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40 Fragen an eine Rolle: Eine Methode zur selbstständigen Erarbeitung der Rolle (Taschenbuch) Eine Methode der Fragen? Eine Frage der Methode. Das ganze Theatersystem, jede Methode, die hier vorgeschlagene inbegriffen, hat nur dann Sinn, wenn sie künstlerisch und nicht dogmatisch aufgefasst wird. Es erwartet Sie ein Buch der Fragen und nicht der vorgefertigten Antworten. Fragen sollen als Schlüssel zum Wesentlichen dienen. Die Technik, Fragen an eine Rolle zu stellen, bereichert Schauspieler und Regisseure um die seltene aber vitale Qualität, eigene frühere Ideen zu hinterfragen und mit sich selbst eine Perestroika anzuzetteln. Riskieren Sie es, und Sie werden eine wunderbare Welt in der Rolle entdecken, voll der verschiedensten Rätsel und Geheimnisse, die Tausende von Antworten in sich tragen. Manchmal erhalten wir sie in der ersten Sekunde, manchmal nie. Für den Autor, Regisseur und Schauspielpädagoge Prof. Dr. Jurij Alschitz steht die Selbstständigkeit der Schauspieler als Protagonist eines modernen lebendigen Theaters im Vordergrund. Die Fragen an eine Rolle fördern die Eigenständigkeit bei der Rollengestaltung. Regisseure und Pädagogen finden Anregung und Unterstützung für die eigene Vorbereitung und den Probenprozess und die Lehre.
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Seitenzahl: 159
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Jurij Alschitz
40 Fragen an eine Rolle
eine Methode zur selbstständigen Erarbeitung der Rolle
aus dem Russischen von Ruth Wynekenherausgegeben von Christine Schmalor
ars incognitaBerlin 2005
Prolog
Die Freiheit, Fragen zu stellen
Die Arbeitsmethode, die Sie in diesem Buch kennen lernen werden, kann man ebenso „Sokratische Fragen an eine Rolle“ nennen. Was eine sokratische Frage ist? Platon nannte dieses Können seines Lehrers Sokrates „Maieutik“, was aus dem Altgriechischen übersetzt „Hebammenkunst“ bedeutet. In einer sokratischen Frage kreuzen sich mehrere Gedankenströme, die uns zur Wahrheit führen. Die Liebe zu den Dialogen Platons und das Studieren der Kunst des Sokrates – eines Menschen, der es verstand, Fragen zu stellen – brachten mich dazu, diese Methode auch im Theater anzuwenden. Das Befragen – als ein Mittel der selbstständigen Erforschung einer Rolle, als Proben- und Unterrichtsmethode – ist in dieser Form einzigartig und hat, wie mir scheint, heutzutage eine große Perspektive, obwohl bereits Denker des letzten Jahrhunderts sich darüber Rechenschaft ablegten, wie hoch die Rolle des Fragenstellens zu werten ist. Das riesige Potential, das in der Kunst liegt, Fragen zu stellen, wurde immer schon höher bewertet als Antworten. Die Prinzipien der Dialektik sind allgemein bekannt: die Kunst der Wahrheitserkenntnis mit Hilfe von gekonnten Fragestellungen und den darauf erfolgenden Antworten. Die Lösung eines wissenschaftlichen Problems, egal auf welchem Gebiet, beginnt oft vor allem mit einer Fragestellung, und der Prozess der Erforschung ist stets in erster Linie ein Befragen. Dasselbe gilt auch für das Theater. Ist doch eine Rollenanalyse nichts anderes, als ein Prozess der Erkenntnis, was aber bedeutet, dass der Schauspieler ebenfalls die Kunst des Fragens lernen muss.
