Die Vorhersage - Nikki Erlick - E-Book

Die Vorhersage E-Book

Nikki Erlick

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Beschreibung

Als Nina eines schönen Morgens ihre Wohnungstür öffnet, findet sie eine schlichte Holzbox. Darin verbirgt sich ihr Lebensfaden. Wenn sie die Box öffnet, wird sie erfahren, wie viele Jahre ihr noch bleiben. Und sie ist nicht die Einzige, die dieses »Geschenk« bekommt. Überall auf dem Globus – sei es nun im New Yorker Apartment, in einer Hütte in den Bergen oder einem Beduinenzelt – hat jeder Volljährige eine Box erhalten und fragt sich: Will ich wirklich wissen, wann ich sterben muss?

Einfühlsam und klug erzählt Nikki Erlick, was mit der Gesellschaft, mit Beziehungen und mit jedem einzelnen Individuum passiert, wenn uns die eigene Sterblichkeit drastisch vor Augen geführt wird. »Die Vorhersage« ist ein berührender Roman über das Leben und das Sterben, über Freundschaft und Liebe und über das Menschsein selbst.

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Seitenzahl: 487

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Das Buch

Als die Journalistin Nina eines Morgens vor der Tür des Apartments, das sie mit ihrer Lebensgefährtin Maura bewohnt, zwei simple Holzkästchen findet, ist sie zwar verwundert, ahnt jedoch nicht, dass diese Boxen ihr Leben für immer verändern werden. Und nicht nur ihres, sondern das eines jeden Erwachsenen auf dem Planeten. Das Innere birgt das Maßdeines Lebens, ist in den Deckel neben den Namen des Empfängers eingraviert. Neugierig öffnen Nina und Maura ihre Kästchen und entdecken darin ihre Lebensfäden. Ninas Faden ist lang, Mauras kurz – und plötzlich steht die Zukunft des jungen Paares auf dem Spiel.

Die Freunde Jack und Javier besuchen gemeinsam die Militärakademie. Während sich Jack durch das Studium quält, hat Javier im Soldatenleben seine Bestimmung gefunden. Als Jack einen langen Faden erhält, Javier jedoch einen kurzen, beschließen die beiden zu tauschen.

Senator Anthony Rollins hat gerade mit den Folgen eines öffentlichen Skandals zu kämpfen, als er seine Box erhält. Sein Lebensfaden ist lang. Sehr lang. Wenn das kein Zeichen Gottes ist, dass Anthony dazu bestimmt ist, der mächtigste Mann der Welt zu werden? So beginnt ein Präsidentschaftswahlkampf, der nicht nur Anthonys Gegenkandidaten mit einem kurzen Faden diskreditiert, sondern die gesamte Gesellschaftsordnung der USA ins Wanken bringt …

Die Autorin

Nikki Erlick studierte an der Columbia University und in Harvard, wo sie ihre Ausbildung mit summacum laude abschloss. Als Reisejournalistin hat sie viele Länder erkundet – von beschaulichen Dörfern in Frankreich bis zu den arktischen Fjorden Norwegens. Ihre Artikel sind auf den Websites von New York Magazine, Harper›s Bazaar, Newsweek, Cosmopolitan und The Huffington Post erschienen. Ihr Debütroman DIEVORHERSAGE stieg direkt in die Top Ten der New York Times-Bestsellerliste ein und begeisterte Kritiker und Publikum gleichermaßen

Nikki Erlick

DIE VORHERSAGE

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Thiele

Titel der amerikanischen Originalausgabe:THEMEASURE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 12/2022 Redaktion: Sabine Kranzow Copyright © 2022 by Nikki Erlick Copyright © 2022 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München, unter Verwendung von Motiven von Joaquin Paz y Miño / unsplash.com und Sundraw Photography / Shutterstock Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-29524-0V001www.diezukunft.de

Für meine Großeltern, in Liebe und Dankbarkeit

»Sag mir, was willst du tun mit deinem einen wilden und kostbaren Leben?«

Mary Oliver, Der Sommertag

PROLOG

Es war schwer, sich eine Zeit vorzustellen, in der es sie noch nicht gegeben hatte. Eine Welt ohne sie.

Doch als sie plötzlich auftauchten, im März, wusste niemand etwas damit anzufangen, mit diesen merkwürdigen kleinen Boxen, die zusammen mit dem Frühling vor der Tür standen.

Jede andere Schachtel im Leben eines Menschen hatte eine klare Bedeutung, eine festgelegte Handlung zur Folge. Die Schuhschachtel mit dem glänzenden neuen Paar Schuhe, das für den ersten Schultag bestimmt war. Das Weihnachtsgeschenk mit der großen roten Schleife, deren Bänder sorgfältig mit einer Schere gekräuselt worden waren. Die kleine Schatulle, die den langersehnten Diamantring enthielt, und die großen Kartons, die mit Klebeband verschlossen und von Hand beschriftet in einen Umzugswagen geladen wurden. Selbst jene letzte Kiste am Ende des Lebens, die unter der Erde ruhte und deren Deckel nie wieder geöffnet werden würde.

Alle Schachteln, Kartons, Kisten waren vertraut, verständlich, man rechnete sogar damit. Sie alle hatten einen Zweck und einen Platz, passten bequem in einen durchschnittlichen Lebensverlauf.

Diese Boxen jedoch waren anders.

Sie tauchten am Anfang des Monats auf, an einem völlig normalen Tag, bei einem völlig normalen Mond, zu früh, um dabei an die Frühjahrs-Tagundnachtgleiche zu denken.

Auf einmal waren sie überall, waren einfach da.

Kleine Holzkästchen – oder zumindest schienen sie aus Holz zu sein –, die über Nacht auftauchten, Millionen und Abermillionen, in jeder Stadt und in jedem Bundesstaat und in jedem Land.

Plötzlich standen sie auf ordentlich gemähten Rasenflächen in den Vororten, schmiegten sich zwischen Hecken und die ersten blühenden Hyazinthen. In den Städten standen sie auf abgetretenen Fußabstreifern vor Wohnungstüren, durch die schon Generationen von Mietern ein und aus gegangen waren. Vor Zelten in der Wüste sanken sie in den warmen Sand und warteten neben einsam gelegenen Hütten an Seeufern, während sich der Tau aus dem vom Wasser wehenden Wind auf ihnen absetzte. In San Francisco und São Paulo, in Johannesburg und Jaipur, in den Anden und am Amazonas – die Boxen erreichten jeden, an jedem Ort der Welt.

Dass auf einmal jeder erwachsene Mensch auf der Welt dieselbe surreale Erfahrung machte, hatte etwas Tröstliches und gleichzeitig Beunruhigendes an sich. Die Allgegenwärtigkeit der Boxen war gleichermaßen erschreckend wie erleichternd.

Denn in vielerlei Hinsicht erlebten tatsächlich alle dasselbe, denn die Boxen waren nahezu identisch. Alle waren dunkelbraun mit rötlichen Schattierungen und fühlten sich kalt und glatt an. In jede Box war eine einfache und doch rätselhafte Botschaft in der jeweiligen Muttersprache der Empfänger eingraviert: Das Innere birgt das Maß deines Lebens.

Jede Box enthielt einen einzelnen Faden, der unter einem silberweißen Stück zarten Stoffs verborgen lag, damit selbst diejenigen, die den Deckel abnahmen, noch einmal überlegten, ob sie den Inhalt wirklich sehen wollten. Als ob die Box selbst eine Warnung aussprechen und versuchen würde, einen vor dem kindischen Impuls zu schützen, alles sofort aufzureißen. Als ob die Box einen bitten würde, innezuhalten und wahrhaftig über den nächsten Schritt nachzudenken. Denn der ließe sich nicht rückgängig machen.

Die Boxen unterschieden sich tatsächlich nur in zweierlei Hinsicht.

Jedes Kästchen trug den Namen des jeweiligen Empfängers, und jeder Faden hatte eine individuelle Länge.

Doch als die Boxen an jenem Märztag plötzlich auftauchten, verstand inmitten der Angst und der Verwirrung niemand die wahre Bedeutung des Maßes.

Zumindest noch nicht.

FRÜHLING

Nina

Als die Box mit ihrem Namen vor ihrer Tür auftauchte, lag Nina noch schlafend im Bett. Ihre Augenlider zuckten leicht, während ihr Gehirn mit einem aufwühlenden Traum kämpfte. (Sie war wieder in der Highschool und sollte einen Aufsatz vorzeigen, den man ihr nie aufgetragen hatte.) Ein vertrauter Albtraum für jemanden, der anfällig für Stress war, jedoch kein Vergleich zu dem, der sie in der Realität erwartete.

Wie immer wachte Nina zuerst auf und stand leise auf, um die noch schlafende Maura nicht zu stören. In ihrem karierten Pyjama ging sie in die Küche und schaltete die Herdplatte unter dem runden orangefarbenen Teekessel ein, den Maura vergangenen Sommer auf einem Flohmarkt gefunden hatte.

So früh am Morgen war die Wohnung immer herrlich ruhig. Die Stille wurde nur vom gelegentlichen Zischen eines Tropfens unterbrochen, der aus dem Teekessel entwich und in die niedrigen Flammen der Gasherdplatte fiel. Später fragte sich Nina, warum sie an diesem Morgen keinen Aufruhr gehört hatte. Keine Schreie oder Sirenen oder laut dröhnende Fernsehapparate, nichts, was sie auf das Chaos aufmerksam gemacht hätte, das sich bereits um sie herum ausbreitete. Hätte Nina nicht ihr Handy eingeschaltet, hätte sie vielleicht noch ein wenig länger in der Stille verharren, die Zeit genießen können.

