Aleia runzelte skeptisch die Stirn.

“Und du glaubst, Dagna und die anderen Klanältesten werden das hinnehmen? Noch ein ‘Ehrengast’ aus dem Lichtreich?”

Korins Daumen streichelte sanft über ihren Handrücken.

“Warum nicht? Eine vollständig ausgebildete Priesterin ist eine Kuriosität. Du vergisst, dass das Schattenreich die Macht über die Elemente schon vor Jahrhunderten verloren hat. Ich bin mir sicher, die Neugier wird größer sein als die Vorbehalte. Und außerdem …” Er zog seine Hand zurück und tippte sich nachdenklich ans Kinn, den Blick schräg nach oben gerichtet. Genauso hatte er ausgesehen, als sie zusammen über der Feinjustierung der Lichtmaschine grübelten. “Außerdem könnte man ihnen den Wind aus den Segeln nehmen, wenn wir gleichzeitig einer Persönlichkeit des Schattenreiches eine besondere Gunst erweisen. Lady Forsyta zum Beispiel?”

Aleia zuckte ein wenig zusammen.

“Und wie? Ich habe mich schon hundertmal bei ihr entschuldigt …”

Korin schüttelte den Kopf, seine Haare standen in alle Richtungen ab.

“Lady Forsyta ist eine Hofdame bis ins Mark. Eine persönliche Entschuldigung der Königin mag eine Ehre sein, aber eine öffentliche Zurschaustellung deiner Dankbarkeit für ihre Dienste, vor dem ganzen Hof und den Ratsältesten der Versammlung, ist etwas ganz anderes.”

Aleias Herz schlug ein wenig leichter in ihrer Brust. Sie liebte das schelmische Funkeln in Korins Augen.

“Also soll ich ihr öffentlich danken für ihre Zurechtweisungen?” hob sie etwas missmutig an, aber Korin sprang auf die Füße und winkte ab.

“Eine Ansprache wäre natürlich möglich, aber ein Zeichen wäre vielleicht besser … Weniger Gefahr, missverstanden zu werden.”

Er lief zwischen ihrem Sessel und seinem Schreibtisch auf und ab, die Hände vor der Brust verschränkt.

“Es muss auf jeden Fall etwas sein, das streng nach Zeremoniell verläuft”, warf Aleia ein und schob ihre Füße widerwillig in die Stiefel zurück. “Lady Forsyta schläft mit dem Hofprotokoll unter ihrem Kopfkissen.”

Korin blieb abrupt stehen und ein Grinsen schob sich über sein Gesicht.

“Da hast du absolut recht! Wie wäre es, wenn du ihr erlaubst, sich ein neues Ballkleid aus Purpurstoff anfertigen zu lassen, während wir alle noch Schwarz tragen?”

“Das ist alles?”

Aleia wuchtete sich aus dem bequemen Sessel hoch und streckte reflexartig die Hand nach ihm aus, um ihr Gleichgewicht zu halten. Korin war in einem Schritt an ihrer Seite und legte beschützend einen Arm um sie.

“Wenn man in strenger Hofetikette denkt, ist das sehr viel. Und es kann in keinem Fall falsch interpretiert werden.”

Aleia schüttelte ein wenig ungläubig den Kopf, aber konnte nicht anders, als sich von seiner Zuversicht trösten zu lassen.

“Wenn du meinst … Hilfst du mir noch, dein Kind ins Bett zu bringen? Ihre königliche Hoheit ist sehr müde.”

Dagna zog sich aus dem Sumpf der entwürdigenden Friedensverhandlungen in die wohltuende Ruhe ihrer Gemächer zurück und trat die Tür schallend hinter sich zu. Kristalllampen warfen zitternde Schatten über die Steinwände, aber sie war nicht in der Stimmung, die einladende Helligkeit zu würdigen. Vor ihrem inneren Auge fraß sich eine Welle aus Licht durch die Gefechtsreihen ihres Heeres ...

Dagna schnaubte unwillkürlich, nahm ihren Helm ab und warf ihn auf das schmale Sofa neben dem noch schmaleren Fenster. Dann griff sie nach dem Wasserflakon auf dem Tisch und ließ die Flüssigkeit genüsslich über ihr Haar und ihre ausgetrocknete Haut fließen. Das endlose Geschwafel der Versammlung trocknete sie noch bis auf die Schuppen aus. Sie wusste nicht, was schlimmer war: die erbärmlichen Versuche ihres neuen Königs, den triumphalen Zug nach Kanarkad zu einem bedauerlichen Fehler zu degradieren, oder als Klanälteste in diese Handvoll winziger Kammern am Ende des Palastkomplexes verbannt zu sein. Andererseits war es immerhin ein kleiner Trost, dass sie nicht in irgendeinem Kellerloch saß.

