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Erinnerungsarbeit nutzt Erfahrungen von Frauen gegen die blinden Flecken der Sozialisationstheorien. Sie ist ein kollektiver Forschungsprozess, eine international angewandte sozialwissenschaftliche Methode zur kritischen Durchdringung von Selbstblockierungen. Wir Menschen bauen im Laufe unserer Geschichte unsere Persönlichkeit, bis eine stimmige Realität für uns entsteht; dafür wählen wir aus der Fülle des Erlebten aus, bewerten manches als bedeutungsvoll, verdrängen anderes. Erinnerungsarbeit beginnt ganz subjektiv. Aber weil sie die Eingelassenheit der ganzen Person in ihre Welt zum Gegenstand hat, ist auch diese ganze Welt Gegenstand der Erforschung. So geht es auch um die Beteiligung an der eigenen Unterdrückung (Opfer/Täter). Diese Thematik wird durch die großen Bereiche von Moral und Verantwortung, Arbeit und Politik bis ins Reich der Träume verfolgt. Zur Methode gehören auch die strategische Verschiebung von Forschungsfragen, Begriffsbildung und Disziplingrenzen überschreitende Theoriekritik.
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Seitenzahl: 434
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Frigga Haug
Erinnerungsarbeit
Argument
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Deutsche Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 1990/2022
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
www.argument.de
Umschlag: Martin Grundmann
ISBN 978-3-86754-832-8 (E-Book)
ISBN 978-3-88619-383-7 (Buch)
Für Kornelia und Melanie
»Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen« – dieser Satz von Peter Weiß verdichtet, was mich wissenschaftlich und politisch umtreibt. Er spricht optimistisch aus schlechter Erfahrung. Er verbindet den Aufruf und Wunsch zur Befreiung mit der Warnung, dass wir selber die Herrschaft, derer wir uns entledigen wollen, auch in uns tragen. Die aus dieser doppelten Unterwerfung entstehende Aufgabe lege ich mir so zurecht, dass es für uns Frauen politisch um eigene Organisierung geht, wissenschaftlich aber um die Anstrengung, diese eigene Teilhabe an Herrschaft und Unterdrückung zu entschlüsseln, damit wir das andere Ufer, zu dem wir aufbrechen wollen, auch erreichen können.
Dieser Frageraum gibt den aus unterschiedlichen historischen und subjektiven Zeiten entstammenden Texten des Buches eine innere Kohärenz. Immer geht es um Frauenunterdrückung, um eine Theorie ihrer Befreiung. Dabei geraten die beengenden gesellschaftlichen Strukturen in ein neues Licht, weil sie verbunden werden mit den subjektiven Taten der Frauen. Weil Alltag und Erfahrung im Zentrum stehen, werden zugleich diese Grauzonen gesellschaftlichen Konsenses, in denen über Normalität und Abweichung gerichtet wird, Gegenstand meiner Untersuchungen. Erinnerungsarbeit beginnt ganz subjektiv. Aber weil sie die Eingelassenheit der ganzen Person in ihre Welt zum Gegenstand hat, ist auch diese ganze Welt Gegenstand der Erforschung. Dabei werden sozialwissenschaftliche Theorien kritisch aufgehoben, neue Begriffe gesucht, Frauenerfahrungen nachgetragen, Leerstellen gefüllt. Die Logik des Gegenstandes Frauenbefreiungstheorie macht, dass Disziplingrenzen nicht eingehalten werden können; sie bestimmt den Gang durch die Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Der Weg ist noch lange nicht abgeschlossen. In diesem Buch geht es um die begründende Fragestellung und erste Diskussionen um die Beteiligung der Frauen an ihrer Unterdrückung (Opfer/Täter). Die Thematik wird durch die großen Bereiche von Moral und Verantwortung, von Arbeit und Politik bis ins Reich der Träume verfolgt. Fragen der Begriffsbildung, der Theoriekritik, des Feminismus und der Methode werden angestiftet und bearbeitet. Für die empirische Arbeit mit den Erfahrungen von Frauen hatte ich schon vor zehn Jahren begonnen, Erinnerungsarbeit als sozialwissenschaftliche Methode auszuarbeiten. Inzwischen sind so im Kollektiv sechs Bücher1 entstanden. Die Arbeit mit Erinnerungen ist auch zentral für die Auswahl der Beiträge in diesem Buch. Notwendig werden dabei Bereiche des Politischen, der Arbeitsforschung und marxistisch-feministischer Theoriebildung, die jeweils Schwerpunkte meiner Schriftenreihe sein werden, schon einbezogen. Die Anregung, überhaupt die verstreuten Beiträge aus fast 20 Jahren wissenschaftlicher und politischer Arbeit in eigenen Büchern zusammenzustellen, kam aus England, wo der Verso-Verlag, der schon den Band Sexualisierung der Körper in englischer Sprache herausbrachte, zur Zeit ein Buch mit einigen meiner Aufsätze zur Veröffentlichung vorbereitet. Für die deutsche Ausgabe habe ich den Hauptbeiträgen Exkurse und kleinere Arbeiten zugeordnet, die jeweils Diskussion und Streit ergänzend und vertiefend dokumentieren. Einige der Texte sind bisher nicht in deutscher Sprache erschienen. Auch die Wiederveröffentlichungen wurden sämtlich für die vorliegende Ausgabe bearbeitet und, wo notwendig, aktualisiert. Den Zusammenhang der Arbeiten habe ich durch Zwischenkommentare zu verdichten versucht.
Frigga Haug, Mai 1990
Die im Titel »Opfer oder Täter« enthaltene Frage scheint an sich etwas albern zu sein. Entweder ich entscheide mich für die Alternative »Täter«, dann wäre ich so unverschämt wie die Richter, die in Vergewaltigungsprozessen den Frauen tätigen Anteil nachweisen wollen; oder ich stimme der Alternative »Opfer« zu, eine Lösung, die auf so viel Einverständnis bauen kann, dass mein Beitrag an dieser Stelle schon zu Ende wäre. Es lohnte sich keine weitere Beschäftigung mit der Frage. Denn allen ist klar: Frauen sind in erster Linie Opfer. Dafür gibt es zahlreiche Beweise: die Frauenhäuser, die Unzahl der Vergewaltigten und Geschlagenen. Dann: Frauen dürfen einige Berufe nicht ausüben. Sie werden ferngehalten vom öffentlichen Leben. Man erlaubt ihnen nicht, die Tempel der Macht zu betreten. In untergeordneten Hilfsberufen fristen sie ihr tägliches Leben. In den Interessenverbänden ist ihre Anzahl gering. Sie sind doppelt belastet durch einen Wust von Hausarbeit und Kindergeschrei, während ihre Männer sich dem Genuss des Fernsehens hingeben, Bier trinken, kegeln, mit den Sekretärinnen flirten, aufregende Abenteuer erleben, die Leiter des Erfolgs unendlich hinaufklimmen. – Kein Zweifel: Frauen sind also Opfer. Zumeist sind sie Opfer ihrer Männer, auf jeden Fall aber der gesellschaftlichen Verhältnisse. Ihr öffentliches Ansehen ist gering. Da ist einmal die Werbung. Zur Erregung von Kaufgelüsten werden Frauenkörperteile vielseitig verwendet, sie dienen der Steigerung von Gefühlen, z.B. wenn ein Mädchen mit kurzen Hosen, bzw. wenn ein Mädchenhintern auf einem Motorrad sitzt, welches zusammen zum Kauf einer Zigarettenmarke anregen soll; z.B. wenn Bier nur mit Busen verkauft werden kann – bis hin zur warenästhetischen Ausgestaltung von Produkten, so wenn ein Aschenbecher ein Frauenbauch ist, ein Nussknacker Frauenoberschenkel nachbildet usw. – Im Beruf ist ihr Ansehen ebenso gering. Wie sie arbeiten müssen, und was darüber gedacht wird, mag ein Ausspruch aus dem Mund eines Personalchefs verdeutlichen, der sonst ganz freundlich war und ganz menschlich. Wir fragten nach den Anforderungen bei der Computerarbeit und er sagte:
»Wenn die Fehlermöglichkeiten bekannt sind und das Prüfprogramm routiniert ablaufen kann, dann ist das reine Sträflingsarbeit und kann von Frauen erledigt werden.«
Und ein anderer:
»Unsere Frauen müssen gut stehen können und belastbar und unter 40 sein. Sie dürfen nicht zu korpulent sein, nicht wie die italienischen Mammas.«
Kurz: insgesamt gilt, Frauenarbeit ist ein Synonym für unqualifizierte Arbeit. Diese hier sehr grob zusammengefassten Belege für den Standpunkt, Frauen sind Opfer dieser Verhältnisse und Opfer der Männer, sind zugleich gültig für den größten Teil der feministischen Frauenliteratur und kennzeichnen ihren Standpunkt. Bis hierher gilt, und ich kann dem nur zustimmen: Frauen sind in unserer Gesellschaft unterdrückt.
