Die violette Stunde - Katherine Hill - E-Book

Die violette Stunde E-Book

Katherine Hill

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Beschreibung

Ein Segelboot in der Bucht von San Francisco. Cassandra Green könnte glücklich sein: Endlich hat sie als Bildhauerin Erfolg, ihr Mann Abe ist ein renommierter Arzt, ihre Tochter Elizabeth wird in Harvard Medizin studieren. Doch was ist nach zwanzig Jahren von ihrer Liebe zu Abe geblieben? Ein unbedachtes Wort, und der Streit eskaliert. Voller Zorn springt Abe ins Meer und schwimmt an Land. Jahrelang sehen die beiden sich nicht wieder – bis plötzlich Cassandras Vater stirbt. Während Hurrikan Katrina New Orleans verwüstet, kommt die ganze Familie zur Trauerfeier in Washington zusammen. Und im Chaos der Gefühle, Gedanken und Erinnerungen scheint auf einmal ein Neuanfang möglich. Klar, präzise und eindringlich erzählt Katherine Hill die Geschichte einer Familie, die durch ein tragisches Ereignis wieder zusammenfindet.

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Das Buch

San Francisco, Mitte der siebziger Jahre. Als Cassandra Fabricant, Kunststudentin aus Maryland, dem Medizinstudenten Abe Green begegnet, ist es Liebe auf den ersten Blick. Zwanzig Jahre später sind die beiden noch immer ein Paar: Sie ist eine gefragte Bildhauerin, er ein angesehener Rheumatologe, und ihre Tochter Elizabeth hat eine glänzende Harvard-Karriere vor sich. Cassandra könnte den Erfolg genießen – wäre da nicht ihre Affäre mit Vince Hersh, einem attraktiven Galeristen. Bei einem Segelausflug stellt Abe sie zur Rede, im Zorn stürzt er sich ins Meer. Acht Jahre lang sehen die beiden sich nicht wieder. Bis überraschend Cassandras Vater stirbt, mitten in den Vorbereitungen zu seinem achtzigsten Geburtstag. Während Hurrikan Katrina New Orleans verwüstet, kommt die ganze Familie zur Trauerfeier in Washington zusammen. Und im Chaos der Gefühle, Gedanken und Erinnerungen scheint auf einmal ein Neuanfang möglich.

Die violette Stunde ist die bewegende Geschichte einer Familie über drei Generationen – vom Washington der sechziger Jahre bis zum New York der Gegenwart. Und ein brillantes Debüt, scharfsinnig beobachtet und mitreißend erzählt.

Die Autorin

Katherine Hill, 1982 in Washington, D.C. geboren, hat in Yale studiert und Kreatives Schreiben an der Philadelphia University unterrichtet. Heute lebt sie in Princeton, New Jersey. Ihre Erzählungen erschienen u.a. in der Zeitschrift n+1 und wurden mehrfach ausgezeichnet. Die violette Stunde ist ihr erster Roman.

Katherine Hill

DIE VIOLETTE STUNDE

Roman

Aus dem Amerikanischen von von Sabine Hübner

Ullstein

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel The Violet Hour bei Scribner, New York.

T. S. Eliot, Das wüste Land wird zitiert nach: T. S. Eliot, Gesammelte Gedichte. 1909–1962. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Eva Hesse. © Faber & Faber Ltd., London. © der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1972/1988.

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ISBN 978-3-8437-0958-3

© 2013 by Katherine Hill

© der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Umschlaggestaltung: Wildes Blut, Atelier für Gestaltung Umschlagabbildung: © ullstein bild/Pragher E-Book:

Für meine Eltern

Zur lila Stunde, da sich Blick und Nacken Vom Schreibtisch abwinkeln, da der menschliche Motor im Leerlauf Pulst, so wie ein Taximotor ausgekuppelt läuft und wartet, Seh ich, Teiresias, flatternd im Puls zwischen zwei Leben, Greis, mit eines Weibes Zottelzitzen, wiewohl blind, Zur lila Stunde das Zwielicht, das den Sinn Heimwendet, und den Seemann heimbringt von der See …

Prolog

An jenem Nachmittag existierten einen Augenblick lang nur die Frau und das Wasser, und die Bucht, in ihrer unerträglichen Pracht, rüstete sich zum Kampf. Vor der Frau spielten die Wellen, geschmeidig und ultramarinblau. Der Wind neckte die Frau, klatschte Haarsträhnen auf ihre vaselineglänzenden Lippen, wo sie ständig kleben blieben, ganz gleich, wie oft sie sie nach hinten strich. Gischt sprühte, die Uferlinie kippte – die ganze Szene mutete chaotisch an –, oberhalb der Segel verschoben sich Wolken wie tektonische Platten, und immer wieder tauchte plötzlich die Sonne auf.

Das Meer war nichts für Cassandra. Doch Abe, der Segler, liebte das Wasser seit seiner Kindheit. Sie hatten dieses Boot gekauft, weil er sich immer eins gewünscht hatte und sie sich verpflichtet fühlte, Zugeständnisse zu machen. Sie fuhr heute erst zum zweiten Mal mit, und obwohl beim ersten Mal nichts passiert war, musste sie noch lernen, auf dem Boot in Balance zu bleiben. Momentan gelang ihr das am besten, wenn sie nichts tat. Deshalb lehnte sie sich jetzt auf der gepolsterten Bank im Heck zurück. Das Gesicht mit unsichtbarem Sunblocker dick eingeschmiert, einen Gin Tonic in der warmen, vor Angst schwitzenden Hand, kreuzte sie die Füße, löste sie wieder, kreuzte sie erneut.

