Die Weisheit der Demenz - Hildegard Nachum - E-Book

Die Weisheit der Demenz E-Book

Hildegard Nachum

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Beschreibung

Eingebettet in sieben große Themenwelten eines Menschenlebens erzählt Hildegard Nachum wahre, berührende, tragische und komische Geschichten aus dem Universum Demenz und hilft beim Entschlüsseln der tieferen Bedeutung und des verborgenen Sinns des oft irritierenden Verhaltens. Sie zeigt eine Vielzahl an Möglichkeiten auf, wie in solchen oder ähnlichen Situationen das Tor zu den handelnden Personen wieder geöffnet werden kann und übersetzt schwer verstehbare Handlungsweisen wie eine Dolmetscherin für Angehörige, Pflegekräfte und die interessierte Leserschaft. Und sie eröffnet uns schließlich auch, welche Weisheit in den Geschichten verborgen liegt, die wir selbst für unser eigenes Leben daraus ableiten können.

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HILDEGARD NACHUMMit Unterstützung von Ulrike Zika

Die Weisheitder Demenz

Wegweiser zum würdevollen Umgangmit desorientierten Menschen

Mit Fotos von Mario Sornig

Inhalt

Kontaktaufnahme mit der Welt der Demen

Leuchttürme schaffen Perspektivenwechsel

In den Lebenswelten der Demenz

Hunger

Heimat

Rollenwechsel

Angst

Nähe und Distanz

Abschied, Trauer und Tod

Versöhnung und Vergebung

Ausblick in die Zukunft

Vorwort von Naomi Feil

Ich schreibe diese Worte mit großer Dankbarkeit, liebe Hildegard. Denn dein Buch trägt dazu bei, dass immer mehr Pflegende und Familienangehörige die Prinzipien und Techniken der Validation kennenlernen und Empathie gegenüber alten Menschen wie mir entwickeln. Mit 89 Jahren sehne ich mich danach, verstanden zu werden. Dein Wissen und deine Erfahrungen in der Validation helfen dabei sehr. Du hast so vielen jungen Pflegerinnen und Pflegern beigebracht, alten Menschen mit Respekt zu begegnen. Du hast Betreuerinnen und Betreuer rund um die Welt dabei unterstützt, mit demenziell veränderten Menschen zu kommunizieren. Du hast ihnen gezeigt, dass Gedächtnisschwund keine Krankheit ist, die man mit Medikamenten heilen kann, sondern zum Altwerden dazugehört. Wenn unsere Hirnzellen im Alter abnehmen und wir unser Kurzzeitgedächtnis verlieren, können Betreuende unser Langzeitgedächtnis stimulieren, um mit uns in Kontakt zu treten. Dein Buch hilft Menschen wie mir, sich im Alter geliebt und respektiert zu fühlen. Dafür möchte ich dir danken. Hör nicht auf zu schreiben.

MEINE PERSÖNLICHE REISE ZU DEMENZIELL VERÄNDERTEN MENSCHEN

Oft werde ich gefragt, ob ich Angst habe, dement zu werden. Ja, ich habe panische Angst. Aber nicht vorrangig vor einer dementen Veränderung. Meine größere Angst ist vielmehr, dass niemand anderer das Land kennt und versteht, in dem ich mich dann befinden werde.

Ich bin ein reiselustiger Mensch, liebe es, mir unbekannte Länder zu entdecken. Aus meiner Sicht kann diese Veränderung – auch – eine Reise in eine neue Welt sein. Alles wird fremd für mich sein und wahrscheinlich auch oft bedrohlich und beängstigend. Doch wenn eine freundliche Reisebegleitung an meiner Seite ist, die die Landkarte in dieser mir so fremden Welt lesen kann, eine Freundin, die mich behutsam an der Hand hält, wenn ich nicht weiß, wer ich bin, dann kann dieser Weg auch eine fantastische Reise werden, die am Ende meines Lebens noch ein Gleichgewicht herstellt, überall dort, wo in mir keines herrscht.

Der erste Mensch, dem ich in dieser mir damals noch so unbekannten Welt begegnete, hieß Amalia. Ich lernte sie in jenem Seniorenheim kennen, in dem ich vor 17 Jahren arbeitete. Sie war 92 Jahre alt, eine zierliche Dame, die ohne Lippenstift auf ihren Lippen nie ihr Zimmer verließ. Immer tadellos gekleidet, mit Seidenbluse und Faltenrock. Eines Tages kam ich in ihr Zimmer. Amalia saß auf ihrem Sofa und kramte verzweifelt in einer schwarzen Handtasche. Sie sah mich an und fragte mich mit einer weinerlichen Stimme: „Schwester, kommt mein Vater heute noch?“

Was sollte ich ihr sagen? Die Wahrheit? Dass ihr Vater schon lange tot sei. Eine Lüge? „Ja, ja, ihr Vater wird gleich da sein, er sucht noch einen Parkplatz.“ Ablenkung? „Kommen Sie, jetzt gibt es einen Kaffee und einen Mohnstrudel.“

Ich erinnere mich an meine Reaktion: Ich schwieg.

Dieses Erlebnis war für mich der Anfang einer Reise in eine Welt, die mir unbekannt war, die mich ängstigte und die ich nicht verstand. Ich begab mich auf die Suche nach neuen Möglichkeiten, um die Sprache des alten, desorientierten Menschen zu lernen. Und ich fand dabei die Validation nach Naomi Feil. Oder sie fand mich. Validation ist sowohl eine Kommunikationsmethode als auch eine Grundhaltung gegenüber alten Menschen, die das Zusammenleben mit ihnen erleichtert, wenn sie eine andere Sprache zu ihrer gemacht haben oder sogar bereits verstummt sind. Ich wünschte mir so sehr, diese Menschen zu verstehen. Ein Anspruch, dem ich selbst heute manchmal immer noch nicht vollständig gerecht werde. Dabei musste ich lernen, mich selbst loszulassen: meine Ansprüche, meinen Eifer, mein „Das muss doch funktionieren!“. Diese für mich neue Methode forderte etwas ganz Wesentliches ein: Demut und Geduld und Achtung vor dem Neuen und Unbekannten.