Was kann man dagegen tun? Wie könnten sie sich aufrichten? Dem Aufrichten stehen – sehr verkürzt gesprochen – zwei Hindernisse entgegen: Erstens. Die Unterdrückten tragen die Male ihrer Unterdrückung. Das heißt z.B., wenn wir den Worten des Personalleiters ihren Realitätsgehalt abgewinnen wollen: die von ihm beschäftigten Frauen haben vermutlich nicht die gleichen Fähigkeiten, wie die dort arbeitenden Männer, weil sie nicht auf die gleiche Arbeitserfahrung bauen können. Die heutigen Frauen können also nicht alles tun. Zweitens. Frauen haben Schwierigkeiten beim Kampf um ihre eigene Befreiung, weil sie unter Umständen das, was sie wollen, auch wieder nicht wollen. Das heißt, diejenigen, die im Aufbruch sind, die sich befreien wollen, kämpfen nicht nur gegen Hindernisse von außen, sie haben zusätzliche Schwierigkeiten mit sich selbst, z.B. solche, die gemeinhin bekannt oder diskutiert sind als Beziehungsprobleme, welche dem revolutionären Impuls im Wege stehen. Als »Beziehungsprobleme« bezeichne ich in diesem Zusammenhang verharmlosend Zusammenbrüche von Frauen, weil sie private Konflikte nicht bewältigen und daher ihre Befreiungsversuche verunmöglicht sind.2
Die Frage, die ich mir jetzt zunächst stelle, lautet: Was sind das für Strukturen, für gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Frauen unterdrückt sind und aus denen sie diese Unterdrückungsmale tragen? Ich kann die Antwort hier sehr knapp geben, weil dieser Zusammenhang allgemein bekannt ist. Frauen sind primär für die Familie da. Die Familie gilt nach wie vor als Grundeinheit der Gesellschaft, in der die Frauen den Schutz der Nachkommen gewährleisten sollen. Das Frauendasein, das Hausfrau- und Muttersein, den Mann zu reproduzieren, die Kinder zu erziehen, dafür ihr Lebensziel und jeden anderen Lebensinhalt aufzugeben, bezeichne ich jetzt verkürzt als die gesellschaftliche Funktion der Frau.
Diese Funktion wird gemeinhin verknüpft mit der Natur der Frau. Zunächst kann man festhalten: das geschieht nicht zu Unrecht, schließlich bekommen die Frauen die Kinder. Dem schnellen Einverständnis folgt unvermittelt die zweifelnde Frage: Ist denn die Natur der Frauen dermaßen überwältigend, oder, anders gesprochen, können sie ihre Natur so wenig regulieren, dass diese Natur zum Inhalt ihres Lebens werden muss? Die Frage also, die ich mir jetzt stelle, lautet: Wie steht es eigentlich mit der »Naturbeherrschung«, die gesellschaftlich und allgemein so hoch gehalten wird und so weit schon vorangetrieben ist, bezogen auf die Natur der Frau? Das heißt auch, vereinfacht zurückübersetzt auf unsere vorhergehende Frage nach der Naturbedingtheit der gesellschaftlichen Funktion der Frau: Müssen Frauen eigentlich Kinder in so einer großen Anzahl bekommen, dass ihr gesamtes Leben davon erfüllt und beherrscht ist? Die Frage scheint lächerlich, aber ein Blick zurück in die Geschichte zeigt: das ist tatsächlich, bis in eine Zeit, die der Gegenwart erschreckend nahe ist, der Fall gewesen. Ich gebe hier nur zwei Daten. Man kann darüber in einigen vorliegenden Forschungsberichten genug Material finden (vgl. u. a. Sullerot 1979): Genauere Kenntnisse über die Empfängnisverhütung sind erst in diesem Jahrhundert gewonnen worden. Die Möglichkeit, die Kinder nicht zu stillen – eine kraft raubende Tätigkeit, welche die Mütter ein, zwei, drei Jahre oder noch länger fesselte –, die Entdeckung der Sterilisation der Nahrung, geschah Ende des vorigen Jahrhunderts. Bis zu diesem Zeitpunkt, also bis zu Anfang dieses Jahrhunderts, bekamen die Frauen, die überhaupt mit einem Mann zusammenlebten, bis zu 19 Kinder, wobei nicht einmal die Hälfte der Kinder überlebte. (Im Übrigen gebaren auch die legendären Handwerksfrauen, die innerhalb der Frauenbewegung häufig diskutiert werden, also die Metzgerinnen und andere zunftmäßig organisierte Frauen, eine sehr große Zahl von Kindern, waren also praktisch dauernd schwanger.) Die trotz der hohen Kindersterblichkeit immer noch sprunghafte Vergrößerung der Gesellschaft durch ein solches Verhalten wurde im übrigen – wie wohl bekannt ist – dadurch ermäßigt, dass nicht alle Frauen heiraten durften und, in solch sozialer Ausgrenzung (Klöster), auch nicht alle Kinder gebaren. Wenn Frauen 19 Kinder bekommen und diese dann auch noch stillen müssen und infolgedessen kaum noch zu etwas anderem Zeit und Möglichkeit haben (es ist wohl nicht notwendig, extra darauf hinzuweisen, dass man nach 19 Kindern oder auch nach 18 oder 17 irgendwann im Kindbett stirbt), kann man wohl von einer extremen Ausgeliefertheit an die eigene Natur sprechen. Diese Art der Unterjochung der Frau unter ihre eigene Natur ist unnötig und überflüssig geworden mit der Möglichkeit der Empfängnisverhütung und mit der Möglichkeit, die Kinder mit »Fremdnahrung« großzuziehen. Dennoch werden Frauen in der Familie gehalten, als sei nach wie vor das gleiche Verhältnis gegeben. An dieser Stelle geht es mir hier nicht darum, allgemein gegen das Stillen zu sprechen. Aber es scheint mir für jedes Befreiungsverlangen wichtig, genau zu wissen und zu prüfen, wo Frauen durch ihre eigene Natur in einer Gesellschaft behindert sind, in der eine kulturelle Form (Familie) gefunden ist, welche die Frauen zugleich fesselt. Auch die eigne Natur muss erst angeeignet werden und Stillen kann erst zu einem Vergnügen werden, wenn es nicht Monat um Monat, Jahr für Jahr getan werden muss.
Die Funktion von Frauen in der Familie ist ein Hemmschuh für ihre Entwicklung, bedeutet einen Ausschluss aus den wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen, macht sie abhängig, ist unterdrückend. Solcher Art geschlagen, nicht zugelassen, erniedrigt zum Anheizen des Konsums, sieht man Frauen in der Verbannung des häuslichen Herdes, zusätzlich zur öffentlichen Belustigung missbraucht. In der Form des Witzes stimmen die einverständigen Lacher überein: Frauen sind böse, dumm, nichtsnutzig und eitel. Ihre Aktivitäten werden durchweg negativ bestimmt. Ganze Bücher ließen sich füllen mit Witzen, in denen Frauen nur noch im Spiegel ihrer Männer auftreten, so z.B. in diesem:
»Fred wird gefragt: ›Bist du verheiratet?‹, und er antwortet: ›Nein, ich seh nur so aus, weil man mir mein Auto gestohlen hat.‹«
Aber es gibt nicht nur diese Witze, die durchweg so sind, dass man sie verärgert und wütend beiseitelegt. Da Frauen dauernd solch frauenfeindlichen Witzen ausgesetzt sind, wenden sie sich zumeist bloß unmutig ab, ohne diesem Witzmaterial einen weiteren Gedanken zu schenken. Bei meinem Versuch, solche Witze als Belege für das schlechte öffentliche Ansehen der Frau zu finden, stellte ich allerdings eine eigentümliche, etwas andere zusätzliche Bedeutung fest.
Ich stelle jetzt drei solcher Witze vor, die wohl als übliche frauen-feindliche Witze gelten können:
»Die Fahrschülerin sagt zu ihrem Fahrlehrer: ›Ich fahre bei Rot an, Grün steht mir so schlecht.‹«
Einverständig sollen wir lachen über die Behauptung, Frauen kümmerten sich hauptsächlich um ihre Kleidung.
Ein anderer, ein jüdischer Witz:
»Ein Ehemann berichtet seinen Freunden: ›Meine Frau ist wirklich reinlich, sie ist die Einzige in ganz New York, die den Müll säubert, bevor sie ihn wegwirft.‹«
Oder ein dritter aus dem ÖTV-Magazin:
Ein Bild – Sonnenschein, Wiese, Wasser, ein Paar auf dem Handtuch mit Kofferradio. Der Mann sieht sorgenvoll aus, die Frau sauer. Sie sagt: »Ich habe gleich gesagt: stell die Nachrichten aus an so einem schönen Tag, aber nein, nun ziehst Du einen Flunsch und denkst an den Overkill.« (Overkill ist die Möglichkeit beispielsweise der USA, die SU mehr als einmal, vielleicht fünf- oder zehnmal oder hundertmal zu vernichten.)