Die richtige Frage zu stellen ist nicht einfach. Bloß nichts zu wissen – das ist zu wenig. Und nach nichts zu fragen geht auch nicht. In einer Frage gibt es keine strenge Abgrenzung zwischen Wissen und Nichtwissen; die Grenzen sind fließend, mehr noch – eines geht in das andere über. Oder, wie die Alten sagten: das Wissen davon, dass wir nicht wissen, ist bereits ein Wissen über das Nichtgewusste. Das Wissen, das in einer Frage verborgen ist, dient bereits als Basis für eine Vorwärtsbewegung. Hinter einer Frage und dem Vermögen des Befragens sollte eine besondere Logik stehen, die Logik der Frage-Antwort-Relation. Als Regisseur und Theaterlehrer bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass im Stellen von konkreten Fragen sehr viel mehr Sinn für eine professionelle Erforschung der Rolle liegt, als in einer informativen, oft nur auf das Resultat hinzielenden Analyse. Es ist kein Geheimnis, dass viele Regisseure und Lehrer sofort Hunderte von Antworten vorschlagen, wobei sie nicht nur darauf hinweisen, was, wie, wann und aus welchem Grund etwas geschah, sondern auch, wie man dies auffassen soll. Ein Regisseur rät einem Schauspieler, wie man diese oder jene Rolle spielt, ohne darüber nachzudenken, dass beim Spieler noch nicht einmal die Fragen zur Rolle geboren wurden. Solche schon früher vorbereiteten Antworten fallen auf unvorbereiteten Boden und bringen deshalb keinerlei Ergebnisse. Aufgrund meiner persönlichen Erfahrung kann ich wohl mit Überzeugung sagen, dass dies ein Weg mit sehr niedrigem Koeffizienten ist, was die Teilnahme des Schauspielers an der Rollenanalyse betrifft. Wenn man aber die Taktik der Probe ändert, wenn der Regisseur Fragen stellt und der Schauspieler Antworten sucht, nimmt die Qualität der Analyse gleich zu. Dies ist dann bereits keine monologische, sondern eine dialogische Analyse. Bei einem echten Dialog handelt es sich aber nicht einfach nur um Frage – Antwort, sondern vor allem um eine gemeinsame Bewegung zur Erkenntnis hin. Bei solch einer sokratischen Rollenanalyse stellt der Regisseur Fragen, nicht um seine eigene Meinung zu verkünden, sondern viel mehr, um den Schauspieler nach Kräften für eine gemeinsame Suche zu stimulieren. In diesem Fall lässt sich der Schauspieler in die Suche hineinziehen, er präzisiert die Fragen des Regisseurs durch seine eigenen Fragen und horcht gleichzeitig nach, ob darin nicht schon die gesuchte, unbekannte Antwort versteckt liegt. Wenn der Regisseur die Frage richtig stellt, wird der Schauspieler, während er nach einer Antwort sucht, nicht nur nach einer einzigen Variante streben, sondern das Gebiet der Fragen ausdehnen und seine Antwort in ein ganzes Thema verwandeln. Deshalb besteht die Aufgabe eines Regisseurs bei einer solchen Arbeitsmethode nicht darin, eine Frage so schnell wie möglich abzuschließen. Er muss vielmehr das entfachte Feuer der Neugier am Leben erhalten und neue Fragen hinwerfen und dabei versuchen, den Weg für eine lebendige Energie der Erkenntnis zu öffnen. Auf diese Weise nähern sich Regisseur und Schauspieler im Dialog dem Gebiet der Antworten. Sie suchen gemeinsam nicht nach einer, sondern nach einer Summe von Antworten.
Doch in den letzten Jahren habe ich diese Arbeitsmethode modifiziert, weil ich dachte, dass die Arbeitsqualität besser werde, wenn der Schauspieler selbstständig seine Fragen formuliert und selbst darauf Antworten findet. Ich bemühte mich darum, dass beim Schauspieler eigene Fragen zur Rolle auftauchen und er erst danach mit der Suche nach Antworten beginnt. Dabei handelt es sich ebenfalls um eine dialogische Analyse, doch es ist ein innerer Dialog, der vom Schauspieler eigene, freie Entscheidungen fordert. Selbstständig gefundene Erkenntnisse sind und bleiben immer die eigenen! Das ist wichtig.
