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Während des Ersten Weltkriegs spielen einige Kinder in einem Maisfeld. Als es zu ersten unerklärlichen Ereignissen kommt will keines der Jungen und Mädchen wahrhaben, dass etwas Unheimliches vor sich geht. Erst als es zu spät ist bemerkt Konrad, der Anführer der kleinen Gruppe, dass etwas außer Kontrolle gerät ... (Die verschwundenen Kinder)
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Inhaltsverzeichnis
Die verschwundenen Kinder
Das Kryolithauge
Quintus
Impressum
Die Sonne stach vom Himmel, als hätten sich alle Sommer des Jahres, wie in einem Brennglas, an diesem Tag vereint. Am Horizont begannen sich allerdings dunkle Wolken aufzutürmen und das Land, das unter ihnen lag, in eine Schattenwelt zu verwandeln. Roland schwitzte in seinem Anzug und der Seesack auf seiner Schulter war schwer, als hätte seine Mutter ihn mit Steinen bepackt. Und doch hatte er nur das Nötigste mit, abgesehen von dem Brot, das seine Großmutter noch für ihn gebacken hatte, und der Speckseite aus dem Kamin und einem Glas eingemachter Birnen. Roland hatte versucht, das alles zurückzuweisen, doch seine Familie hatte Angst, dass er nicht genug zu essen bekam, dort, in der großen Stadt, in der Kaserne, wo man ihn auf den Krieg vorbereiten würde. Maschinengewehrschütze wollte er werden und den Feind niedermähen. Sogar sein älterer Bruder war neidisch. Der konnte aber nicht in den Krieg. Dazu war er zu kurzsichtig.
Roland sah die Kinder in dem Augenblick, als sie um die Biegung kamen. Das Sonnenlicht, das durch die dunklen Wolken brach, blendete ihn, sodass er die Kinder erst erkannte, als sie ein Stück näher gekommen waren. Bei den beiden Mädchen handelte es sich um Minna Läuber und Thea Sasse. Thea und Minna waren etwa gleich alt, vielleicht elf oder zwölf. Am Rockzipfel seiner Schwester hing natürlich Jost, Theas fünfjähriger Bruder, der immer den Eindruck erweckte, als wüsste er nicht, worum es ging, wenn jemand mit ihm redete. Der Älteste der kleinen Gruppe war Konrad, einer der fünf Buben vom Breul-Hof, wo Roland in den letzten Jahren jeden Sommer bei der Ernte ausgeholfen hatte. Die Bezahlung war von Jahr zu Jahr schlechter geworden. Je größer Roland wurde, je besser er zupacken konnte, desto weniger bekam er auf die Hand. Der alte Breul war eben ein Geizkragen, der sich auf die wirtschaftliche Lage hinausredete. Am liebsten würde er es sehen, wenn alle kostenlos für ihn arbeiten würden, so wie seine Buben und seine Frau.
Doch das alles war nun vorbei. Roland freute sich schon auf seinen ersten Urlaub. Dann würde er die Breuls auf ihrem Hof besuchen und guten Tag sagen, natürlich in seiner Uniform, und dem alten Breul würde die Kinnlade herunterfallen. Der Krieg machte eben etwas her mit seinen Uniformen und den blank geputzten Bajonetten. Und wenn man dann noch Maschinengewehrschütze war und vielleicht schon Offizier. Da glotzten nicht nur die Mädchen.
Die Kinder blieben stehen, als sie ihn sahen. Roland grüßte sie. Er stellte seinen Seesack ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte noch einen langen Weg vor sich bis zum Bahnhof, aber er brannte darauf, den Kindern von dem Abenteuer zu erzählen, das auf ihn wartete. Roland hatte für die Reise seinen Sonntagsanzug angelegt, weshalb ihm der Umstand, dass die Kinder ihre abgenutzte Alltagskleidung trugen, besonders auffiel. Josts Hose war an den Knien aufgescheuert. Der Kleine lief seit er ihn kannte verwahrlost herum, sogar seine immer etwas zu langen Haare waren wieder fettig. Die einzige Entschuldigung war, dass Thea sieben Geschwister hatte. Da konnte man nicht jeden per Hand in den Zuber stecken.
„Wo willst du denn hin?“, fragte Konrad.