Der Gedanke zauberte ein grimmiges Lächeln auf ihr Gesicht. Sie zog mit neuer Entschlossenheit den Stuhl an ihrem Schreibtisch zurück und blätterte durch die Notizen, die ihre Späher aus dem Grenzgebiet übermittelten. Nach allem, was man hörte, stürzte das Lichtreich ins Chaos und wenn sich aus Korins Unfähigkeit irgendwie Gewinn schlagen ließ, dann war sie diejenige, es zu tun. Ruvan mochte den Weg zum Henker beschreiten und vermutlich würde er es noch als großartiges Ende zelebrieren, einen würdigen Abschied für sein übergroßes Ego. Aber sie verstand es, zu überleben, umzudenken und ihre Macht zu bewahren. Sie war das Wasser, das sich durch jede Ritze drängte, kein Bock, der sich die Hörner an einer Wand abschlug. Und es war an der Zeit, dass die Versammlung ihre Führungsqualitäten endlich würdigte. Dagna streckte die Finger nach ihrem Tintenfass aus und legte einen besonders vielversprechenden Bericht neben ein unbeschriebenes Blatt.

‘An Ihre hochwohlgeborene Majestät und allerwertesten Herrscher des Menschenreiches, König Barron, seid gegrüßt. Bitte erlaubt der Absenderin dieses respektvollen Grußes, ihre tiefe Anteilnahme am Tod Eurer Eltern zum Ausdruck zu bringen. Die Entbehrungen des Krieges haben Hunger und Krankheit auf beiden Seiten der Grenze hinterlassen und es obliegt uns, aus dieser schweren Zeit in eine glorreichere Zukunft aufzubrechen. Ich habe mir daher die Freiheit genommen, den Überbringer dieser Nachricht mit verschiedenen Geschenken für Eure Majestät zu betrauen …’ Nur das leise Kratzen der Feder hing in der kalten Luft. Durch den Fensterspalt blinzelte der silberne Frühlingsmond herein. Ihre vernarbte Schulter spannte, elende Erinnerung an ihre Niederlage vor Kanarkad. Eine Schuld an Schmach, die sie Korins kleiner Priesterin irgendwann mit Zinsen zurückzuzahlen gedachte.

Dagna setzte die Feder ab und griff nach dem Ausschärfmesser. Sie fragte sich, wie viel Gold und Schönrederei sie sich wohl abringen musste, um einen selbstverliebten Narren wie Barron zu überzeugen, sein Land für die ersten Schattensiedlungen zur Verfügung zu stellen? Natürlich war dieses Lieblingsprojekt des Königs nur eine halb durchdachte Illusion, aber wenn sie zumindest ein paar Augen und Ohren im Lichtreich dabei gewann … Dagna tunkte den frisch geschärften Federkiel in das Tintenfass und kratzte ihre katzbuckelnden Worte auf das unschuldige Papier, während sich die Zahnräder ihrer Gedanken bereits weiterdrehten. Es konnte sicherlich auch nicht schaden, ein paar Flugblätter bei den Schreibern in Auftrag zu geben, die Ruvans tägliche Verlautbarungen verfasst hatten. Ihre Talente waren genauso geeignet, bei Völkern und Heer die Erinnerungen an den schändlichen Rückzug wachzuhalten. Und natürlich den Tod einiger ihrer Kameraden durch die Hand der Spionin, die sich jetzt Königin nennen durfte. Dagna setzte in vielen Schleifen und Schnörkeln ihre Unterschrift unter den Brief.

Breda ließ eine kleine Wasserkugel in ihrer Handfläche rotieren, bis das Licht der Kristalllampen darin glitzerte wie tausend Sterne. Aleia hörte das aufgeregte Murmeln der staunenden Höflinge, immer wieder durchsetzt von Applaus, als Breda Wasser, Feuer und Wind beschwor und schließlich Blüten in einer Pastete aus Baumrinde sprießen ließ. Das Orchester hatte sich bereits zurückgezogen und nur noch versprengte Grüppchen von Gästen verteilten sich im weiten Oval des Ballsaals. Doch Breda war ohne Zweifel die begehrteste Attraktion des Abends.

Aleias Lächeln vertiefte sich, als sie feststellte, dass der Gedanke sie nicht im mindesten schmerzte. Ihr Leben im Tempel und ihre verzweifelten Wünsche aus dieser Zeit schienen sehr weit weg und kaum noch verbunden mit ihrem Selbst. Sie gönnte Breda von ganzem Herzen alle Bewunderung, die ihre hart erkämpften Fähigkeiten verdienten. Sie wandte sich an Lady Forsyta, die vor Triumph strahlend an ihrem angestammten Platz neben Aleias Thron stand.