Ich versuche noch andere Gründe zu nennen, warum ich die Methode verändert habe. Es gibt diesen Ausdruck „Freiheit ist das Recht, Fragen zu stellen“. Meiner Auffassung nach sollte jede Arbeitsmethode an der Rolle vor allem die Freiheit des Schauspielers wahren. Gewöhnlich spricht man von der Freiheit der Handlung des Schauspielers und seiner Ausdrucksfähigkeit, doch in der heutigen Theaterpraxis ist gerade das Problem der Freiheit in der Wahrnehmung des Schauspielers überaus wichtig. Was ist damit gemeint? Vor allem ist es die Fähigkeit und Möglichkeit des Schauspielers, frei – ohne äußere emotionale, intellektuelle oder andere Einflüsse – das Material der Rolle zu sehen, zu hören, zu fühlen, und – als höhere Erscheinungsform der Freiheit – es vertrauensvoll der Welt zu öffnen. Aber garantieren denn die Sinnesorgane des Schauspielers ihm diese Freiheit etwa nicht? Eben nicht – und genau darum geht es. Die Wahrnehmung ist eine seelische Arbeit des Schauspielers und nicht die seiner Sinnesorgane. Und die Seele öffnet sich erst, wenn Freiheit erscheint. Deshalb ist dies so wichtig. Wie interessant die Arbeit mit einem Regisseur auch sei – die unmittelbare Wahrnehmung des Schauspielers erlischt dabei rasch und wird zu einer vermittelten, bedingten Wahrnehmung, das heißt aber: zu einer abhängigen und unfreien. Eine passive Wahrnehmung ist meiner Ansicht nach die Hauptkrankheit der heutigen Schauspieler. Das ist der Grund, weshalb ich in den letzten Jahren meine Aufmerksamkeit vor allem auf die selbstständige Arbeit des Schauspielers richtete, denn ich meine, dass er nur auf diese Art und Weise in eine lebendige, aktive Position zurückgeführt werden kann.
Die Kunst, Fragen zu stellen, ist eine seltene, doch sehr notwendige Eigenschaft des heutigen Schauspielers, die eine Umstellung vieler seiner traditionellen Arbeitsprinzipien erfordert. Aus einer befragenden Position heraus spielt der Schauspieler nicht nur die Rolle, erlebt sie und stellt sie dem Zuschauer vor – sondern er richtet Fragen an sie. Auf diese Art erforscht er die Rolle. Indem er eine Frage stellt, öffnet sich der Schauspieler für die ihm unbekannte Rolle, bereitet sich auf die Begegnung vor, auf eine Beziehung mit ihr. Sie sind jetzt zusammen. Ich bin überzeugt davon, dass so wie der Schauspieler sich zu der Rolle hinbewegt, sich auch die Rolle auf ihn zubewegt. Sie sind einander gleichwertig, so wie ein Fragender und ein Antwortender einander gleichwertig sind. Auch die Rolle selbst erforscht den Schauspieler, das Niveau seiner Kultur, seines Denkens, weil nämlich der Schauspieler mit seinen Fragen bekundet, wo und an welchem Punkt des Nichtwissens er gerade steht. Aus eben diesem Grund begrüßen Zuschauer es stets, einen denkenden Schauspieler zu sehen, der auf der Bühne interessante Fragen stellt und nicht bloß immer wieder dieselben bereits fertigen Antworten gibt. Bei einer Frage wird immer sichtbar, ob sich darin mächtige Energie verbirgt, die ein persönliches Interesse und den Wunsch des Schauspielers zeigt, unbekanntes Terrain zu klären – oder ob es bloß um eine formelle Kommunikation geht. Wenn bei einem Schauspieler Fragen zur Rolle aufkommen, kann er sich gar nicht mehr distanziert, ohne einen persönlichen Aufhänger zur ihr verhalten. Die Rolle türmt sich zu einer riesigen, noch nicht eroberten Welt vor ihm auf, die von ihm eine aktive Position verlangt. Probleme in der Rolle, die er als seine eigenen, persönlichen annimmt, erlauben dem Schauspieler seine eigene Welt mit der Welt der Rolle in Beziehung zu setzen, verschiedene Logiken zu vergleichen, zwischen dem einen und dem anderen Leben auszuwählen. Nur eine solche Position hebt den Schauspieler auf die gleiche Ebene wie die Rolle, und aufgrund dessen stellt sich heraus, dass ein Schauspieler, indem er der Rolle Fragen stellt und sie erkennt, sich vor allem selbst erkennt.