Sie kämpfte gegen die Übelkeit an, versuchte sogar, das Schaukeln des Boots auf dem Wasser zu genießen, die aufmunternden Klapse der Wellen aufs Heck. Als sie unter der Bay Bridge hindurchfuhren, sah Cassandra ins Innere der Brücke hinauf, wo dreieckige Träger Richtung Land wiesen, wie die Bodenbeleuchtung in einem Flugzeug zu den Notausgängen. Solange sie tagsüber segelten, die Uferlinie immer in Sicht, konnte sie stark sein, das wusste sie. Das offene Meer war etwas anderes, weiter und tiefer als die ganze menschliche Zivilisation, mit stetig steigenden Spiegeln. Sie dachte an die Zeit, als die bloße Nähe des Ozeans sie elektrisiert hatte, seine Farbe, das Nass, eine neue Entdeckung, als wäre sie ein Pionier am Ende einer mörderischen Reise über Land. Früher hatte sie es herrlich gefunden, wie das Wasser mit dem Himmel verschmolz und Blau sich als vorherrschende Farbe der Natur behauptete. Damals hatte sie sich bei diesem Anblick voller Kraft gefühlt. Jetzt fühlte sie sich nur noch zerbrechlich.

Natürlich begegnete sie ihren Schwächen zurzeit auf Schritt und Tritt. Sie sprangen sie an, aus Zeitungsartikeln über ferne Gräueltaten, die sie nicht zu verhindern versucht hatte, und aus den staubigen, schlampigen Ecken ihres Arbeitszimmers zu Hause. Und tatsächlich, sie war schwach. Zwar noch nicht körperlich. Ihr Körper funktionierte noch ganz gut. Aber ihre Urteilskraft ließ nach. Wie sonst war Vince Hersh zu erklären: einunddreißig und gut gebaut, um nicht zu sagen attraktiv, ein leidenschaftlicher Clown im Bett. Sie hatte nicht vorgehabt, mit ihm zu schlafen, zumindest nicht beim ersten Mal. Aber aus einer Schwäche heraus hatte sie nachgegeben, und aus einer weiteren Schwäche heraus hatte sie sich immer wieder mit ihm getroffen. Selbst der Bruch mit ihm war eine Entscheidung aus Schwäche gewesen, weil sie Angst hatte, erwischt zu werden. Er besaß eine mondäne Galerie in Oakland, ein extravagantes Ambiente, in dem Cassandra sich nie richtig heimisch gefühlt hatte. Aber er hatte zuerst eins ihrer Kunstwerke erwählt, und dann hatte er sie erwählt. Während sie durch die bewegte See schaukelten, umklammerte sie die Reling, verwundert, welche Überraschungen das Leben für sie bereitgehalten hatte. Sie war eine Ehebrecherin geworden, eine Sklavin ihrer Sinne. Mit ihrem Mann besaß sie eine Yacht.

Die Affäre überstieg zwar ihren Verstand, doch tat sie ihr Bestes, das Boot zu begreifen. Abes weißes, lotrechtes Lieblingsspielzeug, mit all seinen komischen Teilen: Klüsen, Flaggleinen, Fock, Spieren. Bei diesem zweiten Ausflug trug Cassandra eine verspiegelte Sonnenbrille, einen Segeltuchhut und einen steifen weißen Kaftan, um Schultern und Rücken zu schützen. Da sie sich tapfer zu entspannen versuchte, trug sie Shorts und hatte ihre Schuhe unter Deck gelassen.

»Elizabeth!«, rief sie, als sie sich dem Strand näherten, um eine Weile vor Anker zu gehen. »Komm, nimm noch mehr Sonnencreme!« Sie stellte das Glas in einen Getränkehalter und holte die Tube aus ihrer Tasche.

Ihre Tochter kletterte vom Bug herunter, in einem Bikini von fast patriotischem Rot. Als Kind war sie so hellhäutig wie ihre Mutter gewesen, aber jetzt, mit achtzehn, hatte sie es plötzlich zu einem leicht gebräunten Hautton gebracht. Cassandra erkannte sie kaum wieder. »Ich brauch nicht mehr«, sagte Elizabeth mit einem prüfenden Blick auf ihren Arm. »Dads Gene haben endlich ihren Dienst angetreten.«

Cassandra betrachtete ihren Mann, dessen Haut bronzefarben war und der von allem weniger zu brauchen schien als sie – weniger Sonnencreme, weniger Bestätigung, weniger Risiko. In der einen Hand hielt er das Steuer, in der anderen seinen Gin Tonic, und auf der Bank wartete ein Band Borges. Ihr Mann nahm ganz gerne einen Drink, gelegentlich Dope, aber seine eigentliche Sucht waren Bücher. Jede Nacht las er stundenlang im Bett, im Schein einer schmalen Bogenlampe. Wenn sich ein Buch dem Ende näherte, wurde er melancholisch, als gehe damit auch etwas in ihm zu Ende. Er war mit dem dickleibigen Borges-Band nun fast fertig, aber diesmal wirkte er unbeeindruckt, als habe er ihn gar nicht wirklich gelesen, sondern die Seiten nur ein wenig durchgelüftet. Irgendetwas schien ihn zu quälen, etwas, mit dem er wahrscheinlich allein fertig werden musste. Sie hatte schon vor Jahren gelernt, ihn nicht zu plagen, wenn er in eine seiner Stimmungen verfiel.