Doch sie setzte sich auf die Couch und blickte auf ihr Handy, so wie jeden Morgen, rechnete mit ein paar E-Mails und wollte durch verschiedene Newsletter scrollen, bis Mauras Wecker klingelte und sie sich zwischen Eiern und Haferbrei entscheiden mussten. Es gehörte zu Ninas Arbeit als Redakteurin, das Tagesgeschehen zu verfolgen, doch mit den Jahren waren es immer mehr Apps und Nachrichtenkanäle geworden, und manchmal überwältigte sie der Gedanke, dass sie ihr ganzes Leben mit Lesen zubringen und doch nie alles bewältigen könnte.

An diesem Morgen kam sie nicht einmal dazu, mit ihrer Lektüre zu beginnen. Sobald sie das Handy entsperrte, wusste sie, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie sah drei verpasste Anrufe von Freunden und diverse Textnachrichten, die meisten von ihren Kolleginnen und Kollegen in ihrer Chatgruppe.

WAS ZUR HÖLLE IST DA LOS?

Haben alle eine bekommen?

Sie sind ÜBERALL! Auf der ganzen WELT! Verdammte SCHEISSE!

Ist die Inschrift echt?

Macht sie NICHT auf, bevor wir mehr wissen.

Aber es liegt nur ein Faden darin, stimmt’s???

Ninas Brust verkrampfte sich, ihr Kopf kribbelte vor Schwindel, als sie versuchte, daraus schlau zu werden. Sie rief Twitter auf, dann Facebook, und überall sah sie Fragezeichen und in Großbuchstaben geschriebene Panik. Und Fotos. Hunderte User hatten Fotos von kleinen braunen Kästchen vor ihren Haustüren gepostet. Nicht nur hier in New York. Sondern überall auf der ganzen Welt.

Auf ein paar Bildern konnte Nina die Inschrift erkennen. Das Innere birgt das Maß deines Lebens. Was zum Teufel sollte das heißen?

Ihr Herz schlug beängstigend schnell, im Takt mit den drängenden Fragen in ihrem Kopf. Die meisten Internetuser, konfrontiert mit derselben mystischen Botschaft auf ihren Boxen, waren schnell zu einem einzigen, erschreckenden Schluss gekommen: Was auch immer die Box enthielt, wusste angeblich, wie lange der Empfänger noch zu leben hatte. Die Zeit auf Erden, die einem von welcher Macht auch immer zugestanden worden war.

Nina wollte gerade nach Maura rufen und sie aufwecken, als ihr klar wurde, dass sie ja auch Boxen erhalten haben mussten.

Mit zitternden Händen warf sie das Handy aufs Sofa und stand auf. Etwas unsicher auf den Beinen ging sie zur Wohnungstür, holte tief Luft und spähte durch den Türspion, sah dabei jedoch nicht bis zum Boden. Langsam schloss sie die beiden Schlösser auf und öffnete zaghaft die Tür, als ob ein Fremder auf der anderen Seite um Einlass bitten würde.

Da waren die Boxen.

Sie standen auf dem Fußabstreifer mit dem Bob-Dylan-Zitat, den Maura unbedingt hatte mitbringen wollen, als sie bei Nina eingezogen war. Be groovy or leave, man – Sei cool, Mann, oder geh wieder. Nina wäre wahrscheinlich ein neutralerer Fußabstreifer lieber gewesen, doch das Zitat brachte Maura zum Lächeln, und nach einigen Wochen hatte Nina sich daran gewöhnt und mochte es mittlerweile auch sehr.

Zwei kleine Kästchen, offenbar aus Holz, standen auf dem Fußabstreifer und verdeckten einen Großteil der kursiven blauen Schrift. Eine für Maura, eine für sie selbst.

Eine gleich aussehende Box stand vor der Tür ihres Nachbarn in der Wohnung 3B, einem älteren Witwer, der nur einmal am Tag das Haus verließ, um seinen Müll wegzubringen. Nina fragte sich, ob sie Bescheid geben sollte. Doch was sollte sie ihm sagen?

Sie starrte immer noch die Boxen zu ihren Füßen an, zu nervös, um sie zu berühren, aber auch zu schockiert, um sich zu bewegen, als das Pfeifen des Wasserkessels sie aus ihrer Betäubung riss und sie daran erinnerte, dass Maura noch keine Ahnung hatte.

Ben

Auch Ben schlief noch, als die Boxen eintrafen, nur war er nicht zu Hause.

Er verlagerte auf dem engen Sitz in der Economyclass sein Gewicht, die Augen fest geschlossen, um das grelle Laptopdisplay seines Sitznachbarn auszublenden, während zehntausend Meter unter ihm Millionen von Boxen das Land wie Nebelschwaden überzogen.

Die Architektenkonferenz, die Ben in San Francisco besucht hatte, war nach drei Tagen am frühen Abend zu Ende gegangen, und er saß schon im Nachtflug nach New York, als die Boxen in der Bay eingetroffen waren. Das Flugzeug hatte vor Mitternacht im Westen abgehoben und würde direkt nach Sonnenaufgang im Osten landen, und weder Crew noch Passagiere wussten, was sich in den dunklen Stunden dazwischen zugetragen hatte.

Doch als das Anschnallzeichen erlosch und alle Reisenden ihre Handys wieder einschalteten, wussten sie es sofort.

Im Flughafen drängten sich die Menschen vor den großen Flachbildschirmen, auf denen jeder Nachrichtensender einen anderen Aufmacher brachte.

MYSTERIÖSEBOXENTAUCHENÜBERALLAUFDERWELTAUF.

WOHERSTAMMENSIE?

ANGEBLICHSAGENDIEBOXENDIEZUKUNFTVORAUS.

WASBEDEUTETIHRPERSÖNLICHERFADENWIRKLICH?

Alle ankommenden Flüge waren verspätet.

Neben Ben versuchte ein Vater, seine drei Kinder zu beruhigen, während er gleichzeitig angespannt in sein Handy sprach. »Wir sind gerade erst angekommen!«, sagte er. »Was sollen wir denn tun? Zurückfliegen?«

Eine Geschäftsfrau, die auf ihr iPad starrte, informierte ihre Mitpassagiere über die neuesten Entwicklungen. »Offenbar haben nur Erwachsene Boxen erhalten«, verkündete sie laut und an niemand Bestimmten gewandt. »Bisher hat kein Kind eine bekommen.«

Doch die meisten riefen dieselbe Frage in ihre Telefone: »Habe ich auch eine bekommen?«

Ben sah immer noch mit nach dem unruhigen Schlaf im Flugzeug müden und trockenen Augen zu den Flachbildschirmen empor. Fliegen kam ihm immer so vor, als würde er der Zeit ausweichen. Als wären die Stunden im Flugzeug vom normalen Leben unter ihnen ausgenommen. Doch noch niemals zuvor hatte er so deutlich eine Welt verlassen und war in eine andere zurückgekehrt.

Während er rasch Richtung AirTrain lief, um damit zur U-Bahn zu fahren, rief er seine Freundin Claire an, doch sie meldete sich nicht. Dann wählte er die Nummer seiner Eltern.

»Alles in Ordnung, es geht uns gut«, versicherte ihm seine Mutter. »Mach dir keine Sorgen um uns, komm einfach heil zurück.«

»Aber … habt ihr welche bekommen?«, fragte Ben.

»Ja«, flüsterte seine Mutter, als ob jemand zuhören würde. »Dein Vater hat sie erst einmal in den Schrank in der Diele gestellt.« Sie schwieg einen Moment. »Wir haben sie noch nicht geöffnet.«

Auf der Fahrt in die Stadt war die U-Bahn auffallend leer, vor allem für die morgendliche Rushhour. Nur fünf Passagiere saßen im Waggon verteilt, inklusive Ben, der seinen kleinen Rollkoffer zwischen den Füßen abgestellt hatte. Fuhr denn heute niemand in die Arbeit?

Wahrscheinlich war es eine Sicherheitsmaßnahme, dachte er. Wenn eine Katastrophe über die Stadt hereinbrechen könnte, mieden nervöse New Yorker die U-Bahn. Fast überall war es besser, als möglicherweise in einem vollen, stickigen Zug unter der Erde eingesperrt zu sein.

Die anderen Passagiere saßen weit auseinander und starrten schweigend auf ihre Handys.

»Es sind doch nur kleine Schachteln«, sagte ein Mann, der zusammengesunken in einer Ecke saß. Auf Ben wirkte er, als wäre er high. »Die Leute sollen nicht so einen Stress machen!«

Der Fahrgast, der ihm am nächsten saß, wandte sich ab.

Dann stimmte der Mann ein Lied an und dirigierte dabei mit den Händen ein unsichtbares Orchester.

»Little boxes, little boxes, little boxes made of ticky tacky …«

Erst da, beim Klang der heiseren Stimme des Mannes, dem unheimlichen Lied, bekam Ben wirklich Angst.