Wir Kopfmenschen wollen verstehen und begreifen, wir suchen nach Erklärungen und scheitern oft dabei. Nach den vielen Jahren Erfahrung mit desorientierten und demenziell veränderten Menschen möchte ich Sie ermutigen: Vertrauen Sie auf sich selbst, horchen Sie in sich hinein und trauen Sie Ihren Gefühlen. Wenn wir Herausforderungen ausschließlich mit Logik und Hirn zu lösen versuchen, verstricken wir uns in unsere Synapsen und Dendriten und verlernen, tiefer hinzuhorchen und auf einer emotionalen Ebene wahrzunehmen und zu verstehen und vom anderen, vom weisen, alten Menschen zu lernen.

So packte ich meinen Lernrucksack mit Energie und Motivation und glaubte, in einer achtmonatigen Ausbildung die Sprache des alten Menschen lernen zu können. Sie ahnen es vielleicht bereits: Es sollte – vorerst – nicht funktionieren. Ich hatte zwar mit der Veränderung meiner Sichtweisen begonnen, doch waren die Begegnungen mit den alten Menschen, ihre Worte und Tränen für mich immer noch weitgehend unverständlich. Alles, was wir neu erlernen und erfahren, braucht Zeit. Wir haben einen bestimmten Weg erlernt, wie wir kommunizieren, wie wir fragen und antworten. Diesen bekannten und ausgetretenen Pfad zu verlassen, ist oft nicht so einfach. Wir kommunizieren oft automatisch, ohne zu denken und uns bewusst zu überlegen, was wir wie als Nächstes sagen werden. Validation als neue Kommunikationsmethode fordert aber von uns, diese ausgetretenen, sicheren Wege zu verlassen und uns eine neue Strecke zu suchen. Das ist ein Abenteuer – bedarf aber auch Mut und der Entscheidung, sich auf dieses Abenteuer einzulassen.

Selbst nach dem Abschluss meiner Prüfung verstand ich die Sprache des alten, desorientierten Menschen, der in seiner Aufarbeitung war, noch immer nicht wirklich. Ich stellte entweder zu viele Fragen oder nicht die passenden. Der „Erfolg“, den ich erwartete, blieb aus. Welche Ziele wollte ich mit meiner Ausbildung eigentlich erreichen und welchen Erfolg glaubte ich, erzielen zu können? Zu diesem Zeitpunkt sah ich Erfolg im messbaren und nicht im spürbaren Bereich. Ich glaubte, den alten Menschen durch meine andere Art von seinem Suchen, von seinem Leid erlösen zu können. Ein Ansatz, der nichts mit den Validationszielen zu tun hatte, wie ich heute weiß. Er ist vielmehr eine ich-bezogene Kalkulation, die die tieferen Bedürfnisse des Du zu wenig sieht. Ich kann nur allen raten, die sich auf diesen Weg machen: Geben Sie nicht zu schnell auf und haben Sie Geduld mit sich selbst. Damit aus dem Validationssamen eine ansehnliche Pflanze wird, müssen Sie das Blümchen liebevoll umsorgen.

Ziel der Validation ist es, demenziell veränderten Menschen Räume zu öffnen.

Erfolg in der Validation hat nichts damit zu tun, dass die Menschen ruhiger werden oder aufhören zu weinen. Es gibt eigentlich keinen Erfolg im klassischen Sinn. Das Hauptziel in der Begegnung mit demenziell veränderten Menschen ist es, Räume zu öffnen, in die diese Menschen, wenn sie das möchten, eintreten können. Wir können diesen Menschen nur die Türen aufhalten.

Kurz nach dem Abschluss meiner Ausbildung war ich die einzige Validationsanwenderin im Seniorenheim, in dem ich damals arbeitete. Ich erinnere mich an eine Situation: Ein verzweifelter alter Mann wollte nach Hause gehen und suchte den Ausgang. Die Kolleginnen riefen mich, in der Annahme, dass jetzt die neue „Superwoman“ der Validation die heikle Lage in den Griff bekommen würde. Ich setzte mich zu diesem alten Mann, der sehnsüchtig Richtung Ausgangstür schaute, und versuchte verzweifelt, mein Gelerntes zu aktivieren. Zwei Verzweifelte saßen einander gegenüber und aus meiner Unsicherheit heraus schwieg ich und schaute ihm tief in die Augen. Er begann zu weinen. Damals sahen meine Kolleginnen, die mich beobachteten, ebenso wie ich diese Tränen als Versagen. Er sollte doch lächeln und nicht weinen! Jetzt, nach vielen Jahren Erfahrung, beurteile ich diese Tränen anders als damals: Endlich durfte seine Emotion der Traurigkeit an die Oberfläche gelangen. Es gibt in den Begegnungen mit dem alten Menschen keinen Erfolg und keine Niederlage, sondern nur ein Zulassen und Akzeptieren.

Es geht in der Begegnung mit alten Menschen um Zulassen und Akzeptieren.

Vieles verstehe ich heute noch immer nicht vollständig, aber ich habe gelernt, Begleiterin für jene Menschen zu sein, die eine neue Heimat in einer eigenen Welt finden. Seit 17 Jahren fasziniert mich diese neue, eigene Welt der demenziell veränderten Menschen. Viel durfte ich bei diesen Begleitungen lernen. Eines ist für mich immer sichtbarer geworden: Das Gestern ist das Heute vom Morgen.