“Richtet dem König aus, ich bin müde und werde zu Bett gehen.”

Die hochgewachsene Minotaurin versank in einem tiefen Hofknicks und ihr Kleid aus beinahe – wenn auch nicht ganz – königlichem Purpurrot bildete eine samtige Wolke um sie herum. Sie nickte Amalia bedeutungsvoll zu.

“Begleite Ihre Majestät nach oben.”

Sie wartete Amalias zustimmenden Knicks nicht ab, sondern eilte davon, die hohe, rechtwinklige Haube umfasst von ihren Hörnern und einen Vorhang glitzernder Ketten aus bunten Halbedelsteinen um den schlanken Hals. Aleia streckte die Hand nach Amalia aus und kam mit ihrer Hilfe auf die Beine. Die junge Gorgone trug, wie sie alle, noch ihre schmucklosen Trauergewänder, die ihre bernsteingoldene Haut sehr vorteilhaft betonten. Eine voluminöse Kapuze schmückte ihren glatten Schlangenkopf, aber ihre tiefschwarzen Augen blinzelten amüsiert darunter hervor.

“Sie weiß wirklich, wie man einen dramatischen Abgang hinlegt, findest du nicht?”

Aleia verbiss sich ein Schmunzeln. Amalia war eine hervorragende Komplizin, wenn es darum ging, die steife Würde des Zeremoniells zu unterwandern und Aleia war sich noch nicht sicher, ob Forsytas plötzliche Neigung, ihr Vertrauen auszusprechen, ein gutes Zeichen war. Vielleicht hoffte die Oberhofmeisterin auch nur, sie beide damit besser im Auge behalten zu können.

Korin stand am Rande der Tanzfläche umgeben von einigen Ratsältesten, die mit verstimmten Gesichtern vor Forsytas Opulenz zurückwichen – mit Ausnahme von Ser Dagna natürlich, die nicht einmal für dieses Bankett auf ihre provokante Militäraufmachung verzichtet hatte. Die Minotaurin flüsterte Korin ihre Nachricht ins Ohr, er hob den Kopf und nickte Aleia mit einem wehmütigen Zug um den Mund zu. Sie legte zwei Finger an die Wange, ihr geheimes Zeichen für ‘Ich warte auf dich!’ und er lächelte.

Aleia schloss ihre Schlafzimmertür, hob die schwere Krone vom Kopf und ließ sie im Vorbeigehen klappernd auf ihren Sekretär fallen. In einer Ecke des Raumes lagen immer noch ihre kläglichen Versuche verstreut, die Anweisungen des Künstlers zu befolgen, der ihr Unterricht erteilte.

Eingetrocknete Farbtuben und Pinsel stachen vorwurfsvoll aus ihren Gläsern hervor. Endlich befreit von dem metallischen Druck an ihren Schläfen, sank Aleia auf ihr Bett und streifte die Schuhe von den Füßen. Ihre Schwangerschaft erlaubte es ihr, weite, schwingende Roben und flache Absätze zu tragen und noch musste sie sich keine Ausreden einfallen lassen, um die steifen Gewänder des Hofstaats zu umgehen. Dennoch tat es unglaublich gut, die Beine auszustrecken und sich für einen Moment einfach vollständig bekleidet zurückzulehnen.

Aus dem Ballsaal drangen immer noch Gesprächsfetzen und Gelächter durch das offene Fenster herein. Aleia stopfte ein weiteres Kissen unter ihren Nacken. Dank Korin war der Abend ein voller Erfolg. Ganz verstand sie zwar immer noch nicht, warum es Forsyta so viel bedeutete, ein rotes Kleid tragen zu dürfen – an ihrer Stelle hätte sie eine solche Geste vermutlich als leeres Almosen aufgefasst – aber vermutlich bewies das nur, dass sie wirklich keine Ahnung vom Leben am Hof hatte. Wenn die Belehrungen ihrer Oberhofmeisterin in Zukunft ein wenig an Schärfe verlören, dann würde es ihr sicher leichter fallen, auch tatsächlich etwas daraus zu lernen.

