Die Verteidigung der Träume - Luc Jochimsen - E-Book

Die Verteidigung der Träume E-Book

Luc Jochimsen

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Beschreibung

Die Unbestechliche Luc Jochimsen, die unbequeme Journalistin, Panorama-Moderatorin, HR-Chefin und Kulturpolitikerin, zieht die Bilanz eines ganz und gar ungewöhnlichen Lebens. Ihre Autobiographie schildert den Weg einer stets unangepassten Frau, die ihren Traum von einem gerechten und guten Leben für alle stets verteidigte. Sie war überall die erste Frau: als Fernsehjournalistin, in der Panorama-Redaktion, in der Chefredaktion des Hessischen Rundfunks. In der Nachkriegsmännerwelt des Journalismus setzte sie sich mit ihrer unbequemen linken Haltung, die immer die Schwachen der Gesellschaft stützte, durch und wurde zu einer der bekanntesten Journalistinnen Deutschlands. Von 2005 bis 2013 saß sie für die Linkspartei/PDS im Deutschen Bundestag und machte auch dort mit streitbaren Aktionen von sich reden. Ihre Autobiographie schildert das Leben einer stets unangepassten Frau, die ihren Traum von einem gerechten und guten Leben für alle stets verteidigte. "Traum ist von Tat nicht so verschieden, wie mancher glaubt." Theodor Herzl

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Seitenzahl: 487

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Luc Jochimsen

Die Verteidigung der Träume

Autobiographie

Inhaltsübersicht

Meine Eltern

Kriegsschauplatz 1

Kriegsschauplatz 2

Kerezstanya/Die Taufpatin

Kriegsschauplatz 3

Lektion in der Schule

Das Tagebuch

Die Stunde null

Waffenstillstand

Geld

Schöne neue Zeit

Währungsreform

Junges Europa

Mein Hessen

Amerika, Amerika

Zurück ins Alte

Männer

Die Schizophrenie der frühen Jahre

Das Jahr 1956

Uni Hamburg

Die Eltern

Doktorarbeit

Das Jahr 1961

Tod und Leben

Hofstaat Hamburg

Ode an mein Kind

Reisen nach Osten

»Gedanken über Vergangenheit und Zukunft« oder Besuch bei Eduard Schewardnadse

HELTER SKELTER

Beate Klarsfeld 1

Anstiftung zur Veränderung

Radikalenerlass

Scheidung

Panorama 1

Ode an Maja

Oskar Lafontaine

Panorama 2

Venedig, Venedig

Ein DDR-Film und seine Folgen

Zwei Preise, ein Skandal

Das Rheingold

Abschied von Kindheit und Jugend

Nach Hause, nach Hause!

Oh, what a lovely Battle!

Beate Klarsfeld 2

Das 89er Jahr

Auf dem Karussell

»3, zwei, eins«

Einigungsprozess

Stefan Heym, Alterspräsident

Die rot-grüne Zeit

Arquà Petrarca

Nach Wien

Venedig

Zurück in die Kirche

Zurück zu Herzl

Ein Fest, ein Fest, ein Fest

Helter Skelter: Bundestag

Die Entdeckung des Ostens

Kampf ums Ja

Beate Klarsfeld 3

Alter

Reprise 1 – Fremd im eigenen Land

Reprise 2 – Stefan Heym, Alterspräsident

Abschied und neuer Raum

Personenregister

Bildteil

Bildnachweis

Informationen zum Buch

Über Luc Jochimsen

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Meine Eltern

Mut hatten sie, der Adolf Schleußinger und die Anna Barbara Kreß, vor allem Mut.

Wer zieht schon als Realschüler mit knapp 18Jahren freiwillig in den Ersten Weltkrieg –und kommt ein halbes Jahr später von der Front zurück, entschlossen, von nun an ein internationales, ziviles Leben zu führen– frei nach Edgar Allan Poe: Nevermore Untertanengeist, Vaterlandspopanz und akademisches Traditionsgehabe. Nevermore.

Mein Vater: Jahrgang1900, Sohn eines königlich-bayerischen Vermessungsoberamtmanns, geboren und aufgewachsen in der hintersten Krähwinkelprovinz: Neunburg vorm Wald, Dinkelsbühl, Schwabach. Und wer heiratet als hübsche 19-Jährige ohne nennenswerte Schul- und Ausbildung einen reichen Fabrikantensohn und lässt sich 13Jahre später (1933!) einfach scheiden, weil ihr das Dasein im »goldenen Käfig« nicht mehr behagt, entschlossen, von nun an ein unabhängiges eigenes Leben zu führen, auch um den Preis, dass das einzige Kind beim Vater und das als Mitgift eingebrachte Vermögen in der Firma des Mannes zurückbleibt? Meine Mutter: Jahrgang1901, Gastwirtstochter aus Nürnberg.

Im Sommer 1935 treffen sich die beiden, auf eine Bekanntschaftsannonce hin, im Kurgarten von Garmisch-Partenkirchen.

Mein Vater– ein moderner Nomade, der fünf Fremdsprachen spricht und sich als Angestellter internationaler Speditionsfirmen in Budapest, Triest, Wien, Istanbul »auf Wanderschaft« befindet. Meine Mutter– eine lebenslustige Blondine, die sich als Hausdame in großen Hotels und als Vertreterin von Hoover-Staubsaugern durchs Leben schlägt. Solchermaßen bin ich zustande gekommen. Anfang Juni, an »einem von Girlanden umschlungenen Tag«, wie mein Vater poetisch aufschrieb, »in der freien Natur«, wie meine Mutter prosaisch hinzufügte. »Du bist eben ein Kind der Liebe«, sagte sie stets, ob ich das nun hören wollte oder nicht, ob ich es verstand oder nicht, darauf kam es ihr nicht an.

Die 35-Jährige, die nach der Scheidung ihren Mädchennamen wieder angenommen hatte, brachte mich am 1.März1936 in Nürnberg unehelich zur Welt– und zog dann meinem Vater Adolf Schleußinger nach, zuerst nach Mannheim, dann nach Budapest. 1937 wurde ich legitimiert, das heißt, die Vaterschaft wurde offiziell anerkannt; ans Heiraten dachten meine Eltern nicht. In Budapest konnten sie als »Herr und Frau Schleußinger« mit ihrem Kind unbelästigt leben, sie waren halt so frei.

Mein Vater wäre sowieso am liebsten Ungar geworden oder Deutsch-Ungar, der Gedichte von Sándor Petőfi übersetzt. Ungarische Dichter, ungarische Freiheitskämpfer, ungarische Künstler waren seine Idole seit er als 20-Jähriger zum ersten Mal nach Budapest gekommen war. Die Weltläufigkeit seiner jüdischen Chefs, die verbliebene Kultur der k.u.k. Monarchie, die Zeitungen und Literaturzirkel hatten ihm ein Leben beschert, das er nie mehr aufgeben wollte. Er unterhielt eine Art Liebesbeziehung zu diesem Land– und eine regelrechte Liebesaffäre zu einer Budapester Lehrerin seit 1926 im Übrigen auch.

