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Jeder lügt – aber manche Lügen sind tödlich ... Der neue hoch spannende Roman von Gilly Macmillan, Bestsellerautorin von »Die Nanny«!
Lucy war neun Jahre alt, als ihr kleiner Bruder verschwand. Lucy war die einzige Zeugin und ihre Aussage der einzige Anhaltspunkt für die erfolglosen Ermittlungen. Doch ob ihre Erinnerungen an die Nacht wahr sind, weiß Lucy selbst nicht – seit ihrer frühen Kindheit hat sie eine blühende Fantasie, die sie manchmal die Grenzen der Realität überschreiten lässt. Drei Jahrzehnte später hat Lucy es geschafft, aus dieser Eigenschaft Kapital zu schlagen – sie ist eine gefeierte Bestsellerautorin und lebt mit ihrem Mann Dan in Bristol im Süden Englands. Doch als der sie mit dem Kauf eines alten, imposanten Hauses überrascht, beginnt für Lucy ein Albtraum. Das Haus steht ausgerechnet auf der anderen Seite des Waldes, in dem damals ihr Bruder verschwand. Lucy kann sich den Erinnerungen, die geweckt werden, nicht entziehen. Dann verschwindet Dan spurlos, Lucy ist die Hauptverdächtige, und sie muss sich fragen, zu was sie wirklich fähig ist – und was damals im Wald geschah.
Packend, perfide, atmosphärisch: Lesen Sie auch »Die Nanny«, den Bestsellerroman von Gilly Macmillan!
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Seitenzahl: 400
Buch
Lucy war neun Jahre alt, als ihr kleiner Bruder verschwand. Lucy war die einzige Zeugin und ihre Aussage der einzige Anhaltspunkt für die erfolglosen Ermittlungen. Doch ob ihre Erinnerungen an die Nacht wahr sind, weiß Lucy selbst nicht – seit ihrer frühen Kindheit hat sie eine blühende Fantasie, die sie manchmal die Grenzen der Realität überschreiten lässt.
Drei Jahrzehnte später hat Lucy es geschafft, aus dieser Eigenschaft Kapital zu schlagen – sie ist eine gefeierte Bestsellerautorin und lebt mit ihrem Mann Dan in Bristol im Süden Englands. Doch als der sie mit dem Kauf eines alten, imposanten Hauses überrascht, beginnt für Lucy ein Albtraum. Das Haus steht ausgerechnet auf der anderen Seite des Waldes, in dem damals ihr Bruder verschwand. Lucy kann sich den Erinnerungen, die geweckt werden, nicht entziehen. Dann verschwindet Dan spurlos, Lucy ist die Hauptverdächtige, und sie muss sich fragen, zu was sie wirklich fähig ist – und was damals im Wald geschah.
Die Autorin
Gilly Macmillan wuchs in Swindon, Wiltshire auf und lebte in ihrer Jugend einige Jahre im Norden Kaliforniens. Sie arbeitete beim Burlington Magazine, für die Hayward Gallery und als Dozentin für Fotografie. Heute widmet sie sich ganz dem Schreiben. Gilly Macmillans Romane erfreuen sich besonders in Großbritannien großer Beliebtheit und sind allesamt Bestseller. Sie lebt mit ihrer Familie in Bristol, England.
Mehr Informationen zur Autorin unterwww.gillymacmillan.com
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GILLY MACMILLAN
DIE VERTRAUTE
ROMAN
Aus dem Englischen von Sabine Schilasky
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »To tell you the truth« bei Century, London.
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Copyright © der Originalausgabe 2020 by Gilly Macmillan
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Kerstin Kubitz
Covergestaltung: Sandra Taufer, München
Covermotive: Shutterstock.com (Konmac; Elymas; Evgeny_Popov; InnaPoka; Dinga; ilolab; Kichigin; R3BV; Umberto Shtanzman; Wirestock Creators; Yeryomina Anastassiya); iStock.com/DGLimages
JB Herstellung: sam
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-28071-0V002
www.blanvalet.de
Für meine Familie
»Fiktion ist nicht nur das, was man in Büchern findet. Fiktion sind auch die Lügen, die wir uns selbst erzählen. Das können stabile Lügen sein, die wir als Gerüst nutzen, solche mit scharfer Kante, mit denen wir unser Gewissen rein schaben, oder solche, die sich, einer weißen Schneedecke gleich, über Dinge legen, die wir lieber nicht sehen wollen. Es gibt viele andere Erscheinungsformen, doch all das sind Lügen, und wir lieben und verachten sie.
Die einzige Möglichkeit, die Erschaffung einer eigenen Fiktion zu vermeiden, ist die, überhaupt nicht zu denken.«
Die WahrheitLucy Harper
Es gibt die Fakten, und dann gibt es die Wahrheit.
Dies sind die Fakten.
Es ist Sommersonnenwende, Juni 1991.
Du bist erst neun Jahre alt. Du bist klein für dein Alter. Die Schulschwester hat empfohlen, dass du abnimmst. Es fällt dir schwer, Freunde zu finden, und oft bist du einsam. Du wirst gehänselt. Die Lehrer und deine Eltern ermuntern dich häufig, mehr an Gruppenaktivitäten teilzunehmen, aber du bist lieber mit deiner imaginären Freundin zusammen.
Wir wissen, dass du in der Nacht in Stoke Woods warst, weil bei deiner Rückkehr Laub und Tannennadeln an deiner Kleidung und in deinem Haar haften, du Schmutz unter den Fingernägeln hast und nach Holzrauch stinkst.
Dein Zuhause ist Charlotte Close Nummer sieben, ein bescheidenes Haus, identisch mit allen anderen in einer kurzen Sackgasse und erbaut in den Sechzigern auf einem Stück Land, das ein Milchbauer verkauft hatte. Die Sackgasse ist nahe Stoke Woods und anderthalb Meilen von der berühmten Hängebrücke entfernt, die den halb ländlichen Bereich mit der Stadt Bristol verbindet.
Wir wissen, dass du um 01:37 Uhr zu Hause ankommst, drei Stunden und sechs Minuten vor Sonnenaufgang.
Was die restlichen Geschehnisse betrifft, beschreibst du sie in den darauffolgenden Tagen viele Male, und natürlich malst du ein außergewöhnlich lebendiges Bild, denn schon in dem Alter kannst du gut mit Worten umgehen.
Du erzählst es so:
Das Seitenstechen fühlt sich wie ein Messer an, aber du wagst nicht, stehen zu bleiben oder langsamer zu werden, als du durch den Wald nach Hause rennst. So weit dein Blick reicht, ragen Bäume wie eine stumme, drohende Armee auf. Mondlicht blinkt durch den Baldachin aus Baumkronen und wirft milchige Sprenkel auf den Unterwuchs und macht die Schatten mal kürzer, mal länger. Das Bild kippt.
Du rast durch das dichtere Unterholz, wo du sonst sehr vorsichtig gehen würdest, aber nicht heute Nacht. Brennnesseln zerkratzen dir die Schienbeine, und das vermoderte Laub auf dem Boden fühlt sich wie Treibsand unter deinen Schuhen an. Unter der knisternden oberen Schicht ist alles feucht und gierig.
Es wird ein wenig leichter, als du den Weg erreichst, obwohl er uneben ist und kleine Kiesel unter den Sohlen wenig Halt bieten. In der Nase brennt dir noch der Geruch vom Feuer.
Die Pforte zum Parkplatz ist leicht zu öffnen, wie schon viele Male zuvor, und von dort ist es nur ein kleines Stück nach Hause.
