Die Vertikale der Rolle - Jurij Alschitz - E-Book

Die Vertikale der Rolle E-Book

Jurij Alschitz

4,7

Beschreibung

Heutige Schauspieler müssen als Solisten in der Theater - und Filmwelt agieren können. Die Technik der Vertikale der Rolle ermöglicht Schauspielern die selbstständige Erarbeitung einer Rolle und macht sie nicht nur frei und unabhängig sondern zu Autoren in ihrer Kunst. Sie bietet sowohl die Basis für jedes erfolgreiche Vorsprechen als auch für jede künstlerische Begegnung im Ensemble und mit der Regie. Generationen von Schauspielern sind mit den Stanislawskij-Klassikern „Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst und an der Rolle“ groß geworden. Aber das Theater des 21sten Jahrhunderts braucht mit seinen eigenen Produktionsbedingungen neue Formen der eigenständigen Arbeit der Schauspieler. Jurij Alschitz hat in jahrelanger theaterpraktischer Forschung in den von ihm gegründeten europäischen Theaterzentren in Deutschland, Italien und Skandinavien die einzigartige Methodik „Vertikale der Rolle“ entwickelt, in verschiedenen Ländern für die Bühnenpraxis erprobt und erfolgreich angewendet. Jurij Alschitz vermittelt in seinem Buch Gedanken zur Ethik des Schauspielberufs, als einer Kunst, die den Schauspieler als Autor, Schöpfer und Zentrum der dramatischen Bühnenkunst sieht und der demzufolge das geeignete handwerkliche Können haben sollte, um diesem Anspruch auch gerecht zu werden. Ausführlich werden die Arbeitsschritte zur „Vertikale der Rolle“ erklärt; sie sind für Schauspieler direkt anwendbar, für Regisseure und Lehrer die Grundlage zur Anleitung dieser Methode. Ein separates Kapitel beschreibt auf der Basis praktischer Übungen das tägliche Schauspieltraining.

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Jurij Alschitz

Die Vertikale der Rolle

eine Methode zur selbstständigen Erarbeitung der Rolle

aus dem Englischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Kapitel zum Schauspieltraining versehen von Christine Schmalor

ars incognitaBerlin 2003

Teil I Die Vorbereitung des Schauspielers

„… es ist schön bei euch, Freunde, ich höre euch gern zu,

aber … in seinem Hotelzimmer sitzen und seine Rolle lernen –

wieviel schöner ist das!“

Arkadina, Die Möwe von Anton Tschechow

1. Ortswechsel – aus dem Theater heraustreten

Jeder Beruf hat seine Geheimnisse und die Schauspielkunst hat mehr als genug davon. Meine Mutter war Schauspielerin und ich habe sie oft heimlich an den verschiedensten Orten beobachtet während sie ihre Rollen einstudierte – im Hotelzimmer, auf einer Gartenbank oder im Zugabteil. Ich fand diesen Prozess immer viel interessanter als ihre Proben im Theater und sogar interessanter als die Theateraufführungen selbst. Das ist der Grund, warum ich sogar heute noch mit einer besonderen Ehrfurcht und Aufregung auf die magische Stunde warte, wenn der intime Kontakt zwischen Schauspieler und der gleich zu spielenden Figur zustande kommt, wenn man Zeuge bei der Entstehung des neuen Lebens einer Rolle sein darf, wenn der Schauspieler in den engen künstlerischen Kontakt mit seiner „Personnage“ tritt. Es ist die heimliche, wahrhaft magische Stunde. Normalerweise wird in Künstlerkreisen über diesen Moment nicht so gern gesprochen, da er als privat angesehen wird. Der Schauspieler versucht in dieser Zeit allein zu bleiben, und man geht davon aus, dass er ungestört sein will, niemand ihm helfen kann und dass es sich um ein Geheimnis handelt, das dem Schauspieler allein gehört und dass niemand das Recht hat, hier einzudringen. Im Großen und Ganzen ist dieser geheimnisumwitterte Vorgang ein Mythos – allerdings ein wunderschöner.