Meine Mutter war in ihren 35Lebensjahren nie aus Bayern hinausgekommen. Gut, die Hochzeitsreise war nach Venedig gegangen, es hatte Ferien am Garda- und am Comer See gegeben und Kuraufenthalte in Karlsbad, aber das waren alles kurze Ausflüge aus dem »goldenen Käfig«. Jetzt war sie auf einmal in einer richtigen großen Stadt, einer fremden, pulsierenden Metropole mit Boulevards und Bars, Cafés und Kabaretts und den von ihr heiß geliebten Operetten. Raus aus dem deutschtümelnden Butzenscheiben-Nürnberg, das in den letzten Jahren zudem immer brauner geworden war. Sie hatte auch mal kurz »etwas mit einem Goldfasan« gehabt, wie sie immer sagte, das habe ihr aber gereicht. Da ist sie lieber dem »Zigeuner« nachgezogen mit ihrem Kind. Wie gesagt: Mut hatten sie, meine Eltern, vor allem Mut.

Kriegsschauplatz1

Düsseldorf– Vollmerswerth/Altes Fährhaus/Anfang 1943. Ich bin sieben Jahre alt.

»Träume zählen«, sagte mein Vater, »schau dir dieses Feuerwerk an! Erinnerst du dich noch an unser Silvester in Wien?« Und wie ich mich erinnerte! An die bunten Räder am Himmel, die glitzernden Sternschnuppen, die auf das dunkle Wasser des Flusses herunterprasselten, die vielen Menschen am Ufer, ihr Lachen, ihre Hochrufe, ihr Händeklatschen…

»Ein solches Freudenfeuerwerk werden wir wieder feiern, ein großes Fest. Das verspreche ich dir.«

Wir liefen oben auf dem Deich über die Rheinwiesen. Es war Nacht, aber taghell. Leuchtkugeln zischten in den Himmel, färbten ihn feuerrot. Dann dieses unheimliche Dröhnen der nahenden Flugzeuge, das anschwoll, die Luft durchdrang und den Boden zum Zittern brachte. Mein Vater zog mich die Böschung hinunter. Weiße Scheinwerfer bildeten Lichtkegel überm Fluss. Wir krochen unter einen dürren Busch. Vor uns die Luftabwehrgeschütze. Über uns die Bomber. Und alles so hell! Ich war sicher, dass man uns weithin sehen konnte. Es gab kein Entrinnen… Da setzt mein Traum ein, der mich noch jahrelang im Schlaf überfiel: Ich schreie und renne los, zurück über den Deich und auf der anderen Seite die Wiesen hinunter zum Fluss. Dreck spritzt um mich herum. Mein Vater holt mich ein, legt sein Jackett über meinen Kopf. Ich reiße mich wieder los, komme aber nicht von der Stelle, trete von einem Fuß auf den anderen, immer schneller und schneller, wie ich das bei den Tanzbären in Ungarn gesehen habe, die so auf heißen Herdplatten lernen müssen zu »tanzen«, wie mir mein Vater erklärt hatte. Ich will in den dunklen Fluss, wo mich keiner sehen kann, aber vor lauter Schreien habe ich auf einmal gar keine Luft mehr zum Atmen. Wie Schemen sehe ich die Soldaten an der Scheinwerferbatterie, und sie reißen ihr Gerät herum, und jetzt bin ich ganz weiß, weiß und glühend heiß und kalt, und mein Vater schleift mich neben sich her, und am Boden sehe ich lauter Füchse, viele Füchse, und ihre Pelze sind blau. Dann wird es plötzlich dunkel und still…

Am nächsten Morgen ging meine Mutter mit mir in den Ort. Zuerst zu meiner Schule, in der ich Lesen und Schreiben in eckiger Sütterlinschrift lernte: Rauf-runter-rauf-I-Strich-drauf! Die Schule bestand aus einem großen Korridor, der Lehrerwohnung und zwei Räumen. Einer für die Klassen eins bis vier, der andere für die »Großen«. Hier waren nun die Toten aufgebahrt, die in der letzten Nacht umgekommen waren. Auch drei meiner Mitschüler. Ein Trupp Gefangener räumte die Trümmer hinter dem Schulhaus zur Seite. Die Männer sangen. Meine Mutter nahm mich mit ins Rathaus. Dort gab es einen Verbandsplatz. Der Arzt stellte fest, dass die Dreckspritzer, die mein Gesicht und meine Hände bedeckten und sich nicht abwaschen ließen, Phosphorverbrennungen waren. Er gab uns Zinksalbe mit.

An diesem Abend verließen wir unsere Wohnung im »Alten Fährhaus« direkt am Rhein und suchten Zuflucht in einem Bauernhof. Meine Mutter hatte den Kinderwagen bis oben hin vollgepackt mit Kleidung, Decken, Einmachgläsern, Schuhen und ihrem schönsten Hut, einer Filzkappe mit Feder und Schleier. Ich trug meine anderthalb Jahre alte Schwester. Der Vater war in Düsseldorf geblieben. Im Lager der Speditionsfirma, für die er arbeitete. Dort organisierte er den Brandschutz für den Fuhrpark.

In der Küche des Bauernhauses waren noch andere Leute aus der Nachbarschaft. Jeder hatte einen Beutel, einen Sack, einen Koffer oder eine Tasche bei sich. Alle Gespräche drehten sich um die Frage, wo man sicherer sei, wenn die Bomber wiederkommen würden: im Haus oder draußen im freien Feld, oben auf dem Deich in der Nähe der Flak bei den Soldaten oder in der Dorfkirche. Der Angriff in der vorigen Nacht hatte alle überrascht. Sonst waren die Flugzeuge immer weitergeflogen, flussaufwärts oder stadteinwärts. Das war ja auch der Grund, warum mein Vater diese Wohnung hier draußen für uns gesucht hatte, im abgelegenen Fährhaus.

Er hielt diese Gegend für einen »safe haven«, wie er immer sagte, meine Mutter nannte Vollmerswerth »unseren Schutzengel-Ort«.