»Ich bin nicht sicher, ob das so funktioniert«, sagte Cassandra zu Elizabeth. »Ich denke, das hat eher mit dem Ozon zu tun und mit der Jahreszeit, in der man zum ersten Mal der Sonne ausgesetzt ist. Du warst im März in Mexiko.«

»Da habe ich eine andere Theorie. Ich habe dieses Jahr mehr Bier getrunken als je zuvor. Vielleicht hat das meinen Stoffwechsel beeinflusst, mich empfänglicher fürs Bräunen gemacht.« Sie konnte sich das Lachen nicht verkneifen – die vernünftige, ehrliche Elizabeth.

»Das ist doch lächerlich. Es liegt am Ozon.«

»Mom. Das war ein Witz!« Elizabeth schüttelte den Kopf und ging zu ihrem Vater, um ihm zu assistieren.

Elizabeth kannte einige Segler in ihrer Schule, blonde Beach-Club-Typen im Polohemd mit albern aufgestellten Kragen. Sie fand sie irgendwie lächerlich, und auch das Segeln war ihr suspekt. Es geht nicht darum, wer das heutzutage macht, hatte Abe ihr erklärt, sondern darum, wie es früher war: John Smith, Columbus, Odysseus, Noah! Na und?, hatte sie protestiert. Im Lauf der Geschichte ist doch jeder gesegelt, vom Berühmten bis zum Vergessenen. Eben, hatte Abe gesagt. Genau das habe er gemeint.

Dennoch hatte sie, als Deckoffizierin, tapfer gelernt, wie man sich am Wind orientiert, die Leinen einholt und den Anker fiert, so wie sie es auch jetzt tat, den Anweisungen ihres Vaters folgend. Sie war schon ein Profi. Als der Anker gesichert war, ging Elizabeth übers Deck und prüfte die verschiedenen Knoten.

In der willkommenen Flaute erlaubte Cassandra sich das Vergnügen, ihre Tochter zu bewundern, die beim Segeln ebenso geschickt war wie anscheinend in allem. Wie anders sie war – wie fest sie an sich selbst glaubte. Als Cassandra in ihrem Alter gewesen war, hatte sie kaum einen Bikini tragen, geschweige denn sich einen kaufen können, und hier stand Elizabeth und trug diesen hübschen Fetzen am Leib, gestern gekauft, aus einer Laune heraus. Im Herbst würde sie aufs College gehen – Harvard. Cassandra war immer noch wie elektrisiert, wenn sie das Wort auf irgendeinem Brief entdeckte. Sie hatte es geschafft. Sie hatte ihren Eltern, die beide auf die Berufsschule gegangen waren, ein Enkelkind geschenkt, das in Harvard studieren würde, das Sahnehäubchen auf dem Kuchen der zweiten amerikanischen Generation.

Elizabeths gebräunte Beine kamen nun zurück und gingen übers Deck nach Backbord zur Reling. Sie stieg auf die Kante, balancierte gefährlich wie auf einem Seil und sprang einen Augenblick später mit ausgebreiteten Armen und gegrätschten Beinen furchtlos in die Bucht hinunter.

»Deine Schwester ist eine richtige Zirkuskünstlerin«, flüsterte Cassandra Ferdinand ins Ohr, dem Portugiesischen Wasserhund, der zu ihr gekommen war, um ihr seinen braunen Kopf in den Schoß zu legen.

»Eine Künstlerin?«, fragte Abe von seiner Bank her.

Im Lauf der letzten Jahre war Cassandras Kunst eines der wenigen Dinge gewesen, die ihm Hoffnung gaben, wenn seine Tätigkeit als Arzt ihn zu sehr bedrückte. Es war unglaublich, was sie alles zustande brachte, nur weil sie es wollte. Abe war Rheumatologe, und seine Patienten, geplagt von Hauttuberkulose, Osteoporose und lähmenden Arthritisschüben, litten unter starken Schmerzen. Sie kamen in seine Praxis geschlurft, auf Rollatoren gestützt, die kaum durch die Tür passten, und ihre Knöchel quollen aus den Schuhen wie Teig aus einer Muffinform. Sie hatten Buckel, schmetterlingsförmige Ausschläge auf den Wangen und Knochen brüchig wie Glas. Nach einigen Jahrzehnten approximativer Wissenschaft – »Wie groß ist der Schmerz, auf einer Skala von eins bis zehn?« –, ergebnisloser Laborbefunde – »In Ihrem Blutbild ist kein Rheumafaktor nachzuweisen, aber natürlich trifft das auf zwanzig Prozent der Patienten zu« – und winzig kleinen Dosisänderungen, die den Schmerz geringfügig beeinflussten, ermutigte es ihn, dass seine Frau für ihre Tochter eine andere Zukunft sah. Zumindest in der Kunst war es möglich, sich in Schönheit zu verlieren, einen Moment lang zu vergessen, dass das Leben meist brutal und ungerecht war. Zumindest in der Kunst musste man nicht einer dreiunddreißigjährigen Mutter von vier Kindern in die Augen schauen und ihr mitteilen, dass sie dank eines unerklärlichen, übereifrigen Drangs ihres Immunsystems – genetisch oder hormonell bedingt, das ließ sich nicht sagen – eine irreversible Schädigung erlitten habe, das Knorpelgewebe beinahe vollständig abgenutzt sei und die Schmerzen darum nur noch schlimmer würden.