Jeder deiner Schritte knallt hart auf das Pflaster, und bis du in der Charlotte Close ankommst, tut dir alles weh. Deine Brust hebt und senkt sich. Du ringst nach Luft. Am Ende der Einfahrt bleibst du stehen. Sämtliche Lichter in eurem Haus brennen.
Sie sind auf.
Deine Eltern sind für gewöhnlich ordentliche Silhouetten. Sie sind saubere, bescheidene Leute.
Noch ein Fakt: Mit dir und deinem kleinen Bruder steht ihr vier, auf dem Papier, für eine sehr durchschnittliche Familie.
Doch als die Haustür aufgeht, stürmt deine Mutter heraus, und im Licht aus der Diele wird ihr Nachthemd durchsichtig, sodass du den schrecklichen Eindruck hast, sie würde dir nackt auf dem Weg entgegenkommen. Und daran ist nichts normal. An dieser Nacht ist nichts normal.
Deine Mum schließt dich in die Arme. Es fühlt sich an, als würde sie die letzte Luft aus dir pressen. Und sie sagt »Gott sei Dank« in dein zerzaustes Haar. Du lehnst dich an sie, was sich wie ein Fallen anfühlt.
In ihrer festen Umarmung denkst du, bitte, kann dieser Moment für immer dauern? Kann die Zeit stehen bleiben? Aber natürlich kann sie das nicht. Genau genommen dauert der Moment nur eine oder zwei Sekunden, denn wie jede gute Mutter hebt deine den Kopf und blickt über deine Schulter zu dem Weg hinter dir, in die Dunkelheit, wo die Straßenbeleuchtung unzureichend ist und das Mondlicht hinter einem Wolkenfetzen verschwunden. Wo das einzige andere Licht das Garagentor von Nummer vier rahmt. Und deine Mutter sagt die Worte, vor denen du dich gefürchtet hast.
»Aber wo ist Teddy?«
Du kannst ihnen nichts von deinem Versteck erzählen.
Das darfst du nicht.
Eliza wäre böse.
Deine Mum hält dich so fest bei den Oberarmen, dass es wehtut. Du hast das Gefühl, dass sie dich womöglich gleich schüttelt. Es kostet dich alle Kraft, sie anzusehen, die Augen weit aufzureißen und alles Böse aus ihnen wegzubekommen, das sie darin an ihnen ablesen könnte, und zu sagen: »Ist er nicht hier?«
Ich tippte »Ende«, klickte auf »Speichern« und gleich noch einmal, um sicher zu sein. Es war eine riesige Erleichterung, meinen Roman fertig zu haben, und obendrein empfand ich eine berauschende Mischung aus Freude und Erschöpfung. Aber ich war auch furchtbar nervös, schlimmer als sonst, weil diese Worte zu schreiben bedeutete, mich den Konsequenzen einer heimlichen Entscheidung zu stellen, die ich vor Monaten getroffen hatte.
Jedes Jahr schrieb ich ein neues Buch, und der Entwurf, den ich gerade fertig hatte, war mein fünfter Roman, ein wertvolles Gut, mit Spannung von Verlagen in London, New York und anderen Städten auf der ganzen Welt erwartet. »Wertvolles Gut« waren die Worte meines Agenten, nicht meine, doch unrecht hatte er nicht. Jeden Tag stellte ich mir beim Schreiben vor, wie die Verleger auf das Manuskript warteten und dabei mit den Füßen im Staccato unter dem Schreibtisch auf den Boden tippten. Und diesmal war ich besonders nervös, weil ich wusste, dass ich ihnen etwas schicken würde, mit dem sie nicht rechneten.
»Mutig«, hatte Eliza gesagt, als sie begriff, was ich getan hatte.
»Tut mir leid«, sagte ich zu ihr und meinte es ernst. Ihre Stimme hatte eine neue und scheußlich raspelnde Note, aber alles hatte seinen Preis. Unter anderen Umständen wäre Eliza die Erste gewesen, die darauf hingewiesen hätte, denn mein Mädchen war pragmatisch.
Ich wusste, was ich als Nächstes tun musste, so beängstigend es auch sein mochte. Ich hatte eine Strategie, Mut zu sammeln, was immer schwer war, denn oft verlor er sich im Wirbel und Zweifel des Schreibens.
Bis dreißig zu zählen, dauerte länger, als es sollte, weil ich langsam machte – ich war eine Meisterin der Vermeidung –, doch als ich bei null war, fokussierte ich wie ein zielender Heckenschütze. Ein Fingertippen, und der Roman war fort, draußen, dreihundertfünfzig Seiten auf dem Weg zu meinem Agenten, per E-Mail, und es war zu spät, noch etwas zu ändern.
Ich wartete eine Minute, bevor ich in meinem Mail-Eingang nachsah, ob er den Empfang bestätigt hatte. Hatte er nicht. Ich löschte die E-Mails verschiedener Mode-Websites, die mir neue »Sales« anboten, weil ich es hinterhältig von ihnen fand, mich in einem Moment an meine Internet-Einkaufsgewohnheiten zu erinnern, in dem etwas Bedeutsameres geschah; allerdings sah ich einen Overall, den ich mir später vielleicht doch genauer anschauen würde. Er hatte eine buttrige Farbe, angeblich »der Renner in diesem Frühjahr« und »perfekt kombinierbar«. Verlockend und eindeutig noch einen zweiten Blick wert, aber nicht jetzt.
Ich trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. Aktualisierte das Postfach. Nichts. Ich klickte zurück und sah nach, ob sie den Overall in meiner Größe hatten. Hatten sie. Und es gab auch keine Warnung à la »Nur noch wenige vorrätig«. Schön. Trotzdem legte ich einen direkt in den Einkaufskorb. Für alle Fälle. Und kehrte zur E-Mail zurück. Aktualisierte wieder. Immer noch nichts. Checkte den Spam-Ordner. Dort war nichts von Max, aber es war gut zu wissen, dass heute Nacht heiße Frauen in meiner Stadt für Sex zu haben waren. Ich löschte alle Spams, aktualisierte mein Eingangsfach erneut. Keine Veränderung.
Ich griff nach dem Telefon und rief an. Er ging sofort ran. Er hatte eine schöne Stimme.
»Lucy! Sekunde bitte, ich bin auf der anderen Leitung«, sagte er. »Ich muss nur noch kurz jemanden loswerden.« Damit stellte er mich in die Warteschleife. Dass er aufgekratzt klang, machte mich ein bisschen unruhig. Nicht etwa, weil ich mich zu ihm hingezogen fühlen würde, bitte nicht auf falsche Gedanken kommen, sondern weil er derjenige war, mit dem ich an meiner Karriere bastelte, der Vermittler zwischen mir und meinen Verlagen, der die Verträge aushandelte, der Retter, wenn Dinge schiefgingen, und der Empfänger eines Prozentanteils meiner Honorare.
Max und ich brauchten einander, und ich war seine mit Abstand erfolgreichste Klientin, weshalb es kein Wunder war, dass er seine Ungeduld zu überspielen versuchte, als mein Abgabetermin für den ersten Entwurf nahte, und mich via Telefon und E-Mail anfeuerte. Wenn ich ihn persönlich traf, fiel mir stets auf, dass seine Fingernägel bis zum Nagelbett runtergenagt waren.
Einen Moment später war er wieder dran. »Jetzt gehöre ich ganz dir.«
»Es ist fertig.«
»Du verdammtes Wunderkind!« Ich hörte die Tastatur, als er in seinen Mail-Eingang sah. »Hab’s«, sagte er. Es folgte ein Doppelklick, mit dem er den Anhang öffnete. Ich stellte mir seinen Blick vor, als er die erste Seite sah. Sekunden verstrichen, die sich wie ein Jahrtausend anfühlten.