Als das Dröhnen wieder einsetzte, wurden die Lampen ausgeschaltet, obwohl alle Fenster dicht verdunkelt waren. Draußen wurde es wieder taghell. Die Gruppe entschied, »vor den Fliegern« ins Rathaus zu fliehen. Dort gab es einen richtigen Keller. Meine Mutter gab mir zwei Wolldecken und ihre Handtasche. »Da ist mein ganzer Schmuck drin«, sagte sie, »pass gut auf, dafür hast du jetzt die Verantwortung!«

Zusammen mit den anderen rannten wir los– mit Baby, Kinderwagen, Wolldecken und Handtasche. Wieder waren die Leuchtkugeln am Himmel, die Scheinwerferkegel, wieder regnete es diese Dreckspritzer, die auf der Haut brannten. Der Rathauskeller war überfüllt. Die Beleuchtung flackerte im Rhythmus der einschlagenden Bomben: hell-dunkel-hell-dunkel-hell-ganz aus. Und dann war da wieder der Gesang der Gefangenen. Sie waren in einer Baracke hinterm Rathaus eingesperrt und sangen wie am Tag zuvor beim Wegräumen der Trümmer. Im dunklen Keller wurde laut gebetet. Einer, den man nicht sehen konnte, sagte: »Jetzt kommt es auf uns zurück– bis ins dritte und vierte Glied!«– »Was ist das dritte und vierte Glied?«, wollte ich von meiner Mutter wissen, aber ich bekam keine Antwort. Ich hatte so einen Satz schon einmal gehört. Als wir noch in Wien wohnten, rief eine alte Frau einem langsam fahrenden Auto mit geöffnetem Verdeck, in dem Männer in Uniformen saßen, hinterher: »Verflucht sollt ihr sein– bis ins siebte Glied!« In dieser Nacht brannte unsere Wohnung im »Alten Fährhaus« aus und auch das halbe Speditionslager in der Stadt. Im Morgengrauen irrten wir zwischen Bauernhäusern und Flakgeschützen, dem Flussufer und der Straße auf dem Deich umher. Die ganze Zeit hielt ich die Handtasche meiner Mutter fest an mich gepresst; ich hatte ja schließlich die Verantwortung. Wir waren grau von Staub, übersät mit Phosphorspritzern und rochen brandig.

Irgendwann fuhr die Straßenbahn wieder, mit der man so bequem in die Stadt und herauskommen konnte.

Mein Vater fand uns und sagte: »Ihr müsst hier weg.« Meine Mutter antwortete: »Wir haben sowieso alles verloren, die ganze Wohnungseinrichtung.« Vollmerswerth war kein »safe haven« mehr, nicht mehr unser »Schutzengel-Ort«.

Vorbei die Nachmittage mit den Schafen auf den Rheinwiesen, die Sonntagsfahrten mit meinem Vater im roten Kanu auf dem Fluss, die Ausflüge in die Stadt, die Wunderabende in den Operetten, zu denen meine Mutter mich mit den Worten mitnahm: »In diesen schweren Zeiten brauchen wir etwas für unsere Seelen!« Ja, wir waren im »Zigeunerbaron« und im »Zarewitsch«, und meine Mutter sang die Melodien zu Hause nach. Das war jetzt alles vorbei.

Kriegsschauplatz2

Erlangen, Spardorfer Straße33, Frühjahr/Sommer 1943.

Meine Mutter hatte keine Geschwister, aber eine Cousine, mit der sie wie eine Schwester aufgewachsen war. Sie lebte in Erlangen und nahm uns bei sich auf. Hier schien es noch gar keinen Krieg zu geben. Keine Trümmer. Keine Angriffe. Die Tante war eine fröhliche, elegante Frau, die ihren »Arbeitseinsatz« in der Stadtverwaltung leistete. Ihr Mann war Zahlmeister auf dem Balkan und schickte Pakete mit Speck, Schnaps, Kaffee, Zigaretten, Schokolade und wunderbaren, mit Blumen bestickten Sommerblusen aus feinstem weißem Stoff.

Mit diesen Dingen ließ sich alles beschaffen, was es sonst kaum mehr gab. Eier und Mehl, Marmelade und Bamberger Hörnchen, Sahne und frische Erdbeeren.

Außerdem grenzte an das Wohnhaus in der Spardorfer Straße eine große Gärtnerei. Sie wurde mein Paradies. Ich durfte dort »arbeiten«. Jeden Tag nach der Schule zupfte ich Unkraut, half in den Gewächshäusern beim Umpflanzen der Sämlinge. Wir lebten wie im Schlaraffenland. Nur die Schule machte mir zu schaffen. Ich kam in die zweite Klasse, musste aber mit dem Lesen und Schreiben ganz von vorn anfangen, denn hier galt die Lateinschrift– in Druckbuchstaben. Das war sehr verwirrend. Noch verwirrender war, dass ich mit 36 anderen Mädchen in einem Klassenzimmer saß. Und wie die sprachen? In einem sonderbaren fränkischen Dialekt, den ich kaum verstand, was die anderen wiederum erst recht nicht verstehen konnten.

Am verwirrendsten aber war meine von Gelächter und Getuschel begleitete Vorstellung als »Neuzugang«. Ich stand vor dem Katheder, und die Lehrerin fragte, woher ich denn käme und wieso ich jetzt bei ihnen in Erlangen sei.

»Geboren bin ich in Nürnberg.«

»Davon merkt man aber nichts.«

»Ich bin ja auch schon als kleines Kind nach Budapest gekommen.«

»Nach Budapest?– Dann kannst du also ungarisch?«

»Igen. Jö napot, Köstezsokolon, Mutzikam.«

»Und was heißt das?«

»Guten Tag, Küss die Hand, Liebling.«

In das Kichern und Lachen der Klasse erklärte ich stolz, dass in Budapest genau so geredet würde. Und in Wien übrigens auch, wo die Kellner im Café stets »Küss die Hand, Frau Baronin« zu meiner Mutter gesagt hätten und zu meinem Vater »Herr Doktor«. Das hat mir keine Freundinnen eingebracht. Im Unterricht kam ich nur schwer mit, weil ich die lateinischen Druckbuchstaben nur mit großer Mühe lesen und schreiben konnte– und dann lauter fremdes Zeug erzählte. Von Pferden in der Puszta, Zigeunerkapellen, Tanzbären und riesengroßen Wassermelonen, die man mitsamt den Kernen isst. Oder ich berichtete von den Bombenangriffen auf Düsseldorf und prophezeite, dass die Flugzeuge demnächst auch nach Nürnberg und Erlangen kommen würden. Dabei zeigte ich meine Brandwunden an den Händen und im Gesicht, die manchmal kleine Bläschen auf der Haut bildeten, manchmal richtigen Ausschlag. Bald saß ich ziemlich allein am Rand einer der Schulbänke.

Sonst aber war das Leben leicht und unbeschwert. Wir bekamen neue Kleider. Aus den schönsten Stoffen, die meine Tante besorgte, nähte eine Schneiderin »das Neueste aus dem Modejournal«. Wir gingen ins Kino, in Konzerte im Hofgarten, ins Schloss-Café.

