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Die vier Dimensionen menschlichen Lebens sind in einem alternativen Modell zu verknüpfen: Das ist der Umriss eines umfassenderen Begriff s von Gerechtigkeit. Es ist an der Zeit, aus den falschen Alternativen auszubrechen: Wollen wir ein Erziehungsgeld für Mütter erstreiten oder bessere Kindergärten? Wollen wir eine Frauenquote in der Politik oder uns außerparlamentarisch engagieren? Wollen wir den gewerkschaftlichen Kampf um Löhne und Tarifabkommen stärken oder soll die Forderung nach Grundeinkommen ins Zentrum? Und wie steht es mit Lernen, Entwicklung, Kultur – oder haben wir jetzt keine Zeit dafür, weil es Dringlicheres gibt wie Krieg, Hunger, Umweltkatastrophen, Wirtschaftskrise?
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Seitenzahl: 643
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Frigga Haug
Die Vier-in-einem-Perspektive
Politik von Frauen für eine neue Linke
Argument
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Deutsche Originalausgabe
© Argument Verlag 2008
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
www.argument.de
Umschlaggestaltung: Martin Grundmann
Lektorat & Satz: Iris Konopik
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
ISBN 978-3-86754-898-4
Elfriede Jelinek
Frigga Haug bewundere ich wegen ihrer Unermüdlichkeit, ihre emanzipatorischen Ziele zu verfolgen, um der männlichen Macht wenigstens das Glück ihrer eigenen Umnachtung ein wenig zu nehmen. Dass sie darüber noch nicht resigniert hat, während es anderen schon genügt, bloß eine Sonnenbrille gegen die Ohnmacht aufzusetzen, finde ich großartig.
Judith Butler
Frigga Haug verbindet philosophische Sorgfalt und Klugheit mit unkompromittiertem Weitblick und leidenschaftlichen Zukunftsvisionen. In der Geschichte des deutschen Feminismus ist klar und offenkundig, wie Frigga Haug die radikalsten und engagiertesten Traditionen zum Leben erweckt hat. Wie keine andere hat sie eine Vielzahl von Wissenschaftlerinnen, Intellektuellen und Aktivistinnen weltweit erreicht, inspiriert und zusammengebracht. Wir alle sind zutiefst dankbar für die Hartnäckigkeit, mit der sie darauf besteht, unser gesellschaftliches und politisches Leben weiterzudenken – in Richtung auf mehr Gerechtigkeit, Freiheit und Hoffnung.
Cover
Titel
Impressum
Zum siebzigsten Geburtstag von Frigga Haug
Vorwort
Entwurf
Die Vier-in-einem Perspektive - Eine Utopie von Frauen, die eine Utopie für alle ist
Erwerbsarbeit
In der Arbeit zu Hause sein?
Arbeitsforschung im Zeitalter der Mikroelektronik
Arbeitspolitische Terrainverschiebungen
»Schaffen wir einen neuen Menschentyp«. Von Ford zu Hartz
Reproduktionsarbeit
Wie Pelagea Wlassowa Feministin wurde
Knabenspiele und Menschheitsarbeit
Die Neue Mitte – Bewegungsmöglichkeiten im Neoliberalismus
Patientin im neoliberalen Krankenhaus
Kulturelle Entwicklung
Der Weg, der in die Welt, nicht ins Haus führt
Zeit für mich. Über das Privatisieren
Lehren und Lernen
Ohne Vernunft kann man nichts machen
Politik von unten
Frauen – Opfer oder Täter?
Männergeschichte, Frauenbefreiung, Sozialismus
Frauenquote und Gender-Mainstreaming Paradoxien feministischer Realpolitik
Es ist notwendig, das Utopische feministisch zu fassen
Nachträgliche Fundierung
Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse
Literaturverzeichnis
Veröffentlichungen von Frigga Haug bei Argument
Fußnoten
Es ist an der Zeit. Wollen wir ein Erziehungsgeld für Mütter erstreiten oder bessere Kindergärten? Wollen wir eine Frauenquote in der Politik oder uns außerparlamentarisch engagieren? Wollen wir den gewerkschaftlichen Kampf um Löhne und Tarifabkommen stärken oder soll die Forderung nach Grundeinkommen ins Zentrum? Und wie steht es mit individuellem Lernen, Entwicklung, Kulturellem, oder haben wir jetzt keine Zeit dafür, weil es Dringlicheres gibt wie Krieg, Hunger, Umweltkatastrophen? Es ist an der Zeit, aus den falschen Alternativen, die Politik lähmen und langweilig machen, herauszukommen und die Fragen anders zu stellen.
Einen Entwurf für eine andere linke Politik legte ich als Eröffnungsvortrag der ersten bundesweiten Frauenwerkstatt der frisch gegründeten Linkspartei im November 2007 in Esslingen vor. Er fasst Resultate jahrzehntelanger Arbeit zusammen, um einen Neuanfang linker Frauenpolitik heute zu umreißen. Er eröffnet auch dieses Buch, in dem ferner Aufsätze überarbeitet zusammengestellt sind, die als Vorarbeiten zur Vier-in-einem-Perspektive verstanden werden können. Sie stammen aus vier zunächst getrennten Schwerpunkten politisch-wissenschaftlicher Arbeit: aus meiner langjährigen Forschung zu den durch Hochtechnologie bewirkten Umbrüchen in der Arbeit; aus meinen noch weiter zurückreichenden Untersuchungen über Ursachen und Orte von Frauenunterdrückung; aus den mehr autobiographisch bestimmten Fragen nach Selbstentfaltung und dem Kulturellen und den dabei erarbeiteten Methoden von Alltagsforschung (Erinnerungsarbeit); und aus den nie endenden Versuchen, Politik »von unten« zu entwickeln und zu praktizieren.
Aus der Vielzahl meiner Schriften sind solche bevorzugt ausgewählt, die wirksame politische Eingriffe waren und teilweise noch sind und die allgemeinverständlich geschrieben sind. Es war ebenso leicht, Aufsätze zu den vier Bereichen zu finden, wie offenkundig wurde, dass keiner in seinem Bereich stehen blieb. Sie zeigen vielmehr alle, dass Grenzüberschreitungen zu den notwendigen Erkenntnismitteln gehören, ja dass die Einsperrung von Tätigkeiten in einen der vier genannten Bereiche im wirklichen Leben eine Strafe ist und in der theoretischen Anstrengung eine Dummheit.
Leitendes methodisches wie politisches Instrument sind Widersprüche. In jedem Text wird man erkennen, wie Widersprüche aufgesucht werden, um als politische Handlungsfähigkeit den produktiven Umgang mit ihnen zu lernen. Diese Fähigkeit, so lässt sich nach und nach entschlüsseln, erwirbt man, wenn man keine Frage lässt, wie sie zu sein scheint, wenn man sie in ihren Widersprüchen auffasst, wenn man sie verschiebt und neue Lösungen auf anderer Ebene anpackt. Das hört sich schwierig an, bewährt sich jedoch in der Durchführung häufig als heiteres Lehrstück. Da beginnt ein Beitrag mit der kindlichen Sehnsucht, groß zu werden, und endet nach Ausflügen in Marxismus, Feminismus und Kritische Psychologie bei der Dialektik von Arbeitsfleiß und Faulheit und eben bei der Erneuerung der Sehnsucht, auch in der Arbeit zu Hause zu sein. Was die schwierigen Gedanken erleichtert und verständlich macht, ist die unbedingte Verknüpfung von alltäglicher Erfahrung mit theoretischer Anstrengung.
Die Fragen, die die Frauenbewegung aufgeworfen hat, sind nicht lösbar, ohne alte Arbeitsteilungen grundsätzlich umzuwerfen. Alles andere ist Flickwerk, nicht haltbar. Dies war schon einige Zeit offensichtlich, ohne dass solche Kritik politisch aufgegriffen werden konnte mit spürbarem Erfolg. Im Gegenteil ließen sich einige Forderungen aus der Frauenbewegung ins neoliberale Projekt aufnehmen, das so den Bewegungen das Mark nehmen konnte, um selbst stark zu werden.
Bei der Lektüre der einzelnen Beiträge wird man erkennen, dass immer wieder Vorschläge gemacht werden, die vier Bereiche Erwerb, Reproduktion, Kultur und Politik zu vernetzen – zögernd zunächst, aber gleichwohl unverkennbar. Sie sind selbst als Lernprozess entzifferbar, der allgemeines Lernen möglich macht. Man wird staunen, von wie vielen ganz unterschiedlichen Punkten und Problemen her sich die Frage nach der Zusammenfügung der vier Bereiche als gerechtere Politik stellt, und man wird sich wundern, wie alt ganz aktuelle Fragen sind, das heißt auch, wie wenig eine Politik, die auch Frauen einbezieht, in den letzten dreißig Jahren vorangekommen ist. Es war nicht an der Zeit, deshalb durchbrachen die Vorschläge zur Änderung von Politik kaum die Grenzen des öffentlichen politischen Raumes. Aber nichts bleibt, wie es ist. Die Forschungen sind niemals zu Ende, der Kompass gibt Richtungen an, die mit dem Auftreten einer Partei links von den Sozialdemokraten gehört und genutzt werden könnten. Es ist jetzt an der Zeit.
Erste Diskussionen
Der Vorschlag, die Vier-in-einem-Perspektive erneut in die politische Diskussion zu werfen, wurde bereits in vielen Gruppen an verschiedenen Orten diskutiert und führte zu produktiver Unruhe. Er stieß auch auf die erschöpften Vorbehalte derer, die durch die Öffnung der Grenzen um den Arbeitsbegriff lauter Mehrarbeit auf sich zukommen sahen, die sie als bloßes Zuviel empfanden. Insbesondere die Zumutung, Politik von unten zu machen, die den gesamten Entwurf beseelt, erscheint den in den bestehenden Verhältnissen festgezurrten Menschen als überwältigendes Erfordernis, das sie nicht wollen können. In einer Gruppe wurde entdeckt, dass das Überforderungsgefühl, das ihr Leben zu einer ermüdenden Hetze macht, im Grunde eine Unterforderung signalisiert, dass sie nämlich als Menschen mit Möglichkeiten, gesellschaftlich sich eingreifend zu betätigen, entgegen aller gewährten Selbstbestimmung überhaupt nicht gefordert waren und dass die erlebte sinnlose Sinnhaftigkeit eine Blockierung aller Lebensgeister nach sich zog.