»Max?«
Las er? War er von den allerersten Zeilen meiner Geschichte gefesselt, oder überflog er den Anfang und war bereits entsetzt oder maßlos enttäuscht? Meine Nerven lagen blank, und ich machte aus einer Drei-Sekunden-Pause eine Katastrophe.
»Ich lese es sofort«, sagte er. »Jetzt gleich. Und du musst auflegen und feiern. Rücke vor bis auf Los. Gönn dir was. Nimm ein Bad, mach eine Flasche mit irgendwas Leckerem auf, sag deinem Mann, er soll dich verwöhnen. Ich melde mich, sobald ich alles gelesen habe.«
Zu Beginn meiner Karriere, bevor ich zum ersten Mal in Max’ Büro gewesen war, hatte ich versucht, es mir vorzustellen. Ich dachte, er wäre der Typ, der in einem Lederstuhl sitzt, weich genug gepolstert, damit sein Hintern bequem darin versank, und an einem großen Schreibtisch mit einer blankpolierten Oberfläche, in der sich das Licht aus dem Fenster gegenüber spiegelte. Letzteres war wahrscheinlich kunstvoll gestaltet, mit Bleiverglasung vielleicht oder von Stuck umrahmt. So kam Max mir trotz seiner abgekauten Fingernägel vor: wie ein Drahtzieher. Nur der hätte solch einen Schreibtisch. Einmal hatte ich ihm davon erzählt – wir müssen schon einige Cocktails intus gehabt haben, sonst hätte ich nie gewagt, es laut auszusprechen. Er hatte träge gelächelt, was zu seinen asymmetrischen Zügen passt.
»Aber du bist die, die über Leben und Tod entscheidet«, antwortete er. »Fiktiv gesprochen«, ergänzte er einen Tick später.
Es stimmte.
Abgesehen von dem Stuhl, dem Schreibtisch und den architektonischen Feinheiten, stellte ich mir Max’ Büro auch chaotisch vor. Eine schön gerahmte Unordnung, deren Bild in meinem Kopf mir sehr gut gefiel.
Ich konnte in den abwegigsten Dingen Schönheit entdecken. Das muss man, wenn sich Gewalt durch die eigene Arbeit zieht. Ich schätze, jeder Thriller-Autor hat seine eigene Art, damit umzugehen.
Und übrigens, als ich endlich mal Max’ Büro aufsuchte, war es kein bisschen so, wie ich erwartet hatte.
Nach Max war immer Daniel, mein Ehemann, die zweite Person, die erfuhr, wenn ich ein Buch abgeschlossen hatte. Aber ich wollte einige Momente für mich, bevor ich es ihm sagte. Momente, in denen ich mich nicht beobachtet fühlte, denn ich hatte ständig das Gefühl, Leute würden mich beobachten.
Mein erster Roman war vor vier Jahren erschienen und explodierte in der Krimiszene (die Worte meines Verlags, nicht meine). Monatelang hielt er sich weit oben auf der Bestsellerliste. Und man stellte mir das Konzept von einem Buch pro Jahr vor – von dem Max und meine Verleger beteuerten, dass es unglaublich wichtig sei. Seitdem wurde mir eine extreme Aufmerksamkeit zuteil. Die Leute beobachteten, was ich als Nächstes schrieb, und lernten einzuschätzen, wie schnell ich war. Sie beobachteten mich bei Veranstaltungen und online. Mit Argusaugen. Sie bombardierten mich über Social Media mit Nachrichten. Ich hatte sogar einen bisher nicht identifizierten Fan, der herausfand, in welchem Haus Dans und meine Wohnung war – in einem schlichten Viertel von Bristol voller Graffiti und Coffee-Shops –, und Geschenke vor die Tür legte.
Allerdings waren die nicht im eigentlichen Sinne für mich. Die Heldin meiner Romane war Detective Sergeant Eliza Grey. Ihre Figur basierte auf der imaginären Freundin aus meiner Kindheit. (Schreib über das, was du kennst, heißt es, und das tat ich.) Leute waren verrückt nach Eliza, und jene Geschenke waren für sie. Darunter waren ihr Favorit (Moltebeerenmarmelade, die sie entdeckte, als sie im zweiten Band für einen Fall nach Oslo »ausgeliehen« wurde) und ihr Lieblingsgetränk (ein koffeinhaltiger Energy-Drink). Mich beunruhigten sie, gestehe ich freimütig, ganz gleich wie gut sie gemeint waren. Ich bat Dan, sie zu entsorgen, denn es fühlte sich wie ein Eindringen in meine Privatsphäre an.
Es hatte mich schockiert, wie plötzlich und umfassend ich nach Erscheinen meines ersten Eliza-Buches zu öffentlichem Eigentum wurde. Damit hatte ich nicht gerechnet, und hätte ich gewusst, dass es so weit kommen würde, hätte ich meinen Roman wohl gar nicht erst an Literaturagenten geschickt. Sobald ich die Rechte an jenem Buch verkauft hatte, scherte niemanden mehr meine natürliche Neigung, mich ganz in mein Privatleben zurückzuziehen.
Mein Moment des Alleinseins im Arbeitszimmer war enttäuschend. Anstatt ein Gefühl friedlicher Ruhe zu empfinden (im Gegensatz zu angespannter Einsamkeit, wie ich sie gewöhnlich beim Schreiben erlebte), konnte ich nur die Unordnung sehen.
Wochenlang hatte ich mich in diesem Raum eingesperrt, um mein Buch fertigzustellen, und einen irrsinnigen Arbeitsrhythmus eingehalten, bis spätabends geschrieben und bei Morgengrauen wieder angefangen, einzig unterbrochen von wenigen Stunden Schlaf. Es war eher eine Tarantella als ein Walzer gewesen, und das sah man. Sogar mein Drucker wirkte müde; die Ausgabefächer hingen schief heraus, Papier lag auf dem Boden darunter, wie eine Kurtisane, deren Kunde soeben gegangen war. Und sie träumte davon, ihn zu heiraten. (Aber ich darf meinen Drucker nicht vermenschlichen. Was würde man von mir denken?) Unter all den Stapeln ausgedruckter Entwürfe und Recherchematerialien, die eine Art Skyline bildeten, waren Fußboden und Couchtisch kaum noch auszumachen.
»Musst du wirklich deinen Kram auf einem echten Perserteppich ausbreiten?«, hatte Dan vor einigen Wochen von der Tür aus gefragt, als sämtliche Oberflächen voll waren und das Chaos auf den Boden überzugehen begann. So hatte ich darüber noch gar nicht nachgedacht. Ich oder eigentlich wir beide waren eher an billige IKEA-Einrichtung gewöhnt, anders kannten wir es nicht. Doch nun waren wir an einem Punkt angelangt, an dem Dan sich für die edleren Dinge im Leben zu begeistern begann, die mit dem neuen Reichtum dank meiner Bücher einhergingen. Und er passte sich schneller an als ich. Er hatte Zeit, sich dem Luxus hinzugeben und zu überlegen, wie wir das Geld ausgaben; ich, angesichts meiner Arbeitsbelastung, nicht. Ich konnte es mir nicht leisten, von der Arbeit aufzublicken und die Veränderung in unserem Leben zu genießen. Vielmehr nahm ich sie gar nicht recht wahr.
Es war nicht bloß der schicke Teppich, der noch einiger Gewöhnung bedurfte. Unser Cottage selbst spiegelte bereits, was wir uns neuerdings erlauben konnten. Die Wochenmiete hatte mir beinahe die Tränen in die Augen getrieben und beleidigte meinen Hang zu Sparsamkeit und Einfachheit. Aber Dan hatte darauf bestanden, dass wir hier wohnen müssten.