Meine Tante fuhr morgens mit dem Fahrrad zur Arbeit, meine Mutter versorgte den Haushalt und die kleine Schwester. Abends wurde am festlich gedeckten Tisch gegessen, im Radio »Operettenklänge« gehört und mitgesungen, und zum Einschlafen wurden im ganz und gar rosaroten Schlafzimmer der Tante Geschichten von Budapest und Wien erzählt, aus dem »Roman« meiner Eltern.

Kerezstanya/Die Taufpatin

Meine Kerezstanya war Erzsebet (Elisabeth) Nagy, genannt Erzsi. Von ihr lernte ich das Wort Mutzikam: Liebling. Mein Hauptsprachschatz in dieser frühen, vage erinnerten Zeit. Alles war Mutzikam: ich selbst, Erzsi, Wassermelonen, Musik, das singende Dienstmädchen und vor allem– die Tanzbären, diese possierlichen Pelze, von deren Leid ich nichts begriff. Ich sah nur ihre tollpatschigen Bewegungen, die Tatzen und die schwarzen Augen… so einen Mutzikam hätte ich gern gehabt.

An einem kalten Herbstabend 1939 begleitete Erzsi meine Eltern und mich zu einem großen Schiff. Immer und immer wieder umarmte sie mich, bevor wir an Bord gingen. Wir standen oben an der Reling, als das Schiff ablegte. Unten am Kai stand Erzsi und hörte nicht auf zu winken. Mein Vater hielt mich hoch, damit ich besser sehen konnte: die Lichter, die winkende Kerezstanya, die immer kleiner wurde… Ich merkte, dass er weinte.

»Erzsi war zehn Jahre lang die Geliebte deines Vaters«, sagte meine Mutter eines Tages zu mir, »und wenn du nicht dazwischengekommen wärst, hätte er sie wahrscheinlich geheiratet.« »Erzsi war die große Liebe meines orientsehnsüchtigen Lebens«, schrieb mein Vater in sein »Nachtbuch eines alten Mannes«, sie hat mich gelehrt, extra Hungariam non est vita,aber ich habe die Lektion zu spät verstanden.«

Und von Erzsi sind zwei Briefe von 1936 erhalten, in denen es heißt: »Was geben würde ich dafür, wenn ich deine Hand noch einmal mit meinen glücklichen Tränen begießen könnte. So sind die Frauen, siehst du… Und die Patenschaft übernehme ich natürlich, wenn du mich damit beehrst… Du weißt, ich liebe alles, was gemeinsam, sagen wir heraus, dass Luci gehört auch mir…«

Donau/Donau-Dampfer/Donau-Dampfschifffahrt/Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaft … Erzsi hatte sich in ihrem ungarisch klingenden Deutsch noch über die vielen Schilder und ihre Wortgetüme lustig gemacht. Das war jetzt vorbei. Eine Nacht und einen Tag nach dem Budapester Abschied kamen wir in Wien an. Ich lernte ein neues Wort: Krieg. Es war Krieg. Ich hatte keine Ahnung, was das war, aber alle Menschen um mich herum redeten vom Krieg, und alles, was geschah, hatte mit diesem Krieg zu tun.

»Warum sind wir in dieser anderen Stadt?«– »Weil Krieg ist.«

»Warum ist der Vater oft tagelang nicht zu Hause?«– »Weil Krieg ist.«

»Warum weint dieser fremde Herr und schenkt mir eine Porzellanpuppe?«– »Weil Krieg ist. Er muss weg aus Wien und wollte sich bedanken, wir haben ihm beim Umzug geholfen.«

Und warum heiraten meine Eltern am 18.Januar1940 auf dem Standesamt Wien-Landstraße und nehmen mich »als Brautjungfer« mit, wie meine Mutter geheimnisvoll lächelnd sagt?

»Der Krieg war ausschlaggebend«, hielt mein Vater später fest, »da ich von Anfang an das Schlimmste befürchtete, wollte ich, dass Frau und Kind im Notfall wenigstens so ordentlich abgesichert waren, wie es eben ging.« Die Frage nach dem Grund für die Hochzeit habe ich natürlich gar nicht gestellt. Ich ging mit zum Standesamt und hinterher ins Restaurant, wo ich mich in meinen Onkel Willi verliebte, den älteren Bruder meines Vaters, der als Trauzeuge nach Wien gekommen war, in Uniform, was mich begeisterte. Endlich hatten auch wir einen Soldaten, wie man sie überall in der Stadt sah. Nach der Heirat meiner Eltern erfuhr ich, dass ich eine Halbschwester hatte, die zu Besuch nach Wien kommen würde. Ich konnte mir unter einer »halben« Schwester nichts vorstellen. Wer dann kam, war eine junge erwachsene Frau, die meine Mutter für meinen Geschmack zu oft in die Arme nahm. Meine wunderbare, lustige, elegante, immer fröhliche, heiß geliebte Mutter, die nur für mich ihre Arme ausbreiten sollte, damit ich auf sie zufliegen, mich an ihr festklammern konnte, um von ihr gestreichelt, angelacht und gestupst zu werden, wollte ich mit niemandem teilen, auch nicht mit einer Halbschwester, die aus einer ersten Ehe kam, was immer das zu bedeuten hatte. An einem Nachmittag gingen wir zusammen ins Kaffeehaus und anschließend in ein Fotoatelier, um ein Dreierporträt anfertigen zu lassen. Ich war froh, als die fremde Dame abreiste. Jetzt waren wir wieder wir: Papakam, Mamakam, Mutzikam.

Die schönste Wiener Erinnerung war unser Silvester. Ich trug ein rosa Taftkleid und schwarze Lackschuhe. Ich durfte mit ins Restaurant. Zwei Zigeunerkapellen spielten abwechselnd. Sektschalen standen auf dem Tisch. Auch mir wurde ein Schluck eingeschenkt. Die Gläser klirrten, wenn man sie aneinanderstieß. Dann gingen wir zum Donauufer. In einer Menschenmenge bewegten wir uns lachend durch den Schnee. Und dann gab es das Feuerwerk: die bunten Räder am Himmel, die glitzernden Sternschnuppen, die auf das dunkle Wasser des Flusses herunterprasselten, Hochrufe, Händeklatschen…

Solche Geschichten aus Wien und Budapest erzählten wir unserer Tante vorm Einschlafen in Erlangen 1943. Ich wollte für immer bei meiner Tante bleiben, für immer und ewig oder wenigstens bis der Krieg zu Ende wäre und wir alle das große Freudenfeuerwerk wieder erleben würden, welches mein Vater mir versprochen hatte.