»Ich habe über Elizabeth nachgedacht«, sagte Cassandra zu ihm und kraulte Ferdinands Ohren. »Ihr fliegt alles zu. Sie ist ein Teenager; eigentlich sollte sie sich abmühen. Tut sie aber nicht. Sie ist wirklich eine Zauberin.«

»Und wieso macht sie das zur Künstlerin?«

Cassandra blickte auf das gekräuselte Wasser, dessen Reise so vergeblich schien wie manche ihrer Gespräche. Abe wartete auf die Antwort seiner Frau, sein Finger ruhte als Lesezeichen auf der Buchseite.

»Zirkuskünstlerin«, sagte sie und hörte nun, beim zweiten Mal, wie dumm ihre Bemerkung gewesen war.

»Ach so«, meinte er. »Weil sie vorhin so auf der Reling stand …« Seine Stimme wurde leiser. »Erinnerst du dich noch an das Spiel, das sie früher immer im Flur gespielt hat? Mit Jessica? Und diese Togen, die sie an den Knien zusammenraffen mussten, um nicht zu stolpern? Das war sehr originell.«

Cassandra erinnerte sich aus anderen Gründen an das Spiel, aber in vielerlei Hinsicht bevorzugte sie Abes Version der Vergangenheit. »Da war sie in der Mittelstufe. Kaum zu glauben, dass das schon fünf Jahre her ist, nicht?«

»Großer Gott, was ist nur passiert?«, fragte er. »Wie konnten wir ihr das durchgehen lassen?«

Sie lachte, und in diesem Moment harmonischen Verstehens hatte sie das Gefühl, sie sollte ihm von Vince erzählen, und er würde ihr verzeihen und sie an seine Brust ziehen, wie er es so oft getan hatte, als sie noch jung waren. Wenn es etwas gab, das ihr damals an ihrer Ehe gefallen hatte, dann dies, dass sie beide sich frei gefühlt hatten, ganz aufrichtig zueinander zu sein. Damals hatte sie ihm sagen können, wenn er sie verletzt hatte, und er hatte ihr zugehört und versucht, sich zu ändern. Damals hatte sie ihm ihre eigenen Fehltritte gestehen können, und er hatte ihr verziehen, ja, ihr sogar Verständnis entgegengebracht. Heute kostete es Cassandra mehr Mühe, aufrichtig zu ihm zu sein, und sie brachte es nicht so recht über sich. Sie schüttelte die Eiswürfel in ihrem Glas, während er aufstand und mit einer Leine hantierte.

Das meiste an ihrem Mann war heute stählern: sein Verstand, seine Entschlossenheit, seine Regeln. Sogar, obwohl er schon siebenundvierzig war, sein Körper mit den außergewöhnlich stabilen Knochen. Abe kannte seine Kraft und überschätzte sie manchmal, weil er sich durch die verschiedenen Schichten seines Erbes gewappnet fühlte – deutsch-jüdisch, italienisch, schottisch-irisch, schwarz. Abe selbst war aus unerfindlichen Gründen gebräunt, was ihm offenbar erlaubte, in jeder Menschenmenge unterzutauchen. Er sah zu, wie die weißen Segel vor ihnen immer kleiner wurden, je näher sie der gewölbten Brücke kamen, und fragte sich, wie viele Segeltrips sie noch brauchten, bis Cassandra endlich bereit für den Ozean war. Es enttäuschte ihn immer noch, dass sie, die eigentlich noch niemanden verloren hatte, vor den wahrsten, größten Dingen solche Furcht empfand.

Ferdinand, plötzlich unruhig geworden, hob den Kopf von Cassandras Schoß und schüttelte sich heftig. Er drehte ein paar Runden, marschierte dann zielstrebig auf Abes Bein zu und stupste ihn seufzend an. Cassandra schnalzte mit der Zunge und nahm einen Apfel aus der Kühltasche. Komisch, welche Dinge sie nervten: Elizabeths gebräunte Haut, Ferdinands Treue zu Abe. Ein gefährliches Gefühl keimte in ihr auf, und sie biss in den Apfel und versuchte, das Gefühl durch Kauen zu verscheuchen.

Kaum hatte sie den Bissen hinuntergeschluckt, schwang sich Elizabeth aus dem Wasser, kletterte die kleine Leiter hinauf und kam ins Boot. Tropfend stand sie da, Seetang um einen ihrer Knöchel geschlungen, der Bikini dunkel und vollgesogen. »Hey, wirfst du mir mal ein Handtuch rüber?« Sie zog das Bikinitop über ihre von Gänsehaut überzogenen Brüste.

Cassandra warf ihr das Handtuch zu, und Elizabeth hüllte sich ganz darin ein. Eine drehende, pressende Bewegung, und von ihrem Haar strömte Wasser aufs Deck.

»Wie ist das Wasser?« Cassandra streckte Elizabeth ihr Kapuzensweatshirt entgegen.

»Schön ist es. Kalt!« Sie wickelte sich das Handtuch um die Taille und zog das Sweatshirt über ihren Kopf, zur Bestätigung zitternd, die Schultern hochgezogen, ihr Gesicht jetzt lavendelgrau unter den sich zusammenballenden Nachmittagswolken. »Zu kalt für dich, Mom. Aber nicht zu kalt für Dad!«

»Für Dad ist es wahrscheinlich noch zu warm«, sagte Abe, dem es Spaß machte, am Mythos seines Stoizismus weiterzuspinnen. So wie Cassandras leicht frisierbares Haar und Elizabeths gute Noten gehörte auch dieser Mythos zu ihrem Selbstgefühl als Familie, eine weitere Facette ihrer Ungewöhnlichkeit. Sie würden nie ein bedeutender, großer, mächtiger Clan sein – die Rosenbergs, die Kerrys, die Poznanski-Jungs, die alle Football spielten –, doch in gewisser Hinsicht waren sie ungewöhnlicher, denn sie waren nur zu dritt. Eine Familie, die aus den wesentlichsten, elementarsten Teilen bestand: Mutter, Vater, Kind.