Ich denke, dass solche Witze bei allem vordergründigen kleinlichen Einverständnis, sich über Frauen lustig zu machen, zugleich kritische Witze sind. Sie haben ein aufklärerisches Moment. Sie zeigen nämlich, dass die Bereiche, in denen Frauen sich befinden, und die dazu gehörenden Aktivitäten sich zerstörerisch gegen die Frauen selber richten müssen. Dies gilt sowohl für diesen albernen Witz mit dem Fahrlehrer, in dem die Frau bei Rot anfährt, als auch für den Witz mit dem Overkill, um den sie sich nicht kümmert, weil sie gerade eine gemütliche fröhliche Atmosphäre will und selbst noch für den Witz, der die Sinnlosigkeit der Säuberungsarbeit hervorhebt. D.h. diese Witze sind im Bösesten noch aufklärerisch, sie sagen etwas aus über die Bedrohung, die diese Bereiche, die »das Reich« der Frau sind, für Frauen darstellen. Sie entselbstverständlichen durch Übertreibung und verweisen so auf die Notwendigkeit der Befreiung der Frau aus »ihrem Reich«. Wie wäre eine solche Befreiung und Veränderung möglich? Braucht sie nicht, und sagen diese Witze nicht auch das, vorab geänderte Frauen?
Erinnern wir uns, dass die Existenz in Ehe und Familie, die Mutterschaft der Frauen eine außerordentliche Einschränkung, Abhängigkeit und Entwicklungshemmung bedeutet. Wenn das jede weiß, wie kommt es dann, dass noch Mutterschaft und Ehe von Frauen gewünscht wird? Eine andere Wahl ist möglich. Frauen werden nicht dazu gezwungen. Zugespitzt formuliere ich jetzt als These: indem Frauen Mutterschaft und Ehe in der herkömmlichen Weise wollen, zumindest heimlich wünschen und irgendwo anstreben, willigen sie freiwillig in ihre Unterwerfung ein.
In einer Reihe von solchen Witzen wie den eben zitierten wird zweierlei deutlich: zum einen das vertane Leben und zum zweiten, dass sich Frauen innerhalb dieser Bereiche wohl zu wehren beginnen, dass dieser Widerstand aber in eine falsche Richtung zielt. Zum Beweis zitiere ich noch einen ganz eindeutig frauenfeindlichen und geschmacklosen Witz, der trotz alledem noch diese beiden Momente zeigt: »Manche Frauen sind wie Zigaretten. Zuletzt sammelt sich das Gift im Mund an.« Solche Witze verweisen also darauf, dass Frauen sich in diesem abgedrängten Leben zu wehren beginnen, wenn auch auf eine verdrehte und nicht auf eine auf wirkliche Befreiung gerichtete Weise. Dafür braucht es offenbar ein Wissen um die Konstruktion jener Unterdrückung, in die Frauen sich freiwillig begeben? Wie bemächtigt sie sich der Frauen?
Für die weitere Analyse stelle ich als nächste These auf: Jede Unterdrückung, die nicht mit äußerem Zwang arbeitet, muss mit der Zustimmung der Beteiligten arbeiten.
Die eingangs vorgeführte Annahme, dass die Frauen ausschließlich Opfer seien, erweist sich als hoffnungslos, wenn man für die Veränderung ihrer Lage streiten und dabei an ihrer Beteiligung bei der Befreiung festhalten will. Es bleibt ewig im Dunklen, warum Befreiung möglich und notwendig ist und vor allem, wer sie vollbringen soll, wie also – um es allgemeiner auszusprechen – eigentlich Frauen als Opfer und Objekte in den Status von tätigen Subjekten kommen. In anderen Worten: die Auffassung, dass Frauen ausschließlich Opfer seien, schweigt darüber, wie sie aus der Position derer, über die gehandelt wird, in die Position von selber Handelnden gelangen können. Geprägt und versiegelt müssten sie schweigen, müssten sie also bleiben, könnten sie sich nicht aus der unterdrückten Stellung aufrichten, wenn man am Gedanken des Opferseins festhält. Geht man dagegen davon aus, Menschen und also auch Frauen seien Schöpfer ihrer selbst, so folgt: Die einzelnen Frauen finden selbstverständlich die Unterdrückungsstrukturen, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in die sie hineinwachsen, in denen ihnen eine nicht-aufgerichtete Haltung zugemutet wird, zunächst fertig vor. Aber diese Strukturen existieren nur weiter, wenn sie von denen, die in ihnen leben, immer wieder hergestellt werden. Dass dies so ist, heißt auch, dass diese Strukturen, von denen, die sie herstellen, geändert werden können. Dies ist im Übrigen die einzige Möglichkeit, in der Veränderung gedacht werden kann. D.h., der Gedanke, dass Frauen ihre eigenen Verhältnisse ändern können, setzt voraus, dass sie diese Verhältnisse auch mit herstellen und also – wie oben behauptet –, dass die Unterdrückung, wenn und soweit sie nicht mit äußerem Zwang arbeitet, die Zustimmung der Unterdrückten braucht. In jedem Tun steckt also ein Stück Einwilligung. Auch das Sich-Opfern ist eine Tat und kein Schicksal.
Machen wir die Zumutung mit, eine solche Einwilligung in Unterdrückung mitzudenken, so erhebt sich die Frage nach dem Wie solcher Zustimmungsakte. Eine thesenhafte Antwort: Im Prozess der Vergesellschaftung – gemeinhin Sozialisation genannt –, geschieht nicht, wie in einer Reihe von Sozialisationstheorien behauptet, eine einfache Prägung, ein von oben nach unten Aufdrücken bestimmter Charaktereigenschaften, sondern der Vergesellschaftungsprozess ist selber eine Aktivität, in der auf jeder Stufe Einwilligung hergestellt werden muss. Wie kann das geschehen? Ich skizziere jetzt einige Annahmen aus der Kritischen Psychologie (vgl. dazu u. a. Holzkamp 1979, Holzkamp-Osterkamp 1975 u. 1976):
Wir gehen davon aus, dass die Entwicklung der Einzelnen, also das Heranwachsen von Kindern zu Erwachsenen und jede weitere Entwicklung, ein Prozess ständiger Verunsicherung ist. Man lernt etwas, erreicht eine Position von Wissen und Handlungsfähigkeit und ist geneigt, auf dieser Stufe gesichert stehen zu bleiben. Um weiter zu wachsen, um auf die nächste Position zu kommen, muss man die eben erreichte alte Position verlassen. Das ist ein Prozess der Verunsicherung oder anders: ein Konflikt. Das Erreichen der nächsten Stufe setzt die Lösung des Entwicklungskonfliktes voraus und bietet selbst eine höhere Stufe von neuer Sicherheit und Handlungsfähigkeit. Für diesen Prozess, in dem Entwicklung auf Verunsicherung und Konflikt basiert, gibt es gesellschaftliche Strukturen oder Instanzen wie Familie, Eltern, Lehrer usw., die diesen Prozess emotional absichern, also die Einzelnen dabei unterstützen, von Stufe zu Stufe zu kommen, sich zu entwickeln.
Dass Entwicklung überhaupt in dieser Weise konfliktreich vonstattengeht, beinhaltet die Möglichkeit von Nicht-Entwicklung. Solange in den verschiedenen Gesellschaftsformationen Unterdrückung und Ausbeutung herrscht, ist eine umfassende Kompetenz der einzelnen Gesellschaftsmitglieder ohnehin ausgeschlossen, wird durch die Verhältnisse verunmöglicht, durch die herrschenden Instanzen verhindert. Eine solche Behinderung beim Versuch, höhere Handlungsfähigkeit zu erreichen, trifft besonders die Frauen in unserer Gesellschaft, sofern sie vom gesellschaftlichen Produktionsprozess ferngehalten sind, sich fernhalten. Durch verschiedene Mittel wie Bestechung, Umleitung, Verdrängung, Kompensation, gelingt es, dass sie sich mit Stufen niedrigerer Handlungsfähigkeit bescheiden. Dies ist besonders offensichtlich in all jenen Bereichen gesellschaftlicher Macht, in denen über die Bedingungen des Handelns entschieden wird.
Bevor ich diesen Zusammenhang mit einigen Beispielen verdeutliche, möchte ich aus dem bisher Ausgeführten als Forschungsleitlinie formulieren: Bei allen Unterdrückungszusammenhängen müssen die Tätigkeiten und Haltungen auch der Unterdrückten genau herausgearbeitet werden. Neben strukturellen Behinderungen werden wir Konfliktvermeidungsstrategien entdecken und aufspüren können, wie alternative Handlungsmöglichkeiten durch »Verführung« verpasst werden. Kompensationen, Belohnungen, Erleichterungen werden vermutlich die eingeschlagenen Wege orientieren. Dies gilt sowohl für historische Forschung wie für die Analyse individueller Vergesellschaftung heute.