In den nächsten Jahren vertiefte ich mein Wissen durch verschiedene Ausbildungen und eine intensive Praxis des Lernens in der täglichen Arbeit. Validation nach Naomi Feil ist die Basis meiner Arbeit geblieben. Heute kombiniere ich sie mit weiteren Erkenntnissen und Methoden von namhaften Pflegeexpertinnen und -experten und meiner eigenen Lebens- und Berufserfahrung. Der alte Mensch selbst war und ist dabei stets mein wichtigster Lehrmeister geblieben. Erst als ich zu spüren begann, was in meinem Gegenüber vorging, setzte ein echter Wandel in mir ein. Auch ich machte eine Reise, eine Reise von meinem Gehirn zu meinem emotionalen Zentrum. Langsam erlebte ich mich in einer anderen Rolle als zuvor. Nicht die kognitive, bestimmende und führende Hildegard, sondern die staunende und fühlende. Meine Begegnungen waren nun nicht „nur“ eine andere Kommunikation, sondern eine Komposition aus verschiedenen Ebenen. Das tiefe Eintauchen in die Zeitgeschichte, das Erkunden bewegter und bewegender Biografien in der vordersten Reihe, hilfreiche Kommunikationstechniken und die Arbeit mit biografischer Musik halfen mir schließlich, die Grenzen in eine andere Welt zu überspringen und sicher auf der anderen Seite zu landen. Plötzlich konnte ich Nichtverständliches akzeptieren und annehmen und das Nichtwissen behinderte nicht länger meinen emotionalen Zugang zu den Menschen.

Dieses Buch richtet sich an alle, die lernen wollen, die Landkarte der Menschen, die in einer kognitiven Veränderung sind, besser zu lesen, um sich in ihrer Welt besser zurechtzufinden. Wir alle verändern uns im Alter, sei es durch hirnorganische Wandlungen oder durch psychische Traumata unseres gelebten Lebens, mit denen wir nicht fertigwerden. Jeder und jede reist in ein anderes Land und jeder und jede benötigt dabei eine Landkarte. Und irgendwann brauchen wir jemanden an unserer Seite, der diese Landkarte für uns liest, wenn wir es selbst nicht mehr können.

Meine Begegnungen sollen Ihnen, die Sie aus beruflichem oder privatem Anlass mit Demenz in Kontakt getreten sind, zeigen, dass Ihre Geschichte schon so oft gelebt worden ist. Auf den folgenden Seiten werde ich Ihnen meine Erfahrungen, die ich auf meinen Reisen erleben durfte, erzählen. In einigen Reiseberichten werden Sie sich vielleicht selbst mit Ihren Angehörigen und Ihren zu betreuenden Personen wiederentdecken. Mit meinen Geschichten möchte ich nicht belehren, sondern Ihnen Wege zeigen, wie Sie sich die Poesie und Weisheit dieser alten Menschen erschließen können. Laden Sie diese Menschen mit ihren Weisheiten zu sich nach Hause ein und lauschen Sie, was sie zu berichten haben.

Dieses Buch ist keine Rezeptsammlung. Erwarten Sie keine punktuelle Aufzählung von Techniken, die Sie dann eins zu eins übernehmen können. Jeder Mensch ist einzigartig und anders. Eines können Sie beim Lesen aber erwarten: das Eintauchen in eine andere Welt, das Erfühlen von Seelengeschichten, das Staunen vor diesen unverfälschten Botschaften.

Ich hoffe, dass ich Sie in diesem Dschungel von Gefühlen und Erlebtem begleiten darf und Ihnen eine andere Welt zeigen kann, die einmal vielleicht auch unsere eigene werden wird. Nehmen Sie dieses Buch ohne große Ansprüche an. Auch das habe ich in diesen Stelldicheins mit den alten Menschen gelernt: den Menschen ohne Erwartungshaltung, aber mit Haltung zu begegnen.

DEMENZ IM VORMARSCH

In den letzten Jahrzehnten ließ sich ein Naturereignis beobachten, das sich gesellschaftspolitisch zu einer Naturkatastrophe entwickeln kann: die Demenz. Dieser Tsunami ist nicht aufzuhalten, wie es scheint. Den Bemühungen der medizinischen Forschung zum Trotz ist der derzeitige Stand der Wissenschaft: Demenz ist nicht heilbar. Bis jetzt sind alle Versuche, diese „Epidemie des Jahrtausends“ durch medikamentöse Behandlung zu heilen, gescheitert. Durch die Einnahme gewisser Antidementiva kann der Verlauf um ungefähr ein Jahr hinausgezögert werden. Diese Medikamente sollen geistige Defizite ausgleichen und dem chemischen Ungleichgewicht, das durch eine demenzielle Erkrankung entsteht, entgegenwirken. Die Nebenwirkungen dieser Antidementiva sind Verstopfung, Sturzgefahr, Stimmungsschwankungen, Appetitlosigkeit und Schlafstörungen. Und auch die Nebenwirkungen werden meist wieder medikamentös behandelt.

Die Suchmaschine Google spuckt beim Suchbegriff „Demenz“ binnen Sekundenbruchteilen über 32 Millionen Treffer aus. Es gibt zwischen 70 und 130 verschiedene Demenzformen. So viele Formen der Zerstörung, mit unterschiedlichen Anfangsphasen. Bei einer Demenzart wird zuerst die Persönlichkeit in Mitleidenschaft gezogen und erst dann die kognitive Ebene, eine andere verursacht visuelle und akustische Halluzinationen. Alle finden jedoch dasselbe Ende: Die Person verliert sich immer mehr.