»In der Wohnung hältst du die letzte Phase bei diesem Buch nicht durch«, hatte er mit einer enervierenden Autorität behauptet, die er in Jahren zu den Themen Schreiben und Kreativität entwickelt hatte, in jüngster Zeit allerdings immer häufiger auf unseren Haushalt übertrug. »Sie ist zu eng. Da treten wir uns auf die Füße.«
Er hatte recht, und ich wusste es, aber ich liebte das Schreiben in unserer gemütlichen Zweizimmerwohnung mit Blick auf die kleine Ladenzeile gegenüber und dem Duft aus der Bäckerei, der jeden Morgen zu uns herüberwehte. Und ich war abergläubisch. Bisher hatte ich alle meine Bücher in der Wohnung geschrieben. Was, wenn sich ein veränderter Alltag auf mein Schreiben auswirkte? Wenn er signalisierte, dass ich mich überschätzte? Jeder wusste, dass die höchsten Mohnblumen als erste geköpft wurden.
Doch während diese Befürchtungen wie Schmetterlinge in meinem Bauch aufstoben, war mir klar, dass ich Dans Wünsche sorgfältig überdenken musste, denn er arbeitete jetzt Vollzeit für mich, und es machte das Problem, wer bei uns das Sagen hatte, überaus heikel. Ich überlegte, wie ich meine Einwände gegen das Cottage so formulieren könnte, dass ich ihn nicht vor den Kopf stieß, nur fehlten mir die passenden Worte. Beim Schreiben flossen sie immer, steckten mir jedoch wie ein Haarball in der Kehle, sobald ich für mich selbst eintreten musste.
Seinen Siegersatz brachte Dan in einem sanfteren Ton vor: »Wir können es uns leicht leisten. Ich habe mir die Zahlen angesehen. Und stell dir vor, auf dem Land zu sein … noch dazu am Meer! Das würde uns so guttun.«
Für emotionale Erpressung war ich ebenso empfänglich wie für potenzielle Romantik. Schreiben ist ein einsamer Beruf. Und was das Geld betraf, musste ich ihm vertrauen, weil er die Finanzen für mich regelte. Steuerformulare und Zahlentabellen lösten Panik bei mir aus.
Ich willigte ein, das Haus zu mieten, und beobachtete, wie er »Jetzt buchen« klickte, wobei ich das befremdliche Gefühl hatte, mein Leben wäre mir soeben ein wenig entglitten.
Und ich sollte noch etwas anderes erwähnen, um ganz offen zu sein.
Auf dem Papier war unser Arrangement nett, zum Nutzen beider Seiten und privilegiert. Ich würde jedes Jahr einen Thriller schreiben, weiter Geld scheffeln und Dan mir all die Unterstützung bieten, die ich brauchte. Doch in dieser Suppe schwamm ein ziemlich langes, ekliges Haar.
Und das war Folgendes: Mein Assistent zu sein, war nicht die Existenz, die Dan sich erträumt hatte. Er hatte vorgehabt, selbst ein Bestsellerautor zu werden.
In der Nacht, in der Teddy verschwindet, wartest du bis Mitternacht, ehe du versuchst, das Haus zu verlassen. Du willst unbedingt los, denn in wenigen Stunden geht die Sonne auf, und nur bis dahin sind die Geister draußen, bewegen sich unter echten Menschen, treiben Unfug, spielen Streiche.
Du weißt, was in der Mittsommernacht passiert, weil du es in der Bücherei nachgeschlagen hast. Du bist eine sehr kluge Neunjährige. »Außergewöhnlich klug«, hat deine Lehrerin in dein Zeugnis geschrieben. »Liest und schreibt auf einem Niveau deutlich über ihrer Altersgruppe.«
Deine Zimmertür quietscht und du verharrst. Du zählst bis zehn, als nichts geschieht, wiegst du dich in Sicherheit und trittst auf den Flur. Aber da geht Teddys Tür auf.
»Was machst du?«, fragt er.
Du bedeutest ihm, still zu sein, scheuchst ihn zurück in sein Zimmer, hilfst ihm ins Bett und drückst ihm seine Kuscheldecke so neben den Kopf, wie er es mag.
»Schlaf weiter«, flüsterst du, streichelst sein Haar. Er steckt den Daumen in den Mund. Die Lider fallen ihm zu. Du zwingst dich zu bleiben, bis er wieder eingeschlafen ist.
Du bist gerade wieder zur Tür geschlichen, als er sagt: »Lucy, du sollst hierbleiben.«
Du ballst die Fäuste. Du willst sehr gern in den Wald gehen. Seit Wochen hast du das geplant. Du drehst dich um. Er sieht niedlich aus, wie er so daliegt.
»Kannst du richtig leise sein?«, fragst du.
»Teddy kann leise sein.« Er spricht meistens in der dritten Person von sich. Später wird jemand sagen, dass es ist, als hätte er immer gewusst, dass er nicht lange unter uns sein würde.
»Nimm ihn nicht mit«, sagt Eliza in deinem Kopf. Deine imaginäre Freundin hat zu allem eine Meinung.
»Aber er wird weinen, wenn ich es nicht mache«, antwortest du stumm, »und Mum und Dad wecken.«
»Dann kannst du nicht gehen.«
Das kommt für dich nicht infrage. Du streckst die Hand aus, und Teddys Augen leuchten.
»Willst du mit auf ein Abenteuer kommen?«, fragst du ihn.
Allein in meinem Arbeitszimmer zu sitzen fühlte sich nicht einfach nur enttäuschend an. Ich hatte noch dazu auch ein schlechtes Gewissen, weil das Ende des Buches eine gute Neuigkeit war und Dan verdiente, sie gleich mit mir zu teilen. Mein Zeitplan war für uns beide stressig, und er brauchte diesen Moment des Feierns genauso sehr wie ich.
Ich erhob mich vom Stuhl und verließ meine Höhle mit dem Gefühl, durch ein Portal zu schreiten. Dan war in der Küche und rührte in einem Eintopf. Einen Moment beobachtete ich ihn, bevor er mich bemerkte. Er schien irgendwie in Gedanken, denn der Holzlöffel kräuselte gerade mal die Oberfläche des Topfinhalts.
»Hi«, sagte ich von der Tür aus. Er drehte sich um, lächelte verhalten und versuchte offensichtlich, meine Verfassung einzuschätzen. Sein erster Impuls war ganz klar, dass er in dieser Phase des Buches vorsichtig mit mir sein musste. Hier stand ich, sein ganz eigener Gollum, dessen kostbarer Besitz ein Roman war. War ich fertig? Endlich? Oder hatten sich meine glasigen, blutunterlaufenen Augen nur auf den blinkenden Cursor oben auf einer leeren Seite gerichtet, während sich ein gutes Stück hinter dem Sehnerv mein Verstand vor Zweifeln zerfleischte?
All diese Fragen sah ich in seinen Augen und hatte die blöde Idee, dass es witzig sein könnte, die Anspannung zu lösen, indem ich ihm meine gute Nachricht in Form eines kleinen Siegestanzes überbrachte. Ich setzte eine Faust auf die andere, dann noch einmal, wechselte die Position und schwang die Hüften ein wenig. Alles ganz unbeschwert. Doch es kostete mich einiges an Konzentration, erschöpft, wie ich war. Vielleicht habe ich also die Stirn gerunzelt, aber ich wollte es versuchen, weil es etwas war, das er und ich dauernd taten, eine spaßige Ausdrucksweise, die wir teilten, die uns zum Kichern brachte.