Aber dann kam ganz plötzlich der Krieg auch hierher. In einer heißen Augustnacht flogen die Bomber ein, ohne Vorwarnung, und legten halb Nürnberg in Schutt und Asche. Es war wie in Vollmerswerth. Erst das Dröhnen, das den Boden erzittern ließ, dann die Explosionen, der Feuerschein, die »Christbäume« am Himmel, schließlich die Brandwolken. Wir erlebten, wie eine Angriffswelle nach der anderen über uns hinwegrollte. Ja, die Zerstörung fand in der Ferne statt, aber sie konnte jeden Augenblick auch uns direkt treffen. Die schöne Sicherheit der letzten Monate war zu Ende. Zwei Tage lang suchten wir meinen Großvater in den qualmenden und immer wieder lichterloh brennenden Ruinen Nürnbergs. Wir sahen wie Hexen aus– mit verstaubten Haaren, die uns seltsam vom Kopf abstanden. Das Haus, in dem mein Großvater wohnte, gab es nicht mehr– die ganze Straße in der Altstadt war ein Trümmerfeld. Das Hotel, in dem er arbeitete, stand nur noch zur Hälfte. Wir trafen ihn dann zufällig am Bahnsteig, von dem die Züge nach Erlangen abfuhren. Er wollte zu uns.

Kurz darauf kam ein Brief meines Vaters. Wir müssten nicht mehr nach Düsseldorf zurück, las meine Mutter vor, der Vater arbeite jetzt in Frankfurt am Main. Dort wäre er nun dabei, eine schöne Wohnung für uns einzurichten.

Kriegsschauplatz3

Frankfurt am Main, Kleine Wiesenau2, ab Herbst 1943.

Diese schöne Wohnung befand sich im 2.Stock einer großen Villa und war voller prächtiger Möbel. Es gab Bilder, Spiegel, sogar ein Kinderzimmer mit Wolkenvorhängen. Und ein Marmorbad– darin hatte mein Vater unsere Küche untergebracht. Gegenüber der Wanne stand der Herd. Abgespült wurde in einem der beiden ovalen Waschbecken. Das Geschirr stapelte sich auf der breiten Fensterbank, die Vorräte im angrenzenden Schlafzimmer. Dafür, dass wir in Düsseldorf alles verloren hatten,wirkte diese Wohnung wie ein Wunder.

»Wo hast du das bloß alles her?«, fragte meine Mutter.

»Bei Auktionen ersteigert«, antwortete mein Vater.

So wohnten wir jetzt im Frankfurter-Westend in fremden schönen Möbeln, mit Teppichen, Vorhängen, alten Lampen und einer richtigen Bibliothek. Für mich war es das fünfte Zuhause in siebeneinhalb Jahren.

An Budapest konnte ich mich kaum mehr erinnern, nur an ein dunkles Schlafzimmer und die zärtlichen Anreden: Papakam, Mamakam, Mutzikam. Wien– das war ein Gartenhaus, dem Fotoatelier Jobst gegenüber, von Mietshäusern und Torbögen umgeben. In Düsseldorf lag die Wohnung inmitten von Baumkronen über dem Ausflugslokal am Rhein. Dann kam das Mahagoni-und-Damast-Reich der Tante in Erlangen, wo wir unter rosa Daunendecken schliefen. Und jetzt dieses herrschaftliche Haus mit seinem Säulenportal, dem Marmorentree, einem zweiten Treppenaufgang für die Dienerschaft sowie einem Stall und einem Kutscherhaus.

Der Stall war wahrscheinlich der Grund, warum meinem Vater die Wohnung zugewiesen worden war. Denn außer uns mussten noch zwei Speditionspferde untergebracht werden, die den Warentransport der Firma innerhalb der Innenstadt gewährleisteten. Am Ende der Straße gab es ein Parkgrundstück, so groß wie ein ganzer Wohnblock– mit einem Trümmerberg in der Mitte. Der war einmal die berühmte Gontard’sche Villa gewesen, Wohnsitz der Frankfurter Bankiersfamilie, für die Friedrich Hölderlin 1796 als Hauslehrer arbeitete und wo er sich unzulässigerweise in die Hausherrin verliebte. »Nur einen Sommer…/Lebt ich, wie Götter…« Dieses Ruinengrundstück »beschaffte« mein Vater als Pferdeweide und Unterstellplatz für die Fuhrwerke. Und da es im Stall unseres Herrschaftshauses drei Boxen gab und der frühere englische Rasen des Gontard’schen Parks genug Weidefläche hatte, kaufte er ein abgemagertes Panjepferd, das auf einem Auge blind war, und schenkte es mir mit den Worten: »Wenn du es gut pflegst, wird es ein ganz passables Reitpferd.« In seinen Aufzeichnungen aus jenen Tagen hat er die Geschichte so beschrieben: »Ich fand ihn in einer Pferdesammelstelle, zusammengepfercht mit zwanzig anderen Kleinpferden. Er hatte die Frommheit eines Lammes, die Ohren eines ›dummen Augusts‹, die Hinterbeine einer Ziege, aber –das Merkmal aller Steppenpferde– kleine Glockenhufe und eine schwarz wehende Fahne als Schwanz. Die kleine Stirnblesse leuchtete ihm wie ein Stern voran, als er mit staksigen Beinen dem neuen Stall zuging, als dessen Bewohner er zunächst einen Namen bekommen musste. Nomen est omen: er war klein, kam aus dem Reich Peters des Großen und war noch strubbelig. Also hieß er Peter Struwwel als Pendant zum Frankfurter Struwwelpeter. Die Einbringung des Kosakenpferdchens zauberte leuchtende Kinderaugen und Stammeln hervor.« So kam ich also mitten im Krieg und mitten in der Trümmerstadt zu einem Pferd. Tagsüber war es eine ziemliche Last. Vor der Schule musste ich jeden Morgen in den Stall: füttern, putzen, ausmisten. Nach der Schule musste ich als Erstes das Pferd auf die Weide bringen und abends wieder zurück in den Stall. Das war der Tag, aber nachts war alles anders. Da galoppierten wir über die Puszta, dass die Hirten nur so staunten und die Gänse kreischend auseinanderstoben. Das Pferdchen war schnell und wendig, hatte glänzendes Fell und eine lange Mähne, und ich konnte es ohne Mühe reiten und hatte keinerlei Angst… dieses halb blinde, geschundene Tier bewegte sich voller Vorsicht durch Straßen, Trümmergelände und den Park. Und mir gegenüber war es behutsam und umsichtig, geradezu zärtlich. Mir konnte gar nichts passieren, wenn ich mit ihm zusammen war. Mein Vater hat damals aufgeschrieben: »Glücklich das Kind, das schon in frühen Jahren vom Pferd beglückt wird. Glücklich der Vater, der das Kind zum ersten Mal auf diesen elastischen Rücken heben und dann –losgelöst von der Longe– auf die Bahn schicken darf, in die Wälder, über die Felder… Was das Kind da lernt? Bewegung ist alles!«

Bewegung, Freiheit, Träume von einem ganz anderen Leben als jenem zwischen Trümmern, Angriffen, Krankheit und Angst ums Überleben… das jedenfalls hat mir dieses Pferd namens Peter Struwwel verschafft und natürlich mein Vater, der nicht nur abenteuerliche Ideen hatte und Versprechungen machte, sondern solche Ideen und Versprechungen auch noch wahr werden ließ.