Aleia richtete sich ächzend wieder auf. Das Gewicht des Babys drückte auf ihre Blase und sie hatte das dringende Bedürfnis, endlich unter ihre warme Decke zu schlüpfen. Außerdem glänzte ihre Krone vorwurfsvoll von einem Stapel halbfertiger Briefe herüber. Aleia hatte Sile, Mockra und ihren anderen Freunden im Lichtreich so viel zu erzählen, dass es schwer war, sich auf eine halbwegs verständliche Schriftform zu beschränken. Aber die lebhafte Vorstellung, was Lady Forsyta dazu zu sagen hätte, dass die altehrwürdige Krone der Jormundrköniginnen einfach herumlag wie ein Briefbeschwerer, trieb sie wieder aus dem Bett. Sie wollte den neu gefundenen Frieden nicht gleich wieder zunichtemachen.

Aleia hob die schwere Goldkrone auf und schlug den Deckel der Ebenholztruhe zurück. Papier knisterte unter ihrer Berührung und mit einem kleinen Stachel des Unbehagens fiel ihr der Brief der Königin in die Hände, eingeschlagen in das Innenfutter der Schatulle. Dank der Überfürsorge ihrer Damen und Hebammen hatte sie noch keine ruhige Minute gehabt, um dem Mysterium des Briefes auf die Spur zu kommen. Es war besser gewesen, ihn einfach zu verstecken, wenn sie sich schon nicht dazu durchringen konnte, ihn ungeöffnet zu verbrennen. Mit klammen Fingern drehte sie den dicken Umschlag herum, unschlüssig, mit einem guten Schuss Neugier darin. ‘Nach meinem Tod‘ las sie erneut.

Aleia nahm an, dass sie Anatheas Testament in Händen hielt, aber was konnte daran so gefährlich sein, dass sie es plötzlich vor dem Zugriff der Höflinge schützen wollte?

Aleia warf die Krone achtlos in die Schatulle und griff nach dem Brieföffner, der halb zwischen ihren Papieren verborgen lag. Mit einer ruckartigen Bewegung brach sie das Siegel und zog einen dicht beschriebenen Briefbogen hervor. Im flackernden Kerzenlicht flog ihr Blick über die kantigen Schriftzeichen des Schattenreiches. Aleia blinzelte verwirrt. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber das Testament der Königin erschöpfte sich zunächst nur in einer langen Liste von persönlichen Zuwendungen. Sie drehte den Briefbogen herum und fand schließlich einen Satz, der mit roter Tinte unterstrichen war.

‘Ihr Name ist Amorya.’

Aleia runzelte verständnislos die Stirn. Erst im allerletzten Absatz fand sie schließlich die Worte, die ihren Magen zusammenzogen.

‘… sollte die Versammlung von deiner Halbschwester erfahren, könnte man dieses Wissen gegen dich verwenden. Das muss mit allen Mitteln verhindert werden!’

Aleia legte instinktiv eine schützende Hand auf ihren Bauch und starrte in ihr unaufgeräumtes Zimmer hinaus. Korin hatte eine Halbschwester und seine Mutter befürchtete einen Putsch in ihrem Namen. Warum vertraute sie dieses Wissen Aleia an und nicht ihrem Sohn?

‘Korin ist nicht bereit, König zu sein’ Aleia presste die Lippen zusammen. Korin wäre tatsächlich nicht bereit, seine Schwester einzusperren, oder gar zu verletzen, nur um seinen Gegnern zuvorzukommen. Und wenn es das war, was seine Mutter von ihm erwartete, dann war Aleia froh, dass er ihrem Bild eines Königs nicht entsprach.

Vermutlich hatte Anathea angenommen, Aleia würde ihm diese unschöne Aufgabe abnehmen. Zum Schutz ihres Kindes. Was für eine Enttäuschung sie beide waren.

Aleia ballte langsam eine Faust und zerknüllte das Testament darin. Dann hielt sie den Brief über die Kerzenflamme und sah zu, wie die Glut die Worte der Königin zerfraß.

Amaran rückte die Kapuze mit dem dichten Gesichtsnetz zurecht und hob dann vorsichtig den Holzdeckel des summenden Kastens an. Die heiße Sommerluft lag zäh wie Sirup über dem Tempelgarten und Rinnsale aus Schweiß rannen zwischen seinen Schulterblättern hinab. Das hohe Gras knisterte unter seinen Füßen, als er Honigrahmen und Nisthöhle inspizierte.

“Da bist du ja!” flüsterte er schließlich triumphierend, während eine Traube von pelzigen Körpern ihm den Blick auf die Jungkönigin freigab.

Zufrieden zog er sich zurück, schloss den Deckel und entfernte sich von den aufgebrachten Drohnen, bevor er sich die Kapuze endlich vom Kopf zog. Die Jungkönigin hatte mit dem Eierlegen begonnen, es gab keinen Grund, sich noch weiter zu beunruhigen.