Für einen zwölfjährigen Jungen hatte er ein ziemlich kantiges Gesicht und einen fast aufdringlichen Blick. Wie der Vater.
„Zum Bahnhof.“
Roland spuckte ins Gras und sah in die Ferne, als würde er ein großes Geheimnis mit sich herumtragen. Es machte ihm Spaß, die Katze nicht gleich aus dem Sack zu lassen.
„Was willst du denn am Bahnhof?“, fragte Thea.
Roland grinste und sah ihr in die wasserblauen Augen, die ungemein aufmerksam und klar waren. Ein hübsches Mädl, dachte er. Die langen, dunkelblonden Zöpfe fand er allerdings zu kindlich. In ein paar Jahren würde sie die Zöpfe lösen und dann den Jungs den Kopf verdrehen. Wenn es soweit war, konnte er schon ein paar Geschichten aus dem Krieg erzählen, Geschichten aus dem Schützengraben und vom Vormarsch nach Paris. - Wenn er dann noch am Leben war. Aber darüber mochte er nicht nachdenken.
„Gehts euch was an?“, fragte Roland und hoffte, die Kinder würden nicht aufgeben, ihm sein Geheimnis zu entlocken. Das Geheimnis, dass er in den Krieg zog und dass er vielleicht fürs Vaterland fallen würde. Dann würden sie alle sagen: Wir haben ihn nochmal getroffen, den Roland, und jetzt ist er tot, und liegt in einem Heldengrab.
Minna zog ihre Nase kraus und sah ihn herausfordernd an. Ihre Sommersprossen traten immer deutlicher hervor, je älter sie wurde.
„Wirst du jetzt Knecht auf einem anderen Hof?“, fragte sie.
„Knecht“, plapperte Jost nach. „Was macht man als Knecht?“
„Halt du's Maul“, sagte Roland an den Kleinen gewandt, und Jost trat sofort näher an seine große Schwester heran, die ihn, das wusste er, beschützen würde. Roland lies er dabei keine Sekunde aus den Augen.
„Wir haben genug zu tun auf dem Hof. Da wird jeder Mann gebraucht.“
Thea sah ihn noch immer aufmerksam an und spielte unsicher mit einem ihrer Zöpfe.
„Wo willst du dann hin?“, fragte sie und wies mit dem Kopf auf den Seesack.
„Kommt“, fuhr Konrad dazwischen ohne Rolands Antwort abzuwarten. Er schlug dabei denselben Befehlston an, der seinem Vater zur Gewohnheit geworden war. Doch dann zögerte der Junge und sah Roland an, als müsste er eine Erklärung abgeben: „Wir wollen spielen. In dem großen Maisfeld. Gleich hinter dem Waldstück.“
„Ich werd' Soldat“, sagte Roland schnell, ehe ihm sein kleines Publikum abhanden kam.
„Soldat?“, platzte es aus Thea heraus, dabei bekam sie ganz große Augen.
Roland nickte und sah sie so verwegen an wie möglich.
„Soldat“, wiederholte er. „Unser Vaterland ist seit fast einem Jahr im Krieg. Da hat man schließlich eine Pflicht. Und der Pflicht fürs Vaterland darf sich keiner entziehen.“
„Und wenn sie dich totschießen?“, fragte Thea.
„Den schießt schon keiner tot“, meinte Konrad lapidar.
Sogar im Gesicht der rothaarigen Minna, die ihn, wie jeden anderen Erwachsenen, misstrauisch anglotzte, hatte sich soetwas wie Anerkennung breitgemacht.
„Auf dem Feld der Ehre zu sterben ist keine Schande“, sagte Konrad und hatte das Gefühl, die Kinder um mehr als nur einen halben Meter zu überragen. „Als deutscher Soldat hat man tapfer
zu sein. Vor allem, wenn das Gas kommt. Feigheit ist eine Sache der Franzmänner.“
„Gas?“, fragte nun sogar Konrad interessiert.
„Giftgas“, erwiderte Roland. „Das stinkt wie Scheiße und man ist sofort tot, kaum dass man es eingeatmet hat.“ Die Kinder ließen ihn nicht aus den Augen. „Aber dagegen gibt es etwas. Gott sei Dank. Gasmasken. Wenn man die vor dem Gesicht hat, dann sieht man aus wie ein Ungeheuer.“
„Ein Ungeheuer?“, fragte Jost.