»Es ist zu wenig Geld da für eine solche Lösung«, entgegnete einer in einer anderen Gruppe und zeigte, wie einfach es ist, den Standpunkt der Regierung zu übernehmen, und wie schwierig, die dafür nötige Kompetenz noch zu erarbeiten, denn es wurde ja auch hier ohne Überprüfung übergangen, dass die vielen ohne Arbeitseinkommen gleichwohl ja bislang finanziert werden mussten. Auch wurde diskutiert, dass »vier Bereiche« zu wenig seien und dass doch »die Erzieherinnen arbeitslos würden«, wenn Reproduktionsarbeit allgemein werde – die ketzerische Schlussfolgerung, dass dies auch mit den Politikern geschehen könnte, wurde noch nicht gedacht. Voll Hoffnung schreibt eine, der Ansatz »könne zu einer breiten politischen Debatte führen, die viele, viele Frauen stark macht«.
Im Vorfeld der Gründung der Partei Die Linke verblüffte Oskar Lafontaine mit dem Satz, dass nicht die SPD, wie sie selbst behauptete, Probleme habe, ihre Ziele dem Volk zu vermitteln, sondern umgekehrt das Volk, seine Forderungen den Oberen zu vermitteln. Das verschiebt die Vermittlungsfrage aus einer Politik von oben in eine Hegemoniefrage und lässt hoffen, dass in der neuen Linken die vielen Stimmen gehört werden. Da bleibt noch die Frage, welche Lernprozesse stattfinden müssen, bis aus den ungeübten Meinungen kluge Stimmen werden, die allgemein nützlich sind. In diesem Kontext will das Buch dazu beitragen, Forderungen der Unteren zu bündeln, ihre Handlungsfähigkeit zu stärken, für die es zugleich Mittel, Weg und Ziel bezeichnet. Es sind besonders Frauen angesprochen. Sie vor allem sind in den gesellschaftlichen Umbrüchen gefordert, weil sie den Reproduktionsbereich »natürlich« besetzen und mehr als die männlichen Gesellschaftsmitglieder über Jahrhunderte aus Politik und kultureller Entwicklung ausgeschlossen waren. Sie haben viel zu gewinnen.
Bei den folgenden Überlegungen geht es um Gerechtigkeit bei der Verteilung von Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Gemeinwesenarbeit und Entwicklungschancen. Lange Zeit wurden politische Projekte in diesen vier Bereichen getrennt verfolgt. Funktion dieses Beitrags ist es, einen Kompass zu liefern, der die unterschiedlichen Projekte auf einen Zusammenhang orientiert und in dieser Bündelung wahrhaft kritisch, ja revolutionär ist, während jedes für sich genommen früher oder später zu versanden pflegt.
Unter den Märchen der Gebrüder Grimm erzählt eines die Geschichte von dem Mädchen, das hübsch, aber faul ist und sich der Spinnarbeit verweigert. Der Mutter platzt schließlich der Kragen. Sie gibt dem Mädchen eine ordentliche Tracht Prügel. Die zufällig vorbeifahrende Königin hört es schreien. Sie lässt anhalten und fragt die Mutter, warum sie ihre Tochter schlage. Die Mutter schämt sich nicht wegen des Schlagens, sondern weil sie die Faulheit ihrer Tochter offenbaren soll. Also lügt sie listig, indem sie sogleich ihre Armut vorstellt: »Ich kann sie nicht vom Spinnen abbringen, sie will immer und ewig spinnen, und ich bin arm und kann den Flachs nicht herbeischaffen.« Das weckt die Begier der Königin nach einer derart überfleißigen Arbeiterin. Sie nimmt sie mit aufs Schloss. Dort führt sie das Mädchen zu drei Kammern voller Flachs und verspricht ihr gar ihren ältesten Sohn zum Gemahl, da jetzt nicht ihre Armut zähle, sondern »unverdrossner Fleiß Ausstattung genug« sei. Der Sohn verbringt im Übrigen seine Zeit mit Tanzen und Singen, Musizieren und Dichten, Malen, Theaterspielen, Reiten, Reisen, Fechten und Jagen, wie es sich eben für einen Königssohn gehört. Das Mädchen aber ist nicht nur faul, es kann überhaupt nicht spinnen und hat nach drei Tagen, als die Königin zurückkommt, um den Erfolg der Arbeit zu besichtigen, nichts vollbracht. Sie entschuldigt sich, dass sie wegen der Entfernung vom Haus der Mutter zu betrübt sei. Die Königin rührt das, aber sie ermahnt sie doch, endlich anzufangen. Wieder alleingelassen mit dem Flachs, blickt das Mädchen ratlos aus dem Fenster. Da gehen auf der Straße drei hässliche Weiber vorbei. Die erste hat einen Klumpfuß, der zweiten hängt die Unterlippe herab, und der Daumen der dritten ist drei Finger breit. Sie versprechen, den Flachs zu spinnen, wofern sie zur Hochzeit eingeladen werden, das Mädchen sich ihrer nicht schäme, sondern sie ihre Basen heiße, an ihrer Seite sitzen und am Hochzeitsmahl teilhaben lasse. Das Mädchen schlägt ein, und die drei heben sogleich an und spinnen in kürzester Zeit alle Kammern aufs Schönste leer.
Die Königin ist ebenso zufrieden wie der älteste Sohn, der eine so fleißige und geschickte Frau bekommen soll, und sie richten die Hochzeit. Das Mädchen bittet darum, ihre drei Basen einzuladen. Wie die drei abgearbeiteten Weiber zur Tür hereinkommen, ruft der Bräutigam erschrocken: »Wie kommst du zu der garstigen Freundschaft?« Darauf fragt er die erste: »Wovon habt Ihr einen so breiten Fuß?« – »Vom Treten des Spinnrads«, antwortet sie, »vom Treten.« Da fragt der Bräutigam die zweite: »Wovon habt Ihr nur die herunterhängende Lippe?« – »Vom Lecken des Fadens«, antwortet sie, »vom Lecken.« Da fragt er die dritte: »Wovon habt Ihr den breiten Daumen?« – »Vom Fadendrehen«, antwortet sie, »vom Fadendrehen.« Da erschrickt der Königssohn und spricht: »So soll mir nun und nimmermehr meine schöne Braut ein Spinnrad anrühren.« Damit ist sie das schädliche Flachsspinnen los. Der Pakt hat sich für sie doppelt ausgezahlt: Sie bekommt den Prinzen und braucht nicht mehr zu spinnen. Jetzt kann auch sie sich dem Wohlleben, der Schönheitspflege und den mit Muße möglichen Tätigkeiten und Künsten widmen, was ja auch besser zu einer Königin passt.
Die Geschichte hat es hinter den Ohren. Sie erzählt von weiblicher List, von schlechter Arbeit und Armut und von merkwürdiger Scham, vom reichen Leben durch Geburt oder bei Frauen auch durch Heirat. Sie zieht uns zunächst in das Einverständnis, uns, empört über die Faulheit der Tochter, mit der Mutter zu verbünden. Doch schon wenig später finden auch wir, dass der Widerstand gegen Arbeit gerechtfertigt ist. Da wir zumindest eine Ahnung davon haben, dass einseitige und womöglich lebenslange Vernutzung bei der Arbeit zu Verunstaltungen und frühzeitiger Erschöpfung führen kann, verbünden wir uns jetzt spontan gegen die Arbeit, freilich etwas zagend, weil wir uns und unseren Kindern kein Leben im Luxus und ohne Arbeit leisten können. Und doch verlockt uns die Aussicht, nicht einfach bloß faul sein zu dürfen, sondern obendrein alle Möglichkeit zu haben, unsere kulturellen Fähigkeiten zu entwickeln und so etwas wie lernende Muße zu genießen. Kurz, wir werden probehalber imaginäre Mitglieder des selbst noch von Herrschaftsarbeit freigesetzten Teils einer herrschenden Klasse, in der die Einzelnen viele menschliche Möglichkeiten entfalten auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung, die auf diese Weise, gemessen am menschlich Möglichen, ein verkümmertes Leben führt. Wir merken plötzlich, dass wir es bisher aus schierer Gewohnheit hingenommen haben, dass es für die meisten Menschen kaum Entwicklungschancen gibt.
Die Märchenwelt ist bei aller Grausamkeit, von der sie ebenfalls kündet, voller Träume vom wünschbaren Leben. Für unseren Gebrauch wenden wir uns nicht an Träume wie den vom Schlaraffenland, wo immer Milch und Honig fließen und gebratene Schweine mit Messer und Gabeln im Rücken darauf warten, gegessen zu werden. Hier ist die Verbindung zu unserem tätigen Leben gänzlich abgeschnitten. Stattdessen wenden wir uns Überlegungen zu, die, wiewohl utopisch, doch der Möglichkeit nach noch in unserer Welt handeln, auf deren Änderung sie dringen.
Von Ernst Bloch haben wir gelernt, aus Utopien Kraft für Veränderung zu schöpfen. Wenn die tatsächliche Geschichte eine Geschichte der Unterdrückung der vielen ist, zieht sich die Kraft des Veränderns in Traumbilder einer Gesellschaft ohne Entfremdung zurück. Wenn wir im Gegenwärtigen auf eine Weise stecken, dass Veränderung schwer gedacht werden kann, und wir noch von ihr träumen, gilt es, den Traum auf den Boden der Wirklichkeit zurückzustellen. Bloch nennt solche Sehnsucht »die einzige ehrliche Beschaffenheit des Menschen« (Ergänzungsband, 55) und »verstecktes Heimweh«, das vom »Vorbewussten« (288) und vom Noch-nicht zehrt. Es geht um Grenzüberschreitungen, um ein Planen von besseren Inhalten, die möglich wären (290), also darum, Utopie immer konkreter werden zu lassen. Und schließlich geht es darum, das schon in der Französischen Revolution Bewusste so aufzunehmen, dass damit endlich ernst gemacht wird: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – was wir als Frauen mit Solidarität übersetzen und um Gerechtigkeit ergänzen.
Dass man Neugier auf Zukunft hegt, konkrete Möglichkeit zurückgewinnt und Kommendes als Sprengkraft in der Gegenwart ausmacht – in diesem Sinn nutzen wir utopisches Denken.