Doch Dan machte nur große Augen. Es war, als wüsste er nicht mehr, wie man sich albern ausdrückte – oder wollte es nicht. Verlegen hielt ich inne. Er warf sich das Geschirrtuch, das er gerade in der Hand hielt, über die Schulter. »Wie läuft es?«, fragte er. Er hatte sich die neue Schürze umgebunden, die ich ihm gekauft hatte und auf der stand: »Ich kann so gut kochen, wie ich aussehe.«
Und er sah gut aus, geschmeidig, beherrscht und sehr gepflegt. Der Dan, den ich vor sieben Jahren kennengelernt hatte, der leicht zottelige, pummelige Mann, der sich von kreativer Leidenschaft und Discounter-Lebensmitteln ernährte, war vom Geld verwandelt worden. Heute achtete er nicht nur auf sein Äußeres, sondern hatte auch in anderer Hinsicht daran gearbeitet, sich zu verbessern. Er kannte sich jetzt mit Wein aus, hatte in ein schickes Auto investiert. Er hatte mich sogar ermuntert, mir eine Stylistin zuzulegen, aber dafür hatte ich keine Zeit. Auch bei anderem fehlte mir die Zeit, mit ihm mitzuhalten. Die einzige Anstrengung, die ich unternahm, mein Äußeres aufzupeppen, waren meine gelegentlichen Online-Einkäufe, und selbst bei denen war ich mir nie ganz sicher, ob ich das Richtige kaufte.
Ich wusste nicht genau, wann Dans Verwandlung begonnen hatte. Während ich mein zweites Buch schrieb? Das dritte? Nach dem großen Tantiemenscheck? Der Ein-Buch-pro-Jahr-Plan bedeutete, dass mich die Zeit manchmal verwirrte; sie war so linear wie ein Kartenspiel, das jederzeit neu gemischt werden konnte. Fiktion zu schaffen, ließ keinen mentalen Raum für geordnete Erinnerungen an die Realität. Meine kamen mir wie hohe Gräser vor, die mal in diese, mal in jene Richtung geweht werden konnten.
»So waren deine Erinnerungen schon, bevor du mit dem Schreiben angefangen hast«, murmelte Eliza. Ich konnte es nicht leugnen. Eliza und ich waren immer ehrlich zueinander.
»Erde an Lucy«, sagte Dan. »Hallo?« Er klang gereizt, denn er hasste es, wenn ich abschaltete.
»Ich habe das Buch fertig. Es ist eben an Max gegangen.«
»Wirklich?«
Ich nickte und lächelte ihm zu, und mir wurde bewusst, dass es wahrscheinlich mein erstes Lächeln seit Längerem war. Die nötigen Wangenmuskeln waren erschlafft, doch sie wieder zu nutzen, fühlte sich herrlich an. Dan umarmte mich, und ich merkte, wie das Adrenalin in einem Schwall aus meinem Körper wich, als würde Dan es aus mir herausquetschen. Er roch nach Holzrauch und dem Ragù, das er kochte. Das Aroma von Normalität. Ich landete wieder auf der Erde, kehrte ins Leben zurück und blinzelte im Tageslicht.
»Gratuliere«, sagte er in mein Haar. Es hatte etwas entzückend Intimes. »Verdammt gut gemacht. Was kann ich tun? Möchtest du einen Tee?«
Ich setzte mich mit der Grazie eines Mehlsacks, der aus großer Höhe fiel, an den Tisch. Mir war, als wäre ich nach Monaten aus dem Krankenhaus entlassen worden. Nun war alles möglich. Normalität war möglich. Ich könnte Dan für alles entschädigen, was er für mich getan hat. Wir könnten ein bisschen Spaß haben. Vorausgesetzt, ihnen gefiel das Buch.
»Wenn du mir einen Tee machst, muss ich dich töten«, sagte ich, »oder mich zumindest scheiden lassen. Lass uns eine Flasche von etwas sehr Kaltem und sehr Gutem entkorken.«
Dan ging den Champagner holen. Wir hatten welchen mitgebracht, echten, keinen billigen Sekt. Noch ein Upgrade. Ich wagte nicht zu gestehen, dass ich die metallische Note nicht mochte, mit der mir der Champagner in der Nase kribbelte, und dass ich nach einem zweiten Glas manchmal weinen musste. Ich konnte ihm nicht sagen, dass ich im Geheimen den billigen Alkohol vermisste, den wir früher gern getrunken hatten.
Meine Stimmung trübte sich ein wenig ein, als Dan aus dem Raum war, weil ich unmöglich das Geheimnis vergessen konnte, das ich um das neue Buch gemacht hatte, und ich spürte, wie meine Mundwinkel nach unten gingen. Als ich ihn zurückkommen hörte, bemühte ich mich, wieder zu lächeln. Dies war nicht der geeignete Zeitpunkt, es ihm zu sagen. Vorher brauchten wir unsere Feier.
Ich sah zu, wie er die Gläser füllte. Der Champagner schimmerte leicht golden. Eines der Fenster war gekippt, und ich konnte das Meer hören und die Sonne hinter dem Scheunenfirst verschwinden sehen: eine wässrige gelbe Lichtkugel. Dan stellte eine Schale geröstete Nüsse auf den Tisch, hausgemachte, die ich am liebsten mochte. Er küsste mich mit trockenen Lippen und hob sein Glas.
»Gratuliere«, sagte er wieder. Ich bemerkte das hübsche Funkeln in seinen Augen, das ich seit einer Weile nicht mehr wahrgenommen hatte, und schmolz ein wenig dahin. Dann neigte er sein Glas sanft zu meinem, doch ich musste meine Nervosität hinunterschlucken, denn er gab mir einen Wink, und ich wusste, was ich sagen sollte. Ich sollte auf Detective Sergeant Eliza Grey anstoßen.
Einmal hatte ich für eine Sonntagszeitung über den Trinkspruch auf Eliza Grey geschrieben und geschildert, dass Dan und ich stets auf sie anstießen, wenn der erste Entwurf eines neuen Eliza-Buches fertig war. Fans lasen den Artikel und übernahmen unser kleines Ritual, schickten mir Fotos von sich, wie sie anstießen, nachdem sie den neuesten Eliza-Grey-Roman gelesen hatten. Es wurde zu einem Hit auf den Leserseiten im Internet und hatte sogar ein eigenes Hashtag: #Cheers-Eliza.
Ich brachte die Worte nicht heraus, die Dan erwartete, denn es käme einer Lüge gleich, nachdem ich Eliza in diesem Buch außer Gefecht gesetzt und quasi rausgestrichen hatte. Ich erspare allen die Einzelheiten. Kein Spoiler. Es war mein Geheimnis, der Grund, weshalb ich sogar noch nervös war, als ich feiern sollte.
»Warum hast du das getan?«, flüsterte Eliza, als es geschah. Es war schwer, sich an ihre durch die Verletzungen veränderte Stimme zu gewöhnen. Sie machte mir ein furchtbar schlechtes Gewissen.
Keiner will seine Kindheitsfreundin verletzen. Das Problem war, dass sie zu einer Art Störfaktor geworden war. Als ich beschloss, mich bei der Figur von Detective Sergeant Eliza Grey an ihr zu orientieren, war sie eine Stimme in meinem Kopf gewesen, meine Freundin, Vertraute und Beschützerin. Es war fantastisch, sie auf dem Papier lebendig werden zu lassen. Doch sie hatte sich weiterentwickelt, war irgendwie mehr geworden als Worte. Als wäre sie aus Ton geformt und ihr wäre Leben eingehaucht worden. Beim Schreiben des dritten Romans trat sie aus den Seiten hervor und in mein Leben.