Die häufigste Form der Demenz ist die Alzheimer-Demenz. Rund 70 Prozent der Demenzformen fallen in diese Kategorie. Manche definieren sie als Zivilisationskrankheit: ein Tribut für den Überfluss in der Ernährung und eine Folge unseres stressigen Lebensstils. Der Arzt und Molekularbiologe Michael Nehls sieht die Entstehung dieser hirnorganischen Veränderung in der starken Diskrepanz zwischen unseren Bedürfnissen und unserer Lebensweise. Die Wissenschaft ist sich einig, dass die Alzheimer-Erkrankung zwar nicht heilbar ist, aber mit einer gesunden Lebensweise hinausgezögert werden kann. Neben Ernährung spielt Stress als ein Beschleuniger eine wesentliche Rolle. Wenn sich das Gedächtnis und das Orientierungsvermögen jedoch bereits merkbar und schnell zu verlangsamen beginnen, ist es für eine erfolgreiche Therapie bereits zu spät. Oft zeigen sich die ersten Defizite im kognitiven Bereich, vor allem in Denk- und Erinnerungsprozessen, erst nach drei bis vier Jahrzehnten, da das Gehirn zerstörte Fähigkeiten in anderen Arealen sehr lange kompensieren kann. Die Alzheimer-Erkrankung kann also 15 bis 30 Jahre vor ihrem Ausbruch still und heimlich bereits ihren Anfang nehmen. Wie ein ungebetener Gast, der sich in uns einlogiert und uns auch nicht mehr verlassen wird. Nach aktuellen Forschungsergebnissen quartiert er sich zuerst in einem kleinen Randbereich des Schläfenlappens ein. Dort verweilt er und zerstört diesen Bereich. Danach setzt er sein Werk Richtung Hippocampus fort und schädigt dort das Kurzzeitgedächtnis. Anschließend geht seine zerstörerische Reise weiter in das Zentrum der Gefühle und des emotionalen Gedächtnisses, zur Amygdala. Er beendet seinen zerstörerischen Besuch schließlich im Bereich des Langzeitgedächtnisses.

Der Mensch, in dessen Leben der grausame Gast Einzug gehalten hat, spürt als Erstes selbst, dass er kognitive Schwächen hat, und beginnt meist, diese zu verleugnen und zu verstecken. Sie können sich sicherlich vorstellen, welche Anstrengung und welcher Stress damit einhergehen können. Korrigieren Sie deswegen bitte nie den alten Menschen und weisen Sie ihn nicht zurecht. Ein demenziell veränderter Mensch braucht einfühlsame Unterstützung und keine Zurechtweisung.

Oft können Veränderungen im Gesundheitszustand bereits Warnsignale sein, die eine Alzheimer-Krankheit anzeigen. Dazu gehören Schlafstörungen, depressive Phasen, sprachliche Einbußen und verändertes Schmerzverhalten. Wenn sich weitere Beeinträchtigungen wie Bewegungseinschränkungen, Wahn- und Angstzustände oder Verlust der Orientierung manifestieren, wird das Rad der Alzheimer-Diagnostik und der medikamentösen Therapie gedreht. Ab diesem Zeitpunkt ist die Krankheit nicht mehr zu stoppen, der Erlebensweg dauert bei dieser Demenzform in der Regel zwischen sieben und zehn Jahre. An einer Demenz kann man nicht sterben, sondern man stirbt mit einer Demenz. Todesursache ist oft eine Pneumonie oder andere Infektionserkrankungen bei geschwächtem Immunsystem.

Stellen Sie den Menschen in den Mittelpunkt, nicht die demenzielle Veränderung.

All die Zahlen lassen jedoch häufig eines vergessen: Es stehen immer Menschen mit ihren Lebensgeschichten hinter diesen Statistiken. In diesem Buch wird es daher um den Menschen gehen, egal welche Demenzform diagnostiziert wurde. Bitte stellen Sie immer den Menschen in den Mittelpunkt und nicht die demenzielle Veränderung. Denn der Mensch bleibt immer Mensch, er besteht nicht nur aus Gehirn, sondern auch aus Emotionen, Erfahrungen und intuitivem Wissen.

Betreuung ist weitgehend Familien- und Frauensache

Die Diagnose Demenz ist kein Einzelbefund, sondern sie (be-)trifft die ganze Familie und in späterer Folge oft auch öffentliche und private Pflegeeinrichtungen. Menschen mit Demenz müssen meist rund um die Uhr, das ganze Jahr und meist über eine längere Zeit betreut und gepflegt werden. Die Bezeichnung 24/7 hat sich dafür in der Zwischenzeit etabliert. Diese Form der Betreuung führt oft zu psychischer und physischer Überlastung der Betreuungspersonen, sei es im beruflichen oder im privaten Umfeld – auch dafür brauchen wir Antworten und gemeinsame Lösungen. Die in diesem Buch vorgestellten Wege und Anregungen wollen zu einer gemeinsamen Bewältigung dieser gesellschaftlichen Mammutaufgabe beitragen.

Die Pflege und Betreuung von Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind, scheint noch immer vorrangig Familiensache zu sein. Zeitgeschichtlich gesehen ist das erklärbar: Der Begriff „Ausgedinge“ ist am Lande ein gängiges Wort. Die Altbauern ließen früher bestimmte Regelungen notariell festlegen, die eine Art Altersvorsorge waren: Wohnhaus, Nahrungsversorgung, Taschengeld, Heizmaterial und die Pflege bei Krankheit und im Alter. Diese Altersvorsorge wurde vorrangig von den Töchtern und Schwiegertöchtern sowie den unverheirateten Frauen am Hof gewährleistet. 80 Prozent der Pflege findet auch heute noch zu Hause statt – und sie wird vorrangig immer noch von Frauen verrichtet. Es scheint, als habe die Gleichberechtigung vor der häuslichen Betreuung haltgemacht. Einen interessanten Aspekt zeigen einige Studien: Oft muss die häusliche Pflegeperson selbst irgendwann gepflegt werden, wenn nämlich der jahrelange Stress und die enorme Belastung durch den Tod des Gepflegten oder die Unterbringung in einem Heim entfallen. Dann fordern Körper und Geist manchmal ihren Tribut und lassen die Pflegeperson selbst zum Pflegefall werden.