Im Märchen sahen wir spielweis Dimensionen des Lebens, zwischen denen gewählt werden konnte: Arbeit und gegen sie, wenn auch kaum ausgeführt, Luxus, nicht als Faulheit, sondern auch als Tätigkeit, als Entwicklung schöpferischer Möglichkeiten. Aber das eine ist ja nicht verschwunden aus der Sphäre des menschlich Notwendigen, wenn man, wie die Tochter, einfach das andere wählen kann. Es wird erledigt durch Arbeitsteilung, bzw. als Arbeitsteilung tritt auch auf, dass die einen genießen, was die anderen erarbeiten, sich entwickeln auf Kosten der anderen. Um Arbeit so zu teilen wie im genannten Märchen, muss Arbeitsteilung verbunden sein mit Herrschaft. Teilung der Arbeit und Verfügung der einen über die anderen gilt auch für das Verhältnis zwischen Mann und Frau – als das erste Klassenverhältnis, wie Marx und Engels das ausdrücken –, dann zwischen Kopf und Hand, zwischen Stadt und Land. Die Geschichte der Arbeitsteilungen, ihres Segens und ihres Fluches ist gesondert zu studieren – hier betrachten wir nur das Resultat: Verfügung der Männer über die Arbeitskraft der Frauen, der Kapitalbesitzer über die der gegen Lohn Arbeitenden, der Regierenden über die regierten Subalternen, die so nicht selbst ihre Gesellschaft machen, der Entwicklung einiger auf Kosten vieler.
Die aus solchen Ungleichheiten geborenen Protestbewegungen, von denen wir lernen wollen, traten ungleichzeitig in die Geschichte und protestierten gegen je verschiedene Unterdrückungen, die sie am meisten bedrängten, partiell. Wir konzentrieren uns hier auf vier solcher Bewegungsimpulse: diejenigen, die der Lohnarbeit als fremdverfügter Arbeit entspringen; diejenigen, die aus der Verfügung der Männer über die Frauen herrühren; diejenigen, welche die Abtrennung des Politischen von den unmündigen Subalternen durchbrechen; und schließlich diejenigen, die dagegen protestieren, dass den meisten Menschen die konkret-mögliche Entwicklung ihrer Anlagen vorenthalten wird. Die verschiedenen Bewegungsimpulse spielen zusammen, bestimmen und gestalten einander; sie sind also auch immer als Zusammenhang zu studieren.
Der Form der Lohnarbeit entsprang Arbeiterbewegung mit dem Anspruch, alle Menschen aus der Knechtschaft zu befreien, weil es unterhalb der nurmehr über ihre Arbeitskraft Verfügenden keine weitere Klasse mehr geben könne. Der Befreiungsanspruch zielte auf alle Menschen, da im Großen und Ganzen alle als Lohnarbeiter gedacht waren, wenigstens der Tendenz nach. Die Arbeiterbewegung hatte die bedeutendsten Theoretiker, die als Manifest hinterlassen konnten, was zu tun wäre. Daher rührte eine stolze Bereitschaft der Vertreter dieser Bewegung, sich selbst allein für das Zentrum zu halten. In diesem Kontext wurde entsprechend über Frauenbefreiung nachgedacht. So schreibt Engels:
»Die Befreiung der Frau wird erst möglich, sobald diese auf großem, gesellschaftlichem Maßstab an der Produktion sich beteiligen kann, und die häusliche Arbeit sie nur noch in unbedeutendem Maß in Anspruch nimmt […] möglich durch die moderne Industrie […], die auch die private Hausarbeit mehr und mehr in eine öffentliche Industrie auszulösen strebt.« (MEW 21, 158)
Und Rosa Luxemburg:
»Als bürgerliche Frau ist das Weib ein Parasit der Gesellschaft, ihre Funktion besteht nur im Mitverzehren der Früchte der Ausbeutung; als Kleinbürgerin ist sie ein Lasttier der Familie. In der modernen Proletarierin wird das Weib erst zum Menschen, denn der Kampf macht erst den Menschen, der Anteil an der Kulturarbeit, an der Geschichte der Menschheit.« (GW 3, 410f)
Noch radikaler Lenin:
Bäuerinnen und Proletarierinnen »werden erdrückt, erstickt, abgestumpft, erniedrigt von der Kleinarbeit der Hauswirtschaft, die sie an die Küche und an das Kinderzimmer fesselt und sie ihre Schaffenskraft durch eine geradezu barbarisch unproduktive, kleinliche, entnervende, abstumpfende, niederdrückende Arbeit vergeuden lässt.« (LW 29, 419)
Die Frauenbewegungen, zumal die der 1970er Jahre, legten offen, dass diese Sicht nicht nur bloß negativ auf Hausarbeit und Sorgearbeit blickt, auf etwas, das abgeschafft gehört, statt auch als Ort, an dem lokales Wissen und entsprechende Haltungen gewonnen werden, die menschlich unentbehrlich sind (situated knowledges), sondern auch, dass mit der Kritik der Lohnarbeit nicht alles erledigbar ist, dass weitere Herrschaft abzubauen ist – die der männlichen Verfügung über weibliche Arbeitskraft durch Einsperrung ins Haus, sexuelle Verfügung bis zur Gewalt, Aussperrung aus allen Entscheidungsposten, niedrigere Bezahlung, wenn die meist notwendige zusätzliche Erwerbsarbeit aufgenommen wurde – von denen das meiste bis heute anhält und entsprechend ideologisch abgesichert ist, etwa durch die Behauptung, dass Glück wesentlich in der Familie, Entwicklung der Kinder bei den Müttern angesiedelt sei usw.
Der Protest aus Frauenreihen war zugleich einseitiger und umfassender als der der Arbeiterbewegung. Maria Rosa dalla Costa (dt. 1973) verknüpfte Frauenunterdrückung mit der Funktion unbezahlter Hausarbeit für die Reproduktion kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse und forderte die Frauen auf, »sich gegen die Nichtbezahlung der Hausarbeit, die Unterdrückung ihrer Sexualität, die Trennung der Familie von der ›Welt draußen‹ zur Wehr zu setzen« (Vogel 2003, 544). Sie rief zum Hausfrauenstreik auf; Frauen hätten genug gearbeitet und sollten »den Mythos der Befreiung durch Arbeit zurückweisen« (ebd.).
Und Anke Wolf-Graaf konstatierte umfassend:
»Die Reproduktionsarbeit ist die unsichtbare Basis […], auf die sich die ganze Pyramide der kapitalistischen Akkumulation stützt.« (1981, 220)
Als Folge solcher Arbeitsteilung schärfte Sigrid Metz-Göckel als wichtige Problematik ein:
»Die Lohnarbeiterinnen haben in der Regel keine Hausfrau zu ihrer persönlichen Bedienung zur Verfügung. Hausfrauen ohne Lohn und Lohnarbeiterinnen ohne Hausfrau sind die widersprüchlichen Realisierungsformen weiblichen Arbeitsvermögens.« (1978, 85)
Gerade weil von einem Standpunkt gesprochen wurde, der nicht in der Klassenherrschaft allein Unterdrückung und Ausbeutung und also auch Befreiung festmachte, traten andere Dimensionen des täglichen Lebens ins Licht. Die Frauen bestanden darauf, dass die Arbeit im Nichtlohnarbeitsbereich nicht nur anerkannt und gesellschaftlich sichtbar werden sollte – sie zeigten auch, dass gerade in diesem Bereich der »Reproduktionsarbeit« für eine menschliche Gesellschaft unentbehrliche Qualitäten und Formen entwickelt wurden. Sie skandalisierten, dass es also andere Arbeit als Lohnarbeit massenhaft in der Gesellschaft gibt, die von Frauen getan wird; dass es andere Verfügung als die über Arbeitskraft im öffentlichen Raum, nämlich die im Privaten gibt, die sich über die Körper also auch sexuell und in Gewalt geltend macht; dass Privatheit nicht bloß Einsperrung ist, sondern auch Aussperrung aus gesellschaftlichen Bereichen – der Befreiungsanspruch wurde auf diese Weise umfassender, radikaler. Und gerade der weitgehende Ausschluss aus gesellschaftlich relevanten Bereichen setzte ein Verlangen frei, an Gestaltung von Gesellschaft mitzuwirken, Politik nicht länger als eine Sache von Oberen, von anderen zu sehen, der Stellvertretung eine Absage zu erteilen, den Anspruch zu entwickeln, die eigenen Geschicke und damit die aller Menschen in eigne Hände zu nehmen. »Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen«, schreibt Peter Weiss in der Ästhetik des Widerstands für die Arbeiterbewegung. Es gilt auch für Frauen.
Wiewohl die Vorenthaltung von Entwicklungschancen die meisten Mitglieder der Gesellschaft betrifft, wurde dies wirklich radikal vom Frauenstandpunkt offenkundig und öffentlich skandalisiert. Gerade weil Bildung und Kunst für die Bürgerkinder erreichbar waren, wofern sie männlich waren, wurde für die Töchter der Bürger als Erste sichtbar, was ihnen vorenthalten war. Virginia Woolf beschreibt für die erste Frauenbewegung (in Die drei Guineen) äußerst scharf, welches die Lage der bürgerlichen Frauen ist und wie der Kampf um Gleichheit nicht Gleichheit anzielen wollen kann, sondern von Anfang an, also auch schon in der bürgerlichen Frauenbewegung, Überschreitung in Richtung auf eine Utopie ist, die sich noch nicht weiß.
Ein fortschrittlicher gebildeter Mann bittet eine nach Frauenart gebildete Frau (Literatur, etwas Klavierspielen usw.), ihm zu helfen, den drohenden Krieg zu verhindern. Bei der Überprüfung der Frage durchstreift diese alle relevanten Bereiche – die Nichtbeteiligung aller an der Politik, also auch am Verhindern der Kriege, die ideologische Einstimmung in den Krieg über Vaterlandsliebe, die sie bei den Töchtern nicht sieht, die Unmöglichkeit, gesellschaftlich Einschneidendes zu tun, weil Bildung und Beruf fehlen, und zugleich die Kritik an den herkömmlichen Bildungsinhalten und -formen für Männer sowie an der Erwerbsarbeit und der entsprechenden Ausbildung. Virginia Woolf entwirft aus der Lage der Frauen heraus ein utopisches Modell anderer Bildung: Das College für Frauen lehrt
»zum Beispiel die Medizin, Mathematik, Musik, Malerei und Literatur. Es sollte die Kunst der menschlichen Beziehungen gelehrt werden; die Kunst, das Leben und Denken anderer Menschen zu verstehen, und die kleinen Kunstfertigkeiten des Gesprächs, der Kleidung und des Kochens, die damit verbunden sind. Ziel […] sollte nicht sein, zu trennen und zu spezialisieren, sondern zu kombinieren. Die Art und Weise, in der Körper und Geist zusammenarbeiten, sollte erforscht werden. Man sollte herausfinden, welche neuen Kombinationen ein harmonisches Ganzes im menschlichen Leben ergeben.« (46f.)