Elizabeth holte den Anker ein und setzte sich zu Cassandra auf die Bank. Allmählich verlor sie die Geduld mit ihren Eltern. »Wann, glaubt ihr, fahren wir zurück?«, fragte sie, als sie weitersegelten.

»In einer Stunde vielleicht«, sagte Abe, »viel zu schön, um jetzt schon umzukehren.«

Elizabeth seufzte. »Aber nicht viel länger, okay? Ich möchte mich heute Abend mit ein paar Leuten treffen.«

»Was für Leute?« Cassandra wollte das immer wissen, um im Bilde zu sein.

»Die gleichen wie immer … Rachel, Jessica, Brian … Henri.«

»Henri? Kenne ich den?«

»Ach, das ist dieser Diplomatensohn. Wir gehen seit ein paar Wochen zusammen weg. Der ist mit den anderen befreundet.«

»Altmodischer Name.« Das war Abe, vom Steuer her.

»Na und? ›Abraham‹ doch auch.«

»Aber ich bin ein langweiliger Dad mittleren Alters. Ich darf altmodisch sein. Wie alt ist denn dieser arme Henri?«

»Was spielt das für eine Rolle?«, fragte Elizabeth errötend.

Abe warf Cassandra einen Blick zu. Damit hatte er nicht gerechnet.

»Lass dich nicht mit älteren Jungs ein, Lizzie.« Abe bemühte sich, das leichthin zu sagen. »Auf solche Probleme kannst du verzichten.«

»Dad!« Sie lachte. »Ich gehe aufs College! Dort werden alle Jungs älter sein als ich!«

»Hmmm. Das werde ich mir vielleicht auch noch überlegen.«

»Dad!«

»Ich sage ja nur«, er räusperte sich, »pass auf dich auf.«

Elizabeth errötete erneut, verärgert, weil ihr Vater plötzlich so ernst war. »Natürlich passe ich auf. Ich bin doch nicht blöd. Ich werde mit jedem fertig. Egal, ob er achtzehn oder dreiundzwanzig ist.«

Cassandra zuckte zusammen. »Moment mal, ist das sein Alter – dreiundzwanzig? Schätzchen.« Sie beugte sich vor und sah ihrer Tochter in die Augen. »Gehst du etwa mit diesem Jungen?«

»Nein! … Ich meine, nicht direkt …«

»Mein Gott.« Abe beschrieb eine scharfe Kurve, um das Boot in den Wind zu legen.

»Er ist wirklich in Ordnung! Sein Alter spielt keine Rolle!«

»Nicht so stürmisch, Abe!« Cassandra umklammerte die Reling und ihren Hut.

Elizabeth zog ihr orange-weiß gestreiftes Handtuch fester um die Hüften. Auf diese Weise hätten sie es nicht erfahren sollen, wenn überhaupt. Aber da es nun herausgekommen war, wollte sie keinesfalls, dass die beiden sich in die Sache hineinsteigerten und sich Henri absurderweise als eine Art Raubtier vorstellten.

»Er macht sich übrigens demnächst an seine Dissertation in französischer Kolonialliteratur«, erklärte sie. »Er kennt Leute, die in Krankenhäusern in Afrika gearbeitet haben, und er weiß eine Menge über Wein. Vielleicht mehr als ihr.«

Abe lachte freudlos.

»Nicht so schnell, Abe!« Cassandra hob sich der Magen. »Du machst mir Angst!«

»Um Gottes willen, Cassandra, man nennt es Segeln.«

»Ihr solltet ihn mal kennenlernen«, sagte Elizabeth. Wegen des raschen Tempos, das Abe vorlegte, stand jetzt das Deck schief, und sie redeten lauter. »Ich sage ja nicht, dass ich ihn heirate oder so, aber ich glaube, ihr würdet ihn beide mögen.« Sie dachte an sein Gesicht: von den Augen nach unten zurückweichend, wie bei einem starken, sanften Vogel.

»Elizabeth«, sagte Abe. »Ich urteile ja gar nicht über ihn. Ich möchte nur nicht, dass du dir Illusionen machst. Verlier deine Jungfräulichkeit bloß nicht an so einen romantischen Franzosen.«

Er hatte ihre Jungfräulichkeit nie zuvor erwähnt. Das Wort aus seinem Mund zu hören, war kränkend.

»Nun«, sagte sie in das Knattern der Segel hinein, die sich über ihnen blähten. »Das wird nicht passieren.«

Es würde nicht passieren, weil es bereits passiert war, bei einer Party im vergangenen Herbst. Zach Lando: weißer Rapper, Baggy Shorts, große Brustwarzen. Sie, flach auf dem Rücken, im Wald auf einer Decke, unter der im Dreck tote Käfer knirschten. Hinterher hatten sie einen Joint geraucht, und sie hatte ihm vorgespielt, es habe gar nicht weh getan. »In ein paar Tagen wirst du mich hassen«, hatte er gesagt. Er hatte recht behalten.

»Gut«, sagte Abe, noch beunruhigter als zuvor. Seine Tochter log ihn an; sie log ihm ins Gesicht.