Die Betreuung von Menschen mit Demenz hat viele Gesichter. Am Beginn, in den eigenen vier Wänden, benötigen die Betroffenen noch eine leichte Unterstützung, etwa beim Einkauf oder bei der Einnahme ihrer Medikamente. In dieser Phase können die alten Menschen auch ihren Alltag noch fast allein meistern. Die geistigen Fähigkeiten werden im Laufe der demenziellen Veränderung jedoch abnehmen. Der durchschnittliche Krankheitsverlauf kann neun bis zehn Jahre dauern, wobei der Verlauf in den ersten drei Jahren eher leicht ist, in den folgenden drei bis vier Jahren mittelschwer und in den letzten Jahren ein schwerer Entwicklungsverlauf zu verzeichnen ist. Planen Sie daher nicht zu langfristig, konzentrieren Sie sich in den Begegnungen mit dem alten Menschen auf das Heute und das Morgen.

IN DER PRAXIS

____ Geben Sie sich und Ihrem Angehörigen Sicherheit, indem Sie sich über das Krankheitsbilderkundigen und in Austauschgruppen Menschen begegnen, die in derselben Situation sind.

Einfach alt oder dement?

Da geht man von der Küche in den Abstellraum, steht vor den Regalen und fragt sich, was man eigentlich holen wollte: War es das Mehl, das Öl oder doch etwas anderes? Legt man dann den Weg wieder in die Küche zurück, wird das Rätsel entwirrt: Es waren die Semmelbrösel! Sind diese Ausfallserscheinungen Anzeichen einer Demenz? Keine Sorge, man nennt dies Interferenz. Auf dem Weg zum Abstellraum schwirren andere Gedanken durch den Kopf: die Freundin zum Geburtstag anrufen, die Wäsche aufhängen, mit dem Hund eine Runde spazieren gehen. Es kommt dabei zu einer Überlappung der Informationen, einer Störung. Ich stelle es mir bildlich vor wie verschiedene Radiofrequenzen, die sich gegenseitig stören. Gelegentliche Vergesslichkeit schützt unsere Computerzentrale Gehirn vor Überlastung. Oder erinnern Sie sich auf Anhieb, welche Urlaubsdestinationen Sie in den letzten 20 Jahren angepeilt haben? Können Sie sagen, was Sie vor fünf Jahren an Ihrem Geburtstag gemacht haben (außer es war ein runder)? Unser Gedächtnis reinigt sich selbst, indem es Informationen filtert, Wichtiges (was immer das sein mag) speichert und Unwichtiges löscht.

Der Übergang vom kognitiv „normalen“ Zustand zur Demenz kann fließend sein.

Jeder von uns verlegt mal die Autoschlüssel oder sucht die Brille, während sie auf der Nase sitzt. Auch fällt uns vielleicht mal der Name der Bekannten, die wir auf der Straße treffen, nicht ein. Und manchmal passiert es uns sogar, dass wir einen Termin übersehen. Aus diesen und anderen schusseligen Unachtsamkeiten können peinliche und äußerst unangenehme Situationen entstehen und manchmal werden wir sogar zur Zielscheibe spöttischer Bemerkungen. Aber solche Situationen sind nur Vergesslichkeit und in der Regel noch kein Zeichen dafür, dass Herr oder Frau Alzheimer an unsere Tür klopft. Ein signifikanter Unterschied zwischen „normalem“ und pathologischem Vergessen ist einfach erklärt: Bei einem alters- oder stressbedingten Vergessen tauchen Inhalte wieder auf. Bei Alzheimer oder einer anderen Demenzform bleibt der Inhalt, nach dem man krampfhaft sucht, verschwunden. Doch die Übergänge von einem kognitiv „normalen“ Zustand zu einer eindeutigen Demenz-Diagnose können fließend sein – nicht zuletzt deshalb, weil wir selbst mit nachweisbaren Anzeichen von Demenz im Gehirn kognitiv immer noch hoch kompetent sein können.

Würde man alle Nervenfasern im menschlichen Gehirn aneinanderreihen, ergäbe sich eine Strecke von der Erde bis zum Mond. Unser Gehirn beherbergt über 100 Milliarden Nervenzellen. Doch ab dem 25. Lebensjahr sterben jeden Tag zwischen 1000 und 10 000 Zellen ab. Das klingt nicht sehr erbaulich und man könnte annehmen, dass damit vorprogrammiert ist, dass wir mit den Jahren immer dümmer werden. Doch die moderne Neurowissenschaft hat diesbezüglich zwischenzeitlich hoffnungsfrohe Entdeckungen gemacht. Heute weiß man, dass das Gehirn plastisch und lebenslanges Lernen trotz des altersbedingten Abbauprozesses bis zu unserem letzten Atemzug möglich ist. Besonders eindrucksvolle Ergebnisse konnte die sogenannte Nonnenstudie liefern. Diese Studie untersuchte ab Mitte der 1980er-Jahre fast 700 amerikanische Ordensschwestern im Alter zwischen 76 und 100 Jahren über einen Zeitraum von über 15 Jahren. Mehrmals am Tag wurden neurologische Tests durchgeführt und die Nonnen verpflichteten sich, ihr Gehirn nach ihrem Tod der Wissenschaft für Forschungen zur Verfügung zu stellen. Diese Studie ist einzigartig – aufgrund ihrer langen Dauer und aufgrund der untersuchten Menschen. Die Nonnen lebten alle in einem sehr ähnlichen Umfeld und hatten ähnliche Ernährungsgewohnheiten. Sie waren geistig sehr rege und aktiv im Leben verwurzelt. So unterrichteten manche Klosterschwestern bis ins hohe Alter von 100 Jahren. Die Überraschung war groß, als die Forschenden die Gehirne der verstorbenen Schwestern untersuchten. Von der Dichte und Anzahl der Ablagerungen her waren dies eindeutige „Alzheimer-Gehirne“. Und zwar sogar die Gehirne jener Nonnen, die bei den neurologischen Tests mit den höchsten Punkten abschnitten und als geistig besonders rege galten. Der renommierte Hirnforscher Dr. Gerald Hüther zieht aus dieser Studie den Schluss, dass der Abbau der geistigen Fähigkeiten kompensiert werden kann. Es können neue Nervenenden entstehen und neue Verbindungen geschaffen werden, in denen der Informationsaustausch stattfindet, sodass bereits bestehende Brücken untereinander gestärkt werden. Voraussetzung dafür ist, dass ich mein Rundherum verstehe, dass ich mein Leben mitgestalten und dass ich meinem Tun einen Sinn geben kann. Dieses Kohärenzgefühl ermöglicht eine Grundeinstellung, die das Leben als sinnvoll und lebenswert erachtet, auch wenn man manchmal das Gleichgewicht verliert.