Die Lösung zielt notwendig auf eine andere Gesellschaft, in der auch Frauen Menschen sein können, was ebenso die Menschlichkeit der Männer voraussetzt.
Seit Virginia Woolf, also seit den 1930ern, hat sich die Lage der Frauen in vielem verbessert. Bildung, Zugang zu Berufen gibt es auch für Frauen; immerhin wird selbst in der Regierung gestritten, wie Beruf und Familie vereinbar wären, wenn auch fast ausschließlich für Frauen, statt auch für Männer; vor allem sind die Produktivkräfte der Arbeit – die Übergabe von Arbeit an Maschinen, die Entwicklung der Computertechnologie – so weit vorangeschritten, dass die Zeit, die Menschen für die Erarbeitung des Überlebensnotwendigen aufbringen müssen, auf einen Bruchteil geschrumpft ist.
Es ist höchste Zeit unsere Utopie als orientierende Sehnsucht und politischen Kompass genauer zu formulieren.
In dem Märchen, von dem ich am Anfang sprach, hätte niemand dafür plädiert, die Spinnarbeit, die die Körper verunstaltete, möglichst auszudehnen und zu verallgemeinern – im Gegenteil war es utopisch im guten Sinn, die lebenslange Fixierung an eine Teilfunktion abzuschaffen, denn
»sie verkrüppelt den Arbeiter in eine Abnormität, indem sie sein Detailgeschick treibhausmäßig fördert durch Unterdrückung einer Welt von produktiven Trieben und Anlagen« (Marx, Kapital, Bd.1, 381).
Also war auch der mögliche Fortschritt in einer solchen Entwicklung der Produktivkräfte zu sehen, die es erlaubt, die Arbeitszeit zu verkürzen und damit das »Reich der Notwendigkeit« zurückzudrängen, um im »Reich der Freiheit menschliche Wesenskräfte zu entfalten« – wie wiederum Marx es ausdrückt. – Inzwischen ist tatsächlich sprunghaft weniger Arbeit zum bloßen Überleben notwendig; doch die frei werdende Zeit wird nicht zur Entwicklung genutzt, sondern kehrt sich gegen die Arbeitenden in Gestalt von Arbeitslosigkeit. So kommt es zu dem, wörtlich genommen, widersinnigen Aufruf, »Arbeit zu schaffen«; belohnt wird, wer »Arbeitsplätze zu bringen« verspricht. In diesem Versprechen wird über seine Voraussetzungen geschwiegen. So hört es sich an, als ob Einkommen geschaffen würde, wo keines mehr da ist bzw. die betroffenen Menschen in den Dschungeln von Hartz IV verelenden. Von einem Frauenstandpunkt müssen sich solche Versprechen, wie zusätzliche »Arbeit zu schaffen«, von vornherein pervers anhören. Kaum wird man fertig mit all der Überarbeit, die aus der Organisation dessen kommt, was wir zusammenfassend Reproduktionsarbeit nennen, an sich selbst, an Kindern, vollzeitberufstätigen Männern, an Alten, kranken Freunden, Nachbarn usw., bei gleichzeitiger meist Teilzeitarbeit – wo Aufrufe nach eigener Entwicklung, Lernen, Theater, Kultur, Genuss und Wohlleben sich ganz zynisch anhören und an politische Beteiligung, die Einfluss aufs Ganze nimmt, gar nicht zu denken ist.
Wir kommen zu dem Schluss, dass in alledem, in Überforderung und Unterforderung, in Überarbeit und Arbeitslosigkeit, in Rastlosigkeit und Abwarten eine allgemeine tiefe Ungerechtigkeit herrscht. Sie betrifft die Arbeitsteilung in der Gesellschaft und in ihr Raum und Zeit für Entwicklung ebendieser Gesellschaft und der Menschen in ihr.
Daher entwerfen wir als perspektivische Leitlinie unserer Politik eine grundlegende Veränderung von Arbeitsteilung. Worauf wir aus sind, das ist eine Verknüpfung jener vier Bereiche menschlicher Tätigkeit:
– der Arbeit an den notwendigen Lebensmitteln in der Form der Erwerbsarbeit;
– der Arbeit an sich selbst und an anderen Menschen, was wir als das Menschliche an Menschen zu nennen gewohnt sind und was Marx dazu brachte, mit Charles Fourier zu erkennen, dass »der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation« sei (MEW 2, 208), weil »hier im Verhältnis des Weibes zum Mann, des Schwachen zum Starken, der Sieg der menschlichen Natur über die Brutalität am evidentesten erscheint« (ebd.), weil, wenn auch die Schwächeren in gleichem Maße wachsen können, das wahrhaft Menschliche sich zeigt, wozu auch die Liebe gehört; oder noch einmal in Marx’ Worten (Pariser Manuskripte 1844): Es entscheidet sich am »Verhältnis des Mannes zum Weibe […], inwieweit das Bedürfnis des Menschen zum menschlichen Bedürfnis […] geworden ist, inwieweit er in seinem individuellen Dasein zugleich Gemeinwesen ist« (MEW 40,535).
– Zum Dritten geht es darum, die schlummernden Anlagen zu entwickeln, sich lebenslang lernend zu entfalten, das Leben nicht bloß als Konsument, sondern tätig zu genießen und damit auch eine andere Vorstellung vom guten Leben entwerfen zu können.
– Und schließlich geht es übergreifend darum, dass wir auch Zeit brauchen, in die Gestaltung von Gesellschaft einzugreifen, also uns alle politisch zu betätigen.
Das Erste, die Politik um Arbeit, ihre Qualität, Dauer, Zeit, Entlohnung, kann auf Erfahrung bauen in den zur Arbeit gehörenden Bewegungen.
Das Zweite, die Frage der Arbeit am Nachwuchs, aber auch an allen anderen und an sich selbst, gemeinhin Reproduktionsarbeit genannt, bündelt Patriarchatskritik, indem sie diesen Raum menschlicher Entfaltung für alle Geschlechter erstreitet.
Das Dritte, die Zeit, die für eigene Entwicklung gebraucht wird, stößt an die Politik des Zeitregimes in unserer Lebensweise, in die wir uns daher als Viertes einmischen und das Stellvertretermodell in der Politik in seine Schranken weisen müssen.
So sieht der Umriss eines von Frauen formulierbaren umfassenderen Begriffs von Gerechtigkeit aus, der seinen Ausgang nimmt bei der Arbeitsteilung und der damit verbundenen Zeitverausgabung. Gehen wir davon aus, dass jeder Mensch etwa 16 Stunden am Tag in die so umfassend gedachte gesellschaftliche Gesamtarbeit einbringen kann, so wird sogleich offenbar, dass das Gerede von einer Krise, weil uns die Arbeit ausgehe, von einem äußerst restriktiven Arbeitsbegriff ausgeht und daran festhalten will, koste es, was es wolle. Vom Standpunkt des gesamten Lebens und seiner menschlichen Führung sieht die Sache radikal anders aus:
In der Politik um Arbeit wird Leitlinie die notwendige Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit für alle auf ein Viertel der aktiv zu nutzenden Zeit, also auf vier Stunden – perspektivisch erledigen sich auf diese Weise Probleme von Arbeitslosigkeit (wir haben dann weniger Menschen als Arbeitsplätze) mitsamt Prekariat und Leiharbeit – so gesprochen gehen alle einer Teilzeitarbeit nach, bzw. der Begriff hat aufgehört, etwas sinnvoll zu bezeichnen, und wir können uns auf die Qualität der Arbeit konzentrieren, verlangen, dass sie den menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten entspricht.
Auch die Politik ums Grundeinkommen gerät in einen lebensbejahenderen Zusammenhang. Da alle ein Recht auf einen vierstündigen Erwerbsarbeitsplatz haben und dieser dann ja auch verfügbar ist, kann es nicht mehr die Frage sein, ob das Grundeinkommen bedingungslos ist. Es versteht sich vielmehr von selbst, dass alle Einzelnen über ein ausreichendes Einkommen zum Leben verfügen und dass sie ebenso in jedem der vier Bereiche sich betätigen: in der Erwerbsarbeit, in der Sorgearbeit um sich und andere, in der Entfaltung der in ihnen schlummernden Fähigkeiten, schließlich im politisch-gesellschaftlichen Engagement. Probeweis kann man dies auch so ausdrücken, dass jeder Mensch in die Lage versetzt wird, sein Leben so einzurichten, dass er oder sie je vier Stunden in jedem dieser Bereiche pro Tag verbringt. Das ist nicht dogmatisch zu verstehen, als ob man mit der Stechuhr in der Hand von Bereich zu Bereich gehen müsste, in keinem mehr genügend zu Hause. Vielmehr wird man, sobald man anfängt, die eigne Lebensführung in diesen Dimensionen zu fassen, schnell bemerken, dass die Grenzen nicht fest sind, die Bereiche einander durchdringen und innerlich zusammenhängen. Die Aufteilung in vier mal vier Stunden ist so ein Modell, das eben wie ein Kompass Strategien der Veränderung entscheidend orientieren kann. Dabei ist im Übrigen die im Märchen zu Beginn mehrfach angerufene Scham aufgehoben in der Schuldigkeit gegenüber sich selbst und anderen, sich tatsächlich so vielfältig als Mensch zu betätigen.