Cassandra war verstummt. Ihre Tochter hatte Sex. Irgendwann in der jüngsten Vergangenheit hatte es begonnen, und sie, in ihrer Selbstsucht, hatte weggesehen und es nicht mitbekommen. Sie griff nach Elizabeths Hand. »Du verhütest doch bestimmt?«

»Mom!«, schrie Elizabeth. »Na klar!«

Abes Stirn wurde feucht und heiß. Seine Lippen zuckten, und er hatte plötzlich das Gefühl, seine Gesichtsmuskeln nicht mehr kontrollieren zu können. Sein Glas war bereits leer, seine Kehle trocken, wie zugeschnürt. Sie waren hier alle so eng beisammen, er brauchte etwas zu trinken.

Er überließ Elizabeth das Steuer und ging nach unten in die Kombüse. Über dem Alu-Ausguss schenkte er sich eine großzügige Portion Gin ein, fügte Eis hinzu und nur einen Spritzer Tonic. Er nahm einen Schluck und ließ ihn langsam die Kehle hinunterbrennen. Durch das Bullauge konnte er Elizabeth am Steuer sehen: ein Sweatshirt auf zwei Beinen, ihr Handtuch war zu Boden gefallen. Cassandra stand neben ihrer Tochter, einen Arm um ihre Taille geschlungen. Sie flüsterte Elizabeth etwas ins Ohr. Die beiden lachten, wie Schulmädchen, die etwas aushecken. Seine schönen rothaarigen Frauen. Er erinnerte sich an eine Zeit, in der es ihm gefährlich erschienen war, eine so schöne Frau zu haben. Als würde man mitten auf der Straße seine Brieftasche öffnen, als forderte man andere geradezu zum Raub auf. In den alten Zeiten, wenn er am Ende eines langen Tages der Trennung mit ihr ins Bett ging, war er so besinnungslos vor Begehren, dass er ihr manchmal die Knöpfe von der Bluse riss. Und wenn er sie schon so heftig begehrte, konnte er sich ausmalen, wie es anderen Männern ging, für die sie unerreichbar blieb.

Der Gin war alle, aber Abe brauchte mehr. Er fühlte sich noch nicht leicht und unbeschwert.

»Cass!«, rief er aus der Luke. »Wo ist – der Wein?« Er schauderte, als er wieder an Elizabeths Franzosen dachte.

»Trink Gin!«

»Nichts mehr da!«

»Was?« Ihre Stimme klang hallend, als spräche sie aus einem Tunnel heraus.

»Nichts mehr da!« Er stieg etwas höher, damit sie ihn hörte.

»Nichts? Abe, ich wollte das aufheben!« Sie kam auf ihn zu, zögernd, auf die Reling gestützt.

»Dann sag mir nicht, dass ich es trinken soll.« Er hielt die leere Flasche hoch.

»Wieso ist nichts mehr da?« Der Wind pfiff ihr um die Ohren, peitschte ihr Haarsträhnen in den Mund, zwang sie, immer noch laut zu rufen, obwohl sie ihm jetzt an der Luke direkt gegenüberstand.

»Ich denke, weil wir es getrunken haben«, sagte er und verlor langsam die Geduld mit ihrer Begriffsstutzigkeit.

»Aber sie war doch noch halb voll«, sagte Cassandra. »Mein Gott, bist du wirklich so ein Alki?«

Sie neckte ihn und sagte das Wort nicht im Zorn. Aber ihr Körper, der sie schon manches Mal verraten hatte, verriet sie erneut. Durch den Gin, den Wind im Gesicht und eine leichte Übelkeit, die in ihr aufstieg, war Cassandras Mund den ganzen Tag immer mehr ausgetrocknet und verschleimt, und obwohl ihr dies gar nicht bewusst gewesen war, merkten sie es nun beide, als sie ihm, bei der scharf betonten Silbe »ki« versehentlich ins Gesicht spuckte.

»Tja«, sagte er und wischte sich die Speicheltröpfchen von der Wange, obwohl sie gleich verdunsteten.

»O mein Gott«, sagte sie und berührte seine Schulter. »Es tut mir leid.« Cassandra verstand sich prima auf Entschuldigungen. Oft rutschten sie ihr heraus, bevor ihr überhaupt bewusst war, was sie falsch gemacht hatte.

»Tja«, sagte er erneut, diesmal schärfer, weil ihm plötzlich alles klar wurde. »Fick doch einfach Vincent Hersh.«

Sie war sprachlos. »Wen?«, sagte sie. Instinktiv zog sie ihre Hand zurück und hoffte, sich verhört zu haben.

Der Wind ließ etwas nach, und Abe hätte sie am liebsten gewürgt. Sie hatte mit dem Jungen geschlafen. Er hatte es schon seit Wochen gewusst, das wurde ihm jetzt klar. Wie aufmerksam Hersh sie bei der Eröffnung seiner Galerie behandelt hatte. Wie glücklich sie gewesen war. Alles hatte klar vor ihm gelegen, und doch war er irgendwie vernagelt gewesen, wie ein umnebelter Scrabble-Spieler, der seine Buchstaben nicht in die richtige Reihenfolge bringt. Er hatte sich selbst in diesen Nebel gehüllt, hatte nicht existierende Wörter erfunden, weil er nicht an ihren Verrat glauben wollte. Aber als sie ihn angespuckt hatte, war es gewesen, als hätte sich der Nebel gelichtet, als wären auf einmal alle Scrabble-Buchstaben in die richtige Reihenfolge gekommen. Er hätte Cassandra am liebsten gewürgt, bis ihr Gesicht blau angelaufen wäre.