Die Nonnenstudie zeigt deutlich: Nicht auf den Abbau der Nervenzellen sollten wir uns konzentrieren, sondern auf den Wiederaufbau. Wenn wir demenziell veränderte Menschen dabei unterstützen, ihr Leben wieder als sinnvoll und lebenswert wahrnehmen zu können, können sich – den hirnorganischen Veränderungen zum Trotz – heilsame Entwicklungen einstellen.

Demenztests: Prüfungsstress im hohen Alter

Wenn sich Vergesslichkeit oder andere Anzeichen einer beginnenden Demenz im Alter zeigen, werden Betroffene manchmal mit einer Prüfungssituation konfrontiert, die oft alles andere als einfühlsam vonstattengeht. Dabei erhoffen sich Angehörige nicht selten, den alten Menschen mittels verabreichter Medikamente besser handeln zu können. Damit die Krankenkasse die Kosten übernimmt, ist eine entsprechende Diagnose zudem eine Voraussetzung. Wer die medizinischen Untersuchungen und neurologischen Tests nicht nach bestimmten Kriterien besteht, wird dann rasch in eine Schublade gesteckt, kategorisiert, klassifiziert und nicht selten als „dement“ abgestempelt – oft auch darauf reduziert und abgewertet. Dabei sind Gedächtnistests im Anfangsstadium einer Demenz nur begrenzt aussagekräftig. Ein sehr beliebter und häufig angewandter neurologischer Test ist der sogenannte Mini-Mental-Status-Test. Dieser Test wird mit den Betroffenen als eine Art Interview durchgeführt. Er besteht aus insgesamt neun verschiedenen Aufgabenstellungen, mit deren Hilfe die zeitliche und räumliche Orientierung, die Merkfähigkeit, sprachliche Fähigkeiten sowie die Fähigkeit zu zeichnen und zu lesen überprüft werden. In einer sehr kurzen Zeit, durchschnittlich elf Minuten, soll der Mensch getestet werden. Das ist Stress pur – und liefert immer wieder falsche Ergebnisse. Ich habe einen Seniorenheimbewohner erlebt, der bei diesem Test von möglichen 30 Punkten immerhin 24 erreicht hatte, der jedoch weder sein Zimmer im Seniorenheim fand noch wusste, wie viele Kinder er hatte. Sein gutes Testergebnis stand wohl auch mit seinem ehemaligen Beruf in Zusammenhang: Er war Lehrer.

Bei Testpersonen, die über ein hohes Allgemeinwissen verfügen, kann dieser Test eine vorhandene Demenz im Anfangsstadium regelrecht verschleiern. Bei niedrigem Bildungsstand kann sich hingegen ein verfälschtes schlechteres Testresultat ergeben. Lese- oder Rechenschwächen können das Ergebnis ebenfalls sehr schlecht ausfallen lassen. So besteht beispielswiese eine Aufgabe des Tests darin, die Zahl sieben von 100 zu subtrahieren und vom Ergebnis abermals sieben abzuziehen. Sie können sich vorstellen, dass Menschen, die viel Erfahrung im Kopfrechnen haben, diese Aufgabe mit Leichtigkeit lösen können. Wie fällt diese Aufgabe aber aus bei Menschen, die gewohnt waren, mit Taschenrechner oder Computer zu arbeiten oder die von Kindesbeinen an ein schlechtes Zahlenverständnis hatten?

Zu diesem Test, der oft über vieles entscheidet, möchte ich Ihnen zwei Fallgeschichten erzählen.

Die Urli-Oma wird getestet

Im Rahmen meines Unterrichts erzählte die Teilnehmerin Rosina, wie sie ihre 98-jährige Urgroßmutter zu einer Neurologin in ein Krankenhaus begleitete. Diese neurologischen Gutachten sind notwendig, um die Pflegestufe festzulegen. Damit sind höhere finanzielle Zuschüsse und eben auch die Verordnung eines dieser sogenannten Antidementiva gewährleistet. Bleistift und Papier spielen dabei eine entscheidende Rolle. Schon auf dem Weg ins Krankenhaus zeigte sich die alte Frau, die ihr ganzes Leben auf einem Bauernhof gearbeitet hatte, sechs Kinder gebar und nach acht Jahren Volksschule ihr Brot als Magd verdienen musste, verzagt und ängstlich. „Werde ich jetzt getestet, ob ich deppert bin?“, war die Frage an ihre Urenkelin. Stress pur, dem diese alte Frau, die mehr über das karge Leben in den Kriegsjahren erzählen konnte, als es in einem Geschichtsbuch zu finden ist, ausgeliefert war. Auf einem Blatt Papier sollten zwei sich überschneidende Fünfecke nachgezeichnet werden, die Merkfähigkeit wurde überprüft, Wochentage und Jahreszeiten wurden abgefragt, ein Satz mit Prädikat und Subjekt sollte gebildet und die Frage „Wo sind Sie jetzt?“ beantwortet werden. Wahrscheinlich hatte die alte Frau die ganze Nacht vor Aufregung schlecht geschlafen, sich auf dem Weg ins Krankenhaus an ihre Urenkelin geklammert und sich dann diesen Fragen stellen müssen. Name des Krankenhauses und Stockwerk? Hilfesuchend drehte sich diese alte Bäuerin zu Rosina und fragte sie verzweifelt: „Wo sind wir eigentlich?“ Da sie keine Antwort bekam, drehte sie sich wieder zur Ärztin, blickte ihr siegessicher ins Gesicht und sagte: „Ja, bei Ihnen, Frau Doktor.“ Punkte bekam diese alte weise Frau keine für ihre Antwort. Stattdessen den Stempel „dement“.