Für die Reproduktions-Familienarbeit bedeutet dies zuallererst eine Verallgemeinerung. So wie niemand aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen sein kann, so auch nicht aus der Reproduktionsarbeit – alle Menschen, Männer wie Frauen, können und sollen hier ihre sozialen menschlichen Fähigkeiten entwickeln. Das erledigt den Streit ums Erziehungsgeld, ohne die Qualität der Arbeit, die hier geleistet wird, abzuwerten; ja im Gegenteil, jetzt erst, in der Verallgemeinerung statt in der alleinigen Zuweisung auf Frauen und Mütter, kann der allgemeine Anspruch verwirklicht werden, dass diese Arbeit qualifizierte Arbeit ist und also erlernt werden muss wie andere Arbeit auch. – Die vielen Meldungen über misshandelte und verwahrloste Kinder legen hier ein beredtes Zeugnis ab.
In einem Gespräch mit Vätern, die an der allgemeinen Sorge über die Entwicklung ihrer Söhne zwischen Verweigerung, Drogen, Gewalt und Verzweiflung teilhatten, hörte ich mit Interesse, dass der Zivildienst in einer Intensivstation eines Krankenhauses bei dem einen, in der Altenpflege bei dem anderen einen Humanisierungsschub bewirkt hatte: Statt Zynismus schien Sinn im Leben auf. Warum nicht Zivildienst für alle Menschen ins gesellschaftliche Bildungsprogramm aufnehmen?
In der Frage individueller Entwicklung geht es um die Möglichkeit, von Anfang an, unabhängig von Geschlecht, Klasse und Hautfarbe, die den Menschen eigenen vielfältigen Möglichkeiten zu ergreifen – ein Prozess, der lebenslang anhält. Oder anders: Es sollte nicht mehr hingenommen werden, dass die einen so und so viele Sprachen sprechen, musizieren, dichten, malen und reisend wie Goethe sich weiter vervollkommnen, während andere froh sein müssen, wenn sie überhaupt lesen und schreiben können.
Unser Politikanspruch läuft darauf hinaus, dass Gesellschaft zu gestalten keine arbeitsteilige Spezialität sein soll, wobei die einen die Politik machen, während die anderen, und das ist die übergroße Mehrzahl, deren Folgen ausbaden. Vorbildlich können hier für uns die Frauen der Zapatistas sein, die als die Ärmsten der Armen wie selbstverständlich darauf bestanden, dass nicht, wie eine liberale UNO-Politik vorschlug, der umstandslose Schutz der Indigenakultur eine Forderung der Frauen sein kann, weil in ihr Gewalt gegen Frauen eingeschrieben ist, sondern Frauen das Recht der praktischen Teilhabe an allen politischen Entscheidungen brauchen und dort alle Sitten zurückweisen können, die ihre physische oder geistige Würde verletzen. Dafür verlangen sie: die Hälfte der Stimmen in allen politischen Entscheidungsgremien. Das betrifft auch das Gesundheitswesen, medizinische Kompetenz für alle, Mitentscheidung in den Schulen, bei der Auswahl der Lehrer, bei der Qualität der Produktionsstätten, beim Ausbau der Infrastruktur, das Wissen um Empfängnisverhütung und den allgemeinen Zugang zu Informationen und Lernen. Ihr Ziel ist: Gewalt aus dem Alltag zu verbannen (Mesa de Derechos y Cultura Indígena 1995).
Perspektivisch geht es darum, Gesellschaft von unten zu machen: So wie Rosa Luxemburg von der Demokratie gesagt hat, sie müsse
»auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Masse hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen« (GW 4, 363f).
Man könnte jetzt darangehen, die vier Bereiche Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit, politische Arbeit und individuelle Entwicklung je für sich zu verfolgen und dies wiederum wie eine Arbeitsteilung zu handhaben, bei der einzelne Gruppen, Parteien oder gar Strömungen in den Parteien je einen isolierten Bereich als ihr Markenzeichen besetzen. Klassenbewusst betreiben die einen eine Arbeiterpolitik, die für Erwerbstätige greifen kann; die anderen suchen eine Perspektive aus der Vergangenheit hervor, eine Utopie für Mütter nach rückwärts, die uns Frauen lebendigen Leibes ans Kreuz der Geschichte nagelt, wie Bloch dies ausdrückt (Ergänzungsband, 295); auf Entwicklung einer Elite setzen die Dritten, einer Elite, die olympiareif zeigt, was menschliche Fähigkeiten sein können; partizipative Politikmodelle in unwesentlichen Bereichen verfolgen die Vierten, etwa das Fernsehen zu einer Modellanstalt von Zuschauerwünschen zu machen, die Belegschaft an der Gestaltung des Weihnachtsfestes zu beteiligen, die Bevölkerung an der Mülltrennung usw. In allen Fällen wird man erfahren, dass jeder Bereich, für sich zum Fokus von Politik gemacht, geradezu reaktionär werden kann.
Die politische Kunst liegt in der Verknüpfung der vier Bereiche. Keiner sollte ohne die anderen verfolgt werden, was eine Politik und zugleich eine Lebensgestaltung anzielt, die zu leben umfassend wäre, lebendig, sinnvoll, eingreifend und lustvoll genießend. Dies ist kein Nahziel, nicht heute und hier durchsetzbar, doch kann es als Kompass dienen für die Bestimmung von Nahzielen in der Politik, als Maßstab für unsere Forderungen, als Basis unserer Kritik, als Hoffnung, als konkrete Utopie, die alle Menschen einbezieht und in der endlich die Entwicklung jedes Einzelnen zur Voraussetzung für die Entwicklung aller werden kann.
Der politische Umgang mit Erwerbsarbeit braucht die Einbeziehung von Fragen der Lebensweise. Wie verarbeiten die handelnden Subjekte vor allem die Brüche, die die Entwicklung der Produktivkräfte hervorrufen und die auch die Politik von oben verändern?
Das Feld der Arbeit ist ein hochgradig umkämpftes Terrain. Die vier Beiträge in diesem Bereich setzen je andere Schwerpunkte. Der erste geht zurück an den Anfang individueller Selbstfindung, an die Erfahrung mit Arbeit, wo sie noch Horizont ist, der erreicht werden will. In gewisser Weise umreißt dieser erste Beitrag die Utopie des Neuanfangs und beginnt von vorn die Blockierungen aufzuspüren, die das Utopische in die Entfremdung führen. – Konsequent wird vorangeschritten zur subjektorientierten Arbeitsforschung in der von Hochtechnologie bestimmten Arbeitsweise. Hier wird früh die Fruchtbarkeit deutlich, die die Hereinnahme der Kategorie Geschlecht und damit die Wahrnehmung der weiblichen Arbeitssubjekte bedeutet. Dieser Beitrag wurde vor 20 Jahren geschrieben und berichtet aus zwei empirischen Projekten. Man könnte daher annehmen, dass er inzwischen von der schnellen technologischen Entwicklung und den Fortschritten in der Arbeitsforschung überholt sei. Der Aufsatz endet mit einem Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Arbeitsforschung, der diese erst zu einer brauchbaren Wissenschaft für die Arbeitssubjekte beider Geschlechter macht. Vergleicht man neue Arbeitsforschung zur Problematik der Geschlechterungleichheit in der Arbeitsteilung, der Kompetenz, der kulturellen Barrieren, des Entgelts, der Wertschätzung usw. (etwa Buhr 2006), so erhellt, dass die 20 Jahre zuvor erarbeiteten Vorschläge noch nicht gegriffen haben und in dieser Weise aktuell bleiben. – Der Aufsatz zur Terrainverschiebung ist am deutlichsten als Vorarbeit zur Vier-in-einem-Perspektive erkennbar. Er führt die Integration von Forderungen aus der Frauenbewegung ins neoliberale Projekt vor und ist Zeugnis, wie notwendig und zeitgemäß ein solcher Eingriff in den Arbeitsbegriff, ins Zeitregime und vor allem in die Politik ist. Er zeigt, wie ein Sieg eine Niederlage sein kann und lehrt zugleich, mit solchen Widersprüchen umzugehen. – Dafür ist der vierte Text zu Hartz IV ein wichtiges Lehrstück. Er führt aus den lähmenden Politiken gegen das Elend, das Hartz IV für viele bedeutet, in die Empörung, die dem gesamten Menschenbild gilt, das hinter der Arbeitspolitik der Regierung steht. Als Analyse, die den Zorn stärkt, ist er zugleich heiter zu lesen und nutzt Humor als Waffe. Vier-in-einem statt Hartz IV ist die befreiende Losung.
Die zeitgemäße Kritik an der Bedeutung von Arbeit für sozialwissenschaftliche und auch feministische Theorie und gesellschaftliche Praxis erfahre ich als persönliche Verunsicherung. Denn Arbeit erinnere ich als fast magisches Zentrum meines Lebens von klein an.
Arbeitsbiographie
Da war zunächst das Milchholen beim Bauern. Meine um zwei Jahre ältere Schwester durfte das, ich nicht. Milchholen war Arbeit. Vor mir ein abenteuerliches Leben voller Bedeutung und Wichtigkeit. Ich würde eine halbe Stunde früher aufstehen müssen, weil ich etwas Großes vorhatte; ich würde einen weiten Weg alleine gehen, auf dem ich Gänse passieren musste, vor denen ich mich fürchtete; ich würde die Milch nach Hause bringen, die nötig war und gut schmeckte, und ich würde mich weder verlaufen, noch etwas verschütten, noch zu lange brauchen. Dann würde ich wesentlich älter sein als mein zwei Jahre jüngerer Bruder. Milch holen – die Worte verbanden sich mit Gefühlen von Wildheit, Unabhängigkeit, Größe und Welt und mit einer Unsicherheit, die ich unbedingt wollte. Endlich. Das Hochgefühl hielt einige Wochen an. Ich entdeckte Abkürzungen mit anderen Gefahren. Die schreienden Gänse mit vorgestreckten Hälsen ließen sich umgehen, wenn ich vom Weg abwich und einen eingezäunten Acker durchquerte. Dafür musste ich so schnell laufen, dass der Bauer mit dem Stock mich nicht erreichte. Beim Klettern über die Zäune verschüttete ich oft Milch, aber ich brauchte fast 5 Minuten weniger Zeit. Wenn ich hinfiel, kam Dreck in die Kanne. Langsam wurde das Milchholen zu einer lästigen Aufgabe, der ich mich so dringlich zu entledigen suchte, wie ich sie zuvor gewünscht hatte. Glücklicherweise hatte mein Bruder das gleiche Verlangen nach Größe. Die Pflicht ließ sich abgeben. Aber das Milchholen war ja nur ein Anfang gewesen. Ich war jetzt groß genug, andere häusliche Aufgaben zu übernehmen. Die Enttäuschung über die vergangene Lust spornte mich an, frühzeitig auf Abhilfe zu sinnen. Ich verschwand, wenn es ans Abwaschen ging; ich wurde krank, wenn der Frühjahrsputz nahte; kurz, ich verwendete all meine Energie auf die Vermeidung von Arbeit. Für die Schule entwickelte ich Rationalisierungsstrategien. Alle Fächer wurden von mir so gelebt, dass ich ohne Arbeit durchrutschen konnte. Wenn irgendeine Note sich in den Gefahrenbereich »4« begab, war ich untröstlich, denn das bedeutete: ich musste arbeiten. Als Fahrschülerin verbannte ich solche Hausaufgaben in die Zeit im Zug und in die Pausen, sodass alle übrige Zeit »frei« war zum Lesen, Träumen und Durch-die-Wälder-Streifen. Hier arbeiteten wir schwer, indem wir Hütten bauten, Stollen gruben, ja Bäume fällten und Zweige flochten.