„Mit riesigen Augen und einer langen Nase.“
„Hast du so eine Gasmaske dabei?“
Minnas Stimme war nun etwas belegt, so beeindruckt war sie von Rolands Schilderungen.
„Die bekomme ich in der Kaserne. Mit der ganzen Ausrüstung.“
„Bekommst du auch eine Uniform?“
„Natürlich“, erwiderte Roland mit einem lässigen Lächeln, als wäre Minnas Frage eigentlich überflüssig.
„Siehst bestimmt gut aus in einer Uniform“, meinte Thea und kicherte.
Auch Minna begann zu kichern und die beiden Mädchen wurden ein wenig rot. Konrad schien sich plötzlich zu ärgern. Vielleicht, weil er nicht mehr im Mittelpunkt stand. Vor ein paar Minuten noch hatte er die Mädchen ganz für sich gehabt.
„Das Feld der Ehre ist nichts anderes als ein großer Friedhof“, meinte Konrad fast vorwurfsvoll. „Alles andere sind Sprüche des Kaisers.“
Roland funkelte ihn an.
„Hast du das von deinem Vater?“
„Und was sagen deine Eltern dazu, dass du Soldat wirst?“, fragte Thea.
„Die musst du fragen“, mischte sich nun auch der kleine Jost wieder ein. „Du darfst nicht einfach davonlaufen.“
„Meine Mutter ist natürlich gefühlig. So ist das bei den Frauen. Aber mein Vater, der ist ganz stolz auf mich. 'Gib dem Franzmann Saures' hat er gesagt.“
„Was hast du gegen die Franzosen?“, fragte Konrad nun wieder in einem vorwurfsvollen Tonfall und starrte dabei hinunter auf den Feldweg, wo er einen kleinen Stein mit dem Fuß traktierte.
„Pass auf, was du sagst.“
Roland hatte plötzlich das Gefühl, die Soldaten im Feld in Schutz nehmen zu müssen vor dem aroganten Breul-Buben, der aus einer Familie kam, die keine deutsche Gesinnung hatte.
„Meine Mutter hat eine Cousine“, fuhr Konrad selbstbewusst fort. „Die lebt in Paris. Und die schreibt nur Gutes über die Menschen dort. Jetzt hat sie aber schon lange nicht mehr geschrieben.“
„Weil man sie eingesperrt hat“, erwiderte Roland hart.
„Eingesperrt?“, fragte Minna erschrocken. „Warum denn?“
„Die Franzmänner mögen die Deutschen nicht. Also schickanieren sie alle Deutschen, wo es nur geht. Damit wird aber bald Schluss sein.“
„Hat dein Vater keine Angst um dich?“
Thea sah ihn ernst an.
„Ich denke schon“, sinnierte Roland. „Aber als Mann darf er das nicht zeigen.“
Theas Frage hatte sich Roland auch schon gestellt, deshalb sah er wieder tiefgründig in die Ferne. Die wasserblauen Augen des Mädchens, die so durchdringend auf ihn gerichtet waren, begannen ihn zu verunsichern, also warf er sich den Seesack wieder über die Schulter.
„Ich muss weiter. Der Zug wartet nicht.“
Die Kinder machten ihm, dem zukünftigen Soldaten, Platz. Plötzlich hörte er Konrads Stimme hinter sich.
„Roland.“
Roland drehte sich um.
„Was gibt’s?“
„Mir wäre es lieber, du würdest mitkommen und würdest mit uns im Feld spielen. - Ich hoffe, sie schießen dich nicht tot.“
Roland spürte unvermittelt, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Die Tränen kamen so überraschend, dass er nichts dagegen tun konnte. Er räusperte sich, dann ging er weiter auf seinem Weg zum Bahnhof, ohne sich noch einmal umzudrehen. Damals wusste er noch nicht, dass er keines der Kinder je wiedersehen würde.