Demenztests sind oft Momentaufnahmen und daher mit Vorsicht zu betrachten.

Jeder Test ist eine Prüfungssituation und je älter wir werden, desto unflexibler wird unsere Denkweise, desto aufgeregter reagieren wir auf solche Überprüfungen. Die Aussagekraft solcher Momentaufnahmen ist – besonders im Anfangsstadium – also mit Vorsicht zu genießen.

Ein zweites Erlebnis zeigt, wie vorsichtig und achtsam mit diesem Test umgegangen werden sollte. Eine ehemalige Schülerin rief mich aufgeregt an und beschrieb mir eine ungefähr 80-jährige Bewohnerin, die neu im Seniorenheim war und in ihrem Bericht aufgrund dieses Mini-Mental-Status-Tests die Diagnose fortgeschrittene Demenz Typ Alzheimer bekam. Punktzahl: elf von 30. Diese engagierte Mitarbeiterin hegte Zweifel an dem Testergebnis, da die Bewohnerin selbstständig ihren Tagesablauf meisterte und Anordnungen problemlos erledigen konnte. Ich riet der Pflegefachkraft, dass sie noch einmal mit dem zuständigen Heimarzt dieses Testverfahren durchführen sollte. Aufgeregt rief sie mich an: jetzt nur mehr neun Punkte! Zwei Punkte weniger als beim vorigen Test. Dieser Wert war für die von der Pflegerin geschilderte alte Dame sehr unwahrscheinlich. Da kam mir die Frage in den Sinn, ob die Dame denn alles richtig verstehen konnte und wie es denn um ihr Hörvermögen stand. Damit lag ich goldrichtig. Mittlerweile trägt die Bewohnerin einen Hörapparat und der Test wurde nicht noch einmal wiederholt, da sie außer ihrer Hörschwäche keinerlei weitere Defizite aufwies.

Jeder Test ist eine Prüfungssituation und bedeutet für alte Menschen oft Stress.

Einschränkungen des Seh- und Hörsinns können bei solchen Tests naturgemäß drastisch verfälschte Ergebnisse liefern. Auch Schmerzen, Scham und eine reizarme Umgebung wie etwa jene bei einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt können Faktoren sein, die zu einer geringeren Punktzahl führen. Betrachten Sie also die Testergebnisse stets kritisch und gehen Sie einfühlsam und empathisch mit der Person um, die getestet werden soll.

SIGNIFIKANTE VERÄNDERUNGSMERKMALE

Wenn Sie die Befürchtung hegen, dass Ihre Angehörige oder Ihr Angehöriger sich demenziell verändert, empfehle ich Ihnen, eine Art Tagebuch zu schreiben. Halten Sie Ihre Beobachtungen fest, wenn Ihnen Wortfindungsstörungen auffallen, die Person Termine vergisst oder Gegenstände verlegt. Doch nicht jede Veränderung bedeutet sofort Demenz. Es kann auch ein Infekt vorliegen, typisch ist beispielsweise ein Harnwegsinfekt. Auch Vitaminmangel, Flüssigkeitsmangel oder eine Erkrankung der Schilddrüse können Ursachen dafür sein, dass sich das Verhalten Ihres Familienmitglieds verändert. Darüber hinaus können emotionale Ursachen eine Wesensveränderung hervorrufen: der Tod eines lieben Freundes, der Verlust des Haustieres. Eine Erkrankung, die eine ähnliche Symptomatik wie eine Demenz aufweisen kann, ist beispielsweise die Depression. Erst nach einem halben Jahr der Beobachtung lassen sich die beiden Krankheitsbilder neurologisch wirklich gut differenzieren – so die Fachliteratur. Ein wichtiger Unterschied ist beispielsweise, dass Menschen mit Demenz ihre Defizite oft bagatellisieren, während depressive Menschen ihre Verluste eher dramatisieren und überschätzen. Beobachten Sie also, schreiben Sie Ihre Eindrücke nieder und lassen Sie sich beraten und unterstützen. Der folgende Abschnitt soll Ihnen dabei helfen, typische Demenzsymptome zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren.

1. Einschränkung des Geruchssinnes

Bei Parkinson und bei der Alzheimer-Erkrankung wird der Geruchssinn als erster Sinn in Mitleidenschaft gezogen. In den USA hat diese Erkenntnis bei der Demenz-Diagnostik bereits in die Untersuchungsverfahren Eingang gefunden. Da der menschliche Geschmackssinn zu 80 Prozent auf dem Geruchssinn beruht, können auch Einschränkungen des Geschmackssinns auf eine Demenz-Erkrankung hinweisen.

2. Keine zwei Dinge gleichzeitig tun können

Wenn ein Mensch über längere Zeit zwei Dinge nicht mehr auf einmal erledigen kann, kann das ein Anzeichen für eine Alzheimer-Demenz sein. In der Praxis lässt sich dieses Phänomen beispielsweise beim Spazierengehen beobachten. Bleibt Ihr Angehöriger permanent stehen, um eine Frage zu beantworten, kann dies Zeichen einer kognitiven Veränderung sein.