Panisch stieg er an der nächsten Station, der Grand Central Station, aus und eilte die Treppe hinauf an die Oberfläche, wo er dankbar in die Menschenmenge eintauchte. Die Bahnhofshalle war voller Menschen, die auf dem Weg zu den Regionalzügen waren. Wohin wollten sie denn alle?, wunderte sich Ben. Glaubten sie wirklich, dass die Erklärung für die rätselhaften Boxen irgendwo außerhalb der Stadt zu finden war?

Vielleicht flüchteten sie sich aber auch nur zu ihren Familien.

Ben blieb am Zugang zu einem leeren Gleis stehen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Etwa ein Viertel der Menschen, die an ihm vorbeieilten, trugen braune Kästchen unter den Armen, und wahrscheinlich waren noch mehr in Rucksäcken und Taschen verborgen. Ben war zu seiner eigenen Überraschung erleichtert, dass er bei der Ankunft der Boxen nicht schnarchend und unwissend zu Hause im Bett gelegen hatte, von dem ungebetenen Behältnis nur durch eine schändlich dünne Wand getrennt. So kam es ihm wie ein geringerer Übergriff vor.

An einem normalen Tag würden Horden von Touristen den Bahnhof bevölkern, sich Audioguides ans Ohr halten und nach oben zu der berühmten Sternbilddecke starren. Heute blieb jedoch niemand stehen, niemand sah nach oben.

In seiner Kindheit hatte seine Mutter ihm die verblassten goldenen Sternbilder über ihren Köpfen der Reihe nach erklärt. Hatte sie ihm damals erzählt, dass man die Sternbilder absichtlich spiegelverkehrt aufgemalt hatte? Dass sie aus der Perspektive des Göttlichen gesehen werden sollten, nicht der Menschen. Auf Ben wirkte das immer wie eine nachträglich erfundene Begründung, eine nette Geschichte, um irgendjemandes Fehler zu vertuschen.

»Das Innere birgt das Maß deines Lebens«, sprach ein Mann sichtlich frustriert in sein Headset. »Niemand weiß, was das heißen soll! Woher zum Teufel soll ich es dann wissen?«

Das Innere birgt das Maß deines Lebens. Ben hatte genug von den Menschen am Flughafen und bei der Fahrt mit der U-Bahn aufgeschnappt, um zu verstehen, dass dieser Satz auf den Boxen stand. Das Rätsel war erst wenige Stunden alt, doch manche Menschen folgerten bereits aus der Botschaft, dass der in den Boxen liegende Faden die Länge des eigenen Lebens vorhersagte.

Aber wie war das möglich?, dachte Ben. Das würde ja bedeuten, dass sich die Welt gedreht hätte, wie die Hallendecke über ihm, und die Menschen jetzt alles aus Gottes Perspektive sähen.

Ben lehnte sich leicht benommen an die kühle Mauer hinter ihm. Da fiel ihm die Turbulenz während seines Flugs ein, die ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Das Flugzeug hatte heftig gebebt, fast wäre das Getränk seines Sitznachbarn übergeschwappt. Als hätte irgendetwas kurz die Atmosphäre erschüttert.

Später wurde Ben klar, dass die Boxen nicht alle auf einmal aufgetaucht waren, sondern wenn an einem Ort gerade die Nacht hereingebrochen war. Doch als er jetzt in der Bahnhofshalle stand, die Erinnerungen an den vergangenen Abend noch verschwommen, fragte er sich, ob diese Verschiebung in der Luft die Ankunft der Boxen auf der Erde bedeutet hatte.

Nina

Nina wollte die Box nicht öffnen.

Jeden Tag las sie die Nachrichten, wie sie es schon immer getan hatte. Sie wühlte sich durch Twitter auf der Suche nach Neuigkeiten, redete sich ein, ganz normal zu arbeiten. Doch sie suchte nicht nur nach Storys.

Sie suchte nach Antworten.

Die Theorien im Internet zu der unerklärlichen Herkunft der Fäden reichten von einem göttlichen Boten über eine geheime Regierungsorganisation bis hin zu einer Invasion von Außerirdischen. Einige der größten Skeptiker wandten sich dem Spirituellen oder dem Übernatürlichen zu, um das plötzliche Auftauchen der Boxen, die gerade mal fünfzehn Zentimeter breit und sieben Zentimeter lang waren, vor allen Haustüren der Welt zu rechtfertigen. Selbst Obdachlose, die ihre Zelte auf den Straßen aufschlugen, selbst Nomaden und Anhalter, alle waren an jenem Morgen aufgewacht und von ihrer Box erwartet worden, wo sie am Abend zuvor ihr Haupt gebettet hatten.

Doch nur wenige Leute konnten anfangs die Überzeugung eingestehen, dass die Fäden tatsächlich die Länge des eigenen Lebens abbilden könnten. Die Vorstellung einer übergeordneten Existenz mit solch unnatürlicher Allwissenheit war zu beängstigend, und selbst diejenigen, die an einen allwissenden Gott glaubten, rangen mit dem Verständnis, warum Er sich nach Tausenden von Jahren plötzlich so fundamental anders verhalten sollte.

Während immer neue Boxen auftauchten.

Nachdem in der ersten Welle alle Erwachsenen von zweiundzwanzig Jahren an aufwärts ihr Exemplar bekommen hatten, brachte jeder Sonnenaufgang eine Box und einen Faden für jeden Menschen mit sich, der an diesem Tag zweiundzwanzig wurde, ein neuartiger Übertritt ins Erwachsensein.

Ende März wurden die ersten Storys bekannt, die sich rasch verbreiteten. Sobald sich die Vorhersage eines Fadens erfüllte, wurde breit darüber berichtet, vor allem wenn Menschen mit kürzeren Fäden unerwartet starben. Trauernde Familien, deren völlig gesunde junge Angehörige in ihren Zwanzigern bei tragischen Unfällen ums Leben gekommen waren, traten in Talkshows auf, im Radio wurden Interviews mit Krankenhauspatienten gesendet, die alle Hoffnung verloren hatten, bevor sie ihre Boxen mit langen Fäden erhielten und plötzlich Kandidaten für neue klinische Studien und Behandlungen waren.

Doch niemand konnte konkrete Beweise dafür finden, dass diese Fäden etwas anderes als ganz gewöhnlicher Bindfaden waren.

Trotz der hartnäckigen Gerüchte und der sich häufenden Erfahrungsberichte weigerte sich Nina immer noch, einen Blick auf ihren Faden zu werfen. Sie fand, sie und Maura sollten erst in ihre Boxen sehen, wenn sie mehr darüber wussten. Sie wollte sie nicht einmal in der Wohnung haben.

Doch Maura war abenteuerlustiger und impulsiver als Nina.

»Komm schon«, stöhnte sie. »Hast du Angst, dass sie zu brennen anfangen? Oder explodieren?«

»Ich weiß, dass du dich lustig über mich machst, aber es weiß einfach niemand, was genau passieren könnte«, erwiderte Nina. »Was, wenn das so etwas wie die Anthrax-Briefe ist, nur im richtig großen Stil?«

»Ich wüsste nicht, dass jemand beim Öffnen krank geworden wäre«, sagte Maura.

»Vielleicht können wir sie erst mal auf der Feuertreppe stehen lassen?«

»Dann könnte sie jemand stehlen!«, wandte Maura ein. »Und die Tauben scheißen darauf.«

Sie einigten sich darauf, die Boxen erst einmal unter dem Bett zu verstauen und abzuwarten, bis sie mehr darüber wussten.

Doch gerade das Warten machte Maura wahnsinnig.

»Was, wenn es wahr ist?«, fragte sie Nina. »Das ganze ›das Maß deines Lebens‹-Ding?«

»Es kann einfach nicht wahr sein«, beharrte Nina. »Es gibt keine wissenschaftliche Erklärung dafür, dass ein Stück Bindfaden die Zukunft kennen kann.«

Maura sah sie ernst an. »Aber gibt es nicht Dinge auf dieser Welt, die weder Fakten noch die Wissenschaft erklären können?«

Nina wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

»Und was ist, wenn dieses Kästchen wirklich vorhersagen kann, wie lange du noch zu leben hast? Mein Gott, wirst du nicht irre vor Neugier?«

»Doch«, gab Nina zu, »aber nur weil man neugierig ist, muss man ja nicht gleich alles überstürzen. Entweder ist das Ganze nicht wahr, dann lohnt es sich auch nicht, deshalb auszuflippen, oder es ist wahr, und dann müssen wir uns absolut sicher sein, was wir tun wollen. Die Boxen können auch sehr viel Schmerz mit sich bringen.«

Als Nina bei der Redaktionskonferenz mit den anderen Redakteuren und ein paar Reporterinnen die nächste Ausgabe diskutierte, sprach der leitende politische Korrespondent aus, was alle dachten. »Ich glaube, wir müssen noch mal ganz von vorn anfangen.«

Ursprünglich hatte man eine Reihe von Interviews mit den neuen Präsidentschaftskandidaten und -kandidatinnen geplant gehabt, nachdem die meisten ihre Kandidaturen im Winter bekannt gegeben hatten. Doch die Ereignisse im März hatten den Wahlkampf, der plötzlich Lichtjahre entfernt schien, in den Schatten gestellt.

»Wir müssen einfach die Fäden nehmen, oder?«, fragte der Korrespondent. »Darüber reden alle, weshalb das auch unsere Titelstory werden muss. Die Wahl ist erst in anderthalb Jahren. Wer weiß denn schon, wie die Welt dann aussehen wird?«

»Da stimme ich zu, aber wenn wir keine belegbaren Fakten haben, dann verbreiten wir vielleicht nur weitere Gerüchte«, wandte Nina ein.