Wenn der Schauspieler anfängt zu spüren, dass in ihm Fragen auftauchen, wird die Arbeit sofort leicht und interessant vonstatten gehen. Das wichtigste beim Fragenstellen ist, dass man spürt wie man sich nach vorne bewegt. Dies wird hauptsächlich erreicht aufgrund einer freien Montage der Fragen. Sowie der Schauspieler anfängt merkt, dass die Energie einer Frage versickert, muss man die nächste Frage stellen und sich nicht auf ein- und dasselbe versteifen. Jeder Übergang zu einem neuen Fragenkomplex entfacht einen Funken Wahrheit. Gerade aufgrund einer Montage der Fragen kann ein innerer, verborgener Kern der Rolle zum Vorschein kommen. Die Kunstgriffe der Montage sind sehr vielfältig: sie können scharf, kontrastreich oder weich sein, die vorige Frage weiterführen oder die nächste in sich bergen. Versuchen Sie es, und Sie werden merken, dass dies eine sehr fesselnde und schöpferische Übung ist.
40 Fragen sind nicht genug. Tatsächlich können es unendlich viele sein. Ich war bemüht, lediglich das Hauptprinzip einer Analyse dazustellen. Alle Fragen in dieser vorgeschlagenen Methode sind ungefähre Fragen. Sie haben die Aufgabe, den Schauspieler zu eigenen Fragen zu animieren. Natürlich können nicht alle möglichen beliebigen Fragen, sondern nur solche, die zu den ewigen, weltweiten, ungelösten gehören, ihn dazu bringen, neue Qualitäten in sich zu öffnen – die eines Erforschers, der an sich glaubt, an seine eigene Weisheit. Das ist wichtig. Erinnern Sie sich daran, dass Sokrates vom Orakel von Delphi zum „Weisesten aller Menschen“ ausgewählt wurde (davon erzählt Platon in der Apologie des Sokrates). Er selbst aber war doch davon überzeugt, dass er „nichts wisse“, und um die Ehrenbezeichnung zu rechtfertigen, begann er, anderen Menschen Fragen zu stellen, die als weise galten. So kam Sokrates zum Schluss, dass die Überzeugung vom eigenen Nichtwissen ihn zum weisesten der Menschen mache, da andere dies nicht mal wüssten. Probieren Sie Ihre Kräfte! Riskieren Sie etwas, und ich bin davon überzeugt, dass Sie eine wunderbare Welt in der Rolle für sich öffnen, die voll von den verschiedensten Rätseln und Geheimnissen ist. Sie werden gleichermaßen Ihre eigene Welt öffnen, in der sich Tausende von Fragen angesammelt haben, die immer Tausende von Antworten haben. Und die erscheinen uns manchmal in der ersten Sekunde, manchmal aber auch erst nach Jahren.
Einleitung
Am Anfang war das Chaos
All meinen Tätigkeiten liegt die Liebe zur Ordnung zu Grunde. Ich würde sogar sagen, eine Leidenschaft zur Ordnung. So bin ich gestrickt, so wurde ich erzogen. Aber bei alledem liebe ich das Chaos ungeheuer. Ich muss unbedingt mit Chaos beginnen, um den Reiz der Ordnung zu spüren: Dass zu Anfang gar nichts verständlich ist, sich dann alles erschließt und für einen Augenblick klar wird – als hätte ich die Augen geöffnet; danach sich alles wieder verschließt und nichts mehr zu sehen ist. Ähnlich wie bei einem Kinderspiel.
Die Analyse einer Rolle ist auch ein Spiel und keine langweilige Arbeit, wie sich das Schauspieler oft vorstellen und sie deswegen nicht besonders mögen. Das weiß ich. Sie scheint ihnen wohl zu schwierig zu sein, als sei sie nur intellektuellen Regisseuren vorbehalten. Doch tatsächlich sind die Regeln einer Analyse simpel – im totalen Chaos gilt es, Schönheit zu entdecken. Das ist alles.
Es heißt, Chaos sei etwas für geniale Leute, normale Menschen aber bräuchten eine sichtbare Ordnung; Dummköpfen müsse man alles zeigen und dazu erklären; Idioten müsse man alles zeigen, erklären und das Ganze noch einmal wiederholen. Das ist alles unseriöses Geschwätz. Tatsächlich ist es gar nicht so einfach, das eine vom anderen zu unterscheiden: Genialität von Dummheit, Ordnung von Chaos. Alles existiert gleichzeitig und zusammen. Es ist nicht nur schwer zu trennen, sondern ergänzt sich sogar in gewissem Sinne gegenseitig.