»Ich sehe dich überall«, sagte ich ihr. »Damit kann ich nicht umgehen.«
Anfangs war es beherrschbar, doch es passierte immer häufiger, bis Dan auffiel, dass ich von ihr abgelenkt wurde. Er hatte komische Fragen gestellt, mir vorgeworfen, ich würde mich seltsam benehmen. Ich wusste nicht, wie ich es erklären sollte.
»Ich verschwinde, wann immer du willst«, hatte Eliza gefleht. »Du musst es bloß sagen.« Wir hatten beide gewusst, dass das nicht stimmte. Sie war viel zu eigensinnig, und ich hatte sie schon zu lange nicht mehr unter Kontrolle. »Ich will nicht aus den Büchern fliegen. Bitte, tu das nicht.«
Ich hatte ihr Flehen ignoriert. Es war nicht leicht, aber es musste sein. Seit ich die Szene geschrieben hatte, mit der sie rausflog, war sie mir nicht mehr erschienen, also hatte es funktioniert, obwohl es mich schmerzte, ihr wehzutun. Ihre Stimme hörte ich nach wie vor, was in Ordnung war, denn an die war ich gewöhnt. Ich erinnere mich an keine Zeit, in der es nicht so gewesen war.
Dan hielt sein Glas immer noch hin, runzelte verwirrt die Stirn und beschloss, für mich zu sprechen. Es kam ihm eigentlich nicht zu, doch er tat es trotzdem: »Cheers, Eliza!«
Er stieß sein Glas gegen meines, und ich lächelte. Mein Unbehagen spülte ich mit dem Champagner hinunter. Wie sollte ich ihm erklären, was ich getan hatte, wenn ich ihm nie die Wahrheit über sie sagen könnte, weil er sie nicht verstünde?
Was für ein Mensch erschafft denn eine Figur, die aus seinem Buch heraus in sein Leben spaziert?
Er würde denken, dass ich den Verstand verloren hatte.
Dan bemerkte mein Unbehagen nicht. In dem Bestreben, mir schnell noch einmal Champagner nachzuschenken, warf er die Nussschale um, die ich allerdings schon fast geleert hatte. Er war aufgedreht.
Ein fertiger erster Entwurf bedeutete nicht nur ein gewisses Maß an Freiheit für uns beide, sondern auch Zahlungen. Nicht sofort – das Buch musste erst das Lektorat durchlaufen und richtig fertig sein –, aber bald. Dan führte Buch über meine Einkünfte. Regelmäßig starrte er auf den blinkenden Cursor in der Excel-Tabelle, in die er mein Honorar eintrug, sobald es eingegangen war. Das liebte er.
Wir nahmen unsere Gläser mit nach draußen und gingen ans Ende des Gartens, um zu sehen, wie die Sonne im Meer versank. Wellen krachten erbarmungslos gegen die Felsen. Die Wasseroberfläche war ein Spiel aus abertausenden Grau- und Silbertönen, die Gischt schaumig an den ölig schwarzen Klippen, deren Silhouetten nach jeder Woge neu aufragten.
Fröstelnd lehnte ich mich an Dans warmen Körper. Es war Balsam für meine schmerzenden Muskeln, meinen müden Verstand und meine Nerven. Nach Monaten in der Gesellschaft fiktiver Personen fühlte sich der Moment unglaublich vertraut an.
Eine Weile sprach keiner von uns. Der salzige Wind hätte unsere Worte ohnehin gleich wieder fortgeweht. Wir tranken unseren Champagner, und schließlich weinte ich. Darauf war nach dem zweiten Glas Verlass, ebenso auf das schleichende Gefühl von Angst.
Die ganze Zeit musste ich daran denken, wie es Max ging oder gehen würde, wenn er die Szene in meinem neuen Manuskript las, in der Eliza aus dem Verkehr gezogen wurde. Wie schockiert wäre er? Würde er hektisch durch die Seiten scrollen und sich vorstellen, wie Geld ihm zwischen den Fingern zerrann, während er vergeblich hoffte, ich hätte eine Art Taschenspielertrick angewandt und ließe Eliza wenige Seiten später wieder auftauchen?
Ich wusste, dass er zunächst verzweifelt wäre, da machte ich mir nichts vor. Die Frage war, ob sich das legen würde, wenn er den Rest des Buches las. Mein Magen krampfte sich zusammen. Beruhige dich, befahl ich mir. Dieses Buch ist viel besser als alle deine anderen. Es ist ein Neuanfang für dich. Doch meine Courage verflüchtigte sich.
Dan bemerkte nicht, dass ich aufgewühlt war. Er blickte auch hinaus aufs Meer. Meine Tränen würde er sowieso als Erschöpfung deuten. Es war nicht das erste Mal, dass ich nach Abschluss eines Buches weinte. Jedes hatte seine eigene Art, mich auszulaugen.
Der Wind trocknete meine Wangen, und nach einer Weile lachte ich leise und dachte, was sollte das überhaupt? Was geschehen war, war geschehen. Ich sollte zuversichtlich sein.
Als wir wieder im Haus waren, nahm ich ein Bad, und Dan kehrte in die Küche zurück, um das Abendessen zu machen. Er war immer noch aufgedreht, vibrierte beinahe vor Energie. Ich dachte, dass er einfach froh war, dass das Buch abgeschlossen war und wir endlich ein wenig Zeit gemeinsam verbringen konnten. Oben stieg ich in die Wanne mit den Klauenfüßen und sank unter den dichten Schaum, der meinen weißen Wabbelkörper so hübsch verbarg. Und ich räumte den Kopf frei, indem ich darüber nachdachte, wie viel diese Schaumtabs gekostet hatten.
Hinterher ging ich im Bademantel nach unten und rechnete damit, dass wir auf dem Sofa essen und einen Film sehen würden, wie es unser Ritual nach Abschluss eines Buches war. Aber Dan hatte den Küchentisch aufwendig gedeckt. Er hatte frische Blumen hingestellt, und eine weitere Champagnerflasche lehnte in einem eisgefüllten Kühler. Die Schürze war fort. Dan grinste.
»Was ist das denn?«, fragte ich.
»Freust du dich, morgen nach Bristol zurückzufahren?«
»Sicher. Wenn du das willst.« Ich hätte es vorgezogen, noch einige Tage hierzubleiben und richtig runterzukommen. Doch ich musste die Balance in unserer Ehe wahren und war bereit, mich zu fügen.
»Wenn wir da sind, muss ich dir etwas zeigen.«
»Was?«
»Eine Überraschung.«
Er entkorkte die Flasche, und ich zuckte zusammen, als der Korken quer durch den Raum flog. Champagner schäumte am Flaschenhals hinunter, und Dan leckte ihn ab.
»Was für eine Überraschung?«, fragte ich.
»Ich verrate nichts«, antwortete er. »Ich könnte, aber dann müsste ich dich umbringen.«
»Sag schon!«
»Nein, du musst warten.«
»Ist es eine gute Überraschung?«
»Oh ja!«
Das war aufregend. So etwas hatte Dan noch nie getan. Und ich war froh, dass ich die Stimmung nicht mit den Neuigkeiten zu Eliza verwürzt hatte.
Ich beugte mich vor, um ihn richtig zu küssen, doch er zog sich zurück und schenkte ein. Als ich es wieder versuchte, wich er abermals aus. Es war schwer, nicht gekränkt zu sein. Wir waren schon lange nicht mehr intim gewesen.