Vor ihnen erstreckte sich ein riesiges Maisfeld, das größte, das es in diesem Sommer in der Gegend gab. Die Maisstängel waren kräftig und die Furchen groß genug, um durchzurennen. Es war ein Feld, in dem man sich hervorragend verstecken konnte. Das Feld grenzte direkt an das kleine Waldstück, das sie eben hinter sich gelassen hatten. Es war Thea gewesen, die den Vorschlag gemacht hatte, sich nach der Schule zu treffen und zu diesem Feld zu gehen. Für Thea gab es nichts Schöneres, als in einem Maisfeld Verstecken zu spielen und Konrad war es egal, was sie machten, Hauptsache Thea machte mit. Blöd nur, dass ihr jüngster Bruder Jost immer mit dabeisein musste. Ganz gleich, wo Thea hinging und was sie machen wollte, ihre Mutter bestand darauf, dass sie den Kleinen mitnahm. Mit Minna, Theas bester Freundin, konnte sich Konrad noch abfinden, die war schließlich schon fast zehn, also nicht viel jünger als Thea. Der kleine Jost allerdings, der war eigentlich zu blöd, um Verstecken zu spielen. Wenn Konrad es genau bedachte, war Jost zu blöd für alles. So guckte er auch schon, wenn er nur in der Gegend herumstand.
Kaum hatten sie das Feld erreicht, begannen die Mädchen Blumen zu pflücken, die am Feldrand wuchsen, vor allem Kornblumen, die Thea gerne zu einem Kranz band. Konrad sah dem Treiben eine Weile zu, Jost stand neben ihm.
„Wir wollten doch Verstecken spielen“, beschwerte sich Jost.
„Mädchen eben“, gab Konrad etwas großspurig zurück.
„Mädchen“, wiederholte Jost, als wüsste er, worum es ging.
„Fangen wir jetzt an?“, fragte Konrad. „Sonst gehe ich wieder nach Hause.“
Er hatte eigentlich keine Hemmungen Befehle zu erteilen. Das war einfacher, als zu gehorchen, fand er. Doch Thea gegenüber war er immer etwas zurückhaltender. Mit ihr wollte er es sich nicht verscherzen.
Die Mädchen legten die Blumen zur Seite, dann stellten sich alle im Kreis auf. Konrad bereitete drei verschieden lange Grashalme vor, und jeder musste einen ziehen, was Jost natürlich nicht gleich verstand. Erst als Thea ihm ein weiteres Mal erläutert hatte, weshalb er einen Grashalm ziehen musste, wurde ihm klar, worum es ging. Am Ende blieb der kürzere Grashalm für Konrad übrig, was bedeutete, dass die anderen sich verstecken durften, und er musste sie suchen. Noch ehe Konrad sich ganz umgedreht hatte, stürzten die Mädchen ins Feld. Der kleine Jost rannte hinterher und wäre fast in dem Abwassergraben, der zwischen dem Feldweg und dem Maisfeld lag, auf die Nase gefallen.
Konrad schloss die Augen und zählte laut bis zehn. Das Maisfeld war so riesig, es konnte ewig dauern, bis er die drei fand. Ärgerlich war auch, dass der kleine Jost beim Versteckspielen nie bei Thea blieb, sonst hätte er beide auf einen Schlag erwischen können. Den ganzen Tag über konnte man den Kleinen kaum vom Rockzipfel seiner Schwester losbekommen, aber im Maisfeld lief er herum, als hätte er vor nichts Angst.
'Der war mal eine Feldmaus', hatte Thea einmal gesagt. 'Deswegen fühlt er sich so wohl im Feld.'
Thea war schon ein großartiges Mädchen. Jeder glotzte ihr nach, sogar sein Vater starrte sie dauernd an, wenn Thea mal zu ihnen kam, oder wenn sie die Sasses in der Kirche trafen. Dabei konnte sie vom Alter her seine Tochter sein. Aber sein Vater glotzte sowieso jedem Rockzipfel nach, das wusste Konrad von seiner Mutter.
„Wo bleibst du?“
Minnas kratzige Stimme, die aus einiger Entfernung kam, schreckte Konrad auf. Er drehte sich um, und schon sah er an einer Stelle, nicht weit vom Weg entfernt, ein paar der Maisstängel wackeln. Sofort sprang er darauf zu, preschte ins Feld und rannte eine Furche entlang. Doch an der Stelle, die er ausgemacht hatte, war niemand. Konrad lauschte. Nichts. Nur das Summen der Insekten und der einsame Ruf eines Eichelhähers waren zu hören. Hoch über dem Feld lauerte vor dem blauen Himmel ein Habicht auf Beute und zog dabei seine Kreise.