Vergegenwärtigen wir uns diesen Zusammenhang am Beispiel der Familie im Vergleich zur Lohnarbeit. Unter der Voraussetzung, dass es unter unseren heutigen Bedingungen »unterdrückend« ist, ausschließlich Mutter und Ehefrau zu sein (aus den bekannten Gründen, dass Frauen so nicht nur aus jeder Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungen ausgeschlossen sind, sondern zudem selbst nicht für sich sorgen können, kein eigenes Einkommen besitzen, sich nicht nähren und kleiden, nicht wohnen können ohne Einwilligung des Ehemannes usw.), fragen wir uns, warum Frauen dann dennoch diesen Zustand »freiwillig« wählen, dabei häufig um die Unterdrückung wissen und trotzdem nicht die Berufstätigkeit vorziehen. Diese Frage scheint mir nicht so schwer zu beantworten.
Nutzen und Nachteile einer Ehefrau- und Familientätigkeit gegenüber der Lohnarbeit liegen auf der Hand. Es können Kleinigkeiten sein, z.B. ist die unmittelbare Abhängigkeit in der Lohnarbeit beim Hausfrauendasein nicht sofort und nicht immer einsichtig. Man muss nicht unbedingt, wenn man noch keine Kinder hat, so früh aufstehen, man muss sich nicht verkaufen, man kann über seine Zeit selbst verfügen, es scheint jedenfalls so, als ob man das kann. Man kann also auf manchen Stufen dem unmittelbar angenehmeren, beschützteren Leben gegenüber einem anstrengenderen, aber auch gesellschaftlicheren und in dieser Weise glücklicheren Leben den Vorzug geben. Die Schwierigkeiten, das Schwierige zu wählen, werden dadurch vergrößert, dass die emotionale Einbettung als Verführung auftritt, als Traum von ewiger Liebe gesellschaftlich unterstützt wird.
Wenn Lernen und Entwicklung Risiken sind und das Infragestellen alter Positionen der sozialen Absicherung bedarf, sieht es um die Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten von Frauen gesamtgesellschaftlich schlecht aus. Positionen von Macht und Entscheidung, ja einigermaßen entwicklungsfähige Positionen in der Erwerbsarbeit sind für Frauen in unserer Gesellschaft bislang ja nicht vorgesehen. Im gesellschaftlichen Raum werden sie also für eine ausschreitende Konfliktlösung, für den aufrechten Gang wenig emotionale Absicherung erhalten. Sie werden Außenseiter sein. Um für Frauen Lernprozesse massenhaft abzusichern, bedarf es anderer, bislang unüblicher Kollektive, einer eigenen Lernkultur. Hier bekommt die Frauenbewegung für jeden Lernschritt, den Frauen machen müssen, der sie aus der gesellschaftlichen Erwartung herausnimmt, einen hohen Stellenwert, wird sie zur Notwendigkeit.
Nach der eingangs skizzierten Entwicklungsbedingung, welche die Ausgeliefertheit von Frauen an ihre eigene Natur betraf (Empfängnisverhütung, Kindernahrung, die das Stillen nicht zur Notwendigkeit macht), finden wir jetzt die Frauenbewegung als eine zweite, im wahrsten Sinne des Wortes notwendige Voraussetzung für Frauenbefreiung. Die Frauenbewegung und die in ihr entstandenen Frauenkulturen geben den Einzelnen die Möglichkeit, verfestigte Strukturen bei sich selber aufzulösen, ihre eigene Veränderung in die Hand zu nehmen.
Diese hier sehr verkürzt skizzierten Elemente fasse ich jetzt in einem anderen Kontext zusammen und komme damit gleichzeitig zur Gesamtzusammenfassung. Die neue Fragestellung, unter der ich das bisher Ausgeführte noch einmal entwickle, lautet:
Wozu soll es eigentlich nützen, einen solchen Standpunkt der Aktivität von Frauen bei ihrer eigenen Unterdrückung einzunehmen. Anders gesprochen: Wem nützt denn diese Analyse, die behauptet, Frauenunterdrückung ließe sich nur verstehen, wenn man nachvollziehe, dass Frauen Schritt um Schritt dieser Praxis des Unterdrücktwerdens selber zugestimmt haben? – Eine erste Antwort: Wenn wir etwas verändern wollen, wenn Frauenbewegung etwas verändern und erreichen will, werden wir feststellen, dass unserer alten Persönlichkeitsstrukturen der Veränderung im Wege stehen.
Man denke z.B. an die ungeheure Kraft, mit der die meisten Frauen an den privaten Beziehungen hängen und die sie in jeder – unvermeidlichen – Krise gegen sich selber richten, so dass sie eher selbstzerstörerisch als verändernd sind. Ferner steht der befreienden Veränderung ein zumeist schon als Teil der Persönlichkeitsstruktur verfestigter Anspruch auf Nichtanstrengung entgegen: geäußert als Recht auf Unmittelbarkeit, auf Wohlleben hier und jetzt, statt der langen Anstrengungen, die jede Veränderung verlangt. Die eben genannten privaten Beziehungen haben nicht nur selbstzerstörerische Kraft, sie nehmen auch einen zu großen Platz in den Gefühlen der Frauen ein. Wenn wir als Frauen etwas verändern wollen, müssen wir die Eingriffspunkte herausfinden, die uns fähig machen, selber zu handeln. D.h., für das Handeln müssen wir unsere eigene Haltung verändern und dies – so wollte ich ausführen – ist zugleich nur möglich als eine Veränderung der eigenen Persönlichkeitsstruktur. Warum?
Gehen wir davon aus, dass die Rede von der Unterdrückung der Frauen nicht bloße Phrase ist, sondern dass Frauen auch praktisch ein unterdrücktes Leben führen, dass sie ihre Unterdrückung als Tätigkeit selber Tag für Tag leben müssen, so werden wir auch annehmen müssen, dass die Resultate einer solchen Praxis ihre Persönlichkeiten strukturieren. Wenn sie in bestimmten Bereichen unfähig gehalten werden, können sie nur handlungsfähig werden, indem sie Teile ihrer eigenen Persönlichkeit mit zur Disposition und in Frage stellen. Dieses wiederum ist eine allgemeine Eigenschaft von Lernprozessen. Im Versuch, immer kompetenter zu werden, immer unabhängiger, immer mehr Bereiche des eigenen Lebens zu kontrollieren, werden Frauen bald auf Bereiche stoßen, in denen sie die erstrebte Kompetenz nicht erreichen können. Im Allgemeinen sind es alle Bereiche, die die Herrschaftsstrukturen der Gesamtgesellschaft sichern; bei den Frauen, in unseren Verhältnissen sind es zusätzlich Bereiche gesellschaftlichen Eingreifens, die den Prozess der individuellen Vergesellschaftung schon sehr viel früher behindern. Die geheimen Verbote für Frauen, sich zu entwickeln, »erwachsen« zu werden, müssten die Einzelnen verrückt machen, krank, handlungsunfähig, wenn sie sich jeweilig, auf jeden Schritt bewusst wären, dass sie in diesen Bereichen nicht kompetent werden dürfen. Zwar werden genügend Menschen in unseren Verhältnissen verrückt und krank, und dies gilt auch insbesondere für Frauen. Aber diejenigen, die nicht »verrückt« werden, sondern auf beschränktem Niveau handlungsfähig bleiben, müssen in ihrem Vergesellschaftungsprozess die einzelnen Bereiche, in denen ihnen Kompetenz nicht zugestanden und nicht ermöglicht wird, uminterpretieren, verdrängen, nicht wahrnehmen, aus dem Bewusstsein ausgrenzen. Diese Fehldeutungen bilden einen Teil der Persönlichkeitsstruktur. Eine solche Bauweise kann z.B. das Resultat hervorbringen, dass die ausgegrenzten Bereiche als nicht vorhanden vorkommen, emotional nicht besetzt scheinen, in den Gefühlen der Frauen keinen Platz haben, als langweilig empfunden werden.