Der Alltag sah natürlich noch anderes vor, Schule zum Beispiel. Wieder wurde ich in die 2.Klasse eingeschult, und wieder gab es eine neue Schrift, diesmal lateinische Schreibschrift: schöne, weiche, ineinanderfließende Wörter.

Hundertmal musste ich das Alphabet abschreiben, erst die kleinen Buchstaben, dann die großen. Niemand fragte mich mehr nach meinen ungarischen Sätzen, nicht einmal der Vater, den meine Antworten früher so stolz gemacht hatten. Langsam gingen die melodischen, lustig klingenden Sprachfetzen verloren.

Um diese Zeit wurde meine Mutter schwer krank. Jeden Morgen und jeden Abend mussten ihre Beine verbunden werden. Die Phosphorverbrennungen hatten große Wunden hinterlassen, die sich nie ganz schlossen. Selbst in der Universitätsklinik wussten sie keinen Rat. Sie gaben meiner Mutter Salben, Mullbinden und Schmerztabletten. Von nun an trug sie dickmaschige Strümpfe, um die Verbände zu kaschieren, und ließ sich im Übrigen nichts anmerken, lief, arbeitete, wanderte mit uns, fuhr Rad. Was waren ihre Verwundungen schon im Vergleich zu den vielen Verletzten, die man überall sah?

Dann erwischte es mich. An einem Märztag 1944 traf mich eine Brandbombe mit Sprengsatz– am helllichten Tag mitten in unserem Garten. Wir Kinder spielten mit unserem Kaninchen. Wir ließen es frei und versuchten es dann wieder einzufangen. Die Sirenen hatten »Vor-Alarm« angekündigt. Aber den nahmen wir schon lange nicht mehr ernst. Meistens kam die Entwarnung hinterher. Diesmal aber fielen blitzschnell kleine Bomben vom Nachmittagshimmel. Ich weiß noch, wie das Kaninchen aus meinen Armen sprang und ich plötzlich mitten in einer Art Sprühregen aus winzigen Feuerwerkskörpern zu Boden fiel. Meine rechte Körperhälfte war taub und blutete. Schmerzen hatte ich keine. Auf einem Liegestuhl wurde ich zum Verbandsplatz beim Hauptquartier des Gauleiters getragen. Dorthin kam mein Vater, und wir fuhren zusammen in einem Sanitätswagen ins Krankenhaus nach Niederrad. Mein Vater blieb bei mir, bis ich in eine Schleuse zwischen zwei Bunkertüren geschoben wurde und von dort in gleißendes Licht.

»Zählen, zählen, zählen! Atmen, atmen, atmen!«, befahl eine Stimme, und ich fing an zu zählen: »Egy, kettő, három, négy…« und war so froh, dass wir nun doch wieder in Budapest waren. »Öt, hat, hét, nyolc…«, meine Mamakam, mein Papakam und ich. »Kilenc, tíz…« Und wir bestaunten das Feuerwerk mit seinen bunten, sich drehenden Rädern am Himmel, den glitzernden Sternschnuppen, aber plötzlich wurde mir ganz elend und übel und schwarz vor Augen…

Zehn Tage im Kinderbunker. In einem hölzernen Bett an der Wand. Schrecklicher Geruch. Weinen und Wimmern. Über mir schläft ein Junge mit Kopfverband. Mein rechtes Bein ist ganz und gar eingegipst, nur die Zehen schauen hervor. »Glück gehabt«, sagt der Arzt zu meiner Mutter, »sie wird wieder laufen können. Es ist ein Oberschenkeldurchschuss, aber anscheinend sind keine Nerven durchtrennt, und dass keine Hauptader getroffen wurde, ist sowieso ein Wunder.« Meine Mutter will mich sofort mitnehmen, aber das geht nicht. Sie darf noch nicht einmal mehr zu Besuch kommen, nur telefonische Nachfragen sind erlaubt. Ich weine, weine und weine… Jede Nacht diese Angriffe, und nie weiß ich, ob die Eltern überhaupt noch leben. Der Junge mit dem Kopfverband verspricht mir, dass wir immer zusammenbleiben können. Er bringt mich auch am fünften Tag nach oben an die frische Luft und in eine kalte Sonne. Nachts spielen wir Mühle beim Licht der Notbeleuchtung. Ich glaube, er war meine erste Liebe. Eines Morgens kommt der Gauleiter und hält eine Lobrede auf uns Kinder »wg. großer Tapferkeit«. Es werden Kinder-Verwundeten-Abzeichen ausgeteilt. Am zehnten Tag kommt mein Vater, gegen alle Verbote entschlossen, mich abzuholen. »Auf Ihre Verantwortung«, sagt der Arzt. »Auf meine Verantwortung«, antwortet mein Vater. Zusammen mit dem Jungen bringt er mich nach oben. Dort wartet das Pferdefuhrwerk der Spedition. Ich weine, weine und weine…

Vier Monate später hätte es mich fast noch einmal erwischt, mich und meine Mutter. Wir fuhren mit der Straßenbahn nach Heddernheim zum Hamstern. Diesmal gab es keinen Vor-Alarm, die Tiefflieger kamen ganz plötzlich. Die Straßenbahn hielt auf freier Strecke. Rechts und links lagen Bauernfelder, es gab kaum einen Baum oder Strauch. Wir waren nur wenige Fahrgäste und rannten los und suchten Deckung– so weit weg wie möglich von den Schienen. Auf diese schienen es die Flugzeuge nämlich abgesehen zu haben und auf die Straßenbahn, so schnurgerade schossen sie auf uns zu. Unbeholfen stolperten wir beide mit unseren verwundeten Beinen über den Acker, warfen uns schließlich einfach zu Boden– und die Flugzeuge rasten über uns hinweg.

»Wir sollten schießen lernen– mit Gewehren schießen lernen wie die Männer«, sagte meine Mutter, »dann könnten wir wenigstens zurückfeuern.« Der Straßenbahnschaffner rief: »Schnell einsteigen, bevor sie zurückkommen.« Wir robbten zurück, fuhren bis zur Endstation und gingen auf Betteltour. Am Abend fragte meine Mutter den Vater nach einem Gewehr. Er fand die Idee hervorragend– er würde uns Schießunterricht geben, im Gontard’sehen Park. Morgen schon. Er war richtig stolz auf seine Frau.