In dieser Zeit nannte man mich zuweilen »Schneckchen«, weil ich herausgefunden hatte, dass Arbeiten im Hause weniger werden, wenn man sich ihnen so widerwillig und langsam nähert, dass ein anderer sie stattdessen ergreift. Meine gesamte Lebensorganisation war bestimmt durch Arbeit bzw. ihre Vermeidung. Ja meine Moral wurde durch sie zersetzt, weil ich häufig ihretwegen lügen musste.
Das Gefühl vom ersten Milchholen wiederholte sich, als ich an die Universität kam. Mein größtes Unglück war, dass in den ersten zwei Wochen fast nichts los war. Aber dann warf ich mich in den Rausch des Lernens. Ich belegte zwanzig Seminare und Vorlesungen, übernahm sieben Referate im ersten Semester. Die Universität betrat ich um acht Uhr früh und verließ sie abends um zehn Uhr, um dann noch tanzen oder schwimmen zu gehen und endlos zu diskutieren. Meine Nahrung war Schokolade. Ich war begeistert. In den folgenden Semestern verschob ich die Lernstunden nur wenig; mehr Zeit für die Bibliotheken ergab sich durch ein kritischeres Urteil über einige Veranstaltungen, die ich darum aus dem Stundenplan strich. Nur in zwei Semestern änderte ich meine Lebensorganisation: einmal, weil ich zu verliebt war, um überhaupt in die Universität zu gehen; ein andermal, weil ich in zu viele politische Veranstaltungen und Demonstrationen verwickelt war, um die davon noch unberührten Seminare bei den Historikern besuchen zu können. Mein Studium wurde lediglich dadurch gestört, dass ich arbeiten musste, um Geld zu verdienen. Aber auch dieses konnte ich durch Erlangen einer der so begehrten »Hilfswissenschaftlerstellen« schon im dritten Semester regeln. Ach, wenn es ewig so bleiben könnte!
Nach dem zehnten Semester mehrten sich Fragen nach dem Studienabschluss; viele, mit denen ich begonnen hatte, schrieben an ihren Examensarbeiten oder hatten die Universität ohne Abschluss verlassen. Der Gedanke an eine Dissertation machte mich krank. Ich schrieb mehr und mehr Referate, um das große Referat nicht schreiben zu müssen. Da plötzlich erfuhr ich in einer ansonsten langweiligen Vorlesung etwas Aufregendes: In der frühen Sowjetunion hatte es »Arbeitseinsätze« gegeben, in denen große Menschengruppen unentgeltlich ihre Samstage damit verbrachten, einen Beitrag für den gesellschaftlichen Aufbau zu leisten. Sie wurden Subbotniks genannt. Lenin selbst beteiligte sich an ihnen. Er, den ich mir als Tag und Nacht arbeitend, schreibend, bedenkend und aufrüttelnde Reden haltend, als ständig überarbeitet und erschöpft dachte. In die Lethargie des drohenden Examens kam die Lust des frühen Milchholens, bereichert um den Hüttenbau der Schulzeit und die Ausdehnung der Universitätsjahre. Hier war in meiner Vorstellung ein ganzes Volk gemeinsam unterwegs in dieser begeisterten Lust, zusammen lebendig zu sein in der Arbeit.
Arbeit, so hatte ich zunächst geglaubt, das ist das Glück des Lebens. Arbeit ist Langeweile, Mühsal, ja Elend und tritt an die Stelle des Lebens – dies waren die Erfahrungen und Lehren insbesondere aus meiner Schulzeit. Der Stachel blieb. Arbeit, so empfand ich jetzt wieder, das ist Zukünftiges und schon wirklich heute.
In kühnem Schwung verband ich die Mühseligkeit der Arbeit mit der Entwicklung der Theorie von Aristoteles bis Hegel und ihre Lust mit der Wirklichkeit der Subbotniks und der Theorie des Marxismus. In diesen Rahmen spannte ich mein Dissertationsprojekt. Es scheiterte nicht daran, dass ich zu wenig arbeitete. In stummem Vorwurf stehen vor mir noch die vielen Bücher, die das Feuer der Subbotniks ebenso erstickten wie meine Lust am Arbeitsvorhaben und damit meine Möglichkeit, diesen Text überhaupt zu schreiben. »Die Erziehung zur Liebe zur Arbeit« – das war der Tenor der Schriften aus der Sowjetunion und aus der DDR, die ich mit so viel Hoffnung aufgeschlagen hatte. Übrig blieb der staubige Geruch aus dem Schulzimmer, der Geist jener Arbeiten, denen ich in meiner Kindheit so erfolgreich aus dem Wege gegangen war. Eine Moral sollte installiert werden; gegen einen angenommenen Sinn für Faulheit sollte die Formierung zur Arbeitsamkeit treten. Disziplin, Gehorsam, Ordnung hatten die Plätze der freudigen, schöpferischen, neuen, lebendigen Freiwilligkeit eingenommen. Ein nützliches Glied der Gesellschaft zu sein, das war nicht mehr Geheimnis, Aufbruch, Lust und Gemeinsamkeit – das war individuelle Pflichtübung, gefordert von Lehrern, die darüber ebenso lustlos schrieben, wie die Schüler sich offenbar dazu verhielten – will man den Büchern Glauben schenken. Aus dem Frühlingssturm des lebendigen Wollens war der eisige Wind der Arbeitspflicht geworden. Aus der Lust, ein Mensch sein zu wollen, wurde die Not eines Zöglings in einer Besserungsanstalt. Ich gab auf. Mein Projekt schob ich ins Vergessen. An seine Stelle rückte eine Tochter.
Die Unruhe trieb mich zurück in die Universität. Acht Jahre später gründete ich das Projekt Automation und Qualifikation (vgl. zuletzt PAQ 1987). Hinter dem eher nüchternen Namen suchte ich erneut jenem Geheimnis des frühen Milchholens auf die Spur zu kommen. War es nicht möglich, dass die Entwicklung der Technologie die Arbeit so weit von aller Last, von Monotonie und Dummheit befreien konnte, dass die Arbeitenden endlich anfingen, ihre lebendige Tätigkeit wie Menschen schöpferisch und lustvoll zu leben? Könnte Arbeit jetzt so gestaltet werden, dass lebenslanges Lernen eine Gewohnheit wurde? Zusammenarbeit zur wechselseitigen Stärkung führte? Phantasie zur Notwendigkeit? Und müsste nicht eine solche Technologie aus den privaten Verwertungszwecken ganz unabdingbar zurückgeholt werden ins Gesellschaftliche? Allerdings dachten wir solche Möglichkeiten nicht als harmonische automatische Folge der Entwicklung der Produktionsmittel. Vielmehr folgten wir auch hier Marx, der solche Zusammenstöße von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Katastrophe, als Fragen von Leben und Tod annahm.
Wir versuchten, uns ein solches Individuum vorzustellen, welches lernend arbeitet und arbeitend vornehmlich seinen Kopf betätigt, in dieser Weise verbunden mit anderen. Wir suchten das »total entwickelte Individuum« und Elemente seines Möglichseins hier und heute. Unversehens stellten wir uns die kommenden Arbeiter als Wissenschaftler vor – eigentlich als Mitglieder unseres Forschungsprojekts. Ungleich uns selber hatten sie jedoch keine Körper – zumindest keine Arbeitskörper. Solch einseitige Betrachtung der Menschen schien uns jedoch auch in eine Perspektive zu verweisen, in der die Kultur der Körper gesellschaftliche Tat wird und an die Stelle des einfachen Verbrauchs von Arbeitskraft treten kann. Klaus Holzkamp war so etwas wie ein Ehrenmitglied unseres Projekts. Wir nannten ihn nach dem damaligen erfolgreichen Radsportler den Eddy Merx der Psychologie – ein Name, der zugleich auf das marxsche Erbe wie auf den unendlichen Arbeitseifer verwies, mit dem Holzkamp die Kritische Psychologie Stein um Stein aufbaute. Eigentümlicherweise hatten wir für diese geistige Arbeit eine Figur als eine Art Code gewählt, die als Radsportler ausdrücklich körperliche Arbeit in physikalisch messbarem Umfang leistete – bis zur Erschöpfung. Nur dies schien uns angemessen, um diese Verwandlung von Lebenskraft in Energie der Veränderung zu kennzeichnen. Zum damaligen Zeitpunkt meinten wir das durchaus nicht kritisch. Vielleicht ist es notwendig, selbst praktisch eine solche Verwandlung von Lebenszeit in selbstgewählte Arbeitszeit zu leben, um schließlich doch – wie Klaus dies in der Grundlegung (1984) tat – die Botschaft von der Identität von gesellschaftlicher Reproduktion und der der Individuen zu hinterfragen. Wenngleich die Einzelnen Gesellschaft wiederherstellen müssen, indem sie ihr Leben erhalten, überlebt doch Gesellschaft, wenn Menschen sich selbst vergessen, zu wenig schlafen, essen, lieben und genießen und schließlich krank werden und sterben, und sie überlebt selbst dann, wenn Einzelne sich parasitär verhalten. Gebraucht wird eine Kultur des individuellen Lebens, gerade weil der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist.