Wenn Frauen die Bedingungen und Verhältnisse verändern wollen, unter denen sie leiden, müssen sie die von ihnen schon mit dieser Inkompetenz einverständig besetzten Bereiche in ihren eigenen Persönlichkeiten umbauen, die Sache anders wahrnehmen, d.h. sie müssen auch ihre Gefühle verändern. Das ist ein Verunsicherungsprozess, besonders krisenhaften Ausmaßes, eine Krise, die sich allein nicht aushalten lässt. Man kann sie nur durchstehen, wenn irgendwo eine Absicherung stattfindet.3
Und damit komme ich jetzt zum Schluss. Wenn gesellschaftliche Absicherung nicht gegeben ist – und das ist sie zweifellos nicht – dann, könnte man einwenden, genügen dafür politische Organisationen, Gruppen, genügt also ein politisches Kollektiv. Ich möchte hier behaupten, dass das bei Frauen nicht ausreichend ist, und zwar deswegen nicht, weil in diesem Prozess der Umorganisierung der eigenen Gefühle, der krisenhaften Überführung der bisherigen Lebensstrukturen in neue, die Männer, mit denen Frauen zusammen in diesen Kollektiven und Organisationen sind oder wären, ein zusätzliches Spannungsmoment hineinbringen, das die Umorientierung verwehrt. Schließlich sind Männer auch Nutznießer dieser vorher anders gesetzten Persönlichkeitsstrukturen. Sie können also gar nicht unvoreingenommen unterstützen, wenn Frauen sich z.B. ablösen von der Notwendigkeit, unbedingt eine »persönliche Beziehung« zu haben, die über allen anderen gesellschaftlichen Aktivitäten stehen soll, wenn sie Familie weniger wichtig nehmen, wenn sie mitentscheiden wollen und ihre Stimme erheben. Diese Veränderungsprozesse zu ermöglichen und durchzusetzen, ist das historische Recht und die Notwendigkeit der Frauenbewegung.
Kein Text, den ich je schrieb, rief eine so heftige, langanhaltende Diskussion hervor, wie die kurze Programmatik des Opfer/Täter-Textes. Zehn Jahre lang druckten wir Auflage um Auflage, die Aktualität der Thesen scheint nicht nachzulassen. Selbst heute, da ich dies schreibe, erhielt ich wieder eine der vielen Einladungen, zur Opfer/Täter-Problematik zu sprechen – diesmal aus der DDR.
In der leidenschaftlich geführten Kontroverse findet man so viele begeisterte Äußerungen wie heftige Kritik. Dabei gibt es »fast kein Missverständnis, dass diese Opfer/Täter-Theorie nicht hervorgerufen hat« (schrieben wir im Vorwort zur 2. Auflage unseres inzwischen endgültig vergriffenen Diskussionsheftes, Haug, F., Hrsg., 1982). Wenngleich dieser Text im Grunde den Beginn einer breit angelegten Sozialisationsforschung markieren sollte, stand im Brennpunkt der Kritik die Frage der Politik, bzw. der auf die Frage der Subjekte zielende Politikvorschlag, den meine Thesen enthielten. Es war zu Beginn der achtziger Jahre. Und damals standen ganz offensichtlich schon alle die Positionen zur Diskussion, die heute (1990) im Zusammenbruch der in den sozialistischen Ländern betriebenen Politik deutlich hervortreten. Als einen wesentlichen Streitpunkt können wir das Recht entziffern, überhaupt eine bestimmte Frage zu stellen. Um aus der Geschichte zu lernen und sie nicht einfach zu vergessen, ist es lehrreich, sich die damalige Kontroverse wenigstens in Auszügen noch einmal vor Augen zu führen. Innerhalb der kommunistischen Partei, die am heftigsten gegen die Opfer/Täter-Thesen polemisierte, gab es Spezialistinnen für dieses Thema (Rudolph und van Hären). Sie kommen daher in meinen hier wiedergegebenen Repliken auf Kritik häufiger vor.
Missverständnisse kann man beseitigen. Entweder hat die Sprechende sich nicht sorgfältig genug ausgedrückt oder die Zuhörenden haben nicht genau genug hingehört. Dass solches zu glauben eine kindliche Illusion ist, lernte ich spätestens aus den Kritiken (etwa von Rudolph und van Hären) zu meinem Opfer/Täter-Text. Ihre »Missverständnisse« haben durchweg folgende Struktur: eine schlägt vor, durch den Wald zu gehen und ein anderer hört sie gegen das öffentliche Verkehrssystem polemisieren. Nehmen wir zum Beispiel gleich zu Anfang folgenden Halbsatz: »… kommt Frigga Haug zu der Schlussfolgerung, dass Bewusstseins- und Persönlichkeitsveränderung der Schlüssel zur Frauenbefreiung ist«.
Die Aussage ist »etwas« übertrieben, das wissen natürlich Autorinnen wie Leser – aber es scheint zunächst legitim, »überspitzt« zu formulieren oder eine Aussage »zuzuspitzen«, einfach, um zu sehen, was so erkennbar wird, von was abgesehen ist. Machen wir es auch so und fragen uns, was wollen die beiden mit einem solchen Satz mitteilen – ganz unabhängig davon, ob dies in meinem Text steht oder nicht. Ich komme zu folgendem Ergebnis: die Überspitzung soll eine Gemeinschaft stiften all derer, die jetzt einverständig rufen dürfen: aber das weiß doch jede, dass Frauenbefreiung eine ganz harte materielle Sache ist! Was nützt mir mein schönes Bewusstsein, wenn ich kein Geld habe, geschlagen werde und, und, und – jede kann »selbsttätig« die Reihe der sattsam bekannten Fakten der Frauenunterdrückung wiederholen, wie sie u. a. auch in meinem Opfer/Täter-Beitrag gleich auf der ersten Seite stehen.
Das Wissen um die vielfältigen Unterdrückungsformen wird in dem zitierten Satz benutzt, um Verachtung zu mobilisieren für so eine, die ertappt werden kann, Bewusstsein und Persönlichkeitsstrukturen hier einbringen zu wollen. Das Urteil ist schon gefällt: ein Bürger, bzw. Bürgerin, verwechselt schon mal wieder Idee und Fakten. Im gemeinsamen Gelächter über eine solche Dummheit steckt allerdings noch die Aufforderung, dass die im Hohn nahegelegte Umkehrung des Satzes, dass die »Bewusstseins- und Persönlichkeitsstrukturen keine Rolle spielen«, für straflos verdaulich, für richtig gehalten wird. Frauen können so bleiben, wie sie sind, denken und fühlen, was sie immer schon für gut hielten, ihr Leben einteilen in Mann und Kinder, Berufstätigkeit für gering achten, glauben, dass ein privater Haushalt Lebenssinn genug sei, darunter leiden und nicht wissen, was tun. Eines Morgens werden sie aufwachen in geänderten Verhältnissen, die wir, die wir ja um die harte Materialität von Unterdrückung in den Verhältnissen wissen, kraftvoll für sie bereitet haben.
Ich bekunde an dieser Stelle, dass ich ein solches Denken für falsch halte. Frauen müssen sich selbst aus einschnürenden Verhältnissen befreien, sonst bleibt es für sie ohne Folgen. Dies kann also niemand stellvertretend für sie übernehmen. Diese Einsicht verändert ihr Bewusstsein, ist Änderung ihres Bewusstseins. Die Umsetzung in die Tat benötigt andere Persönlichkeitsstrukturen als die der treusorgenden Hausfrau und Mutter. Der Umbruch geschieht schon in so kleinen Taten wie: abends zu einem Frauenarbeitskreis gehen, obwohl der Ehemann ein gemütliches Zuhause will. Das durchzustehen braucht – so behaupte ich – von Frauen gebildete Solidaritätsstrukturen, braucht eine Frauenbewegung.
Das zweite »Missverständnis« ist entweder eine einfache Fälschung in der Hoffnung, dass niemand so genau lese und man auch noch Kredit habe aus der vorhergehenden Gemeinschaft in Bezug auf die Materialität von Unterdrückung, oder aber einfache Unfähigkeit der Autorinnen zu lesen und zu rezipieren. Sie schreiben: »Wir gehen von gesellschaftlichen Ursachen der Unterdrückung der Frau aus. Deshalb finden wir es viel entmutigender zu sagen, dass alles gar nicht so zu sein brauchte, hätten Frauen in ihrer Sozialisation bloß nicht zugestimmt, sich einfach anders entschieden.« Nirgends in meinem Text steht, dass die Unterdrückung der Frauen keine gesellschaftlichen Ursachen hat, sondern ich beschäftige mich mit der Frage, warum sich die Frauen nicht massenhaft wehren, obwohl sie doppelt unterdrückt sind. Diese Frage zu stellen, finde ich wichtig, weil ich mich nicht damit begnügen möchte, bloß dauernd zu wiederholen, dass es die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, welche alles verursachen. Stattdessen nehme ich an, dass die Menschen ihre gesellschaftlichen Verhältnisse selber machen, sie sind selbst Teil dieser Verhältnisse. Eine Änderung dass also von ihnen erkämpft werden; in diesen Kampf sind sie als Persönlichkeiten verwickelt. Ich suche nach Eingriffspunkten, die diese Aktivität des »Sich-Wehrens« unterstützen könnten.