Lektion in der Schule

»Die Russen kommen«,hatte die Lehrerin in großen Buchstaben an die Tafel geschrieben, dann eine Zeitung aufgeschlagen und uns daraus Folgendes vorgelesen: »Alle Frauen und Kinder werden umgebracht/Babys von Panzern überfahren./Die Zivilbevölkerung wird an Hauswände gestellt und erschossen oder in den Kellern bei lebendigem Leib verbrannt…«

Ich dachte an den Kinderbunker und meine Phosphorverbrennungen und die toten Mitschüler in Vollmerswerth und wurde völlig überwältigt von Angst. Ich sah das alles vor mir, wie sie uns an eine Hauswand stellen, wie sie uns die Treppen hinunter in den Keller treiben… Und was würden sie wohl mit meinem Pferd machen? Auch erschießen oder schlachten oder vielleicht verschonen, weil es doch ein Russenpferd war, und mich auch verschonen, weil ich es doch so gut aufgepäppelt hatte?… Nach der Schule ging ich jedenfalls nicht nach Hause, sondern zum Güterbahnhof, wo mein Vater sein Büro hatte, um ihm die Schreckensgeschichte sofort zu erzählen. Er musste uns retten, aus der Stadt herausbringen, in den Wald, irgendwohin…

Mein Vater versuchte noch nicht einmal, mich zu trösten. Stattdessen erklärte er mir die große Weltkarte, die die ganze Wand hinter seinem Schreibtisch bedeckte. Auf ihr waren die Länder, die gegen Deutschland Krieg führten, in bunten Farben abgebildet.

Gelb: die kleine Insel Großbritannien mit ihren vielen Kolonien in Afrika und Asien, dazu Kanada und Australien. Rot: Russland, das riesige Sowjetreich. Violett: ein Stück Frankreich und große Teile Nordafrikas. Weiß: Amerika, ein ganzer Kontinent. Dazu im Vergleich ganz klein, schraffiert Deutschland– und weit weg, auch schraffiert, das Inselreich Japan. »Das sind wir«, sagte mein Vater, »und das sind alle anderen. Es ist fast die ganze Welt. Und es stimmt, die Russen kommen, aber die anderen auch: die Amerikaner, die Engländer, die Franzosen. Sie kommen von allen Seiten, und sie werden keine Babys schlachten oder Menschen bei lebendigem Leib verbrennen. Aber sie werden noch viele Bomben werfen, noch mehr und noch schrecklichere Bomben als bisher, und wenn es Kämpfe in der Stadt gibt, kommen sie natürlich mit Panzern und Kanonen, und uns kann Fürchterliches geschehen.«

»Aber die Lehrerin…«, versuchte ich zu erwidern.

»Du darfst nicht alles glauben, was die Lehrer sagen.«

»Aber es stand in der Zeitung, sie hat es uns vorgelesen.«

»Du darfst auch nicht alles glauben, was in der Zeitung steht.«

»Dann werde ich das morgen in der Schule erzählen.«

In diesem Moment wurde mein Vater so ernst, wie ich ihn nie vorher erlebt hatte.

»Das darfst du auf keinen Fall. Das muss ein Geheimnis bleiben zwischen dir und mir. Niemandem darfst du erzählen, was wir beide hier besprochen haben. Man würde mich wahrscheinlich abholen, wenn du der Lehrerin davon etwas sagen würdest.«

Ich war tief erschrocken. Das Wort abholen sagte mir Schreckliches. Onkel Barth, der beste Freund meiner Eltern, war abgeholt worden und ein Herr aus der Nachbarschaft und der Schwager des Kutschers. Abgeholt war mir ein Begriff, der Inbegriff des Schreckens. Und es war ganz klar, dass ich nie, nie und nie etwas tun oder sagen würde, was meinen Vater in die Gefahr bringen könnte, abgeholt zu werden. Was er mir also in seinem Büro vor der großen Weltkarte erzählt hatte, blieb unser Geheimnis. Gleichzeitig habe ich es nie mehr vergessen, den ganzen Krieg hindurch nicht, mein ganzes Leben danach auch nicht.

»Du darfst nicht alles glauben, was die Lehrer sagen!« Und: »Du darfst auch nicht alles glauben, was in der Zeitung steht!«

Die Lektion Die Russen kommen war eine der letzten, die in der Schule überhaupt noch stattgefunden hatte. Ende November bekamen wir Zeugnisse und wurden mit den Worten in die Weihnachtsferien verabschiedet, dass »bis auf Weiteres« die Schule geschlossen bleiben würde wie alle Schulen in Frankfurt. Das war vielleicht ein Weihnachtsgeschenk! So glückliche Kinder habe ich nie wieder gesehen. Schulfrei für immer! Der Krieg hatte auch sein Gutes, wer hätte das gedacht.

Ich war endlich in die dritte Klasse versetzt und meine Mutter feierte die ganze Angelegenheit mit mir bei Kuchen und Schokolade auf Sondermarken im Palmengarten.

Ganz anders reagierte mein Vater. Er zwang mich, ein Tagebuch zu führen. Als »Weihnachtsüberraschung« erhielt ich ein dickes, in Wachstuch eingebundenes Heft mit der Order, ab 1.Januar1945 jeden Tag auf einer Seite aufzuschreiben, was ich erlebte.

Die Begründung war, dass ich verständlicherweise froh darüber sei, nicht mehr in die Schule gehen zu müssen, dass aber eines Tages –in Wochen, Monaten, vielleicht einem Jahr, wenn alles vorüber ist– die Schulen wieder geöffnet würden. Und dann käme es darauf an, zu zeigen, dass man in der Zwischenzeit etwas gelernt, sich weiterentwickelt habe. Basta.

Ein zweites Heft für wöchentliche Rechenaufgaben lag ebenfalls auf dem Geschenktisch.