Amaran wischte sich den Schweiß von der Stirn, sein blondes Haar klebte an seinen Schläfen. Die Blumen und Kräuter in ihren Hochbeeten wiegten sich in einem ofenheißen Lufthauch und verströmten nicht nur für die Bienen einen betörenden Duft. Das Rauschen des Waldes übertönte für einen Moment sogar das emsige Summen der Arbeiterinnen.

Amaran streckte sein Gesicht der heißen Sonne entgegen und ein zaghaftes Lächeln schlich sich in seine Züge. Dann rollte das dumpfe Dröhnen des Tempelgongs über die Gärten hinweg und ließ ihn erstarren.

Grüppchen von grün gewandeten Priestern, Novizen und Schülern drängten sich um ihn herum der Andachtshalle entgegen. Amaran schwitzte jetzt auch ohne seine Schutzkleidung. Seine Beine bewegten sich wie durch tiefen Morast und seine Füße hoben sich nur widerwillig. Eine kleine Elfe mit bodenlangen Zöpfen warf ihm einen neugierigen Blick zu, aber verschwand dann wieder zwischen ihren Freundinnen. Amaran kniff die Augen zusammen und zwang sich zu einem Schritt nach dem anderen. Allein der Gedanke an die vielen atmenden Körper in der kerzenerleuchteten Halle schnürte ihm die Luft ab. Die Priesterroben drängten sich immer näher um ihn, vor seinem inneren Auge warfen die Kinder von Kanarkad Blumen auf ihren Weg und die Fanfaren riefen zur Gefechtsordnung.

“Der Geister Gunst die Priesterin wob, zum Kampfgetümmel in größter Not.” Amaran blieb unvermittelt stehen. Ein Novize rempelte gegen seine Schulter und brummte unleidlich, aber Amaran drehte sich nicht einmal um. Ariës Stimme wehte aus dem schmalen Fenster ihrer Zelle auf den Innenhof hinaus. “… mit des Drachen blinder Wut, zu siegen mit ungebrochenem Mut …”

Der Gesang erstickte in einem Kichern. Eine andere Stimme, vermutlich Kalistas, brummte unleidlich. Amaran konnte ihr raues Flüstern nicht verstehen, nur Ariës leises Lachen perlte auf den sonnenheißen Hof hinaus.

Er bewegte sich immer noch nicht von der Stelle. Ein paar Nachzügler hasteten um ihn herum der Abendandacht entgegen.

“Also, ich wäre weniger wählerisch, wenn es um meine Heldengeschichten ginge …”

Amarans Herzschlag raste. So viele Einzelheiten des Kampfes um Kanarkad waren nur noch eine Randnotiz in den Berichten des Hohen Rates. Ein blinder Fleck in ihrer aller Erinnerung, durch den Bann des Vergessens ausgelöscht.

Aber die Geschichte der Priesterin, die den Drachen besiegt und Kanarkad gerettet hatte, war unwiderstehlich in das allgemeine Bewusstsein eingebrannt. Eine Priesterin hatte den Schattenkrieg begonnen und eine Priesterin hatte ihn beendet. Die Wahrheit kümmerte kaum jemanden.

Seine Füße entwickelten ein Eigenleben und Amaran schob sich näher an das Fenster heran, sein Magen verkrampft, blind und taub für alles andere. Kalistas Zimmer war mit Ariës verbunden worden. Die Traditionen des Tempels hielten kaum Stand, wenn die Retterin von Kanarkad einen Wunsch äußerte. Beide Fenster waren weit aufgerissen, um die kühlere Abendluft einzufangen. Er schlich sich im Schatten der Tempelmauer an wie ein Dieb. Kalista saß in ihrem Räderstuhl – eine spezielle Aufmerksamkeit des ‘Forschungskomitees‘ aus Kanarkad – an ihrem Tisch und blickte in einen kleinen Spiegel, der einzige Schmuck ihrer kahlen Zelle. Auf der Tischplatte stand eine Schüssel mit Suppe und ein hölzerner Löffel bewegte sich in gleichmäßigen Schleifen auf und ab, nur von ihren Gedanken gelenkt. Gleichzeitig versuchte Kalista, mit der linken Hand die hüftlangen, karamellblonden Zöpfe zu entwirren, die über ihre Schulter herunterfielen. Arië saß am Fußende ihres gemeinsamen Bettes, einen Stapel Briefe im Schoß, aus denen sie abwechselnd vorlas. Es war ein eingespieltes Ritual, ein blasser Hauch von Routine.

‘Geh einfach rein und sprich mit ihr!’ schalt er sich im Stillen.