IN DER PRAXIS

____ Diese Tatsache können Sie sich bei der Körperpflege von Menschen mit Demenz zunutze machen. Wenn pflegebedürftige Menschen aufgebracht sind oder die Körperpflege verweigern, geben Sie ihnen den Auftrag, währenddessen einen Gegenstand festzuhalten.

Da der Mensch mit Demenz sich nicht gleichzeitig auf das Halten des Gegenstandes und den Widerstand konzentrieren kann, wird er in der Regel mit dem Festhalten des Gegenstandes beschäftigt sein und die Körperpflege ohne größeren Widerstand geschehen lassen.

3. Ständiges Wiederholen derselben Fragen und Geschichten

Wenn alte Menschen Fragen und Geschichten wiederholen, ist oft das Kurzzeitgedächtnis in Mitleidenschaft gezogen. Die betroffene Person kann sich nicht mehr erinnern, dass sie dieselbe Frage erst vor Kurzem gestellt oder dieselbe Geschichte bereits erzählt hat. Alles, was länger als eine Minute vergangen ist, speichert das Gedächtnis nicht mehr ab. Angehörige können an ihre Grenzen gelangen, wenn sie immer wieder dieselbe Frage oder dieselbe Story aus der Vergangenheit hören, die sie schon beinahe auswendig kennen. Eines gleich vorweg: Es nützt nichts, wenn Sie dem Menschen sagen, dass Sie diese Erzählung gefühlte tausendmal gehört haben. Der Erzählende weiß es nicht mehr und die Zurechtweisung kränkt und verunsichert ihn. Auch mir ist es so ergangen. Eine Heimbewohnerin ängstigte sich jedes Mal, wenn draußen ein Sommergewitter mit Donner und Blitz niederging. Immer wieder sagte sie dasselbe: „Bei uns hat der Blitz ins Haus eingeschlagen, alles ist niedergebrannt, nichts haben wir mehr gehabt!“ Immer dieselbe Erzählung der Bewohnerin, immer dieselbe Antwort von uns Pflegerinnen: „Um Gottes willen, wie furchtbar!“ Bis ich in einem Buch auf die Theorie der „Penetranz-Geschichten“ stieß. Die Theorie besagt, dass hinter jeder Geschichte, die immer wieder zum Besten gegeben wird, eine Botschaft steckt. Also fragte ich beim nächsten Gewitter und der nächsten Erzählung der bereits so oft gehörten Geschichte: „Und was haben Sie getan?“ Da schaute mich die alte Frau erstaunt an und flüsterte: „Ich? Ich habe mich vor lauter Angst unter dem Kittel meiner Mutter versteckt.“ Im weiteren Gespräch ging ich mehr und mehr auf ihre Mutter ein. Wie war sie? Was war das Schönste mit ihr? Die Botschaft, die aus ihrer immer wiederkehrenden Geschichte langsam hervorkam, nachdem ich mich auf sie einließ, war die Sehnsucht nach ihrer Mutter. Wichtig dabei ist, keine zu kognitiven Fragen zu stellen, also etwa nach dem Alter, in dem die Mutter gestorben ist, oder nach ihrem Namen. Begeben Sie sich stattdessen auf eine emotionale Ebene und lassen Sie sich gemeinsam mit Ihrem Gegenüber in diese Gefühlshöhen schaukeln.

IN DER PRAXIS

____ Wiederholen Sie die Kernaussage und wenden Sie die Validationstechnik der offenen Frage an: Wie war das? Wo war das? Vermeiden Sie jedoch Fragen mit „warum“, „wieso“, „weshalb“.Diese Fragestellung erfordert eine Erklärung und eine Rechtfertigung. Für beides benötigt der veränderte Mensch kognitive Fähigkeiten, die er oft nicht mehr hat.

Hinter einer sogenannten „Penetranz-Geschichte“ kann also eine Botschaft stecken. Ich möchte Sie ermutigen, hinter diese Kulissen zu schauen. Dieser Perspektivenwechsel kann Ihnen bereits Stress nehmen. Menschen, die immer wieder von der Kriegszeit, der Nachkriegszeit oder anderen traumatischen Lebensphasen erzählen, haben meist schwierige Gefühle tief in sich vergraben. Wir können helfen, Lebensräume zu betreten, in denen noch eine Seelengeschichte wartet, indem wir offene Fragen stellen: „Wie war das für dich?“ oder: „Wer war da für dich?“. Dadurch spüren die Menschen Interesse und können sich öffnen, wenn sie dies wollen. Wenn Betroffene von Krieg, schlimmem Hunger oder dramatischen Leiderfahrungen wie Vergewaltigungen erzählen, glauben wir oft, diese Menschen beruhigen zu müssen. Das ist gut gemeint, hilft aber den Betroffenen nicht. Denn es eröffnet keinen Raum, unterdrückte und weggeschobene Gefühle zu verarbeiten.

Gelingt dieser Perspektivenwechsel im privaten oder im beruflichen Umgang mit demenziell veränderten Menschen, bauen sich Anspannung und Stress ab – bei allen Beteiligten: beim alten Menschen, der um seine Würde kämpft, beim Angehörigen, der immer mehr spürt, dass die vertraute Person verschwindet, und auch beim professionellen Personal im Pflegebereich, das ja meist mehrere Menschen mit verändertem Verhalten zu betreuen hat. Hören wir auf zu kämpfen und uns gegenseitig und die Krankheit zu bekriegen. Es ist schade um diese Energie, die verpufft. Bündeln wir lieber diese Kräfte, um gemeinsam und miteinander diesen Lebensweg mit Würde zu gehen.

4. Gewohnte Abläufe können nicht mehr bewältigt werden