Welche Rolle spielt eigentlich Arbeit in der Psychologie allgemein und welche in der Kritischen Psychologie? Der erste Teil der Frage ist schnell beantwortet: In den verschiedenen Abteilungen herkömmlicher Psychologie hat Arbeit so lange keinen Ort, wie sie nicht durch ihr praktisches Fehlen – in Gestalt von Arbeitslosigkeit – als Ursache psychischer Störungen behauptet werden kann. Daneben gibt es eine Spezialdisziplin: die Arbeitspsychologie – ihre Domäne sind die psychophysischen Vernutzungen durch den Gebrauch menschlicher Sinne, Muskeln und Nerven. Arbeit selbst aber als spezifisch menschlich zu sehen und von daher als grundlegende Dimension jeder Subjekttheorie zu begreifen, dies tut erst die Kritische Psychologie.
In diesem Selbstverständnis fühlten wir uns als Automationsprojekt im Psychologischen Institut wie die Fische im Wasser. Unsere Hoffnungen auf menschliche Entwicklung in der Automationsarbeit sahen wir gestärkt durch das von Ute Holzkamp-Osterkamp formulierte Konzept der »produktiven Bedürfnisse« (1975, 76). Gehört es nicht zur menschlichen Natur, eingreifen, gestalten und verändern zu wollen, sich die Welt anzueignen, um sie zum Wohle aller bewohnbar zu machen? Unser ungebrochener Optimismus in dieser Frage entstand zwar vor der Zeit, da die Meldung von Umweltkatastrophen fast täglich demonstriert, dass die Menschen ausgezogen zu sein scheinen, die Welt unbewohnbar zu machen. Jedoch wird unter diesen Verhältnissen der Einsatz für die Verwirklichung eines Menschseins umso dringlicher, welches zugleich die Bewahrung und Befriedung der Welt und die Entfaltung der individuellen Kräfte auf die Tagesordnung setzt.
»Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben. Es ist das Leben erzeugende Leben. In der Art der Lebenstätigkeit liegt der ganze Charakter einer Spezies, ihr Gattungscharakter, und die freie bewusste Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen.« (MEW EB 1, 516)
In diesen Worten des jungen Marx fühlten wir uns aufgehoben, einig in der Kritischen Psychologie und wohlgerüstet für unser Automationsprojekt.
In Ute H.-Osterkamps Entwurf schließen die »produktiven Bedürfnisse« das Verlangen nach der Verfügung über die gesellschaftlichen Lebensbedingungen ein; der Protest gegen fremdbestimmte Produktionsverhältnisse kann mitgedacht werden. Die Vorstellung, dass der Mensch mit einem Verlangen nach produktivem Tun ausgestattet sein könnte, gab den in Sozialarbeit und Kindererziehung tätigen Psychologen unmittelbar Auftrieb. Sie übertrugen die kategoriale Form umstandslos auf die Wirklichkeit in Kindergarten und Schule – heraus kam eine neuerliche »Erziehung zur Liebe zur Arbeit«. Die einschnürende Kälte aus den alten Büchern meines früheren Dissertationsprojekts wurde gelockert durch die warme Fröhlichkeit der Erzieher. Die Umklammerung blieb. Vergeblich versuchten wir auf der methodischen Ebene den Status der Kategorie einzuklagen. Zu verführerisch war es, die alten Erziehungsziele von Fleiß, Disziplin, Ordnung usw. durch die neue Kritische Psychologie nicht nur zu legitimieren, sondern sogar mit dem Atem des Revolutionären zu beseelen.
Wir vom Forschungsprojekt zur Automationsarbeit wussten ›natürlich‹, dass der Begriff der »produktiven Bedürfnisse« nicht unmittelbar empirisch verwandt werden konnte. Aber konnten nicht »Ansätze«, »Triebkräfte«, »Formen« dieser menschlichen Ausstattung hier und heute gefunden werden? Das unlösbare Problem, mit dem wir uns herumschlugen, war kurz gesagt dieses: Die Vorstellung, dass dem Menschen ein Bedürfnis nach Produktion innewohne, ja dass er so sein Menschsein verwirkliche, verengte unseren Blick auf die Entwicklung einzelner Individuen in Bezug auf ihre Fähigkeiten zur Produktion im Denken, Planen, Können und Wollen. Dies trotz besseren Wissens um die Gesellschaftlichkeit des Menschen. Fragen der Zusammenarbeit mussten wir zusätzlich anfügen; gesellschaftliche Fremdbestimmung war für uns der beengende Rahmen, der das übergreifende Wollen behinderte, nicht selbst eine Form des Denkens und Handelns.
Die einzelnen Menschen gerieten uns zu bewusst tätigen Wesen; aber ihr Bewusstsein kreiste in unserem Entwurf nicht allein ausschließlich um Arbeit, es hatte ihr Sein aufgeschluckt.
Wie erleichtert waren wir, als Klaus Holzkamp in der Grundlegung nicht nur die »produktiven Bedürfnisse« ohne weitere Auseinandersetzung als zentrale Kategorie wieder verschwinden ließ (bzw. ersetzte durch die Wendung »produktiver Aspekt menschlicher Bedürfnis-Verhältnisse« [242]), sondern sich sogar an den Hauptbrocken wagte: Marx und die Arbeit. Ohne große Umstände wird jener Kronzeuge der vielen Bücher, die zur Liebe zur Arbeit erziehen wollten, jener historisch belastete Satz von »der Arbeit als erstem Lebensbedürfnis« aus Standpunkt und sozialistischer Perspektive entfernt:
»Nicht die ›Arbeit‹ als solche ist erstes Lebensbedürfnis, sondern ›Arbeit‹ nur so weit, wie sie dem Einzelnen die Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess erlaubt, ihn also ›handlungsfähig‹ macht. Mithin ist nicht ›Arbeit‹, sondern ›Handlungsfähigkeit‹ das erste menschliche Lebensbedürfnis – dies deswegen, weil Handlungsfähigkeit die allgemeinste Rahmenqualität eines menschlichen und menschenwürdigen Daseins ist und Handlungsunfähigkeit die allgemeinste Qualität menschlichen Elends der Ausgeliefertheit an die Verhältnisse, Angst, Unfreiheit und Erniedrigung.« (243)
Endlich vorbei mit der Drohung von Arbeitserziehungslagern, der fröhlichen Unterwerfung im Kindergarten, der Lähmung durch die Schule, der puritanischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus, dem arbeitenden Gott?
Im Begriff der Handlungsfähigkeit sind die gesellschaftlichen Verhältnisse auf jeden Fall mitgedacht und einklagbar. Der Begriff hat zudem den Vorteil, Bewegung einzubeziehen. Es gibt Stufen von Handlungsfähigkeit, gab es Stufen von Arbeit? Arbeit konnte zum bloßen Produktivismus geraten; der gesellschaftliche Bezug konnte verloren gehen. Im Begriff der Handlungsfähigkeit dagegen denken wir den Kampf um die Balance in Gesellschaft, die Bewegung zu immer größeren Fähigkeiten des Handelns, den Erwerb dieser Fähigkeiten und die Verfügung über die Bedingungen, die beides umfassen. Ja, dies ist das erste menschliche Lebensbedürfnis, ohne Zweifel.
Die Befriedigung über diese Wendung wird kleiner durch zu viel Beifall.
Da sind zunächst die vielfältigen Stimmen aus der Frauenbewegung. Der marxsche Arbeitsbegriff taugt nicht für die Frauenbefreiung; schlimmer, er ist eigens erfunden, um die Frauenarbeiten verschwinden zu lassen. Arbeit bei Marx, das ist männliches Tun, Eingriff in die Natur bis zu ihrer Zerstörung, Produktion um der Produktion willen, Entwicklung der Technik bis zur Atombombe, Herrschaft des Geistes, der Rationalität über das Leben. Die Befreiung der Arbeit aus kapitalistischen Zwangsverhältnissen wurde als Befreiung des Arbeiters gedacht, nicht als die der Hausfrau. Überwinden wir auch diese Probleme mit dem Begriff der Handlungsfähigkeit? Zweifellos eröffnet er ein Feld, in dem Frauenunterdrückung und -befreiung artikulierbar werden. Er ist praktikabel, nützt hier und heute, ja selbst seine Perspektive ist aus den unendlichen Weiten frühmarxscher Utopie ins Machbare gerückt. Hat er jetzt wirklich das einstmals Gewollte eingeholt?
Als ich vor Jahren »arbeitslos« war, gab es in einer Arbeitsgruppe Kritischer Psychologen einen heftigen Streit um meine Behauptung, dass mein politisches Engagement, meine vielfältigen Aufgaben zu Hause und in Verlag und Redaktion der Zeitschrift Das Argument aus mir eine Person machten, die durch Arbeit mit der Gesellschaft verbunden war. Selbstredend dachte keiner daran, als Arbeit nur entlohnte Arbeit anzuerkennen; jedoch war klar, dass die gesellschaftliche Anerkennung und Einbindung ein wesentlicher Faktor der Menschwerdung war und vor allem, dass jede Änderung der Verhältnisse von innen aus den Erwerbsarbeitsprozessen kommen müsse, nicht von außen, von den Marginalisierten – Arbeitslosen, Hausfrauen, Subkulturen aller Art. Die Polemik ging so weit, dass die Möglichkeit von Persönlichkeitsentwicklung für Arbeitslose bestritten werden konnte. Damals – in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – war das Phänomen der Arbeitslosigkeit noch nicht so allgemein. Heute, angesichts der Perspektive einer Abnahme »produktiver Arbeit« (Arbeit im produktiven Sektor) auf zehn Prozent bis zum Ende des 20. Jahrhunderts und einer strukturellen Arbeitslosigkeit, die jedes Jahr zunimmt, sind die Sozialwissenschaftler herausgefordert, den Zusammenhang von Arbeit und Leben zunächst einmal wenigstens neu zu denken.
Die Bewegung macht vor der Kritischen Psychologie nicht halt. In ihrem Umfeld hatten sich über die Jahre jene kritischen Geister gesammelt, die aus dem Phänomen der Arbeitslosigkeit eine glückliche Synthese von Psychologie und Gesellschaftskritik machen wollten. Entsprechend hieß schon der zweite Kongress der Kritischen Psychologen »Arbeit und Arbeitslosigkeit in kritisch-psychologischer Sicht« (1979). Die Positionen reichen bis heute von einer Behauptung psychischer Verelendung bei Arbeitslosigkeit bis hin zur umgekehrten Behauptung einer ungeahnten Möglichkeit für schöpferische Entfaltung durch Befreiung von den Zwängen fremdbestimmter Arbeit.