So sollte man sich, wie mir scheint, auch zur Analyse einer Rolle verhalten – nicht alles kann darin analytisch zerlegt und nicht alles richtig zusammengefügt werden, manchmal ist das auch gar nicht einmal nötig. Man muss einfach damit spielen. Man muss Fragen stellen.
Viele Schauspieler meinen, eine Rolle zu analysieren heißt, für sich die Handlungen der zu spielenden Figur* in der gegebenen Situation zu erklären, die Motive ihrer Taten zu entdecken, die Logik ihrer Beziehungen zu anderen Personen zu verstehen, die Organik ihrer Gefühle zu finden und so weiter. Kurz – eine solche Analyse führt dazu, dass man die Grundlagen des psychologischen Lebens erforscht und nur sie. Das ist eindeutig zu wenig. Ich möchte sogar weitergehen und sagen: es ist gefährlich. Gefährlich, weil die psychologische Analyse einer Rolle zu einer Massenerkrankung der Schauspieler in weltweitem Maßstab geworden ist. Heute versuchen Schauspieler sogar in einer griechischen Tragödie psychologische Erlebnisse der Helden zu spielen. Als wenn sie in einer Rolle nichts weiter als die Psychologie des Menschen zu sehen vermögen. Ich erinnere mich, wie eine Gruppe aus Mozambique unter der Regie eines schwedischen Regisseurs einmal das Traumspiel von A. Strindberg als psychologisches Theater spielten. Etwas Komischeres als das habe ich nie gesehen. Sie aber dachten, dies sei das System von Stanislawskij. Armer Konstantin Sergejewitsch, wenn er das gesehen hätte! Gerade er, der in seinen letzten Unterrichtsstunden betonte, dass eine einseitige, nur psychologische Analyse die schauspielerischen Möglichkeiten zur Erforschung einer Rolle äußerst einschränke und arm mache. Doch wer hörte gegen Ende seines Lebens noch auf seine Ratschläge? Die Bakterien des „Psychologismus“ hatten sich schon in den Theatern ausgebreitet. Und bald erreichten sie den Maßstab einer Massenepidemie. Deshalb sagte ich: das ist gefährlich. Mir scheint es sehr wichtig, hier noch etwas genauer zu werden, bevor ich zu meinen vorgeschlagenen Fragen an die Rolle komme.
In seiner Geschichte hat sich das Theater vor allem in zwei Richtungen entwickelt: in der ersten wurde eine geistige Welt erforscht, in der zweiten eine materielle Welt, in der das praktische Leben des Menschen genauer betrachtet wurde. Allmählich wurde die zweite Richtung dominierend. Und während das Theater sich in dieser Richtung entwickelte, erlangte es immer perfektere Erkenntnisse über das menschliche Verhalten in unterschiedlichen Lebenssituationen. Doch die Situationen wiederholten sich, auch wenn sie Tausende von Variationen erfuhren, und liefen letztendlich auf die, wie man sagt, zwanzig wichtigsten Plots hinaus. Dann fingen die Wiederholungen an. Aus den Variationen der lange bekannten Plots entwickelten sich bestimmte situative Schemata. Damals, mit dem Einsetzen des Naturalismus und des Realismus im 19. Jahrhundert, wandte sich das Theater dem Menschen als seinem wichtigsten Objekt zu. Im Theater fing man an, die Psychologie des Menschen, die vielfältigen Motive seines Verhaltens und den Reichtum des menschlichen Charakters zu erforschen und begründete das mit der Individualität menschlichen Verhaltens, auf ein und dieselbe Situation nicht gleich zu reagieren, und dass sich jeder von uns durch nicht wiederholbare Gefühle und Emotionen unterscheide.