Jeder Beruf hat seine speziellen Geheimnisse, vor allem aber hat er sein definitives Fachwissen. Welcher Schleier des Mysteriums auch immer den Schauspielberuf umhüllen mag und welche Legenden damit einhergehen mögen, letzten Endes ist es immer nur die professionelle Meisterschaft, die darüber entscheidet, ob ein Schau­spieler wirklich an seinen Platz gehört. Diejenigen unter uns, deren Beruf die Erforschung theatraler Vorgänge und deren unbekannte Seiten ist, sollten dem Aspekt der Meisterschaft die größte Aufmerksamkeit schenken. Gerade die Vorbereitung und Erarbeitung der Rolle seitens der Schauspieler wird immer noch „mysteriöses“ Gebiet in der Schauspielkunst betrachtet.

Die Erfahrungen aus meiner Arbeit im Theater und als Lehrer führten mich zu einer sehr einfachen Einsicht: ein Schauspieler wird nur dann Meisterschaft erlangen und zum wahren Autor der Rolle werden, wenn er fähig ist, allein zu arbeiten, ohne jede Form von Vermittlung oder Einflussnahme. Als wahrer Autor wird er dann selbst die Verantwortung für den Fortgang seiner Arbeit übernehmen, und kein anderer kann dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn ich mit Schauspielern arbeite, baue ich mein Verhältnis zu ihnen von diesem, wie ich meine einzig vielversprechenden, Standpunkt aus auf. Leider gibt es bis in unsere Tage hinein ungeschriebene Gesetze, wie Proben zu halten seien. Danach meint der Regisseur verpflichtet zu sein, die Rollen in allen Details den Schauspielern veranschaulichen und vorzeichnen zu müssen. Er beschreibt ihnen wie sie konstruiert sind und wie sie auf der Bühne gelebt werden sollen. Aus künstlerischer Perspektive korrumpiert genau das die Schauspieler, zerstört ihre Kreativität und transformiert die Schauspielkunst in ein rein instrumentelles Handwerk.

Jeder Schauspieler und jeder Regisseur weiß aus seiner Praxis, wie oft am Theater kostbare Zeit verschwendet wird. Manche Proben reduzieren sich auf das Auswendiglernen des Textes, manche auf den oberflächlichen Austausch flüchtiger Impressionen aus den Erinnerungen der eigenen Vita. Zu dieser Art von Proben kann ein Schauspieler problemlos unvorbereitet kommen und auch völlig leer – meistens ist das auch der Zustand, in dem er die Probe wieder verlässt. Niemand wird davon Notiz nehmen. Diese passive Zeitvergeudung zerstört kreative Energie und führt zu einer Sterilität des Denkens. Es ist schon erniedrigend genug, wenn die Teilnahme an einer Probe zur Verpflichtung wird, um so schlimmer aber, wenn die Partner, die zusammen spielen wollen, sich in unterschiedlichem Grade engagieren; der eine gut vorbereitet und der andere leer und gelangweilt erscheint. In Situationen wie diesen steigt mir der schale Geruch von Mottenkugeln in die Nase, ich fühle mich stündlich älter werden und spüre, wie dieses tote Theater alle zusammen in den Abgrund zieht. Ich habe wirklich Angst vor dieser Art von Arbeit und von Zeit zu Zeit spüre ich, wie alles in mir revoltiert. Wenn nun aber stattdessen alle, Schauspieler und Regisseur, ihren gesamten Vorrat an Ideen und Vorschlägen, an Träumen und Phantasien einbringen, wenn sie ihre Zweifel gemeinsam lösen, dann wird die Probe zu einem Ereignis, zu einem solch wichtigen Moment, dass freudig erwartet und sorgfältig vorbereitet wird.

In letzter Zeit können wir im Theater eine alarmierende Entwicklung sehen: die für die Proben vorgesehene Zeit wird Stück für Stück reduziert. Man muss für jeden zusätzlichen Tag kämpfen. Die limitierte Probenzeit setzt Schauspielern und Regisseuren in gleichem Maße Grenzen in ihrer kreativen Suche. Sie sind gezwungen, dem Ergebnis Vorrang vor dem Prozess einzuräumen. Jeder sieht ein, dass hier etwas grundsätzlich nicht gut für das Theater ist, lässt sich aber die Bedingungen diktieren und die Situation wird dadurch zunehmend schlechter. Es ist offensichtlich – wenn man dem wachsenden Druck standhalten will, muss man seine Methoden und Techniken ändern, sei es bei der Arbeit an der Rolle oder beim Produktionsprozess als Ganzem. Der Regisseur wird als Gewinner hervorgehen, der als erster den Schwerpunkt in seiner Arbeit mit den Schauspielern verschieben kann:

Meiner Ansicht nach sollte das Zentrum der Aufmerksamkeit verlegt werden und zwar in Richtung individueller Vorbereitung durch die Schauspieler selbst. Die „Hausaufgaben“ des Schauspielers sollten in der gesamten Zeit der Vorbereitung mehr Raum einnehmen. Gleichzeitig müssen sie aber methodisch organisiert und mit geeigneten Übungen versehen werden. Ihre Anleitung muss professionellen Maßstäben genügen und aufhören, der Suche nach der schwarzen Katze im schwarzen Raum zu ähneln. Die Theaterproben sollten höchstens ein Drittel der Zeit einnehmen, die man insgesamt für Vorbereitung und Produktion veranschlagt hat. Ihre Qualität richtet sich nicht nach der Menge der verbrachten Zeit, sondern vielmehr nach ihrem Inhalt. Halten wir sie kurz und sporadisch ab. Das einzig Wichtige: sie sollten von allen Seiten gut vorbereitet und fruchtbringend sein. Ein hohes Niveau der unabhängigen Vorbereitung der Schauspieler macht die Probe zu einem wahrhaft kreativen Prozess, macht sie zu dem künstlerischen Ereignis, von dem wir alle – Schauspieler und Regisseure – immer träumen.

Die meisten Lehrbücher für Schauspiel, die ich kenne, vermeiden das Problem der Arbeit außerhalb des Theaters oder sie gehen nicht über das hinaus, was Konstantin Stanislawskij schon vor langer Zeit vorgeschlagen hat. Stanislawskij war tatsächlich der erste Theaterregisseur, der sich ernsthaft mit dem Thema der Vorbereitung des Schauspielers beschäftigt hat: „Mehr als alle anderen Künstler muss der Schauspieler zu Hause arbeiten“1. Er versuchte selbst den Schwerpunkt zu verschieben, indem er die meiste Arbeit von der Bühne auf das Gebiet der selbstständigen Vorbereitung verlegte und meinte: „die große Mehrheit der Schauspieler glaubt fest, nur während der Proben arbeiten zu müssen, zu Hause hingegen, sich auszuruhen zu können. Das Gegenteil ist der Fall. Auf den Proben geht es lediglich darum, Klarheit in das zu bringen, was zuvor zu Hause erarbeitet werden muss. Aus diesem Grunde halte ich Schauspieler für unglaubwürdig, die in den Proben viel reden, statt sich Notizen zu machen um ihre Arbeit zu Hause zu planen.“2

Bezogen auf den letzten Satz, betrachtete Stanislawskij die Proben im Theater lediglich als Vorbereitung auf die eigentliche Aufgabe der Rollenerarbeitung, die zu Hause stattfinden sollte. Er hielt es für notwendig, die Schauspieler mit exakter und sorgfältiger Arbeitsweise, nicht nur während der Proben sondern auch für die Zeit zu Hause, vertraut zu machen. Schließlich machen die Proben auf der Bühne oder in den Schauspielschulen den weitaus kleineren Teil der schauspielerischen Rollenerarbeitung aus. „Es genügt nicht ( … ) nur während den Unterrichtsstunden zu lernen, denn hier erfahren sie nur, was sie tun müssen. Zu Hause müssen sie selbst an sich arbeiten, und die Unzulänglichkeiten korrigieren, auf die der Lehrer sie hingewiesen hat.“3

Stanislawskij war der erste Theaterdirektor, der für seine Schauspieler spezielle Hausaufgaben formulierte während er an einer Inszenierung arbeitete – und auch einforderte, dass sie vollständig gemacht würden. Während er sich in seiner frühen Arbeitsphase hauptsächlich darauf beschränkt hatte, dem Schauspieler vorzuschlagen, eine imaginierte Biographie der zu spielenden Figur zu erstellen, erweiterte und vertiefte er die, dieser Arbeitsweise innewohnenden, Möglichkeiten. „Auf der Probe befassen wir uns mit Empfindungen, die in unserem affektiven Gedächtnis gespeichert sind. Um sie zu verstehen, zu erfassen und festzuhalten, müssen wir ein passendes Wort, einen Ausdruck, ein anschauliches Beispiel oder einen anderen Köder finden, mit dessen Hilfe wir dasjenige Gefühl hervorrufen und fixieren können, um das es geht. ( … ) Das ist ein hartes Stück Arbeit, das dem Künstler große Konzentration abverlangt.“4