»Willst du nicht zuerst essen?«, fragte er. »Es ist alles fertig.« Vermutlich war ich hungrig. Dan schob mir ein Stück Parmesan und die Reibe hin. »Dein Job«, sagte er. »Und schürf dir nicht wieder die Fingerknöchel auf.«
Hätte er das nicht gesagt, wäre es gewiss gut gegangen. So aber machten mich seine Worte unsicher; außerdem waren meine Finger aufs Tippen trainiert, nicht aufs Reiben, und ich war müde, das Missgeschick mithin unvermeidlich. Meine Fingerknöchel bluteten nicht allzu lange.
Es war ein gutes Essen. Wir aßen Spaghetti mit spitzen Hügeln pudrigem Parmesan, und unsere Lippen röteten sich von der Soße. Dan schenkte immer wieder Champagner nach. Hinterher bestand er darauf, alles aufzuräumen, und ich legte mich aufs Sofa. Innerhalb von Sekunden übermannte mich der Schlaf wie eine schöne Droge, die mir sämtliche Sorgen nahm.
Jetzt frage ich mich, wie ich nicht ahnen konnte, was kommen würde. Wie ich, die sich aus dem Stegreif Böses vorstellen und es auf eine Weise zu Papier bringen konnte, dass meinen Lesern das Blut in den Adern gefror, so ahnungslos einschlafen konnte, die Wangenmuskeln schmerzend vom Lächeln. Es ist ein bisschen peinlich. Immerhin muss man kein Raketenforscher sein, um zu begreifen, dass nicht alle Überraschungen gut sind. Vor allem nicht, wenn man selbst ein Geheimnis hat.
Teddy besteht darauf, seine Kuscheldecke mitzunehmen, sitzt aber still, während du ihm die Schuhe anziehst, und ist sehr leise, als ihr durch die Charlotte Close geht. Deine Aufregung steckt ihn an. Du fühlst es an der Art, wie er deine Hand festhält, an dem Schweiß zwischen euren Handflächen, und als er zu dir aufsieht, grinst er breit. Teddy liebt es, Sachen mit dir zu unternehmen. Und er vertraut dir vollkommen.
Die Nacht ist klamm, der Himmel klar und von Sternen erhellt. Ein abnehmender Dreiviertelmond leuchtet, und du hast eine kleine Taschenlampe bei dir. Kribbelnde Vorfreude erfüllt dich.
Als du auf der Hauptstraße bist, lässt du ihn reden, hältst dich aber im Schatten, damit ihr nicht von vorbeifahrenden Autos aus zu sehen seid. Es kommt nur eines, das neben euch langsamer wird, und ihr duckt euch in eine Einfahrt, wartet dort. Du atmest schnell; das Gesicht nahe an Teddys, legst du den Finger an die Lippen. Er macht es dir nach. »Schhh«, sagt er. Der Wagen fährt weiter.
Du biegst auf den Weg ab, der zum Waldparkplatz führt, und sofort fühlst du es: Die Geister sind in den Bäumen.
»Kannst du sie fühlen?«, fragst du Teddy. Eine Brise lässt irgendetwas in der Nähe rascheln. »Teddy kann sie fühlen«, sagt er.
»Komm«, sagst du. Du hebst ihn über den Zaunübertritt. Es ist nicht einfach, weil er schwer ist, aber du schaffst es, und du führst ihn in den Wald.
»Was fühlt Teddy?«, fragt er, als ihr ein Stück in die Dunkelheit gegangen seid.
»Keine Angst«, sagst du. Dein Herz fühlt sich an, als würde es mehr als sonst pumpen. Dein Verstand tanzt.
»Keine Angst«, wiederholt er.
»So ist es richtig, Teddy«, sagst du.
Am nächsten Morgen fuhren Dan und ich zurück zu unserer Wohnung in Bristol. Bis wir aufbrachen, hatte ich immer noch nichts von Max gehört. Ich hatte ihm gemailt, dass wir wieder nach Bristol zurückkehrten, aber er hatte nicht geantwortet. Sein Schweigen nagte an mir, ebenso wie ein fieser kleiner Kater.
Die Heimreise fühlte sich wie der Beginn eines neuen Kapitels an. Ansichten von glitzerndem Wasser und sturmgebeugten Bäumen verschwanden im Rückspiegel, als wir schrittweise in die Zivilisation zurückkehrten und bald die Autobahn erreichten. Drei Spuren mit dichtem Verkehr zwischen Städten. Wir fuhren nach Norden. Dan beschleunigte und drehte die Musik lauter, und ich blickte aus dem Fenster und freute mich auf mein Zuhause. Ich hatte erwogen, ihm auf der Fahrt von Eliza zu erzählen, aber zuerst wollte ich wissen, was seine Überraschung war.
Einen ersten Hinweis bekam ich, als Dan nicht unsere übliche Abfahrt nahm. Ich sah zu ihm, und er blickte zu mir, die Augenbrauen hochgezogen. Er lächelte. Ich konnte das Lächeln nicht erwidern, weil ich diese Strecke kannte. Wir fuhren auf meine Kindheit zu, die Straße, in der ich aufgewachsen war. Charlotte Close.
Ich fixierte die Fahrbahnmarkierung und schaute nicht auf. In dieser Gegend kannte ich jede Wegmarke, und ich wusste, dass es hier nichts gab, was ich sehen wollte. Als wir uns der Kreuzung mit der Charlotte Close näherten, bekam ich ein Engegefühl in der Brust. Hier hatten Reporter kampiert, als ich Kind war, unaufhörlich meinen Namen gerufen, weil sie dringend mit mir reden wollten, selbst nachdem mein Dad sie angefleht hatte, uns in Ruhe zu lassen.
Als wir beinahe da waren, sagte Dan: »Es ist okay. Alles gut. Keine Panik.«
»Ja«, sagte ich. Mehr brachte ich nicht heraus.
»Atme«, flüsterte Eliza. Ich hörte auf sie und zwang mich, ruhig in ihrem Rhythmus zu atmen, bis wir das Ende der Charlotte Close hinter uns gelassen hatten und Dan weitergefahren war, vorbei an Stoke Woods, dem Wald direkt hinter den Gärten auf der einen Straßenseite.
Diesen Wald hatte ich von meinem Kinderzimmerfenster aus gesehen. Die alten Eichen gaben den Sauerstoff in die Luft ab, den ich atmete, und bezauberten mich.
Ich fühlte, wie sich meine Anspannung löste, als wir den Wald hinter uns ließen, doch die Erleichterung kam zu früh. Dan blinkte und drosselte den Motor, um in einen Weg auf der Rückseite des Waldes einzubiegen. An der Abzweigung stand ein Schild mit der Aufschrift »Privatweg«.
Als Kind war ich durch diesen Wald gestreift, aber nie so weit. Ich erinnerte mich vage, dass meine Eltern mit uns einmal hergefahren waren, um sich neugierig die großen Häuser anzusehen; ansonsten war diese Gegend bedeutungslos für uns. Ein anderes Land. Bis zu den Ermittlungen zu Teddys Verschwinden, als die Polizei die Anwohner befragt hatte. Es war nichts dabei herausgekommen, und wir hatten es wieder vergessen.
»Warum sind wir hier?«, fragte ich.
»Vertrau mir, ja?«, sagte Dan. »Entspann dich. Hab noch ein paar Sekunden Geduld.«
Nur auf einer Seite des Weges standen Häuser, auf der zum Wald hin. Auf der anderen Seite befand sich ein Grasstreifen mit einer imposanten Reihe von Blutbuchen, die gepflanzt worden sein musste, kurz nachdem die Häuser fertig waren. Dahinter war Ackerland.
