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Krieg und Frieden in Kiew: Michail Bulgakows erster, autobiografisch gefärbter Roman.
Dezember 1918: In Russland herrscht Bürgerkrieg. Die Truppen des kaiserlichen Deutschland haben weite Teile der Ukraine besetzt. Kiew wird zum Sammelbecken für die „Weißen“: Bankiers, Adlige, Halbweltdamen auf der Flucht vor der „roten Gefahr“.
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Seitenzahl: 516
Titel der russischen Originalausgabe:
Belaja gvardijaErschienen im Verlag »Chudožestvennaja literatura«, Moskau 1989Die Urfassung der Kapitel 19 bis 21 stellte Igor FëdorovičVladimirov freundlicherweise zur Verfügung.Übersetzung: Thomas Reschke
Ljubow Jewgenjewna Beloserskajagewidmet
Es fing an zu schneien, erst ganz fein, dann plötzlich in mächtigen Flocken. Der Wind heulte; nun war der Schneesturm da. In einem Augenblick floß der dunkle Himmel mit dem Schneemeere in eins zusammen. Alles verschwand.
»Nun, Herr!« schrie der Kutscher. »Welch ein Unglück: der Schneesturm …«
»Die Hauptmannstochter«
Groß war es und fürchterlich, das eintausendneunhundertundachtzehnte Jahr nach Christi Geburt, das zweite aber nach Beginn der Revolution. Reich war es im Sommer an Sonnenschein und im Winter an Schnee, und besonders hoch standen am Himmel zwei Sterne: der abendliche Hirtenstern Venus und der rote, flimmernde Mars.
Aber die Tage fliegen in friedlichen wie in blutigen Jahren pfeilgeschwind dahin, und die jungen Turbins bemerkten gar nicht, wie in klirrendem Frost der weißzottige Dezember angebrochen war. Oh, du unser Väterchen Frost, strahlend in Schnee und Glück! Oh, Mutter, lichte Königin, wo weilst du?
Ein Jahr nachdem die Tochter Jelena dem Hauptmann Sergej Iwanowitsch Talberg angetraut worden war und in der Woche, als der älteste Sohn, Alexej Wassiljewitsch Turbin, aus zermürbenden Feldzügen, aus Kriegsdienst und Elend zurückkehrte in die Ukraine, in die STADT, ins häusliche Nest, wurde der weiße Sarg mit dem Leichnam der Mutter den steilen Alexejewski-Hang hinuntergetragen nach Podol, ins Kirchlein des Guten Nikolai, das im Wswos stand.
Als für die Mutter die Totenmesse gelesen wurde, war es Mai, Kirschbäume und Akazien klebten die Spitzbogenfenster zu. Vater Alexander, vor Trauer und Verlegenheit stolpernd, blinkte und funkelte unter den goldhellen Lichtern, und der lilagesichtige Diakon, bis zu den Spitzen der knarrenden Stiefel in Gold gefaßt, rollte finster die kirchlichen Abschiedsworte für die Mutter, die ihre Kinder verließ.
Alexej, Jelena, Talberg, die im Hause der Frau Turbin aufgewachsene Anjuta und auch der vom Tod betäubte Nikolka mit seinem auf die rechte Braue herabhängenden Wirbelhaar standen zu Füßen des altersbraunen Sankt Nikolai. Nikolkas dicht an der langen Schnabelnase sitzende blaue Augen blickten verwirrt und todtraurig. Von Zeit zu Zeit hob er sie zum Ikonostas oder zu dem im Halbdunkel vergehenden Altarbogen, wo der traurige, geheimnisvolle alte Gott sich aufschwang und zwinkerte. Wofür dieses Leid? Ist das nicht ungerecht? Warum wird uns die Mutter genommen, als gerade alle zusammengekommen sind und Erleichterung eingetreten ist?
Der zum geborstenen schwarzen Himmel aufstrebende Gott gab keine Antwort, und Nikolka selbst wußte noch nicht, daß alles, was geschieht, richtig ist und sich stets zum Guten wendet.