Einige Jahre später änderte Stanislawskij bis zu einem gewissen Grade seine Herangehensweise. Als er versuchte die Methode der physischen Handlungen für die Proben einzuführen, empfahl er den Schauspielern, sie nicht nur auf der Probe, sondern auch zu Hause anzuwenden. „Man kann zu Hause die Rolle entlang der physischen Handlungen durchgehen. Sie müssen sich an die Linie der einfachen, elementaren physischen Handlungen halten und sich zu Hause das Leben des entsprechenden menschlichen Körpers aneignen; und das ist nicht nur möglich, sondern unerlässlich.“5

Leider hat die tägliche Theaterpraxis Stanislawskij nicht die Chance gegeben, seine Methode der eigenständigen Schauspielerarbeit so ausführlich und erschöpfend zu entwickeln wie die Übungen zur Probenarbeit auf der Bühne. Sogar die Schauspieler seines eigenen Theaters waren sehr damit zufrieden, die Hauptlast der Arbeit auf den Schultern ihres Meisters zu belassen. Sein langer Kampf gegen Abhängigkeit und parasitäre Haltung zeitigte minimale Ergebnisse.

In jedem Falle liegt der große Verdienst von Stanislawskijs Ansatz in der Tatsache, dass er als erster Theaterdirektor zu bedenken gab, dass nur durch wohl organisierte Hausaufgaben Schauspieler erhoffen können, ihr wirkliches Potential, das sie von Natur aus in sich tragen, auch gänzlich zu entfalten. Spätere Generationen von Regisseuren und Lehrern haben viele brillante Probenmethoden entwickelt, aber die Vorbereitung der Schauspieler wurde weiterhin als deren persönliche Eigenverantwortung befunden, in die nicht eingegriffen werden sollte. Heute wird es immer deutlicher, dass diese Haltung ein Fehler war. Die Zeit der „Naturtalente“ ist vorbei. Heute spürt man die dringende Notwendigkeit für eine professionelle Recherche, wie die selbstständige Vorbereitung zu organisieren sei, eine Recherche, die nach Mitteln und Wegen sucht, wie dieses fast unbekannte Gebiet der Schauspielkunst entwickelt werden kann.

2. Das Spiel nach anderen Regeln

Künstler zu sein heißt vor allen anderen Dingen, die göttliche Natur wahrzunehmen und diese göttliche Natur dank der eigenen Persönlichkeit zu verstehen. Wahrscheinlich sind das die zwei wichtigsten Voraussetzungen für einen Künstler. Letztere ist eng mit der Fähigkeit des Schauspielers verknüpft, sich selbst zu hören und sich mit der eigenen Person in Einklang zu bringen. Leider bleibt diese Gabe oft unentdeckt und wird manchmal sogar bewusst zerstört. Je mehr ein Regisseur Schauspielern vertraut, so ist meine Erfahrung, desto mehr vertrauen sie sich selbst. Damit einhergehend zeigen sie viel größere Fähigkeiten, den Erarbeitungsprozess ihrer Rolle zu organisieren, und umso stärker entwickelt sich ihre künstlerische Natur. Umgekehrt, je mehr Einfluss ein Regisseur auf Schauspieler nimmt, desto schwächer werden sie als Künstler, desto so langweiliger ist es, mit ihnen zu arbeiten.

Wenn ich von dem Prozess der eigenständigen Erarbeitung der Rolle spreche, meine ich damit in erster Linie die Entwicklung des unabhängigen künstlerischen Denkens. Mit anderen Worten, die reine Bildung eines Schauspielers ist nicht ausreichend. Es versteht sich von selbst, dass heutige Schauspieler gebildete und intelligente Menschen sein müssen. (Das ist eher eine Platitude, die nicht der Wiederholung lohnt, obwohl sogar dieser Aspekt manchmal sehr zu wünschen übrig lässt.) Aber Schauspieler der neuen Generation müssen Künstler, Poeten – in jedem Falle unabhängige Meister ihres Faches werden. Sie müssen fähig sein, eigene Entscheidungen zu treffen, ihre Rollen zu erschaffen und diese auf der Bühne zu verkörpern. Kein anderer trägt die Verantwortung für die eigene Arbeit, für das eigene Leben und schließlich für das eigene Glück, als man selbst. Schließlich ist es Ansporn und sogar die eigentliche Bedeutung dieses Berufs – die Fähigkeit, Glück und Freude zu fühlen.