Ich schaute die erste Einfahrt hinunter, die wir passierten, und sah ein eindrucksvolles viktorianisches Herrenhaus. Das Grundstück musste sehr groß sein, dennoch wirkte es, als stünde das Haus im Wald. Ich erschauderte.
Am Ende der nächsten Einfahrt standen zwei Häuser. Das eine war so prächtig wie das vorherige, wenn nicht noch prächtiger. Es teilte sich die Zufahrt mit einem moderneren, sichtlich von einem Architekten entworfenen Haus, das nicht älter als zehn Jahre sein konnte. Wie es aussah, war das moderne Haus auf einem Stück Land gebaut worden, das die Besitzer des größeren verkauft hatten. Und obwohl sie sich die Einfahrt teilten, standen die Häuser weit genug auseinander, um den Bewohnern Privatsphäre zu bieten. Auch diese Bauten waren von Wald umgeben.
»Mir gefällt es hier nicht«, sagte ich. Klaustrophobie packte mich. Meine Hände zitterten, und meine Handflächen waren feucht.
»Es ist okay«, entgegnete Dan. »Du wirst schon sehen.«
»Dreh bitte um«, sagte ich, doch er fuhr weiter, als hätte ich nichts gesagt.
Der Weg machte eine Biegung, hinter der er abrupt endete. Pfosten, zwischen denen Stacheldraht gespannt war, signalisierten, dass man nicht weiterkam. Hinter der Absperrung ging das Waldgebiet weiter. Links von uns gab es noch eine letzte Einfahrt, flankiert von verzierten Steinsäulen. Auf der einen stand ein Name: Cossley House. Dan bog in die Einfahrt. Sie war voller Schlaglöcher und von Unkraut überwuchert.
»Bitte«, sagte ich. »Ich möchte einfach nach Hause.«
Auf halber Strecke hielt Dan an. »Du musst mir vertrauen.« Sein Lächeln war verschwunden, und er legte mir die Hände an die Wangen. »Sieh mich an. Reiß dich zusammen, für mich.«
Ich nickte, und er ließ mich los. Seine Beharrlichkeit verstörte mich, und ich fühlte mich um nichts besser.
Das letzte Stück schwiegen wir. Am Ende der Zufahrt tauchte das eleganteste Haus von allen auf, ein echtes Herrenhaus, das jedoch seit Längerem vernachlässigt worden war. In der Einfahrt stand schon ein Wagen, und als wir uns näherten, ging die Haustür auf, und ein Mann kam heraus. Er war ungefähr in unserem Alter, hatte aber bereits schütteres Haar, und seine geröteten Wangen deuteten auf viele üppige Mahlzeiten hin. Ein Makler, wurde mir klar. So musste es sein, auch wenn an der Einfahrt kein »Zu verkaufen«- oder »Zu vermieten«-Schild gewesen war.
Eliza gelangte zu demselben Schluss. »Das ist ein Hinterhalt«, sagte sie. »Dan will dieses Haus kaufen.«
Dan stieg wortlos aus, und ehe ich erfasste, was vor sich ging, war er schon die Eingangsstufen hinauf und schüttelte dem Makler die Hand. Langsam folgte ich ihm.
»Sie müssen Mrs. Harper sein«, sagte der Makler, kam die Stufen herunter und reichte mir die Hand. »Willkommen! Ich bin Henry. Wie schön, Sie kennenzulernen!«
Ich ertrug Henrys prankengleichen Händedruck und wusste, dass ich diese Besichtigung über mich ergehen lassen musste, weil es beschämend für Dan wäre, würde ich mich weigern. Ich musste dies hier so schnell wie möglich hinter mich bringen und verschwinden, denn nicht in einer Million Jahre würde ich dem Kauf dieses Hauses zustimmen. Henry hielt uns die große Haustür auf. Ich wollte nicht mal hineingehen, doch Dan schob mich, nicht sonderlich sanft, nach drinnen. Ich betrat eine Diele mit hellen, von kleinen schwarzen Rauten unterbrochenen Sandsteinfliesen. Dominiert wurde die Diele von der Treppe, die zwar verstaubt, aber eleganter als jede war, die ich bisher gesehen hatte. Filigrane Spindeln und dunkle Holzstufen bildeten einen gewundenen Aufstieg bis zu einem Oberlicht drei Stockwerke über uns. Ich trat in den matten Sonnenlichtkreis auf dem Boden, blickte nach oben und sah mich um. Ein oder zwei Zimmer waren renoviert worden, der Rest aber offensichtlich nicht.
Das ist viel zu groß für uns, dachte ich. Und viel zu protzig. Ganz falsch. Wir würden uns hier verlaufen. Außerdem ist es total heruntergekommen. Ein Groschengrab. Ich hasse es. Und ich kann niemals nahe Stoke Woods oder der Charlotte Close leben. Nie.
Das Geräusch einer Tür, die ins Schloss fiel, erschreckte mich, und ich drehte mich um. Der Makler war gegangen.
Dan legte die Arme um mich. »Es ist eines der edelsten Herrenhäuser von Bristol und eines der geschichtsträchtigsten. Häuser wie dieses kommen nur einmal im Leben auf den Markt.«
»Ich kann hier nicht wohnen«, antwortete ich. »Und du weißt, warum.«
»Gib dem Ganzen eine Chance, für mich, bitte. Stell dir vor, wie schön wir es haben, wenn die Renovierung fertig ist. Ich könnte das Projekt managen, vielleicht sogar einige Arbeiten übernehmen, wenn wir dir eine richtige Assistentin besorgen. Wir könnten ihm unsere Note verleihen.«
»Er liebt es wirklich«, sagte Eliza. Sie klang entsetzt, aber auch fasziniert, und ich wusste, dass sie recht hatte. Es würde uns schaden, sollte ich darauf bestehen, dass wir sofort gingen.
Und ich musste noch etwas einsehen: Die Lücke, die Dans gescheiterte Autorenkarriere in sein Leben gerissen hatte, war eindeutig nicht gefüllt, indem er mein Assistent wurde, und ebenso wenig von seinen neuen Vorhaben. Ich hatte es bereits vermutet, wollte mich dem aber nicht stellen. Wenn ich schrieb, war für nichts anderes Platz in meinem Kopf. Wie auch immer, dies war der Beweis.
Allerdings müsste Dan sich ein anderes Projekt suchen, wenn er dringend eines wollte.
»Sieh dich wenigstens um«, sagte Eliza. »Vermittle ihm das Gefühl, dass du der Sache eine Chance gibst.«
»Dann lass mich mal sehen«, sagte ich zu Dan und bemühte mich, Interesse zu heucheln. Dan strahlte. Er nahm meine Hand und führte mich in eine renovierte Küche, in der ein Großteil der Außenwand herausgebrochen und durch Glas ersetzt war. Der Blick ging zum seitlichen Garten, der aus verwildertem Gras und dichten Hecken bestand. Blitzblanke Geräte und Utensilien waren in sämtliche Winkel eingebaut oder gestellt, und die Kochinsel war so groß wie die Küche in unserer Wohnung. Diese Küche hatte überhaupt keinen Charme, nichts Anheimelndes.
»Wir könnten das ganze Haus so klasse wie das hier machen«, sagte Dan. Er schnurrte beinahe.
»Ja, es hat was.«
»Komm«, sagte Dan und zog mich zurück durch die Diele zu einer Tür. »Bereit für die große Enthüllung?«
Ich bejahte stumm, und er warf die Tür mit einer übertriebenen Geste auf, ähnlich der eines Zauberers, der ein Kaninchen aus dem Hut zieht.