»Du brauchst es gar nicht abzustreiten«, sagte er. »Ich weiß es.«

»Hör zu, Abe –«

»Nein, du hörst zu!«, brüllte er. »Ich! Scheiß! Auf! Dich! Wirklich, Cassandra. Ich scheiß auf dich!«

»Dad!«, rief Elizabeth mit vor Panik versagender Stimme.

Eben noch hatte sie überhaupt nichts gewusst, und jetzt wusste sie zu viel, als sei sie in ein paar Sekunden erwachsen geworden. Sie hätte gern alles zurückgespult, sie hätte das, was sie gerade erfahren hatte, gern in eine Flasche zurückgestopft und über Bord geworfen, um es nie mehr sehen zu müssen. Aber sie wusste, dass dies unmöglich war. Ihr Vater hatte Scheiß auf dich gesagt, jetzt waren alle Dämme gebrochen. In ihrer Familie Ich scheiß auf dich zu sagen war weniger so, als würde man eine Flasche öffnen, als vielmehr so, als würde man einen kaputten Wasserhahn aufdrehen. Ab jetzt würde dieses Wort unablässig herausströmen, immer wieder, egal, welchen Schaden es anrichtete.

»Nein, ich scheiß auf dich!«, schrie Cassandra plötzlich voller Wut. »Ich scheiß auf dich, weil du es immer schaffst, dass ich mich scheiße fühle!«

Es wurden noch schlimmere Dinge gesagt, Dinge, die in einer anderen Situation vielleicht lustig gewesen wären, in diesem Moment aber das Ende der Welt bedeuteten. Abe war innerlich tot; Cassandra war eine reuelose Hure. Sie hassten sich und verkündeten dies voller Leidenschaft. Sie schleuderten sich die Worte brutal und ungrammatisch entgegen. Sie verzerrten ihre Gesichter wie brüllende Babys, Tränen liefen ihnen über Nasen und Wangen, ihre Stimmen bebten heftig, erreichten höchste Dezibelwerte der Wut. Elizabeth stand da, hielt das Steuer umklammert und sah zu, wie ihre Eltern total zusammenbrachen. Sie hatten sich schon öfter angeschrien, aber so schlimm war es noch nie gewesen. Im Grunde war es unwirklich. Hätte Elizabeth vorgehabt, die Geschichte später jemandem zu erzählen, es hätte ihr niemand geglaubt; man hätte gesagt, sie habe etwas vergessen, sie habe irgendein wichtiges Detail weggelassen. Und vielleicht hätten die Leute recht gehabt; vielleicht würde es genauso sein; vielleicht löschte sie die Szene bereits, während sie sich abspielte, und sagte nein zu einem Leben der Hysterie, wies dem Wahnsinn ihrer Eltern die Tür.

Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße. War sie überhaupt hier? Konnten sie sie überhaupt sehen? Elizabeth steuerte taub durch den Sturm, segelte auf die Küste zu, als sei sie dort in Sicherheit, als könne die Wut ihrer Eltern an Land nicht überleben, wie ein Fisch. Und dann, auf einmal, saß ihre Mutter auf der Bank, umklammerte die Kante mit den Fingerspitzen, und ihr Vater stand, wildentschlossen, ganz am Rand der Steuerbordreling. Sie schwiegen im Lärm des Winds, und dann stand ihre Mutter auf, um etwas zu sagen, und ihr Vater drehte sich um und sprang. Einen Moment lang schwebte sein Körper in der Luft, über dem Wasser, und dann, wie durch einen Kameratrick, gab es nur noch Wasser und Luft. Die Frauen rannten zu beiden Seiten der Reling und suchten das Wasser ab, bis er einen Moment später wieder auftauchte, bereits hinter ihnen, sein Kopf tanzte in den Wellen auf und ab, seine Arme hoben sich im Wechsel und kraulten aufs Ufer zu.

»Halt das Boot an!«, schrie Cassandra. »Versuch, zu wenden!«

Elizabeth rannte ans Steuer zurück. Der Wind schien jetzt aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen; sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte.

»Ich muss nachdenken!«, schrie sie. »Ich hab das noch nie allein gemacht!« Sie blickte zum Horizont, hielt Ausschau nach anderen Booten, die helfen konnten. Ferdinand bellte auf der Seite, wo ihr Vater gesprungen war, das Wasser an, und ihre Mutter schrie sie immer noch an, oder vielleicht ihren Dad, obwohl der nicht antwortete. Er schwamm von ihnen weg, als sei das ganz normal, und wurde immer kleiner und kleiner vor dem Hintergrund des zerknüllten blauen Lakens.

Ihre Mutter blieb barfuß und verzweifelt an Deck zurück, und sie selbst, plötzlich erwachsen geworden, trug jetzt die Verantwortung, sie beide nach Hause zu bringen.

Ein Augenblick verging. Vielleicht ein Jahr. Vielleicht hatte sie schon ihren Harvard-Abschluss gemacht, und das waren gar nicht ihre Eltern.

Sie erinnerte sich an den Motor und warf ihn an, und der Horizont gliederte sich in erkennbare Schichten aus Wasser, Land und Himmel. Da: etwas, an dem man sich festhalten konnte. Sie klammerte sich mit den Augen daran. Statt des Winds hatte sie jetzt ein schreckliches, hohles Geräusch im Ohr, als sei auch der Wind Hals über Kopf geflohen. Selbst Ferdinand bellte nicht mehr.

»Tut mir leid, Süße«, sagte Cassandra, die neben sie getreten war.