»Oder tragen zur Panikmache bei«, sagte ein anderer Kollege.

»Aber es haben doch schon alle Angst«, warf eine Reporterin ein. »Manche haben die Aufnahmen ihrer Überwachungskamera aus der Nacht, in der die Boxen aufgetaucht sind, überprüft, doch auf den Aufnahmen war nichts zu erkennen. Das Bild wurde immer vorübergehend dunkel und verschwommen, und dann stand die Box schon da. Total verrückt.«

»Und es hat immer noch niemand, der unter zweiundzwanzig ist, eine Box erhalten, richtig? Ich habe noch von keinem jüngeren Alter gehört.«

»Ich auch nicht. Ich finde es ein bisschen unfair, dass die Kinder nur von dem Wissen um ihren Todeszeitpunkt ausgenommen sind, nicht vom Tod an sich.«

»Wir wissen doch aber immer noch nicht sicher, dass die Fäden den Todeszeitpunkt vorhersagen.«

»Zumindest tappen wir genauso im Dunkeln wie alle anderen auch.« Der Korrespondent hob geschlagen die Hände. »Am einfachsten wäre wahrscheinlich ein Artikel, für den wir ein paar Leute fragen, wie sie damit umgehen. Ob sie Bunker für den Weltuntergang bauen oder einfach alles ignorieren.«

»Ich habe von Paaren gelesen, die sich wegen unterschiedlicher Ansichten zu den Fäden getrennt haben.«

»Wir sind ein Nachrichtenmagazin, kein Klatschblatt. Und ich glaube, die meisten Menschen sind gerade mit sich selbst beschäftigt, da müssen sie nicht auch noch die Dramen anderer Menschen lesen«, sagte Nina. »Sie wollen Antworten.«

»Wir können keine Antworten liefern, wenn es keine gibt.« Deborah Caine, die Chefredakteurin, sprach so ruhig und bestimmt wie immer. »Aber die Menschen verdienen es zu erfahren, was ihre politischen Führungskräfte unternehmen wollen, und das können wir ihnen tatsächlich sagen.«

Natürlich hatten sich die Regierungsstellen auf allen Ebenen und in jedem Land nach der Ankunft der ersten Boxen einem Ansturm panischer Anrufe ausgesetzt gesehen.

Ein Kader von Führungskräften der amerikanischen Notenbank und des Internationalen Währungsfonds war wenige Tage nach dem Eintreffen der Boxen mit den mächtigsten Banken und multinationalen Konzernen der Welt zusammengekommen, um die Weltwirtschaft zu stützen. Man hoffte, mit den bewährten Maßnahmen – Zinssenkungen, Steuernachlässe, vergünstigte Kredite für Banken – jegliche Instabilität abwehren zu können, die eine hochgradig unbekannte Bedrohung auslösen könnte.

Die Politiker, konfrontiert mit immer mehr Fragen, wandten sich auf der Suche nach Antworten an die Wissenschaftler. Und nachdem die Boxen auf der ganzen Welt aufgetaucht waren, wandten sich die Wissenschaftler Rat suchend aneinander.

Auf jedem Kontinent wurden Fäden in Krankenhäusern und an Universitäten chemisch analysiert, ebenso wie die Boxen, die auf den ersten Blick aus Mahagoni zu bestehen schienen. Doch in den Materialdatenbanken der Laboratorien ließ sich keine Übereinstimmung finden. Und auch wenn die Fäden bekannten Fasern ähnelten, waren sie überraschend widerstandsfähig und ließen sich nicht einmal mit den schärfsten Werkzeugen durchtrennen.

Aus Frustration über die ergebnislose Suche baten die Labore um Freiwillige mit Fäden von unterschiedlicher Länge, damit diese vergleichenden medizinischen Tests unterzogen werden konnten. Ab diesem Zeitpunkt machten die Wissenschaftler sich allmählich Sorgen. In manchen Fällen fand man keinen erkennbaren Unterschied in der Gesundheit der »Kurzfaden« und der »Langfaden«, wie man sie schon bald nannte. Dann wieder zeigten die Tests an vielen Menschen mit kurzen Fäden schreckliche Ergebnisse: bisher unentdeckte Tumoren, Herzleiden und andere Krankheiten. Auch wenn ähnliche medizinische Probleme bei Probanden mit langen Fäden auftauchten, war der Unterschied besorgniserregend eindeutig: Diejenigen mit langen Fäden litten an heilbaren Erkrankungen, diejenigen mit kurzen Fäden an unheilbaren.

Wie umfallende Dominosteine bestätigte ein Labor nach dem anderen weltweit diese Erkenntnisse.

Die Langfaden würden noch eine ganze Weile leben, die Kurzfaden bald sterben.

Während die Politikerinnen und Politiker die Bevölkerungen beschworen, Ruhe zu bewahren und ihrem normalen Alltag nachzugehen, stellte sich die internationale Forschergemeinschaft als Erste dieser neuen Realität. Und egal, wie viele Verschwiegenheitserklärungen unterschrieben wurden, etwas derart Gewaltiges konnte nicht geheim gehalten werden. Nach einem Monat sickerte die Wahrheit allmählich durch die Risse in den Laborwänden, und aus den kleinen Tropfen an Wissen wurden schließlich ganze Becken voll.

Nach einem Monat fingen die Menschen allmählich an, es zu glauben.

Ben

Du denkst also ernsthaft, dass diese Fäden so eine Art Lebenslinie sind? Dass sie uns sagen, wie lange wir zu leben haben?«, fragte die Frau mit hochgezogenen Augenbrauen. »Findest du nicht, dass das ganz schön verrückt klingt?«

Ben saß in einem Coffeeshop in einer Ecke, in die Blaupausen des aktuellen Projekts seiner Firma vertieft, einem protzigen neuen Science Center an einer Universität im Norden des Bundesstaates. Im Februar hatte Ben ununterbrochen an das Projekt gedacht und sich die Studierenden vorgestellt, die eines Tages in den Unterrichtsräumen und Laboren lernen und arbeiten würden, an deren Design er mitgewirkt hatte. Vielleicht würden sie sogar eine die Welt verändernde Entdeckung in genau diesem Gebäude machen, dessen ersten Entwurf er in seinem Moleskine-Notizbuch skizziert hatte.

Doch im März hatte sich die Welt tatsächlich verändert. Und jetzt konnte sich Ben kaum auf die Baupläne vor sich konzentrieren. Als er die Fragen der Frau an einem Nebentisch hörte, musste er einfach lauschen.

Die Frau war offensichtlich eine beharrliche Leugnerin, wie so viele am Anfang.

Doch die wurden von Woche zu Woche immer weniger.

»Ich weiß nicht«, sagte ihr Begleiter weniger überzeugt. »Allein schon die Tatsache, dass sie einfach aus heiterem Himmel überall auf der Welt auftauchen konnten, muss doch … auf Magie hindeuten.« Er schüttelte den Kopf, konnte vielleicht nicht fassen, dass sie dieses Gespräch überhaupt führten.

»Es muss einfach eine andere Erklärung geben. Eine realistische«, erwiderte die Frau.

»Manche reden wohl immer noch von wild gewordenen Hackern, die vorher ein paar ziemlich große Dinger abgezogen haben«, meinte der Mann unsicher. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Haufen Nerds ausreicht, um so etwas auf die Beine zu stellen.«

Tatsächlich lautete eines der populärsten ersten Gerüchte, dass ein internationales Netzwerk genialer Köpfe, die darauf aus waren, Chaos zu verbreiten, sich einen Scherz von überwältigenden Ausmaßen erlaubt hatte. Ben war klar, warum diese Theorie so verlockend klang: Wenn alles nur ein Scherz war, wäre niemand gezwungen, die Existenz von Gott oder Geistern und Zauberei anzuerkennen – oder an eine der noch gewagteren Theorien zu glauben, die momentan im Umlauf waren. Vor allem wäre auch niemand gezwungen, sich dem Schicksal zu stellen, das scheinbar von einem Stück Faden in einer komischen Box vorgegeben wurde.

Doch für einen von Menschen erdachten Streich war das alles zu groß angelegt, dachte Ben. Es schien auch niemand von den Boxen zu profitieren, die auf den ersten Blick keinem anderen Zweck dienten, als die Welt in Angst und Verwirrung zu versetzen.

»Für dich ist es also okay, das alles für Zauberei zu halten, für Magie?«, fragte die Frau.

Ben fand es seltsam, dass jemand die Fäden als »Zauberei« bezeichnete. Zaubern war für ihn die paar Karten- und Münzentricks, die sein Großvater ihm bei Familienurlauben am Meer in Cape May beigebracht hatte. Zauberei war gleichbedeutend mit Fingerfertigkeit, mit »nimm irgendeine Karte aus dem Stapel«. Der Trick sah zwar faszinierend aus, ließ sich jedoch immer erklären.

Die Fäden waren keine Zauberei.

»Dann steckt vielleicht Gott dahinter.« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Oder viele Götter. Die alten Griechen glaubten doch an Schicksalsgöttinnen, oder?«

»Sie haben auch Ungläubige getötet«, erwiderte die Frau.