Die Kritikerinnen fahren fort: »Wir finden es verunsichernd und einschneidend, Frauen selbst und nicht bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse als schuldig an Frauenunterdrückung zu betrachten.« Die Rede von Schuld und Verantwortung ist als Antwort auf die Opfer/Täter-These relativ verbreitet. Sie ist die moralische Wendung des Opfer/Täter-Theorems und entspringt unseren Köpfen spontan, weil wir so erzogen sind. Diese Formulierung im Feld der Moral will sagen, dass man für den Platz, den man in der Gesellschaft einnimmt, persönlich verantwortlich ist, bzw. dass ein schlechter Platz verschuldet ist, ein persönliches Versagen. Die Rede von Schuld und Verantwortung lässt also die Verhältnisse wie sie sind und richtet Kritik auf die Person, insbesondere, wenn sie an ihrem selbstverschuldeten Platz unzufrieden ist. Umgekehrt arbeitet mein Versuch, das Opfer/Täter-Theorem in den Kontext der Selbsttätigkeit der Menschen zu überführen. Zugespitzt ließe sich formulieren, dass der Gedanke, dass die Menschen ihre eigenen Verhältnisse produzieren, Kritik nur dann gegen die Person richtet, wenn sie an ihrem schlechten Platz zufrieden ist, unduldbare Verhältnisse duldet, sich einrichtet in unmenschlichen Bedingungen. Gerade um die Kritik gegen Verhältnisse richten zu können, habe ich versucht, die vorherrschende passivierende Rede von »Frauen als Opfern« umzubauen durch die Zusammenstellung »Opfer/Täter« oder »Opfer als Täter« oder »sich opfern ist eine Tat«. Ziel und Resultat war es, die von uns beeinflussbaren Handlungsweisen und Haltungen, die unser weibliches Sich-Opfern durchbrechen können, herauszuarbeiten. Dabei nehme ich an, dass das Erdulden als typisch weibliche Haltung die Verhältnisse stabilisiert, während umgekehrt hier eine Veränderung der Haltungen auch die Kräfteverhältnisse ändert und so ein Stück der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst.
Der Igel hetzte den Hasen zu Tode, obwohl er sich dabei kaum bewegte. Seine Frau wartete am anderen Ende der Strecke, so dass je ein Igel bei der Ankunft des Hasen rufen konnte: ich bin schon da.
Ein ähnliches Verfahren versucht mein Kritikergespann. Sie wiederholen einerseits kontinuierlich, »die Verhältnisse sind an allem schuld« – eine lähmende Binsenweisheit, die zu nichts verpflichtet und die jeder kennt. Sodann benutzen sie diese »Einsicht«, um klarzustellen, es käme auf das Bewusstsein überhaupt nicht an (siehe oben). Schließlich stellen sie sich meine Frage nach dem Wunsch vieler Frauen, eine Familienidylle haben zu wollen und erklären weise, die Frauen wüssten eben nicht, auf was sie sich da einließen, schließlich seien sie »ideologisch verdummt«: »Wir meinen vielmehr, dass nicht die Masse der Frauen weiß, dass die Beschränkung auf Heim und Herd eine außerordentliche Einschränkung bedeutet. Wie viele Frauen erleben das nach wie vor als schicksalhafte und naturbedingte normale Existenz in Übereinstimmung mit dem, was durch Erziehung und gesellschaftliche Vorurteile und alltägliche Berieselung an Mütterlichkeitsideologie verbreitet wird.« Der andere Igel ergänzt schnell: »Die von Haug unterstellte Wahlmöglichkeit stellt sich jedoch für die meisten Frauen aufgrund ihres Bewusstseins nicht.« Ich selber sprach im Kontext des Familienwunsches übrigens von »bewussten« Frauen aus der sozialistischen Bewegung, die sehr wohl wissen, dass eine traditionelle Familie eine Behinderung ist. Ergänzen wir noch als Refrain den ersten Igel, der jetzt meine Voraussetzung, dass, wo nicht mit physischer Gewalt ins System gezwungen wird, Zustimmung organisiert werden muss, gegen mich wiederholen darf: »Aber Haug vergisst völlig, dass es ein wesentliches Merkmal des Kapitalismus gegenüber den vorangegangenen Klassengesellschaften ist, dass er den persönlichen Zwang abgelöst hat durch den sachlichen Zwang der Besitzverhältnisse, durch eine scheinbar freiwillige Abhängigkeit …«. Der Schlussigel im Wettlauf steht gleich auf beiden Seiten der Rennbahn: die ökonomischen Verhältnisse arbeiten mit »Ideologie«, verkündet er: »Das, was Haug als Einwilligung beschreibt, ist nicht Zustimmung, sondern die massenhaft durch die ökonomischen Verhältnisse erzwungene und mit der entsprechenden Weiblichkeitsideologie verbrämte doppelte Unterdrückung der Frau.« Die »Verhältnisse« arbeiten offenbar mit blödsinnig überflüssigen »falschen« Werkzeugen, denn »Weiblichkeitsideologie« (sie würde Bewusstseinsarbeit nötig machen) wollten wir doch auf Empfehlung der Autorinnen zugunsten der Verhältnisse außer Acht lassen.
Die Igel im Chor wieder vereint reden dann eine Weile besänftigend über Bewusstseinsfragen. Vorherrschend das Zugeständnis, dass es so etwas nun doch gibt, legitimiert durch die Erinnerung: das stand doch bei Marx – Sein und Bewusstsein – und aufatmend wird schließlich zusammengebunden, dass alles aus den Verhältnissen komme. Dies scheint mir als Politikvorschlag allerdings mehr als ärmlich. Wir können das ja einmal versuchen und stellen uns folgenden Dialog vor:
»Dein Freund liebt eine andere Frau? Seine Flatterhaftigkeit zeigt, dass er dem gängigen Konsumverhalten aufsitzt. Du leidest? – Das ist Eifersucht. Sie entspringt dem Besitzdenken der kapitalistischen Gesellschaftsformation.«
Frau: »Ach so ist das. Das wusste ich ja gar nicht. Jetzt werde ich gegen die Verhältnisse kämpfen.«
»Und wie tust du dies?«, fragt eine unsichere Stimme von der Seite?
Die Stimme der Vernunft und Aufklärung rät: »Du gehst in eine Organisation, die das gleiche Ziel hat.«
Die unglückliche Frau ist jetzt überzeugt, sie sagt leuchtend: »Ja, deine Worte haben mich gekräftigt. Mein Freund interessiert mich nicht mehr. Während ich in den Sitzungen an der Abschaffung der Verhältnisse arbeite, kann er ausziehen. Ich brauche jetzt niemanden mehr für mich, weil ich alle habe.«
Obwohl ich mir Mühe gegeben habe, nur »richtige« Sätze sprechen zu lassen, wird doch sicher klar, dass eine solche Form der Politik unsinnig ist, im Alltag nicht greift. Das ständige Wiederholen von Sätzen, die mit dem »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse« argumentieren, halte ich für doppelt falsch. Zum einen wird über das lebendige, geschäftige Treiben hinweggegangen, das zu studieren überhaupt erst den Anfang von Politik ermöglicht: ich denke hier etwa an Erzieher, Eltern, Schule, Pfarrer, Massenmedien, Warenästhetik und vor allem an die Praxen, in denen Frauen sich vergesellschaften – sie alle arbeiten emsig und gesprächig eher als stumm an der Reproduktion der Verhältnisse; zum anderen verschweigt das Gerede vom »stummen Zwang«, dass die Entwicklung aus persönlichen Gewaltverhältnissen zu sachlichen für die Frauen bis heute noch eine fortschrittliche Perspektive ist, dass sie sich das Recht auf Lohnarbeit anstelle der persönlichen, ökonomischen und sexuellen Abhängigkeit immer noch erst erkämpfen müssen. Ich halte also das bloß rechthaberische Wiederholen von diesen Sätzen über »den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse« eher für eine Behinderung von Politik als für eine Ermutigung zum Handeln.
Entmutigung folgt auch aus solchen Sätzen wie den folgenden – diesmal ist es meine eigene:
»Wenn also solche alltäglichen Entscheidungen gegen die eigenen Interessen, u.U. gegen die eigene Einsicht ausfallen – was hat das mit freiwilliger Unterwerfung, gar mit einem Interesse an der eigenen Unterdrückung zu tun?! Es ist doch wohl eher Ausdruck der Tatsache, wie schwer es ist, alltägliche Konflikte durchzustehen, ist keine Zustimmung, sondern eher Nachgeben.«
Nirgends steht in meinem Text etwas von einem »Interesse an Unterdrückung«. Und wenn man in alltäglichen Konflikten nachgibt, so ist dies genau eine solche Praxis, die ich als eine typisch weibliche Form der Unterwerfung und insofern als eine Art von Zustimmung (mit Ressentiment und Säuernis) kennzeichnen wollte. Der Opfer/Täter-Text hat in diesem Kontext etwa folgende schlichte Argumentationsstruktur:
auch Nachgeben ist eine Tat
diese Tat hat eine Alternative
die Alternative heißt: nicht nachgeben.
Es geht darum, das Nachgeben zu verhindern, Widerstandskräfte kollektiv zu stärken. Zu untersuchen sind die Kräfteverhältnisse und ihre Umorganisation im Alltag.