In seinem vor allem methodisch verdienstvollen Beitrag zur Arbeitslosigkeit (1986) kann Klaus Holzkamp vom Standpunkt der Handlungsfähigkeit der Menschen ihre Erfahrungen mit der Kategorie der »subjektiven Handlungsgründe« »psychologisch« erarbeiten. Arbeitslosigkeit rückt in den Rang einer Rahmenbedingung unter anderen, deren Verarbeitungsform überhaupt nicht notwendig ein Problem für Psychologen wird, sondern nur dann, wenn die Betroffenen nicht wissen, wie sie ihre Reaktionen auf das unmittelbar Erfahrene selbst handhaben können. Gegenstand der Psychologie sind hier nicht die Arbeitslosigkeit oder die Arbeit, sondern die Erfahrung der Individuen mit Arbeitslosigkeit. Arbeit ist dabei nicht nur die Form der gesellschaftlichen Tätigkeit, welche gesellschaftliche Integration gewährt, sie ist zudem ein Feld der Bedeutungen und von daher auch Gegenstand der ideologischen Kämpfe und der Ideologieforschung.
Diese Verschiebung des Gegenstandes der Psychologie von der Vorstellung, Arbeit sei Wesensmerkmal des Menschen, primäres Bedürfnis, hin zu dem Vorschlag, die Erfahrungen der Individuen und damit das Verhältnis von »unmittelbarem« zu »unmittelbarkeitsüberschreitendem«
Weltbezug als Rahmen für individuelle Handlungsfähigkeit zu behaupten, löst das Problem des normativen Umgangs mit Menschen, verneint die »Erziehung zur Liebe zur Arbeit«. Veränderungen werden im Rahmen des Möglichen machbar. Wo aber blieb dabei die Hoffnung, die an der Wiege jener erstarrten Konzepte von der Entwicklung durch Arbeit stand? Welche Dimension büßten wir ein, als wir die Identität von individueller Entfaltung und Arbeit aufgaben zugunsten der ökonomisch-politischen Rahmensetzung von Arbeitsplatzsicherheit oder Arbeitslosigkeit und der ideologischen Besetzung dieses Feldes von Arbeit, welches die Erfahrungen der Einzelnen mitbestimmt? Gehört am Ende unsere anfängliche Sehnsucht nach Sinnesentfaltung, Lust und Schaffensfreude, Neugier, Mühe und Wetteifer ebenfalls in den Bereich des Ideologischen?
Marx und die Arbeit
Nicht nur die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Unternehmerverbände haben Arbeit zum Feld ideologischer Bedeutungskämpfe erkoren. Der »Wertwandel« um Arbeit hat auch die Sozialwissenschaften, allen voran die Soziologie erschüttert. Die Bedeutung, die Arbeit für den Einzelnen hat, soll gesellschaftlich ermäßigt werden. Das erlaubt mehr psychische Stabilität bei Arbeitslosigkeit, weniger Marginalisierung jener, die keine Arbeit haben, wenn diese ohnehin nicht mehr so zentral ist wie etwa eine Familie. Das Umfrageinstitut INFAS versorgt die Öffentlichkeit regelmäßig mit den neuesten Nachrichten über die Abnahme des Stellenwerts, den Arbeit für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder – insbesondere die jüngeren – hat. Die Gesellschaft wandelt sich auf kluge Weise: In dem Maße, wie industriell weniger Arbeitskräfte gebraucht werden, da die Produktivitätssteigerung nicht durch Wachstum zugunsten gleichbleibenden Arbeitseinsatzes in den gleichen Industriezweigen ausgeglichen wird, in dem Maße verlieren auch die Arbeitenden den Wunsch nach Arbeit. Sie streifen ihre protestantische Arbeitshaut ab und entwickeln zugleich Neigungen, die nicht notwendig das Arbeitslosengeld überschreiten: z.B. ein Bedürfnis nach Kommunikation, nach Freundschaft und Nähe, Nachbarschaftlichkeit und ehrenamtlichen Tätigkeiten in der Altenpflege, der Behindertenfürsorge. In »nicht-entfremdeter« Gestalt – in Freizeit und Hobby oder in alternativen Projekten – entfalten sie genau die Hoffnungen, die am Anfang meiner Arbeitsdiskussion standen: »Selbsttätigkeit«, »freie Tätigkeit«, »Sinnengenuss«, »Aufhebung der Verkehrung von Mittel und Zweck«. Folgen wir zum Beispiel Dahrendorfs »Ende der Arbeitsgesellschaft«, so sind die Menschen heute in den Genuss der Aufhebung der entfremdeten Arbeit (also in den Bereich des Kommunismus) gekommen, ohne irgendeine gesellschaftliche Revolution gemacht zu haben.
Auch die »Verwandlung der Arbeit in Selbstbetätigung und die Verwandlung des bisherigen bedingten Verkehrs in den Verkehr der Individuen als solcher« (MEW 3, 68) hatte sich Marx nur durch eine Revolution herbeiführbar gedacht; genau diese Dimensionen aber sind es auch, die in der Soziologie – etwa von Habermas – an die Stelle des Arbeitsbegriffs treten sollen: Selbsttätigkeit und kommunikatives Handeln. Habermas spricht von der »Erschöpfung utopischer Energien« und meint die Projekte, die die Emanzipation der Arbeit von Fremdbestimmung erstreiten wollten: vornehmlich Marx und die Arbeiterbewegung. »Das politische Anregungspotenzial der arbeitsgesellschaftlichen Utopie« sei erschöpft; Widerstandspotenziale sammelten sich »im Sog einer fortschreitenden bürokratischen Erosion der aus naturwüchsigen Zusammenhängen freigesetzten, kommunikativ strukturierten Lebenswelten« an (Habermas 1985, 141ff).
Habermas empfiehlt, die Hoffnung auf revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft durch die Arbeiterbewegung aufzugeben. Ebenso sei nicht auf den Wohlfahrtsstaat mit Vollbeschäftigungspolitik als Befriedung der Klassen zu setzen. Widerstand käme aus den neuen sozialen Bewegungen; demnach sei die Lebensweise (nicht die Arbeitsweise) Ferment für Umwälzungen. Es geht ihm um die Ersetzung der im marxschen Arbeitskonzept angelegten Revolutionstheorie. Aber reduzierte denn Marx sein Befreiungsprojekt auf die Aufhebung der entfremdeten Arbeit und die Emanzipation der (vermutlich männlichen) Arbeiter? Oder anders: Wie wäre denn mit Marx über die neuen sozialen Bewegungen zu denken und über die Befreiung der Lebensweise?
Holzkamp bezieht sich ebenso auf ein Handlungs- (und Handlungsfähigkeits-) Konzept. Für ihn steht allerdings die Zentralität einer auf die Arbeiterbewegung zählenden Revolutions- oder auch Gesellschaftsveränderungstheorie außer Frage. »Bewusstes Handeln auf klassenspezifische Lebensbedingungen« ist ein tragendes Element seiner Theoriebildung. Wie aber kommen bei ihm Selbsttätigkeit, Genuss und Selbstverwirklichung, kurz, wie kommt die Hoffnung vor, die Habermas als »utopische Stärke« bezeichnete?
Verunsichert durch die vielen bis hierher aufgeworfenen Fragen, scheint es mir an der Zeit, Marx noch einmal neu zu lesen. Das Gelände ist ein Kampfplatz. Verschiedene Richtungen beziehen sich auf Marx und sprechen dabei höchst gegensätzlich über seinen Arbeitsbegriff. Sie schlagen aufeinander ein mit Behauptungen, Marx wäre der Theoretiker der Abschaffung der Arbeit oder umgekehrt, er habe ihre Ewigkeit begründen wollen. Arbeit stehe bei ihm im Zentrum von individueller und von Menschheitsentwicklung. Sie begründe Gesellschaftstheorie recht eigentlich und sie sei ein bloßes Synonym für Herrschaft und Sklaverei. Die so sprechen, haben ihren Marx gelesen. Wie ausgerupfte Federn hängen Marxzitate als schmückendes Belegwerk in ihren Texten. Legt man die Beweisstücke nebeneinander, so kommt man unweigerlich zu dem Resultat: Marx hat seine Auffassungen geändert wie eine Wetterfahne die Richtung. Er hat alles zu Arbeit gesagt, als wäre sie nichts Ernstzunehmendes. Wie nun mit Marx verfahren, wenn wir die dogmatische Lesweise vermeiden wollen, die aus einem Zitat eine Theorie von ewiger Beständigkeit entwickelt, um in kirchlicher Manier dieselbe als wahr und einzig richtig zu verkünden? Verfahren wir nicht ebenso rechthaberisch, wenn wir die unterschiedlichen Verwendungen in einen Zusammenhang bringen wollen? Oder können wir uns damit zufriedengeben, Marx sei eben widersprüchlich; er wechsle die Paradigmen, wie dies heute modern ist, oder er habe nur in seinen Frühschriften Wahres verkündet und sei einer, der mit dem Alter nicht klüger wurde, sondern dümmer?
In der philosophischen Tradition und in der neueren Nationalökonomie (Smith, Ricardo) fand Marx einen Arbeitsbegriff in einem bedeutungsvoll umstrittenen Feld: Arbeit war Tätigkeit der Armen; sie war Mühsal und Plage, erschöpfte die Lebensgeister, ja sie war für viele an die Stelle des Lebens getreten. Aber Arbeit war auch Quelle des Reichtums und aller Werte.
»[…] es ist das Interesse aller reichen Nationen, dass der größte Teil der Armen nie untätig sei und sie dennoch stets verausgaben, was sie einnehmen […] Diejenigen, die ihr Leben durch die tägliche Arbeit gewinnen, haben nichts, was sie anstachelt, dienstlich zu sein außer ihren Bedürfnissen, welche es Klugheit ist zu lindern, aber Narrheit wäre zu kurieren […] folgt, dass in einer freien Nation […] der sicherste Reichtum aus einer Menge arbeitsamer Armen besteht« (B. de Mandeville, Die Bienenfabel, 173, 269; zit. n. MEW 23, 643).