Amaran schüttelte unglücklich den Kopf. Er vermisste Kalista und mehr noch vermisste er das Gefühl von Normalität, das irgendwo auf dem Schlachtfeld vor Kanarkad in ihm gestorben war. Er wünschte, er könnte sie einen einzigen Moment ansehen, ohne dass der schreckliche Verlust sein Herz durchbohrte.

Amaran ballte die Fäuste, konzentrierte sich auf das Knacken seiner Knöchel, um sich zu sammeln. Er sollte nicht hier sein, er sollte in der Abendandacht sein, seinen Geist zur Ruhe bringen in der Kommunikation mit den Geistern der Erde, er sollte …

“Hey, Amaran! Was machst du denn da?”

Amarans Lider flogen auf und er starrte durch das Fenster, genau in Ariës erstauntes Gesicht. Sie hatte die Briefe beiseitegelegt und sich halb vom Bett erhoben, aber nun hielten sie beide atemlos inne. Amaran räusperte sich, aber brachte keinen Ton heraus. Kalistas Löffel klapperte in die Holzschale, als sie sich zu ihm umdrehte. Arië schwang die Beine über die Bettkante und blinzelte skeptisch zu ihm auf, eine kleine Falte zwischen den Sommersprossen auf ihrer Nase.

“Möchtest du nicht reinkommen? Es ist noch Brot und Suppe übrig.”

Amarans Herz pochte bis in seinen Kehlkopf hinauf.

“Ich …”

Er räusperte sich verzweifelt. Dann zwang er seinen Kopf herum und begegnete Kalistas fragendem Blick. Er versuchte, sich an ihren grauen Augen festzuhalten, die ihn mit ihrem unveränderten Ausdruck musterten.

“Ähm …”, setzte er wieder an, auch diesmal ohne Hoffnung, ein weiteres Wort herauszubringen.

Arië gab ein unbestimmtes Geräusch von sich, aber Kalista sah nur stumm und unverwandt in sein schweißnasses Gesicht. Amaran strich sich nervös das Haar aus der Stirn, dann verfing sich sein Blick doch wieder an dem leeren Ärmel ihres grünen Kleids, der schlaff an ihrer Seite herunterbaumelte wie eine stumme Anklage. Ohne dass er es verhindern konnte, schoben sich die wütend roten Verbrennungsnarben in sein Sichtfeld. Rotschwarze Wucherungen zerstörter Haut, die vom Halsausschnitt der Robe aus Kalistas gesamten Nacken überzogen, ihr rechtes Ohr nur noch ein vernarbtes Geschwür. Vor seinen Augen zerfielen ihr Arm und ihr Stab unter seinen tastenden Fingern zu Asche in einem eisigen Meer aus Flammen.

Amaran schwankte und Kalista ließ ihre Haarbürste fallen, streckte ihre Hand nach ihm aus, hilflos über die trennende Distanz hinweg. In ihren Augen schimmerten Tränen. Arië sprang auf die Füße und war in zwei langen Schritten am Fenster, direkt vor ihm.

“Entschuldige uns kurz!”

Amaran blinzelte immer noch schwindlig, als sie kurzerhand aus dem Fenster kletterte und ihn am Ärmel nahm. Sie zog ihn bis fast zum Ende des Hofes, dann gab sie ihm einen Stoß, der ihn an die Außenwand der Andachtskammer zurückdrängte. Das leise Murmeln von Gebeten durchdrang die Luft, während sie sich vor ihm zu ihrer vollen Größe aufrichtete. Im laubgrünen Funkeln ihrer Augen spiegelte sich mehr Hilflosigkeit als Verzweiflung und mehr Ungeduld als Trauer.

“Du musst endlich damit aufhören, um sie herumzuschleichen wie ein geprügelter Hund. Klopf einfach an die Tür und rede mit ihr!”

Ihr aufgebrachtes Flüstern verdrängte die wirren Bilder aus Schnee und Feuer aus seinem Geist und er schnaubte sarkastisch.

“Und was soll ich sagen?”

Arië seufzte.

“Was weiß ich? Frag sie wie ihr Training heute war, erzähl ihr was du den ganzen Tag tust. Von mir aus verbreite den neusten Tempelklatsch, irgendwas!”

“Das kann ich nicht.”

Amaran fühlte die Worte in der Trostlosigkeit aufsteigen und verzog den Mund, um das Zittern seines Kiefers zu verbergen. Arië legte den Kopf schief. Ihre Schultern entspannten sich und sie griff nach seiner Hand.

“Warum nicht?”

“Weil alles, was ich sagen könnte, belanglos und nichtig ist.”

Arië zog überrascht die Nase kraus.