»Das heißt doch aber nicht, dass sie unrecht hatten! Haben sie nicht Algebra erfunden? Und die Demokratie?«

Die Frau verdrehte die Augen.

»Also gut, und wie erklärst du dir sonst die ganzen Berichte von den Kurzfaden, die gestorben sind?«, fragte der Mann. »Der Brand in Brooklyn? Alle drei Männer hatten kurze Fäden.«

»Wenn deine Stichprobengröße die ganze Welt umfasst, dann wirst du für jede Theorie entsprechende Belege finden«, sagte die Frau.

Ben überlegte, ob die beiden ihr erstes Date hatten. Falls ja, lief es nicht besonders gut.

Er dachte an sein letztes erstes Date zurück, das fast zwei Jahre zurücklag. Er hatte sich mit Claire in einem Café getroffen, ganz ähnlich diesem hier. Wie nervös er gewesen war. Doch die weichen Knie von früher erschienen ihm plötzlich so trivial, die Angst, eine Kaffeetasse umzustoßen oder Spinat zwischen den Zähnen zu haben. Jetzt fragte man sich, wie schnell das Gespräch wohl auf die Fäden kommen würde, ob man die gleiche Theorie vertrat und wann man die heikle Frage stellen würde, die sich niemand verkneifen konnte.

»Hast du dir deinen angesehen?«

Der Mann hatte die Stimme zu einem Flüstern gesenkt.

»Ja, doch, aber das heißt nicht, dass ich daran glaube.« Die Frau lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

Der Mann zögerte. »Darf ich fragen, wie er war?«

Zu direkt für ein erstes Date, dachte Ben. Vielleicht das vierte oder fünfte.

»Ziemlich lang, schätze ich. Aber wie gesagt, das hat nichts zu bedeuten.«

»Ich habe meine Box noch nicht geöffnet. Mein Bruder überlegt noch, ob er es tun soll, und es wäre mir recht, wenn wir es gemeinsam machen«, sagte der Mann. »Außer ihm habe ich keine Familie, und ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn unsere Fäden unterschiedlich lang sind.«

Seine Verletzlichkeit berührte die Frau, ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. Sie beugte sich vor und berührte sanft seinen Arm. »Sie sind nicht echt«, sagte sie. »Lass noch ein bisschen Zeit vergehen, dann wirst du es sehen.«

Ben versuchte, sich auf die Baupläne vor ihm zu konzentrieren, konnte aber nur an seine eigene Box denken und den kurzen Faden, der darin auf ihn gewartet hatte.

Vielleicht hatte die Frau recht, dachte er, und sein kurzer Faden bedeutete nicht automatisch ein kurzes Leben. Er betete, dass sie recht hatte.

Sein Bauchgefühl sagte ihm allerdings, dass sie falschlag.

Nina

Im April erhielt Deborah Caine als Erste in der Redaktion eine offizielle Bestätigung. Sie versammelte ein paar ausgewählte Redakteure im Besprechungsraum und erzählte ihnen, was ihre Quelle im Gesundheitsministerium ihr gerade mitgeteilt hatte.

»Sie sind echt«, begann sie langsam. »Wir wissen nicht, wieso und weshalb, aber die Länge des Fadens scheint tatsächlich der Lebenserwartung zu entsprechen.«

Alle Anwesenden saßen wie erstarrt da, bis ein Mann aufstand und aufgebracht auf und ab ging. »Das ist verdammt noch mal unmöglich«, sagte er und drehte sich von Deborah weg, damit er ihre Reaktion nicht sehen konnte.

Nina fühlte sich wie betäubt, doch ihre Stimme klang überraschend gelassen. »Und sie sind sich da ganz sicher?«, fragte sie.

»Verschiedene internationale Arbeitsgruppen sind alle zu demselben Ergebnis gekommen«, meinte Deborah. »Ich weiß, das wird einschlagen wie … eine Bombe, was fast schon zu normal klingt. Mir ist klar, dass diese Erkenntnis für viele von uns lebensverändernd sein könnte. Der Präsident soll es morgen bekannt geben, und ich glaube, der UN-Sicherheitsrat plant auch etwas, aber ich wollte es euch sofort mitteilen.«

Allmählich erwachte Nina wieder zum Leben. Sie kratzte an dem hellrosa Lack auf ihrem linken Daumennagel und war den Tränen nahe. Sie hoffte, sie schaffte es noch rechtzeitig auf die Toilette, bevor sie zu weinen begann.

Der Mann, der hinter Nina auf und ab gelaufen war, blieb stehen und sah Deborah an. »Was sollen wir jetzt tun?«

»Wegen der Ausgabe diesen Monat?«, fragte Deborah.

»Wegen allem.«

Nach der Besprechung schloss sich Nina auf der Toilette in einer Kabine ein und brach an die geflieste Wand gelehnt in verzweifeltes Schluchzen aus, als ihre Gefühle sie überwältigten.

Sie sah es immer noch lebhaft vor sich. Den Moment, als sie und Maura endlich gemeinsam ihre Boxen geöffnet hatten. Erst eine Woche war seither vergangen.

Maura hatte schließlich trotz Ninas Weigerung nicht länger widerstehen können. Bemerkenswert ruhig und gelassen hatte sie zu Nina gesagt: »Ich will meine Box aufmachen.«

Nina wusste, dass ihre Freundin fest entschlossen war. Sie konnten beide gleich starrköpfig sein. Doch hier ging es nicht um so etwas Simples wie eine neue Couch, und hier gab es auch keinen Kompromiss. Entweder sahen sie hinein oder nicht. Dazwischen gab es nichts.

Nina hatte Angst davor, ihre Box zu öffnen, doch etwas anderes machte ihr noch mehr Angst, nämlich die Aussicht, sie ganz allein zu öffnen. Nina war das älteste Kind in ihrer Familie, die große, oft überbehütende Schwester. Dasselbe Bedürfnis, alle um sich herum zu schützen und für sie zu sorgen, erstreckte sich auch auf Maura. Nina konnte ihre Partnerin nicht allein ihre Box öffnen lassen.

»Wir machen es gemeinsam«, sagte sie.

»Nein, darum bitte ich dich überhaupt nicht.« Maura schüttelte den Kopf. »Das musst du nicht für mich tun.«

»Ich weiß«, antwortete Nina. »Aber ich kann nicht länger dagegen ankämpfen, dass nach und nach alle hineinschauen werden. Und ich mache das lieber mit dir zusammen.«

Die beiden Frauen setzten sich also im Schneidersitz auf den Wohnzimmerteppich und klappten vorsichtig die Deckel ihrer Boxen auf. Dann schlugen sie das papierdünne, glänzende Stück Stoff zurück.

Zu diesem Zeitpunkt konnten sie die genaue Bedeutung der Fadenlängen noch nicht erfassen, doch sie nahmen die Fäden mit den Fingerspitzen heraus und hielten sie nebeneinander. Etwas fiel ihnen sofort und unmissverständlich ins Auge: Mauras Faden war kaum halb so lang wie Ninas.

Erst kürzlich hatten sie ihren zweiten Jahrestag gefeiert und waren zusammengezogen. Auch wenn sie nicht direkt von Hochzeit und Ehe gesprochen hatten, hatte Nina gesehen, wie Maura an ihrem Jahrestag vor dem feierlichen Abendessen einen heimlichen Blick in ihre Kommodenschubladen geworfen hatte. Sie wussten beide, dass Nina Überraschungen hasste und gern alles im Voraus plante, weshalb beide wahrscheinlich unterbewusst davon ausgingen, dass Nina diejenige sein würde, die einen Heiratsantrag machte.

Wie bei den meisten Verliebten hatte Nina das Gefühl, Maura schon viel länger als zwei Jahre zu kennen, doch ihr gemeinsames Leben begann gerade erst.

Und jetzt wusste Nina es ganz sicher. Das Leben der Frau, die sie liebte, würde vorzeitig beendet sein.

In der engen Toilettenkabine im Büro konnte Nina nicht einmal die Freude und die Erleichterung über ihren eigenen langen Faden genießen, das Wissen, dass ihr noch ein ganzes Leben bevorstand. Sie konnte ihren Faden nicht feiern, ohne gleichzeitig Mauras zu betrauern.

Ninas Brustkorb hob und senkte sich schnell, sie atmete flach und panisch. Mauras Faden hatte zwar kurz ausgesehen, aber was hatte das tatsächlich zu bedeuten? Wie viel Zeit blieb ihnen noch? Die ursprüngliche Frage, die die Welt in Atem gehalten hatte, war beantwortet: Die Fäden waren echt. Doch so viele Fragen waren nach wie vor offen.

Als jemand in die benachbarte Kabine ging, legte Nina eine Hand über den Mund und versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Sie wusste, dass niemand ihr vorwerfen würde, von ihren Gefühlen überwältigt worden zu sein, doch ihre Emotionen so öffentlich zu zeigen, war ihr peinlich – als ob noch alles wie früher wäre und die Welt sich nicht fundamental geändert hätte.

Am Abend würde sie es Maura erzählen müssen. Ihre Freundin würde die Wahrheit von jemandem erfahren, der sie liebte, nicht von irgendeinem Nachrichtensprecher.

Nina würde alles zurücknehmen müssen, was sie zu Maura an jenem Abend gesagt hatte, als sie ihre Boxen geöffnet hatten. Alle Behauptungen – die sie tatsächlich geglaubt hatte –, dass die Fäden Fälschungen seien.