Konrad schlich von Furche zu Furche und spähte die Reihen hinab. Viele der Hülsen waren aufgeplatzt und die gelben Kerne der Maiskolben drängten heraus. Im Feld staute sich die Hitze des Sommers und die Sonne warf helle Flecken und Streifen auf den Ackerboden. Die drei waren auf geradezu unheimliche Weise verschwunden. Konrad atmete ganz flach und lauschte. Er war sich sicher, dass die Mädchen irgendwann kichern würden, oder dass Jost anfangen würde zu flüstern. Jost konnte kaum länger als eine Minute den Mund halten. Doch es blieb bei der lastenden Stille des Sommers.
Konrad legte sich flach auf den Boden und schloss die Augen. Er konzentrierte sich auf jedes Geräusch. Eine Stechmücke setzte sich auf seine linke Hand und er wischte sie weg ehe sie ihren Stachel in seine Haut treiben konnte. Da sah er etwas aus dem trockenen Ackerboden herausragen. Ein dünner ausgebleichter Knochen. Er zog ihn heraus. Der Knochen war nicht sehr groß. Vielleicht von einem Vogel. Konrad drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und schnippte ihn dann weg.
Vor ein paar Tagen waren sie schon einmal hier gewesen und hatten Verstecken gespielt. Dabei hatte er sich zusammen mit Thea hinter unregelmäßig gewachsenen Maisstängeln verborgen, die einigermaßen Schutz vor boten. Thea war ganz dicht bei ihm gewesen und er hatte die Seife auf ihrer Haut gerochen, und in ihrem Haar hatte sich gelber Staub von den Maisblüten abgesetzt. Manchmal kitzelte ihn ihr Atem an der Wange. Für ein Vaterland würde er nie sterben, dachte Konrad, und sah Roland vor sich, mit seinem Seesack und seinem Sontagsanzug. Für Thea schon. Wenn Thea einmal den Entschluss fassen würde nur einen Soldaten zu heiraten, dann musste er eben Soldat werden, und zur Not auch in einen Krieg ziehen. Wie die beiden Mädchen Roland angesehen hatten. Thea. Von ihr hätte er das am allerwenigsten erwartet. Konrad spürte erneut soetwas wie Eifersucht in sich aufsteigen.
Ein Schrei. Konrad blieb fast das Herz stehen. Er klang wie der Schrei eines Tieres, wild und ängstlich, doch Konrad wusste sofort, dass es Jost war. Er fuhr hoch, spähte blitzschnell, durch die Maisstängel hindurch. Nichts. Wieder ein Schrei. Ängstlich, verzweifelt. Dann hörte er Jost weinen. Schließlich drang Theas Stimme zu ihm. Sie versuchte ihren Bruder zu beruhigen.
„Du Spinner“, schimpfte Minna dazwischen.
Als Konrad in das Sonnenlicht hinaustrat, standen die beiden Mädchen bei Jost, der auf dem Boden kniete.
„Ich schwörs“, schrie Jost verzweifelt, seine Wangen waren nass von Tränen.
„Was ist denn?“, fragte Konrad.
„Er hat ein Ungeheuer gesehen“, meinte Minna und verdrehte dabei die Augen.
„Ich schwörs.“
So aufgelöst hatte Konrad den kleinen Quälgeist noch nie gesehen. Thea sah ihren Bruder fast feindselig an.
„Er ist aus dem Feld gerannt wie ein Hase auf der Flucht“, meinte sie und die Ungeduld nicht weiterspielen zu können war deutlich herauszuhören.
Der Kleine wischte sich den Rotz von der Nase.
„Wie sah das denn aus?“, fragte Konrad. „Dein Ungeheuer.“
Jost antwortete nicht.
„Wenn du eins gesehen hast, dann musst du auch wissen, wie es aussieht“, drängte Thea.
Minna stemmte beide Hände in die Hüften. Sie war richtig wütend und wirkte dabei fast hässlich.
„Sag schon. Hat es einen langen, buschigen Schwanz gehabt, dann war's nämlich ein Fuchs.“
„Es gibt keine Ungeheuer“, raunzte Konrad.
„Doch“, beharrte Jost.
„Nur im Märchen“, meinte Thea. „Jetzt beruhig dich und lass uns weiterspielen.“
„Ein bisschen sieht es aus wie ein Mensch“, meint Jost und zog den Rotz hoch. „Und es hat riesige Augen.“
Plötzlich herrschte eine mit Händen greifbare Stille.