“Verglichen mit was? Verglichen mit dem, was ihr beide durchgemacht habt, wird für alle Zeiten alles nichtig und belanglos sein. Aber sich ständig daran zu erinnern, ist doch auch keine Lösung.”

Amaran lachte freudlos.

“Glaub mir, wenn es so leicht wäre …”

Arië zog ihre Hand zurück und wies in Richtung ihres Fensters.

“Ich sage nicht, dass es leicht ist. Aber so kann es nicht weitergehen!”

Amaran zog verärgert die Brauen zusammen.

“Wenn du mich nicht in ihrer Nähe haben willst, dann sag das einfach.”

“Weil ich eifersüchtig bin, meinst du?” Arië schniefte entnervt. “Tu nicht so, als würdest du das wirklich glauben. Ich will nur, dass es ihr besser geht.”

“Das will ich auch.”

“Dann sprich mit ihr!” Auf der anderen Seite des Innenhofes schlug eine Tür und sie zuckten ertappt zusammen. Dann hob Arië den Kopf und sah ihm direkt ins Gesicht. “Kalista will leben, nach vorn sehen, eine Zukunft. Ich versuche zu helfen, so gut ich kann, aber sie hat nicht nur ihren Arm verloren, sondern auch ihren besten Freund.”

Ihre Stimme hatte einen bittenden Ton angenommen, der Amarans Herz zusammenzog. Er schluckte gegen die aufsteigende Schuld an, aber sie presste sich gegen seinen Willen aus ihm heraus.

“Ich konnte sie nicht aufhalten … oder beschützen … du verstehst das nicht…” Arië schnaubte müde.

“Oh, ich verstehe das nur zu gut.” Sie rieb sich mit dem Ärmel über das Gesicht. “Und ich weiß, dass niemand Kalista von irgendetwas abhält, das sie sich in den Kopf gesetzt hat. Weißt du, wie schwer es für sie ist, mitanzusehen wie du dich quälst?” Sie nahm Amarans Hand und drückte sie fest an ihre Brust. Ihr Herzschlag raste mit seinem um die Wette. “Wenn du sie wirklich lliebst…”, sie stolperte über das Wort, aber zwang sich es zu überspielen, “dann hilf ihr, ihren Frieden damit zu machen. Bitte!”

Er umarmte sie kurz, aber ihre Worte verhallten in der hoffnungslosen Leere.

“Wenn ich wüsste, wie das geht, würden wir diese Unterhaltung nicht führen”, flüsterte er und wandte sich ab.

Sie ließ seine Hand nicht los.

“Ich kann dir auch kein Geheimrezept verraten, aber wenn du es nicht über dich bringen kannst …” Sie seufzte, als wäre sie selbst nicht sicher, was genau ihm misslang. “Vielleicht ist es besser, du gehst fort? Zumindest für eine Weile?” Er starrte sie fassungslos an, aber sie rang sich ein schwaches Lächeln ab. “Such dir einen kleinen Tempel, in dem du zur Ruhe kommen kannst. Ich passe auf Kalista auf. Wenn du soweit bist, wird sie immer noch hier sein.

Versprochen!” Ihre schulterlangen roten Locken wippten, als sie sich ein paar zögerliche Schritte entfernte. Dann drehte sie sich noch einmal um. “Und vergiss nicht, zu schreiben.”

Sie rannte davon, den Quartieren der Priesterinnen entgegen, aber Amaran blieb einfach stehen, wieder einmal unfähig, sich zu rühren.

Erst brannte der Tempel und dann kam der Sturm. Die Nacht nach dem Feuer verbrachten sie in der alten, gemauerten Scheune unter einem Dach aus Sackleinen. Elys kauerte sich unter ihren klammen Wolldecken zusammen, ihr Kleid rußig und zerrissen, aber das einzige, das sie noch besaß. In der Dunkelheit hörte sie ihre Mutter weinen, leise und heiser, damit es niemand bemerkte. Elys Kopf schmerzte, ihre Augen brannten und ihre Lieder waren schwer wie Blei, doch sie starrte stur in die Schwärze der Nacht hinaus. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, toste der Wind um sie herum und Sofias Stimme gellte in ihren Ohren. Sie sah den Dachbalken fallen und ihre kleine Schwester darunter verschwinden, immer und immer wieder, die Arme ausgestreckt, die Augen aufgerissen, nur eine Handbreit entfernt, unerreichbar verloren.

Elys presste die Fäuste an die Ohren, um nicht laut herauszuschreien. Allein und verlassen wiegte sie sich langsam hin und her, entschlossen alles Gefühl aus ihrem Körper herauszupressen, bis sie leer war und hohl und still wie das Auge des Sturms.