»Sie bedeuten bestimmt nichts«, hatte Nina so ruhig wie möglich gesagt. »Das ist doch nur ein Stück Bindfaden.«

»Alle anderen sehen das aber nicht so«, hatte Maura geflüstert.

»Und was wissen die schon? Wir leben nicht in irgendeiner verrückten Welt, in der magische Kästchen die Zukunft vorhersagen«, hatte Nina geantwortet. »Wir leben in der echten Welt. Und diese Fäden sind nicht echt.«

Doch Ninas Argumente hatten die unsichtbare Spannung, die sich seither zwischen ihnen aufgebaut hatte, nicht vertreiben können. Sie lastete abends auf ihnen, wenn sie ins Bett gingen, und morgens, wenn sie aufwachten. Seit Mitte März hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen, und nahezu alle täglichen Interaktionen waren von stiller Angst behaftet gewesen.

Als ob sie beide die ganze Zeit gewusst hätten, dass etwas Schreckliches geschehen würde.

Sobald die andere Frau die Toilette verlassen hatte, kam Nina aus der Kabine und feuchtete ein Papierhandtuch mit Wasser an. Auf kraftlosen Beinen wischte sie sich damit über Gesicht und Nacken und versuchte, ruhiger zu atmen, um nicht ohnmächtig zu werden.

Nachdem sie Maura die Wahrheit gesagt hatte, würde sie es auch ihrer Familie erzählen müssen.

Sie würde ihre Eltern anrufen müssen, die immer noch im selben Vorort von Boston lebten, in dem Nina und ihre Schwester auf die Welt gekommen waren. Nahe genug, um Feiertage gemeinsam zu verbringen, weit genug entfernt, um das Bedürfnis ihrer Töchter nach Unabhängigkeit zu befriedigen. Und natürlich würde sie es Amie sagen müssen.

Ninas jüngere Schwester hatte sich bisher entschieden geweigert, ihre Box zu öffnen, und vertrat ihren Entschluss vehement, sobald die Sprache darauf kam. Würde sie ihre Meinung ändern, jetzt, nachdem sich die Fäden eindeutig als echt erwiesen hatten?

Nina warf das Papierhandtuch in den Mülleimer und betrachtete sich in dem wasserfleckigen Spiegel. Sie schminkte sich selten, doch jetzt wirkte ihr Gesicht noch nackter als sonst. Rosa und verwundbar, bloßgelegt.

Bei jedem Blick in den Spiegel sah Nina unweigerlich die Fältchen in den Augenwinkeln und die zwei leichten Furchen in der Stirn. (»Wenn du nicht ständig so ernst wärst, hättest du vielleicht auch keine Falten, so wie ich«, hatte Maura sie aufgezogen und spielerisch mit der Hand über ihre glatten, dunklen Wangen gestrichen.) Nina war erst dreißig, nur ein Jahr älter als Maura, doch ganz offensichtlich alterte sie jetzt schon. Ihr eigener langer Faden bedeutete, dass ihr eines Tages eine sehr alte Frau aus dem Spiegel entgegenblicken würde, das war ihr nun klar. Bis heute hatte Nina einfach angenommen, dass Maura dann immer noch an ihrer Seite sein würde.

Doch die Fäden hatten diese Illusion in einem schrecklichen Augenblick zerstört, und Ninas Zukunft erschien ihr auf einmal wie ihr Spiegelbild. Traurig, wehrlos und allein.

Ben

Zum ersten Mal seit der Ankunft der Fäden durchquerte Ben wieder die U-Bahn-Station Times Square.

Auf dem Weg von der Linie L zur Linie Q ging er durch einen nasskalten Fußgängertunnel, in dem es von der Decke tropfte, auch wenn es nicht regnete, und in dem ganze Reihen von senffarbenen Mülleimern das Wasser auffingen. Der Tunnel mündete in die große unterirdische Kreuzung, in die die Passagiere aus fast zehn verschiedenen U-Bahn-Linien gleichzeitig strömten.

Als größte Station New Yorks war die Haltestelle Times Square schon immer chaotisch gewesen und die perfekte Bühne für Prediger, Weltuntergangspropheten und alle anderen, die den Vorbeieilenden unbedingt eine Botschaft verkünden wollten. Doch heute wirkte das Chaos noch hektischer.

Zwei Frauen in knöchellangen Röcken beschworen die vorbeihastenden Fahrgäste: »Vertraut auf Gott! Er wird euch retten!« Von Megafonen verstärkt, dröhnten ihre schrillen Rufe lauter, als ihre zierlichen Körper es allein gekonnt hätten. »Er hat einen Plan für euch! Fürchtet eure Fäden nicht!«

Die gläubigen Frauen wetteiferten an diesem Abend mit mindestens vier anderen Predigern, übertönten diese aber dank ihrer Megafone. Während Ben höflich die Flugblätter ablehnte, die man ihm entgegenstreckte, und sich dem Durchgang zu seinem Bahnsteig näherte, hörte er die Worte einer ihrer Konkurrenten. Die Botschaft des Mannes im mittleren Alter mit dem fleckigen Hemd war weniger hoffnungsfroh. »Die Apokalypse steht bevor! Die Fäden sind erst der Anfang! Das Ende ist nah!«

Ben wollte den Mann eigentlich ignorieren und rasch vorbeigehen, sah dann aber zu der Anzeigetafel hinauf, auf der die nächsten Züge angekündigt waren, und fing dabei unglücklicherweise den Blick des Weltuntergangspropheten auf.

»Bist du bereit für das Ende?«

Der Mann meinte das Ende der Welt. Doch seine Worte trafen Ben unangenehm stark. Schließlich war er gerade auf dem Weg zum ersten Treffen mit seiner neuen Selbsthilfegruppe, in der es genau darum gehen sollte: sich auf das Ende vorzubereiten.

»Mit dem eigenen kurzen Faden leben« hatte auf dem Flyer der Selbsthilfegruppe gestanden. Das klang eher ironisch als vielversprechend, dachte Ben trocken, nachdem man ja mit einem kurzen Faden nicht mehr sehr lange zu leben hatte.

Nach dem Eintreffen der Boxen hatte sich rasch eine Vielzahl an Selbsthilfegruppen für Kurzfaden und deren Familien gebildet. Ben hatte eine gefunden, die sich jeden Sonntagabend von acht bis neun in einem Unterrichtsraum der Connelly Academy traf, einer Privatschule an der Upper East Side.

An seinem ersten Abend war er zu früh dort, die Flure waren noch gespenstisch ruhig.

Mit zwei Highschool-Lehrern als Eltern weckten Schulen immer nostalgische Gefühle in Ben. Auch heute musste er nur einen raschen Blick auf eine bunte Anschlagtafel werfen – jedes Schülerfoto klebte auf einem gelben Stern, offenbar ging es um den Weltraum –, um sich an damals zu erinnern, als er als kleines Kind seine Eltern in die Schule begleitet hatte, an der beide unterrichteten, und fasziniert die Teenager angestarrt hatte, die wie Riesen über ihm aufragten.

Ben fand es immer seltsam, wie seine Eltern über eine Klasse bestimmten und dass es da noch so viele andere Kinder gab, die ihnen auch gehorchen, die sich von ihnen etwas beibringen lassen mussten. Manchmal war er eifersüchtig, wollte seine Mom und seinen Dad nicht mit den fremden Kindern teilen. Doch der Höhepunkt seiner Besuche war, wenn er hinten im Klassenzimmer sitzen durfte und schiefe kleine Häuser auf dem Zeichenblock malte, den er immer dabeihatte, und ein paar ältere Mädchen sich um ihn scharten.

»Wer wohnt denn in dem kleinen Haus?«, gurrten sie. »Eine Elfe oder eine Fee?«

In seiner kindlichen Überheblichkeit war Ben versucht, ihnen zu erklären, dass er viel zu alt war, um noch an Elfen oder Feen zu glauben, doch er genoss ihre Aufmerksamkeit viel zu sehr und wollte sie nicht verlieren.

Die Erinnerungen an seine eigene Schulzeit waren weniger angenehm. Als er an den Spindreihen vorbeiging, fragte er sich, ob einige davon mit einem Klebefilmstreifen über dem Schloss offen gehalten wurden, der bevorzugten Methode derjenigen Schüler, die sich ihre Zahlenkombination nicht merken wollten. Ben hatte seinen Spind nur einmal in der neunten Klasse abgeklebt, nachdem er es bei einigen Football-Spielern gesehen und sie um ein Stück Klebeband gebeten hatte. Heute war ihm klar, dass es sich um einen jämmerlichen Versuch gehandelt hatte, sich ihrer Bruderschaft der Breitschultrigen anzuschließen. Binnen einer Stunde hatte man ihm das Handy und die Jacke aus dem unverriegelten Spind gestohlen gehabt.

Er fand Raum 204, in dem man die Plastikstühle kreisförmig aufgestellt hatte. Bis auf einen Mann war das Klassenzimmer leer.

Verlegen, weil er zu früh war, wich Ben in den Flur zurück.

»Zu spät! Ich habe dich schon gesehen.«

Ben ging wieder durch die Tür und zwang sich zu einem Lächeln, das es mit der Fröhlichkeit der Stimme aufnehmen konnte.