»Schon okay«, meinte Elizabeth. Was hätte sie sonst sagen sollen. »Glaubst du, dass Dad den ganzen Weg zurückschwimmt?«

»Er wird es schaffen.«

»Bist du sicher?«

»Er ist ein ausgezeichneter Schwimmer.«

»Dann sollten wir wohl zurückfahren.«

»Ja«, sagte Cassandra, »danke. Ich hab dich lieb.«

»Klar, Mom. Ich hab dich auch lieb.«

In der Bucht schwamm Abe mit aller Kraft auf die Bäume zu. Er war nicht mehr weit von der Küste entfernt – vielleicht eine Meile, nicht mehr. In diesem Gewässer gab es kleine Haie. Er hatte sie gesehen, wenn sie auftauchten, aber es war ihm egal. Sollten sie doch seine Beine fressen. Vor lauter Wut würde er ihnen sowieso davonschwimmen. Mit jedem Stoß hatte er das Gefühl, als werfe er ein Atom seines angestauten Zorns ab und ersetze es durch ein Atom des Meeres. Er atmete Salzlake ein: Sie drang durch seine Poren. Seine Augen wurden zu schlammigen Kieseln; sein Herz zum Herzen eines Heilbutts: flach, am Meeresboden, die Farbe mit der Schwingung der Erde ändernd.

Als es ihn eine Ewigkeit später an den sumpfigen Strand spülte, kroch Abe, am ganzen Körper taub, ein Stück weit nach oben und schlief, die Wange im Dreck, Schlamm im Ohr. Eine Strand-Erntemaus und zwei braune Pelikane sahen zu. Die Maus hielt ein Büschel Queller in der Pfote, die leeren Schnäbel der Pelikane standen weit offen. Auch sie waren gefährdete Arten, grundlegende Veränderungen waren ihnen nicht fremd. Geduckt standen sie links und rechts von dem zitternden Mann, als rätselten sie, was er sei. Seine Haut war mit Wasserperlen bedeckt, und das Gras um ihn herum wogte, während die Pelikane, mit ihren langen dünnen Schnäbeln, einander anschauten. Nach einer Weile schienen sie sich zu einigen und hasteten davon. Die Maus blieb noch etwas länger und kaute auf dem letzten Stengel Queller herum. Als sie fertig war, beschnüffelte sie den Mann noch einmal, nur für den Fall, dass sich irgendwo an ihm ein Krümel Futter versteckte. Doch als sie nichts fand, lief sie zum Wasser. Ein dritter Pelikan, nicht weit entfernt, flog auf, um ins Meer einzutauchen.

TEIL I

1

Elizabeths Freundin Lucie heiratete im Battery Park, einem Restaurant, das sie wegen seiner geographischen Lage gewählt hatte: Von der Inselspitze aus hatte man einen Panorama-Blick auf New York Harbor, die Freiheitsstatue und Ellis Island. »Na ja, es ist nur ein Restaurant«, hatte Lucie gesagt, als sie sich fast ein Jahr zuvor dafür entschieden hatte. »Nichts Extravagantes. Aber das Essen ist wirklich exzellent, es ist alles strahlend weiß und luftig, und die errichten ein Riesenzelt auf der Terrasse.«

»Ich hoffe nur, dass ich da nicht gerade Dienst habe«, hatte Elizabeth geantwortet, weil sie nicht wusste, wie das vierte Jahr ihres Medizinstudiums aussehen würde.

Der Tag kam, ein schwüler Samstag Ende August, und Elizabeth konnte hinfahren. Sie hatte ihren Terminplan so organisiert, dass sie in der folgenden Woche gleich noch einen Urlaub anhängen konnte. Einige ihrer Freunde waren kürzlich aus Turks und Caicos zurückgekehrt, andere aus Paris und London. Manche ihrer früheren Harvard-Kommilitonen hatten wichtige Jobs in Peking, Rio und Mumbai. Ein Dichter – ein Dichter! –, der ein Fulbright-Stipendium bekommen hatte, hielt sich sogar in Nepal auf. Sie selbst hatte im Sommer nach dem ersten Studienjahr einen Freiwilligeneinsatz in Südafrika absolviert, aber diese Woche erwartete sie kein glamouröses Reiseziel. Diese Woche nahm sie ihren Freund Kyle nach Maryland mit, zum achtzigsten Geburtstag ihres Großvaters. Am Labor-Day-Wochenende würden sie nach Connecticut aufbrechen, wo Kyle übers Internet eine Hütte gemietet hatte. Elizabeths Pläne waren also denkbar bescheiden, aber vielleicht waren bescheidene Pläne dieses Jahr okay.

Als Kyle an jenem Nachmittag bei ihr auftauchte, trug er einen Rucksack und eine Kleiderhülle und duftete, fast ein Wunder durch den Schweißgeruch hindurch, nach einer Seife mit grasigem Frühlingsaroma. Sein Gesicht war eckig, das attraktive Gesicht eines Footballspielers, und er sah einem Dutzend verschiedener Promis so ähnlich, dass man zwangsläufig annahm, auch er werde eines Tages berühmt. Als Schauspieler stand er ständig auf der Bühne, in New York und auf Tourneen. Lange Zeit war seine größte Chance die Rolle eines Mannes gewesen, der im Werbespot für eine Lebensversicherung zum ersten Mal ein Haus kauft, aber in ein paar Wochen würde er für eine Reihe von Gastrollen vorsprechen, überwiegend Cops in einer lange laufenden TV-Krimi-Serie. Er war schon seit Tagen total aufgeregt.

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