Lange ergötzte der Gedanke an die menschliche Einzigartigkeit das Bewusstsein der Schauspieler und inspirierte sie zur Erschaffung von unzähligen menschlichen Typen und deren Beziehungen untereinander auf der Bühne. Das Theater schritt in dieser Entwicklung voran, und das brachte ihm bedeutenden Erfolg. Aber seien wir ehrlich, immer wieder keimte der Verdacht auf, dass die Menschen sich im Großen und Ganzen lediglich durch Lappalien unterscheiden. Haben wir aber diese Schlussfolgerung einmal anerkannt, so müssten wir auch anerkennen, dass wir auf der Bühne mit dem Studieren dieser Lappalien beschäftigt sind. Da wir uns damit aber nicht einverstanden erklären wollten, drangen wir, wie es uns schien, immer tiefer in die Geheimnisse der menschlichen Psychologie ein – in Wirklichkeit aber erarbeiteten wir uns immer mehr schauspielerische Klischees. Als wenn die Schauspieler das Theater eines Euripides oder Shakespeares vergessen hätten, vergessen hätten, dass neben dem menschlichen Charakter etwas noch Höheres existiert, was das Schicksal des Individuums formiert, sein geistiges Streben, das nicht mit den Besonderheiten seines Charakters zusammen hängt, sondern eher mit dem Auftrag, der ihm auferlegt wurde oder dem er sich im Leben gewidmet hat.
Die psychologische Wahrheit der menschlichen Individuen und deren Beziehungen untereinander wurden zum einzigen Kriterium in der Bühnenkunst. Alle suchten auf der Bühne nur eines: die „Wahrheit des Lebens“. Doch schuf das Theater, indem es sich diesen Mantel überzog, nur die Illusion von Lebenswahrheit und mehr nicht. Auf der Bühne wurde dem Zuschauer mit Hingabe gezeigt, „…wie die Menschen essen, trinken, lieben, laufen, ihre Jacketts tragen; wenn sie einem mit banalen Bildern und Phrasen Moral einbleuen wollen, eine enge, leicht verständliche Moral, die zum häuslichen Gebrauch taugt; wenn man mir in tausend Varianten ein- und dasselbe auftischt, ein- und dasselbe, ein- und dasselbe…“**. In diesen Worten von Konstantin Treplew klang zum ersten Mal ein Unbehagen über die auf der Bühne dominierenden Prinzipien eines „nützlichen“ Theaters, seiner leichten Zugänglichkeit, seines Abklatsches von Leben, das heißt aber auch: seiner Abhängigkeit vom Alltagsleben. Die Erforschung des inneren, psychologischen Lebens, wurde abgelöst durch seine äußere Abbildung, und das wurde ziemlich „lebendig“ gemacht. Der Autor der Möwe schlug vor mehr als hundert Jahren Alarm, nachdem er bemerkt hatte, dass das Theater in seinem einseitigen Denken allmählich die Eigenschaft verlor, sich weiter zu entwickeln. Es wiederholte sich, stand still oder trat im besten Falle auf der Stelle. Die junge, noch nicht verdorbene Schauspielerin Nina Saretschnaja lehnt es ab, ihre Rolle ohne psychologisches Fundament zu spielen und fordert einen „lebendigen Charakter“. A. Tschechow schlägt mit Dorns Worten aus dem gleichen Stück einen anderen Weg vor: „…stellen Sie nur Wichtiges und Ewiges dar“, die Kunst soll in den Bereich der Träume und höheren Ideen streben. Genau da, im Bereich des Geistes, passiert die wahrhaftige Formgebung des Menschen wie auch der menschlichen Beziehungen. Doch diesen Rat hat kaum jemand befolgen wollen.
Hundert Jahre sind vergangen. Konstantin Treplew hat sich erschossen. Tschechow ist gestorben. Was hat sich in unserer Anschauung des Theaters geändert? Die erdrückende Mehrheit der Schauspieler baut die Rolle nur auf der Basis des psychologischen Lebens ihrer Helden auf, nur auf dem Fundament des psychologischen Konfliktes und Ereignisses. Ich möchte nicht sagen, das sei nicht richtig, doch ist es nicht genug, weder für die Rolle des Schauspielers noch für die Rolle des Theaters. Das, was wir uns als ureigenstes Gepäck im Leben aneignen, taugt effektiv nur für das Leben selbst, es taugt jedoch überhaupt nicht fürs Theater.
Diese Einseitigkeit in der Analyse einer Rolle bringt den Schauspieler auf ein niederes, dem Alltag verhaftetes Niveau im Denken, er studiert, grob ausgedrückt, die „Küchenbeziehungen“ auf der Bühne. Dies schränkt sein künstlerisches Potential ein, verengt das Territorium des künstlerischen Schaffens, verdirbt das Spiel zum Klischee, führt zu einem Verfall von Meisterschaft. Lassen sie mich erklären, warum…