Ein Funke entzündete sich in der dunkelsten Ecke der Scheune und Elys hob erschrocken den Kopf. Ein gleißendes Licht wuchs in den Schatten, streckte glühende Fühler nach ihr aus. Elys wich vor den goldenen Strahlen zurück, aus Angst sich zu verbrennen, einfach zu zerfallen, wie ihr Haus. Aber eine Stimme, sanft und voller Wärme erfüllte plötzlich ihre ganze Seele.

Hab keine Angst!

Elys seufzte auf. Die Stimme umarmte sie, wischte die Tränen fort und verscheuchte den Gestank von nasser Asche. Sie streckte beide Arme aus und erstarrte, als das Licht ihren Körper durchdrang. Staunend betrachtete sie ihre Fingerspitzen, zwischen denen Feuerfunken hin und her sprangen. Sie tastete nach dem Zentrum des Lichts und lachte leise, als ihre nackten Füße den Kontakt mit dem dreckigen Scheunenboden verloren.

Kapitel 1

Equinox

Die schwarzen Banner wehten träge auf halbmast im strömenden Regen, der den Paradeplatz vor den Toren des Schlosses in eine Matschgrube verwandelte. Das Rasseln der Waffen und Rüstungen der aufmarschierenden ‘Veteranen’ mischte sich mit dem Rauschen des Wolkenbruchs und den vergeblichen Versuchen der Militärkapelle, der Veranstaltung einen Rest Würde zu verleihen.

Ser Dagna rümpfte die Nase, während die Kutsche der Königsfamilie langsam in Sicht kam. Die Priesterin hatte das Gesicht hinter einem schwarzen Schleier verborgen und drückte ihre Brut an sich wie einen Schutzschild. König Korin starrte in den prasselnden Regen hinaus, als würde er schlafwandeln. Was für ein schwacher Auftritt für einen angeblich so triumphalen Anlass. Dagna wandte sich ab und winkte ihrem Schirmträger, ihr zu folgen. Der Rest dieses traurigen Aufmarsches war kaum noch ihrer Anwesenheit würdig.

“Nun, Ihr müsst zugeben, dass der Tod der alten Königin zu einem wenig opportunen Zeitpunkt eingetreten ist …”

Ser Dagna verkniff sich ein Seufzen. Die salbungsvolle Stimme von Ser Brontas, die durch die Tür zum Konferenzsaal drang, kratzte über ihre Nerven wie eine Nagelfeile. Es war nur ein kleines Detail im langen Sündenregister des Königs, aber dass seine verfehlte Politik diesem Taugenichts bei seinem Aufstieg zum Klanältesten der Minotauren behilflich gewesen war, nahm sie ihm persönlich übel.

Das Geflüster der Anwesenden verstummte, als sie mit Nachdruck die Tür aufschwang und mit einem ungeduldigen Gruß ihren Platz am Ende der Tafel einnahm. Ein prüfender Blick in die Runde ließ erkennen, dass immerhin ungefähr ein Drittel der Ratsältesten der Versammlung ihrer Einladung gefolgt war, darunter Ser Brontas und Ser Elosius, Anführer der Chimärenklans. Die Klanältesten der Gorgonen und Nephilim glänzten jedoch durch Abwesenheit, genauso wie die gesamte Delegation der Zyklopen. Aber von diesen gesteinsblinden Eigenbrötlern hatte sie auch nichts anderes erwartet.

Dagna warf ihre feuchten Lederhandschuhe auf den Tisch, als bereite sie sich auf eine Fehdeandrohung vor und räusperte sich nachdrücklich.

“Geehrte Ratsälteste, ich danke Euch, dass Ihr meiner Einladung so zahlreich gefolgt seid.”

“Es gab wohl kaum etwas zu bejubeln bei dieser Parade, selbst wenn der Hof nicht noch Trauer trüge für unsere verehrte Königinmutter”, kommentierte eine lispelnde Stimme aus den Reihen der Gorgonen und Dagna nickte zustimmend.

“Dass Korin es für angebracht hält, eine Fünfjahrfeier für den sogenannten Frieden von Kanarkad abzuhalten, zeigt nur, wie weit er sich bereits von den Nöten des Volkes entfernt hat.”

Das zustimmende Gemurmel in den Reihen der Ratsältesten verstärkte sich.

“Hört, hört!” murmelte Ser Brontas und Dagna brachte ein kurzes Lächeln in seine Richtung zustande.

Dann legte sie die Hände auf dem Rücken zusammen und versuchte, Ruvans Körperhaltung nachzuahmen, als sie bedächtig, aber bestimmt um den runden Tisch herumschritt.