Die Autorinnen fahren fort: »Neben der Stärke des ›stummen Zwangs‹ der ökonomischen Verhältnisse ist natürlich die Übernahme der Mütterlichkeitsideologie durch die Frauen Bedingung der Fügung von Frauen in ihre eigene Lage. Die verinnerlichte Weiblichkeitsideologie ist ein Hemmschuh für ihre Bewusstseinsentwicklung, bewirkt die Überzeugung, das alltägliche Ausüben der Frauenrolle – im Widerspruch zu den objektiven Fraueninteressen – sei im ureigensten Fraueninteresse. Sich zu fügen, etwas nicht als unterdrückerisch zu begreifen oder sogar zu glauben, es sei gut für einen selbst, hat noch lange nichts mit Zustimmung zu tun.« Der Gehalt dieses Satzes ist: Keine Zustimmung ist:
die Übernahme von Mütterlichkeitsideologie,
ihre Verinnerlichung,
eine Überzeugung haben,
etwas alltäglich ausüben,
sich fügen,
etwas nicht als unterdrückerisch begreifen.
Die Sache wird immer geheimnisvoller. Der Kontext legt nahe, dass die Autorinnen meinen, durch Zustimmung wechsele man die Seiten: aus Unterdrückten werden Unterdrücker. Es bleibt mir verschlossen, diesem Gedankenknäuel zu folgen. Stattdessen halte ich alle von den Autorinnen aufgezählten »Nichtzustimmungen« für zustimmende Aktionen, an deren Umkehr zu arbeiten ist. Die Autorinnen ahnen wohl ein Glatteis und machen sich jetzt durch Worte stärker: »Konfliktvermeidung als Zustimmung zu werten, ist allerdings mehr als zynisch.« Sie verschweigen leider, warum dies so ist, bzw. sein soll. Sie bezeichnen sie dann als »Hemmnisse im konsequenten Frauenkampf« und ziehen wiederum daraus keine Konsequenzen.
Ich versuche mir die Folgen für eine sozialistische Politik zu vergegenwärtigen, die aus dem Text der Autorinnen zu gewinnen sind. Ich vermute, die Hauptlernergebnisse sind:
1. Frigga Haug zu misstrauen,
2. dagegen zum siebenmillionsten Mal zu erfahren, dass »es« die Verhältnisse sind,
3. dass es den Frauen schlecht geht, und dass man es ihnen
4. sagen soll.
Die Befürchtungen, dass dies doch magere Politikvorschläge sind, werden am Ende durch Akkorde aus Marx-Engels Frühschriften übertönt:
»Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist, und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.«
Wie falsch. So dürfen die Autoritäten in der »Heiligen Familie« sagen, es komme nicht darauf an, was einer denkt; aber sagten sie nicht auch: Die Theorie muss durch die Köpfe der Massen hindurch, ehe sie materielle Gewalt wird?
Und was hat das alles mit der Frauenfrage zu tun? Welches ist denn ihr historisches Sein, wenn sie nicht Lohnarbeiter sind? Und was werden sie also zu tun gezwungen sein? Es wäre vielleicht nützlich, auch darüber nachzudenken.
Die Autorinnen wissen schon, dass da »ein objektiv falsches Bewusstsein« ist, können aber »aus Platzgründen« nicht näher darauf eingehen und benutzen den ganzen Platz, um weiter den selbst erfundenen, aber mir untergeschobenen Gedanken eines Fraueninteresses an Unterdrückung zu widerlegen.
Dass ich versuchte, praktische Konsequenzen aus dem im Marxismus vertrauten Gedanken zu ziehen, dass die Menschen ihr eigenes Leben und damit die Verhältnisse, unter denen sie leben, selbst produzieren und reproduzieren müssen, nehmen mir die Autorinnen besonders übel. Dass Unterwerfungsstrukturen z.B. einen Aufstand hervorrufen können oder ein Sich-Beugen, und dass es wichtig ist, beides in den einzelnen Schritten zu studieren, um Handlungsfähigkeit zu vergrößern, denken sie um in den für jeden als lächerlich zu erkennenden Satz: jeder könne sich zu allem entscheiden, alle Türen stünden offen. Ich hätte gesagt, es sei falsches Bewusstsein, wenn eine Fabrikarbeiterin werde, statt Präsidentin der Vereinigten Staaten. Der billige Triumph über solche Lächerlichkeiten lässt sie keinen zweiten Blick auf die unbestreitbare Tatsache werfen, dass Menschen unter den gleichen Bedingungen zu angepassten Duckmäusern werden können wie zu widerständigen Kämpfern, und dass es nützlich wäre, die Entwicklungen beider wie unser aller zu untersuchen.
Stattdessen streuen sie ihre zwei »Haupterkenntnisse«, dass ich der Meinung sei, jede habe bei der Lebenslotterie freie Wahl und allein das Bewusstsein produziere die unterdrückerischen Verhältnisse, quer durch den ganzen Text, wohl in der Meinung, dass die ständige Wiederholung eine schließliche Haftung in den Leserinnenköpfen bewirke – eine systematische Desensibilisierung. Etwa in Sätzen wie diesem:
»Indem Haug die Frauenunterdrückung als Ergebnis falscher Entscheidungen, als Ergebnis der Täterschaft von Frauen darstellt, reduziert sie die Frauenfrage auf eine Bewusstseinsfrage.«
Immerhin folgt am Schluss noch eine theoretische Meisterleistung:
»Die kapitalistische Gesellschaft bleibt der Täter von Frauenunterdrückung.«
Indem nun der wahre Täter ausgekundschaftet ist, ist er zugleich entschwunden. Denn wer ist die kapitalistische Gesellschaft? So spart man sich die Politik, die schließlich auch noch hätte klären müssen, wieso sich Männer gegenüber Frauen zu Vollstreckern jener Unterdrückung machen lassen.
Die kapitalistische Gesellschaft »reproduziert« auch die Weiblichkeitsideologie. Wenn wir schon keine anti-ideologische Arbeit leisten sollen, wie die Autorinnen nahelegen, wie arbeitet dann eigentlich die kapitalistische Gesellschaft? Durch wen? Und mit wem und wer? Hier fangen doch nach den altbekannten Lehrsätzen die eigentlichen Fragen überhaupt erst an. »Weiblichkeitsideologie ist Resultat des Kapitalinteresses.« Diese Behauptung sähe ich gern ausgeführt, z.B. als Interesse von einem Kapital, das seinen Profit auf Frauenarbeit gründet. Vielleicht lässt es seine Agenten Lichtbildvorträge halten über die Frau als »schicksalhafte Mutter«; oder es spricht von der fürsorglichen Wärme zarter Frauenhände am Fließband und versucht, die Reinemachefrauen durch Flugblätter über den »Mann als Ernährer« vom Betrieb fernzuhalten?
Es täte dringend Not, diese allzu einfachen Formeln vom Kapitalinteresse, das bis ins letzte durchschlägt und alles restlos determiniert, fürs Politikmachen genauer zu durchdenken. Insbesondere die dem Kapital weit vorausgehende Frauenfrage benötigt eine andere Politik. Am Ende schließlich fühle ich mich wirklich gefoppt. Da las ich über acht Spalten, dass es so etwas wie »Zustimmung« nicht gibt und glaubte nun endlich, dass die Autorinnen dieses Wort nur aus einem anderen Kontext kennen und mich daher einfach nicht verstehen können; schon versuchte ich, um weitere Missverständnisse zu vermeiden, andere Begriffe auszudenken, und da lese ich, dass »das Kapital sich Zustimmung zu seinen Interessen verschafft (eben mit der Weiblichkeitsideologie)«. Hier kann ich nur noch vermuten, dass solche Ungereimtheiten daher rühren, dass der Artikel von zwei Autorinnen stammt, bei denen die eine nicht wusste, was der andere schrieb.
Zwischen Ärger und Empörung, Zorn und Unmut denke ich doch, dass dieser Artikel der Kritikerinnen etwas Gutes hat. Als Eingriff in eine Diskussion bringt er die Dinge in Bewegung, auch wenn er vom Standpunkt des Gewohnten spricht. Bewegung aber ist es, die ungeheuer Not tut. Statt vom Kapital und den dominanten Strukturen der herrschenden Verhältnisse nur zu sprechen, sollten wir dorthin gehen, wo diese ihre täglichen Siege feiern: in den Alltag der Menschen; dort wo die Zustimmungen organisiert werden, in den Hoffnungen der Menschen und in ihren Sehnsüchten, ihren Wünschen und Gewohnheiten, in ihrem Konsumverhalten, in ihren Haltungen zur Welt sollten wir den Dienern des Bestehenden ihre Macht bestreiten. Dafür sollte der Opfer/Täter-Text einen Beitrag leisten.