„Wenn es ein fremder Mann war, müssen wir sofort nach Hause gehen“, meinte Minna unsicher. „Meine Mutter hat gesagt, die machen ganz schlimme Dinge mit Kindern.“
Jost sah sie mit offenem Mund an.
„Hör doch auf.“
Thea gab ihrer Freundin einen Stoß.
„Hat das Ungeheuer was gesagt zu dir?“, fragte Konrad.
Jost schüttelte den Kopf.
„Und warum haben wir es nicht gesehen?“, fragte Thea.
„Das war bestimmt nur ein Schatten“, versuchte Konrad den Kleinen zu beruhigen.
Auch er hegte die Befürchtung, dass das Spiel zu Ende sein könnte, noch ehe es richtig angefangen hatte. Und wenn Jost seinen Eltern etwas von einem Ungeheuer erzählte, das aussah wie ein Mensch, dann war es für diesen Sommer sowieso vorbei mit dem Spielen im Maisfeld.
„Jost. Jetzt hab dich nicht so“, bat Thea nun deutlich sanfter und nahm ihren kleinen Bruder an der Hand. „Du bleibst einfach bei mir. Oder willst du nach Hause?“
Jost schüttelte den Kopf.
„Vielleicht war's der Franzmann“, scherzte Minna.
„Dann sollten wir uns schnell verstecken“, erwiderte Konrad, und als Thea lachte, brachte auch Jost ein Lächeln zustande. Es war zwar ein unsicheres Lächeln, doch immerhin sah der Quälgeist nicht mehr so aus, als würde er jeden Augenblick wieder losheulen.
„Zähl nochmal“, bat Thea.
Konrad begann mit geschlossenen Augen erneut zu zählen, dabei hörte er das Rascheln der Maispflanzen, als die drei hinter ihm wieder im Feld verschwanden.
„Zehn.“
Er drehte sich um. Unwillkürlich ließ er seinen Blick über die Spitzen der Maisstengel schweifen. Ein Ungeheuer müsste man doch sehen, dachte er, oder hören, und fand den Gedanken im selben Augenblick albern. Vielleicht war das vermeintliche Ungeheuer ja eine Vogelscheuche gewesen, daran hatten sie überhaupt noch nicht gedacht. Doch in einem Maisfeld gab es eigentlich keine Vogelscheuchen. Der kleine Dummkopf hatte geträumt, das war alles. Oder er hatte wirklich einen Fuchs gesehen.
Konrad tauchte etwa an der Stelle ins Maisfeld ein, an der er es mit geschlossenen Augen hatte rascheln hören. Vielleicht saßen Thea und Jost ja gleich in der Nähe des Weges, doch er sah niemanden. Die langen Furchen waren leer. Konrad drang tiefer in das Feld vor. Er scheuchte einen Hasen auf, der wie der Blitz von ihm wegschoss und zwischen den Maispflanzen verschwand. Am Himmel zeigten sich immer mehr dunkle Wolken. Sie schienen die Hitze gegen die Erde zu drücken. Das Summen der Insekten und das Zirpen der Grillen wurde eigenartig Intensiv.
Auf seinem Weg durch das Feld konnte auch Konrad nicht verhindern, dass die langen, harten Blätter und die Maiskolben sich bewegten und dasselbe aufdringliches Geräusch verursachten, durch das er die anderen zu finden hoffte. In einiger Entfernung glaubte er plötzlich, Theas blaues Kleid durch die hohen Maispflanzen hindurchschimmern zu sehen.
Sofort rief er: „Gleich hab ich dich“, und rannte los.
Im letzten Sommer hatte er Thea zu Boden geworfen und hatte sich auf sie gelegt. Er wusste bis heute nicht, was damals in ihn gefahren war. Sie waren wie wild im Heu herumgesprungen, in der Scheune, auf dem Hof von Theas Eltern, und plötzlich hatte er sie gestoßen. Thea hatte sich ganz ruhig verhalten, während er genauso reglos auf ihr lag. Plötzlich hatte er sich unendlich geschämt. Das wollte er damals aber nicht zugeben, also hatte er sich einfach zur Seite gedreht und eine blöde Bemerkung gemacht.