Das Tagebuch

Dieses Tagebuch, das heute noch existiert, wurde mein Albtraum. Jeden Tag aufschreiben zu müssen, was ich erlebte, in säuberlicher Schrift und möglichst fehlerfrei! Wie oft bin ich gar nicht zum Schreiben gekommen, habe vergessen, mit Füllhalter und Tinte festzuhalten, was ich sah und hörte zwischen den Bombenangriffen, Haushaltsaufgaben, Kinderaufsicht, Erwachsenenarbeit. Dann musste ich nachtragen, zurückdatieren, schummeln. Denn samstags verlangte mein Vater das Heft »zur Vorlage«, da konnte passiert sein, was wollte. Ein Albtraum– und aus heutiger Sicht kein Dokument, in dem ich viel von dem wiederfinde, was ich erlebt habe, wenn ich meinen Erinnerungen glaube. Fakten schon, aber wenig Gefühle und Gedanken. Aber vielleicht sind Erinnerungen ja trügerisch. Jedenfalls enthält das Tagebuch die Lebensbeschreibungen eines neunjährigen Kindes in den Zeiten des »Untergangs«. Der erste Eintrag hat noch etwas von einem Poesiealbum. »Es ist Winter, alles ist weiß. Mein Schwesterlein und ich rodelten den ganzen Tag. Am Weiher war alles zugefroren, da rutschen wir nur so hin und her. Das war lustig anzusehen. Fröhlich ging es dann nach Haus. Dann war es erst schön, wir feierten im Stall bei unseren drei Pferden ›Stall-Silvester‹. Es war ein feierlicher Tag.«

Von da an geht es allerdings realistischer zu.

15.Januar: Immer Alarm

Heute ist ein schrecklicher Tag. Es ist von früh bis Abend Alarm. Kaum ist Entwarnung gewesen, da fing es von Neuem an. In der Nacht mussten wir sechsmal wegen Großalarm in den Keller.

25.Januar: Am Schönsten ist der Abend

Wenn der Tag herum ist, mit Helfen der Mutti, Spielen und Rodeln, dann kommt der Abend. Wenn keine Flieger kommen, dann kommt das Schwesterchen ins Bett. Dann ist das Schönste vom Tag da. Ich darf mit den Eltern lesen und Tee trinken und höre Musik im Radio dazu. Gehe dann um neun Uhr glückstrahlend ins Bett.

20.Februar:

Heute Morgen fing es schon an mit Alarm. So ging es bis Nachmittag, da war es etwas ruhiger. Aber gegen Abend so fünf Uhr andauernd Voralarm und Großalarm. Um zwölf Uhr erst kamen wir zum Schlafen. Das wäre gar nicht so schlimm gewesen, wenn wir nicht um drei Uhr früh wieder herausgeschmissen worden wären. Bis fünf Uhr morgens Großalarm.

3.März: Tiefflieger

Heute konnte man überhaupt nicht aus dem Haus. Lauter Tiefflieger schwirrten in der Luft. Schossen auf die Militärautos, auf Leute und schmissen auch vereinzelte Bomben. Ich konnte gerade noch unser Gemüse einholen und Brot. Dann hatten wir von morgens neun Uhr bis abends sechs Uhr Großalarm. Ganz in der Nähe sind Minen, Brandbomben und Sprengbomben gefallen. Wir haben kein Licht, Wasser und Gas.

11.März: Wasserholen

Als Vati heute Morgen zum Volkssturm musste, huschten wir zu Mutti ins Bett. Da las uns Mutti Märchen vor. Dann mussten wir Wasser holen. Vati hatte uns einen Wagen von den Rädern vom Kinderwagen gemacht und zwei Kistchen obendrauf, und so können wir Wasser holen. Es ist eine Plage, und doch macht uns der Wagen Spaß.

18.März: Schöner Sonntag

Heute ist herrliches Wetter. Wir gingen in den Garten. Spielten Pferdchen, Nachlauf, Versteck, spielten Reif und noch vieles andere. Es ist ein richtiger schöner Frühlingstag.

Tag und Nacht keine Ruhe.

Es ist so schönes Wetter, und so traurig ist alles. Da wir bei Tag und Nacht keine Ruhe haben. Außerdem sind schon die Feinde ganz nah bei Frankfurt. Mutti wollte mit uns fort, aber wohin? So müssen wir tapfer durchhalten, vielleicht hilft uns der liebe Gott.

21.März:

Vati war gestern außerhalb von Frankfurt und schaute sich um, ob wir nicht irgendwo unterkommen könnten. Da hatte er Glück, da uns ein Bauer aufnimmt. Das Dorf, wo uns der Bauer aufnehmen will, heißt Burggräfenrode. Ich freue mich sehr darauf. Es sind jetzt frohe Tage.

25.März: Furchtbare Tage

Wir sind traurig. Erstens haben wir vom Opa keine Nachricht, dann können wir doch nicht fort, denn der Bauer hat abgesagt. Und die Feinde sind nur noch fünfzehn Kilometer vor Frankfurt. Man hört nichts wie Schießen und Poltern, wir konnten heute Nacht gar nicht schlafen, denn die Deutschen haben die Mainbrücken gesprengt. Auch einen Flughafen haben sie gesprengt. Es war und ist furchtbar.

27.März: Sie sind schon da!

Die Feinde sind schon in der Stadt. Man hört Maschinengewehrschießen und Panzerrollen. Es hört sich furchtbar an. Ob sie uns was tun? Frankfurt ist schon zum Teil besetzt. Wir sitzen jetzt den ganzen Tag im Keller außer zwei Stunden am Morgen von acht bis zehn Uhr.

Wir müssen immer unser Leben wagen, wenn wir auf die Straße gehen. Gestern Abend, als ich gerade im Garten war, hörte ich Pfeifen und Zischen und auf einmal einen richtigen Feuerregen…

29.März:

Seit gestern sind in jedem Haus Amerikaner. Bei uns vis-à-vis sind amerikanische Autos, und fast ist das ganze Haus besetzt. Und jetzt gibt es fast nichts mehr zu essen. Mutti wird ganz verrückt vor Kummer und Sorgen.

Stunde null

Die Amerikaner sind in meiner Erinnerung viel dramatischer aufgetaucht als in meinem Tagebuch. Ganz plötzlich waren sie da– zuerst als Einzelkämpfer, die langsam mit ihren Maschinengewehren die ausgestorbene Villenstraße herunterkamen. Dann als Gruppe, die rauchend und diskutierend im Vorgarten des Nachbarhauses stand. Schließlich im schwer bewaffneten Jeepkonvoi vor unserem Haus und dem Gebäude gegenüber… Sie suchten englisch sprechende Bewohner. Mein Vater stellte sich gern zur Verfügung. Sie nahmen ihn in einem der Jeeps mit. Als er Stunden später zu Fuß zurückkam, trug er eine helle Armbinde. Ein geheimnisvolles Wort machte von nun an die Runde: Im Namen von fanden Aus- und Umquartierungen statt, wurden Waffen eingesammelt, Wohnungen durchsucht, auch Dinge eingesteckt und mitgenommen. Zu uns Kindern waren die Amerikaner freundlich und freigiebig mit Geschenken: ich bekam die erste Banane seit Langem, die erste Orange, Schokolade und Chewinggum… »Fangt bloß nicht an zu betteln!«, sagte unsere Mutter.

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