»Hallo, ich bin Sean, der Gruppenleiter«, sagte der Mann. »Du musst einer der Neuen sein.«

Ben schüttelte Sean die Hand und versuchte, den Mann einzuschätzen, der ihn angeblich auf seinem Weg zu Frieden und Akzeptanz anleiten würde. Er war Ende dreißig, hatte einen dichten Vollbart und trug locker sitzende Jeans. Auch wenn er im Rollstuhl saß, war er immer noch von beeindruckender Größe.

»Schön, dich kennenzulernen. Ich heiße Ben. Und ja, ich bin heute zum ersten Mal dabei«, sagte er. »Heißt das, dass noch andere Neue kommen?«

»Ja, du und eine junge Frau haben sich diese Woche angemeldet.«

»Super.« Ben versteckte seine feuchten Hände in den Hosentaschen. Seine angeborene Schüchternheit drohte ihn zu überwältigen, und er hoffte, dass diese Gruppe sich nicht als Fehler entpuppen würde.

Damon, ein Freund aus College-Zeiten und einer der wenigen, denen Ben von seinem kurzen Faden erzählt hatte, hatte ihn davon überzeugt, die Selbsthilfegruppe auszuprobieren. (Auch wenn Damon einer von den glücklichen Langfaden war, setzte er wegen seines Vaters, eines trockenen Alkoholikers, der auf seine AA-Treffen vertraute, voll und ganz auf die positiven Eigenschaften von Gruppentherapie.)

Ben wünschte, Damon würde ihn begleiten, zumindest zu den ersten paar Treffen. Es war ihm noch nie leichtgefallen, sich neuen Leuten gegenüber zu öffnen, und nach dem jüngsten Desaster mit Claire, die mittlerweile seine Ex-Freundin war, fürchtete Ben, dass sein Vertrauen in Menschen nachhaltig erschüttert war.

»Also, wenn ich das fragen darf – hast du auch einen …« Ben verstummte.

»Nein«, antwortete Sean. »Mein Faden ist etwas länger als der der Leute hier in der Gruppe, aber ich bin ausgebildeter klinischer Sozialarbeiter. Ich wollte schon immer Menschen helfen, mit schwierigen Umständen zurechtzukommen.«

Ben nickte. Die Ankunft einer Frau mit braunen Haaren rettete ihn vor weiterem Small Talk.

»Hallo, Sean«, sagte sie und stellte ihre Tragetasche auf einen Stuhl.

»Ben, das ist Lea. Lea, das ist Ben.« Sean drehte seinen Rollstuhl erst in die eine, dann die andere Richtung.

»Na, dann mal willkommen.« Lea lächelte freundlich.

Die restlichen Gruppenmitglieder trafen rasch nacheinander ein. Der älteste war ein Arzt Anfang vierzig. (Zumindest ging Ben davon aus, dass er Arzt war, nachdem ein paar andere ihn mit »Doc« begrüßten. Er selbst stellte sich einfach als Hank vor.) Die anderen schienen eher in Bens Alter zu sein, in den Zwanzigern und Dreißigern.

Die erdbeerblonde Chelsea sah aus, als käme sie gerade aus dem Sonnenstudio, und starrte beim Hereinkommen auf ihr Handy. Auf sie folgten drei Männer: der stämmige, bärtige Carl, dessen Gesicht ein wenig von seiner Mets-Baseballkappe verdeckt wurde, der schlaksige Nihal, der einen Princeton-Pullover trug, und der elegante Terrell, bei dessen glänzend polierten schwarzen Oxfordschuhen Ben einen verschämten Blick auf seine abgewetzten Segeltuchsneaker warf.

Als Letzte traf der andere Neuzugang ein, Maura. Sie setzte sich neben Ben und begrüßte ihn mit einem leichten Lächeln und einem knappen Nicken, das ihm wie eine stumme Zusammenfassung der unausgesprochenen Gefühle aller Teilnehmer vorkam: Es ist echt scheiße, wir zu sein.

Aber zumindest gibt es ein »wir«.

Maura

Eigentlich hatte sie sich der Selbsthilfegruppe nicht anschließen wollen. Es wäre ihr wie eine Niederlage vorgekommen, und Maura gab nicht auf. Nur ihrer Freundin zuliebe ging sie zu dem Treffen.

Nina hatte sich zuerst geweigert, die Boxen zu öffnen, was keine große Überraschung gewesen war. Sie war immer die Vorsichtige von ihnen.

Doch als sie auf Mauras Drängen hin die Boxen endlich geöffnet hatten, bereute sie diese Entscheidung sofort.

Nina hatte mit aller Kraft versucht, Mauras Ängste zu zerstreuen, sie davon zu überzeugen, dass die Fäden nichts zu bedeuten hatten. Doch seit jenem Tag kämpfte Maura gegen Übelkeit, Appetitlosigkeit und ein generelles Gefühl der Angst.

Eine Woche darauf war Nina von der Arbeit zurückgekommen und hatte Maura gebeten, sich hinzusetzen, sie müsse ihr etwas sagen.

»Deborah hat heute einen Anruf bekommen«, begann Nina langsam. »Aus dem Gesundheitsministerium.« Ihr Blick wurde glasig, und sie suchte nach Worten.

Doch Maura verstand sie auch so.

»Sag es einfach, Nina. Verdammt, spuck’s aus.«

Nina schluckte. »Sie sind echt.«

Maura sprang von der Couch auf und rannte ins Bad. Sie ließ sich auf die kühlen Fliesen sinken und erbrach sich in die Toilette. Sie spürte, wie Nina ihr dabei die dunklen Locken zurückhielt – und mit ihnen die eigenen Tränen, das wusste sie.

»Alles wird gut«, sagte Nina immer wieder und strich Maura über den Rücken. »Wir schaffen das.«

Doch zum ersten Mal in den zwei Jahren ihrer Beziehung fand Maura in den Worten ihrer Freundin keinen Trost.

Am Abend darauf saßen sie mit ineinander verschränkten Händen vor dem Fernseher, während der Präsident die Bevölkerung in seiner Rede eindringlich bat, Ruhe zu bewahren, und der Gesundheitsminister in seiner Rede die Ergebnisse, zu denen die Wissenschaftler gekommen waren, präsentierte, und der Vorsitzende der World Health Organization und der UN-Generalsekretär beide in ihren Reden zu globaler Solidarität und Mitgefühl im Angesicht dieser ungekannten weltweiten Krise aufriefen.

Sogar der Papst erschien auf seinem Balkon im Vatikan, um zu Millionen verängstigter Seelen zu sprechen, die zweifellos auf seine Führung warteten.

»Ich möchte allen die Worte in Erinnerung rufen, die wir bei jeder heiligen Messe sprechen: ›Das Rätsel des Glaubens‹. Wir wissen, dass der Glaube, der wahre Glaube, von uns verlangt zu akzeptieren, dass sich während unserer Zeit auf Erden immer einige Dinge unserem Verständnis entziehen werden«, predigte der Papst. »Unser Wissen um unseren Schöpfer wird immer unvollständig bleiben. Wie es bei Römer 11:33 heißt: ›O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege!‹ Heute sehen wir uns dem Unergründlichen gegenüber, dem Unerklärlichen. Man verlangt von uns zu glauben, dass diese Kästchen ein Wissen enthalten, das bis jetzt allein Gott vorbehalten war. Doch es ist nicht das erste Mal, dass wir dazu aufgefordert werden zu glauben, was einst nicht zu glauben war. Selbst die Apostel glaubten zuerst nicht, dass Jesus Christus aus dem Grab auferstanden war, doch wir wissen, dass es der Wahrheit entspricht. Und so wenig, wie ich an der Auferstehung zweifle, zweifle ich daran, dass diese Kästchen ein Geschenk von Gott an Seine Kinder sind, denn es gibt niemand Mächtigeren, niemand Allwissenderen und niemand Großzügigeren als Gott, unseren Vater.«

Maura konnte ihre Box jedoch nicht als Geschenk sehen.

Mit jedem Tag, an dem wieder Hunderttausende Menschen am Morgen ihres zweiundzwanzigsten Geburtstages aufwachten und ihre Box vorfanden, wurde die Lage dringlicher. Sie konnten nicht länger rätseln, was ihre Fäden wohl aussagten. Sie brauchten Klarheit.

Ein Team aus amerikanischen und japanischen Analysten präsentierte als Erstes eine Lösung: eine regierungsgeförderte Website, über die die Leute zu Hause die Länge ihrer Fäden auswerten konnten.

Die Forscher hatten viele Tausende verschiedener Fäden bis hin zu Bruchstücken von Millimetern vermessen und gesammelt. Aufgrund der ersten Daten waren sie zu dem Schluss gekommen, dass die Länge eines Fadens tatsächlich nicht der noch verbleibenden Lebenszeit entsprach, wie manche zuerst behauptet hatten. Die Länge des Fadens zeigte die gesamte Dauer eines Lebens an. Vom Anfang bis zum Ende.

Davon ausgehend, dass der längstmögliche Faden dem seltenen Alter von ungefähr hundertzehn Jahren entsprach, hatten die Forscher sich schrittweise nach hinten vorgearbeitet, um eine Übersicht über Fadenlängen und die entsprechende Lebenszeit zu erstellen. Ein exaktes Datum konnten sie nicht angeben, so genau war die Technik nicht. Doch man konnte auf der Website die Länge des eigenen Fadens eingeben und – nachdem man dreimal bestätigt hatte, definitiv fortfahren zu wollen – dann das Ergebnis sehen, überdeutlich in Times New Roman schwarz geschrieben. Bis auf ein Zeitfenster von gerade mal zwei Jahren genau war angegeben, wann das jeweilige Leben enden würde.