Blicken wir auf unsere Regierungsparteien und ihre Programme und Erfolge und sehen, dass eine große Zahl der Menschen z.B. eine angemessene Regelung ihres Lebenszusammenhangs von der CDU/CSU erwarten, scheint es mir mehr als abenteuerlich zu sein, eine politische Strategie ohne die Wünsche und Hoffnungen der Menschen, ohne die Untersuchung ihres Gewordenseins auch nur zu denken.
In diesem Zusammenhang sind die Frauen ein besonderes Kapitel. Ihre Stellung und Funktion in der Gesellschaft lässt sie zugleich Kitt sein für die Risse im System und ein Unruhepotenzial, da sie mehr unterdrückt sind und weniger zu verlieren haben als die Männer. Die Frauenbewegung wuchs schnell, solange sie in unzähligen Selbsterfahrungsgruppen einem Bedürfnis der Frauen entgegenkam: aus der Isolation herauszukommen und die eigene Welt mit der Sphäre des Politischen zusammenbringen zu können. Die Erfahrungsgruppen gleichen aber auch einem Springbrunnen, dessen Wasser trotz aller Bewegung wieder in ihn zurücklaufen. Die Frage nach der vorwärtsweisenden Bündelung von Erfahrungen scheint mir eine Frage nach einer eingreifenden Wissenschaft zu sein, nach dem, was Marx und Engels wissenschaftlichen Sozialismus nannten. Dieser muss die Erfahrungen und das Alltagskonkrete einbeziehen, sonst ergreift er die Menschen nicht. Er muss wissenschaftlich sein, sonst fehlt jede Perspektive. Für die Frauenpolitik scheint mir ein möglicher Weg die Arbeit mit Erinnerungen und Erfahrungen zu sein. Damit kann Alltägliches aus dem Status des Selbstverständlichen gerückt und Einsicht gewonnen werden in die Gewordenheit von Verhältnissen, in die man selbst verstrickt ist und also auch sozial geworden, mit der Perspektive der Veränderbarkeit. Das Schreiben von Erfahrungsszenen (Geschichten) macht zudem Spaß und bezieht alle ein. Es ist zugleich »Alltagskultur« und ein Weg besseren Begreifens. (Vgl. dazu etwa die in mehreren Städten angelaufenen Gruppen zu »Einübung in ökonomische Strukturen«, »Arbeit, die Spaß macht«, »Frauen und Interessen«, »Entscheidungen und Konflikte«, »Frau und Familie«, »Fürsorge und Kontrolle« u.v.m. – Projekt Frauengrundstudium, 1980–1989.)
Die Frauenfrage hängt nicht ursächlich mit den kapitalistischen Verhältnissen zusammen. Frauenunterdrückung ist vorkapitalistisches Erbe. Deshalb sind für die Emanzipation der Frauen wie gegen die Indienstnahme von Frauenunterdrückung für die Aufrechterhaltung der Verhältnisse andere vielfältige Kampfformen nötig, ist hier und heute schon vieles zu gewinnen. Auch hier befinden wir uns erst am Anfang. Während wir darangehen, die Frauenfrage den veränderten Möglichkeiten und Notwendigkeiten gemäß neu in den Marxismus einzuschreiben (vgl. dazu die Gründung einer eigenen autonomen Frauenredaktion in der Zeitschrift Das Argument, 1982), können wir noch einige Zeit darüber streiten, ob wir überhaupt zu Recht darauf bestehen, dass Frauenunterdrückung aus Profitinteressen allein nicht abgeleitet werden kann, die Frauenfrage in der Frage der Arbeiterbewegung nicht aufgeht. Auch dies wird eine Diskussion sein, die uns weiterbringt.
Die Anfänge sind noch nicht ermutigend. Die Organisationen der Arbeiterbewegung sind weitgehend Männerbünde, die mit dem Theoriemonopol dekretieren, das bei ihnen die Frauenfrage aufs Beste besorgt werde, im Streit die Feder ergreifen und für die Frauen sprechen und selbst die existenzielle Frage von Leben und Tod bemühen, um u. U. die Frauenfrage als Friedensfrage so weit zu entnennen, dass jeder Protest als Blasphemie erscheint. Nicht ewig werden die Frauen schweigen. Die Existenz der neuen autonomen Frauenbewegung ist schon eine starke lebendige Kritik am Fehlen einer Frauenpolitik in den vorhandenen Organisationen. Für sozialistische Feministinnen scheint es mir dringlich, die Verknüpfungen und Verbindungen zu untersuchen, welche die Profitinteressen mit den patriarchalischen Strukturen zur Befestigung und zum Ausbau ihrer Herrschaft eingegangen sind.
Als ich im Januar vor einem Jahr im Institut für marxistische Studien und Forschungen in Frankfurt meine Thesen zum Verhalten von Frauen (Opfer oder Täter) verteidigte, erlebte ich den Schrecken eines Dorian Gray. Noch saß ich angestrengt glücklich unter den Genossinnen und Genossen, um Probleme des Politikmachens, hier besondere Schwierigkeiten und neue Möglichkeiten der Politisierung von Frauen zu diskutieren, da wurde hinter meinem Rücken schon das Schreckensbild einer verwüsteten Existenz entrollt – und gekehrt wie bei Gray war es sichtbar für alle, außer für mich. Im Nachhinein kann ich aussprechen, dass mich die Massivität der Vorwürfe, aber insbesondere der Stil der Auseinandersetzung zwischen offener Feindseligkeit, Hohn, jedenfalls bis zur »Exkommunikation aus dem Marxismus« reichend, erschreckten. Monatelang schlief ich geplagt von Alpträumen. Ebenso lang dauerte dieser Prozess der Ablösung und des Eingeständnisses vor mir selbst, dass ich viele Freunde und Freundinnen verloren hatte und einen Teil meiner wissenschaftlich-politischen Vergangenheit würde neu aufarbeiten müssen. Ich war vom rechten Wege abgewichen. Nach 14 Jahren aktiver Mitgliedschaft in der sozialistischen Frauenbewegung hatte ich versucht, Erkenntnisse und Vorschläge der Kritischen Psychologie für die Frauenfrage umzuarbeiten. Der Versuch gelang: neue Bewegung kam in viele Frauengruppen – sie begriffen die Ausführungen in meinem kurzen »Opfer/Täter-Beitrag« als Aufruf, in für sie verständlicher und möglicher Weise tätig zu werden. »Opfer/Täter« ist inzwischen zu einer Art Klassiker geworden in der Diskussion um Frauenpolitik5 – dies nicht zuletzt dank der scharfen Kritik in den kommunistischen und vielen sozialistischen Organen6.
Immerhin hat sich in den langanhaltenden Kämpfen ein Kern der Kontroverse herausgebildet. Es ist für mich erkennbar geworden, warum »Opfer/Täter« überhaupt in solcher Weise zum Stein des Anstoßes werden konnte. Daher kann ich auch persönlich gelassener die Probleme und den Stand ihrer Bearbeitung darstellen. Frauenpolitik ist auf diese Weise diskutierbarer geworden. Ich habe mich auch daran gewöhnt, selbst einen Pol in einer gegensätzlichen Auffassung in der Frauenfrage und die Schritte zu ihrer Lösung für einen kurzen historischen Moment verkörpern zu müssen. Ich stelle fest, der insbesondere von kommunistischer Seite kommende Vorwurf, ich hätte einen Politikvorschlag entwickelt, der in ihre bisherige Politikweise nicht umstandslos zu integrieren sei, trifft mich zu Recht. Allerdings kann ich dies nicht länger als Vorwurf begreifen, sondern es scheint mir angesichts der allgemeinen Mutlosigkeit in der Politik umgekehrt notwendig, neue Politikformen zu diskutieren und womöglich zu praktizieren.
Ich erinnere kurz an einige für diesen Zusammenhang des Politikmachens wichtigen Elemente aus dem »Opfer/Täter-Theorem«.
Zunächst die Situation, in der die Thesen entstanden: in der Frauenbewegung wurden mit großem Engagement Daten, Fakten, Ereignisse zusammengetragen, die allesamt immer nahtloser belegten, was allgemein bekannt war: Frauen sind Opfer der Verhältnisse und der Männer. In Frauengemeinschaften wurde ohnmächtige Wut angesammelt ohne mögliche Artikulation einer Veränderung. In dieses Feld sich langsam aufschaukelnder Resignation oder von ausschließlich auf alternative Projekte gerichteter Aktivität (wie eine Landkommune ohne Männer, ohne Hierarchie usw.), habe ich versucht, einen Eingriff zu formulieren. Er sollte einen Zusammenhang herstellen zwischen der Politik im Großen und dem Verhalten im kleinen Alltag. Ich lehnte mich dabei an Vorbilder wie Brecht an, der angesichts des Faschismus »eines ganzen Volkes von Verrätern und Verratenen« sagte:
»… da beschlossen wir uns umzusehen, was für ein Volk, bestehend aus was für Menschen, in welchem Zustand, mit was für Gedanken, er unter seine Fahne rufen wird.«