Was zunächst eine vage Ahnung gewesen war, als Mauras Faden nicht mal annähernd so lang wie Ninas war, wurde bald zu einer niederschmetternden Gewissheit.

Mauras Leben würde mit Ende dreißig vorbei sein.

Ihr blieben weniger als zehn Jahre.

In jenen ersten Apriltagen hatte Nina das Bedürfnis, mit Maura über alles zu reden, und das tat sie auch oft, doch sie fürchtete, ihr nicht dieselbe Unterstützung bieten zu können wie ein anderer Kurzfaden.

»Du weißt, dass ich immer für dich da sein werde«, sagte Nina, »aber vielleicht können andere auf andere Weise für dich da sein? Meine Schwester hat gesagt, dass ihre Schule sogar einige Fadenselbsthilfegruppen eingerichtet hat.«

»Es ist sehr lieb, dass du mir zu helfen versuchst«, antwortete Maura, »aber ich weiß nicht, ob ich einen Haufen Menschen brauche, der wegen unerledigter Dinge herumheult.«

»Es gibt wohl verschiedene Gruppen, je nachdem, wie viel, äh, Zeit der Faden noch anzeigt. Es gibt Gruppen für Leute, denen vielleicht noch zwanzig Jahre bleiben, und eine Gruppe für Leute …« Nina war unsicher, ob sie weitersprechen sollte.

»Wie mich«, vervollständigte Maura den Satz.

»Mach nur das, womit du dich wohlfühlst, und ich stehe bei allem hinter dir.«

Maura sah Nina an, deren schmale Gestalt im fahlen Licht in ihrer Wohnung im dritten Stock noch zerbrechlicher wirkte, und willigte ein, die Selbsthilfegruppe auszuprobieren. Und sei es nur, um etwas gegen die wässrige Mischung aus Schuld und Trauer zu tun, die in Ninas Augen getreten war.

Eine knappe Woche später ging Maura zu der Schule, in der sich die Selbsthilfegruppe treffen sollte.

Auf den Straßen bot sich ihr ein mittlerweile vertrauter Anblick. An jedem Block hatte mindestens ein Geschäft geschlossen und war mit Brettern vernagelt. Die Besitzer hatten oft ein Schild an den verriegelten Türen und heruntergelassenen Metallgittern der Läden und Restaurants angebracht, auf dem stand: »Ich bin weg und lebe mein Leben«, »Ich verbringe mehr Zeit mit meiner Familie« oder »Will noch was erleben«. Maura kam an einem Juweliergeschäft vorbei, an dessen Tür ein Stück Papier klebte: »Geschlossen. Suche nach einem Abschluss.«

Verstörender als die Schilder war allerdings der gelegentliche Anblick von fremden Boxen, die teuflisch über den Rand eines Mülleimers oder aus einem Haufen zerbrochener Möbel am Bordstein lugten.

In den Tagen und Wochen, nachdem man die Bedeutung der Fäden entschlüsselt hatte, hatten die von der Wahrheit Erschütterten verschiedene Arten entwickelt, mit den Boxen, die einfach so in ihr Leben getreten waren, umzugehen. Manche hofften auf Seligkeit durch Unwissenheit und warfen die Boxen weg, um nicht in Versuchung zu geraten. Die zur Melodramatik Neigenden schleuderten ihre Boxen in Flüsse und Seen oder schlossen sie irgendwo in einem abgelegenen Winkel in ihrem Haus ein. Wer unbekümmerter war, warf die Boxen einfach in den Müll.

Wieder andere versuchten sie voller Wut zu zertrümmern, doch die Kästchen waren so unzerstörbar wie die Blackbox eines Flugzeuges, egal wie oft sie angezündet wurden, auf sie eingeschlagen oder auf ihnen herumgetrampelt wurde.

Fußgänger, die eine geöffnete Box am Straßenrand liegen sahen, die man weg- oder vielleicht aus einem Fenster geworfen hatte, wandten meist den Blick ab und gingen schneller, als wollten sie einem Bettler nicht ins Gesicht sehen.

Zum Glück sah Maura an dem Abend auf dem Weg zur Schule keine zurückgelassenen Boxen. Die ruhigen, von Brownstonehäusern gesäumten Straßen der Upper East Side waren entweder zu vornehm oder zu verklemmt für so eine öffentliche Zurschaustellung von Gefühlen, dachte sie.

Das Schulgebäude passte in die Gegend und wirkte alt und erhaben, das architektonische Äquivalent zu einem gesetzten Philanthropen, der sich für eine Wohltätigkeitsveranstaltung herausgeputzt hatte. Es besaß eine dieser kunstvollen Vorkriegsfassaden, auf die Makler so gern hinwiesen, mit winzigen Gargoyles in Greifenform.

Während sie die breite Innentreppe hinaufging, an Marmortafeln mit Zitaten von Platon und Einstein vorbei, berührte Maura den kleinen türkisfarbenen Nasenring, den sie seit der Collegezeit trug und der sicherlich gegen die Kleiderordnung an einem Ort wie diesem verstieß. Ninas jüngere Schwester Amie unterrichtete seit einigen Jahren an der Schule, doch Maura war bisher noch nie hier gewesen.

Im zweiten Stock angekommen hörte sie leise Stimmen und folgte ihnen bis zum Raum 204. Zum Glück war sie die Letzte, die zu der Gruppe stieß.

Amie

Offensichtlich hatte sie Abbitte nie zu Ende gelesen.

Amie tastete mit schmerzhaft ausgestrecktem Arm unter dem Bett nach einem Stift, der in die Vergessenheit gerollt war, als sie mit dem Daumen unerwartet gegen einen Buchrücken stieß. Sie zog das von einer dünnen Staubschicht bedeckte Taschenbuch hervor; das Lesezeichen – vergoldet und mit Monogramm, ein Geschenk eines Ex-Freundes, das sie schon lange nicht mehr an ihre kurze gemeinsame Zeit erinnerte – ruhte immer noch bei zwei Dritteln des Buches zwischen den Seiten.

Im März hatte sie es gelesen, und sie konnte nicht glauben, dass sie es völlig vergessen hatte, obwohl die Geschichte sie doch so gefesselt hatte. In jener Nacht, in der die Boxen eintrafen, war sie mit dem Buch in der Hand eingeschlafen, und in dem Aufruhr am Morgen war es wohl von der Bettdecke in die Vergangenheit gerutscht, plötzlich ein Relikt aus der Zeit davor.

Davor.

Mit dem Buch in den Händen dachte Amie an jenen Morgen zurück. Wie üblich hatte sie lange geschlafen – diese Angewohnheit hatte ihre Schwester Nina noch nie verstanden – und sich noch nicht von den nächtlichen Träumen losreißen wollen, die zweifellos durch ihre Lektüre inspiriert worden waren. In ihrem Traum studierte sie in den Dreißigerjahren an der Cambridge University und wurde von einem jungen Mann umworben, der wie Hugh Grant sprach. Ein wenig enttäuscht war sie allein in ihrem Bett aufgewacht.

Als sie an jenem Morgen aus dem Bett gekrochen war, hatte Nina bereits zwei panische Nachrichten auf ihrer Mailbox hinterlassen. (Sie war nur ein Jahr älter als Amie, aber hielt sich schon seit Langem für die Stimme der Autorität.)

»Ruf mich sofort zurück, wenn du das hörst!«, hatte Nina ins Handy gerufen. »Geh noch nicht raus, mach gar nichts. Ruf mich zuerst an! Bitte!«

Nina hatte die Inschrift auf den Boxen nicht ernst genommen und warten wollen, bis sie sich mit ihrem Team in der Arbeit besprochen hatte. Doch Amie hätte sowieso nicht hineingesehen. Die Boxen waren einfach überall aufgetaucht und ganz offensichtlich unglaublich mächtig. Irgendwie war die Welt aus dem Gleichgewicht geraten und ins Kaninchenloch gefallen, und Amie wusste aus vielen Büchern, dass es sich hierbei um den Teil der Geschichte handelte, in dem niemand wusste, was zum Teufel eigentlich los war, und in dem die Personen überstürzte Entscheidungen trafen, deren Konsequenzen erst einige Kapitel später klar wurden.

Zum Glück waren die Fäden in den Frühlingsferien eingetroffen, weshalb die Connelly Academy keinen Unterricht kurzfristig absagen musste. (Nur sehr wenige Schulen hatten an jenem Tag tatsächlich den Unterricht eingestellt, auch wenn Amie gehört hatte, dass die meisten Klassenzimmer nur halb besetzt gewesen waren, weil viele Schüler und Lehrkräfte nicht erschienen waren.)

»Ihre Schülerinnen und Schüler werden natürlich Fragen haben«, hatte der Direktor am Montag darauf zu den Lehrkräften gesagt. »Und Sie haben sich mittlerweile bestimmt alle eine eigene Meinung zu den Ereignissen gebildet. Doch wir dürfen den Schülerinnen und Schülern nichts sagen, was wir nicht sicher wissen.«

Die Kollegin neben Amie hatte sich zu ihr gelehnt und geflüstert: »Dann dürfen wir also quasi gar nichts sagen, oder?«