Die Totenmesse war beendet, alle traten hinaus auf die hallenden Platten des Vorplatzes und geleiteten die Mutter durch die ganze riesige STADT zum Friedhof, wo unter einem schwarzen Marmorkreuz schon lange der Vater lag. Auch die Mutter wurde begraben. Ach … Ach … Viele Jahre vor diesem Tod wärmte und hegte der Kachelofen im Eßzimmer des Hauses Nummer dreizehn auf dem Alexejewski-Hang die kleine Jelena, den Ältesten Alexej und den winzigen Nikolka. Wie oft wurde an der glutatmenden Kachelwand »Zar und Zimmermann« gelesen, die Uhr spielte eine Gavotte, und Ende Dezember roch es stets nach Tannengrün, auf dessen Zweigen verschiedenfarbiges Paraffin brannte. Gleich nach der bronzenen Spieluhr, die in Mutters – jetzt Jelenas – Schlafzimmer stand, ließ im Eßzimmer die schwarze Wanduhr ihren Turmuhrschlag ertönen. Der Vater hatte sie vor langer Zeit gekauft, als die Frauen noch die komischen Puffärmel trugen. Solche Ärmel trug man jetzt nicht mehr, die Zeit war wie ein Funke verstoben, der Vater, ein Professor, gestorben, die Kinder waren herangewachsen, aber die Uhr war die gleiche geblieben und schlug ihren Turmuhrschlag. Alle hatten sich so an sie gewöhnt, daß, verschwände sie durch ein Wunder von der Wand, es traurig wäre, als sei eine vertraute Stimme gestorben, und den leeren Platz hätte nichts ausfüllen können. Die Uhr war aber zum Glück unsterblich wie Zar und Zimmermann und die holländischen Kacheln, heiß und lebenspendend auch in schwerster Zeit wie ein weiser Fels.
Diese Kacheln, die alten roten Plüschmöbel, die Betten mit den glänzenden Kugeln, die verwetzten rosabunten Wandteppiche, darauf Alexej Michailowitsch, der einen Falken auf dem Arm trägt, und Ludwig XIV., der sich am Ufer eines seidenen Sees im Paradiesgarten aalt, türkische Teppiche mit dem wundersamen Geranke auf orientalischem Feld, das dem kleinen Nikolka im Scharlachfieber vor den Augen flimmerte, die bronzene Lampe mit dem Schirm, die besten Schränke der Welt mit den Büchern, die nach alter, geheimnisvoller Schokolade rochen, mit Natascha Rostowa und der Hauptmannstochter, die vergoldeten Tassen, das Silber, die Porträts und Portieren – die sieben verstaubten und vollgepfropften Zimmer, in denen die jungen Turbins aufgewachsen waren, das alles überließ die Mutter in schwerster Zeit den Kindern; schon schwächer werdend und nach Atem ringend, klammerte sie sich an die Hand der weinenden Jelena und sagte:
»Lebt in Eintracht …«
Aber wie? Wie sollte man leben?
Alexej Wassiljewitsch, der Älteste, ein junger Arzt, war achtundzwanzig Jahre alt, Jelena vierundzwanzig, ihr Mann, Hauptmann Talberg, einunddreißig und Nikolka siebzehneinhalb. Ihr Leben wurde just zu Beginn seiner Blüte entwurzelt. Der Sturm hatte schon lange von Norden her geweht, und er wütete je länger, desto schlimmer. Der älteste Turbin war nach dem ersten Schlag, der die Berge am Dnepr erschüttert hatte, in die Heimatstadt zurückgekehrt. Nun würde, so hoffte man, alles sich beruhigen und das in den Schokoladebüchern geschilderte Leben anfangen, doch im Gegenteil, es wurde immer schrecklicher. Im Norden tobte der Sturm, und hier unter den Füßen grollte und brodelte der aufgewühlte Schoß der Erde.
Das achtzehnte Jahr eilte seinem Ende zu und wurde von Tag zu Tag schrecklicher und widerhaariger.
Die Wände werden einstürzen, der Falke wird erschrocken vom weißen Handschuh auffliegen, das Licht in der Bronzelampe wird erlöschen und die Hauptmannstochter im Ofen verbrennen.
»Lebt in Eintracht«, hatte die Mutter den Kindern gesagt.
Sie aber würden sich quälen und sterben.
Einmal gegen Abend, kurz nach der Beerdigung der Mutter, kam Alexej Turbin zu Vater Alexander und sagte:
»Ja, Trauer haben wir, Vater Alexander. Es ist schwer, die Mutter zu vergessen, noch dazu in so schrecklicher Zeit. Zumal ich gerade erst zurückgekehrt bin. Ich dachte, wir würden unser Leben in Ordnung bringen, und nun …«
Er verstummte, und so, in der Dämmerung am Tisch sitzend, blickte er nachdenklich in die Ferne. Die Zweige des Kirchgartens hatten das Häuschen des Geistlichen ganz verdeckt. Es war, als begänne gleich hinter der Wand dieser engen, mit Büchern vollgestopften Studierstube ein geheimnisvoll wirrer Frühlingswald. Das dumpfe Brausen der abendlichen Stadt drang herbei, es duftete nach Flieder.
»Was soll man tun, was soll man tun?« murmelte der Geistliche verlegen. (Er war immer verlegen, wenn er mit Menschen sprechen mußte.) »Alles liegt in Gottes Hand.«
»Vielleicht geht all das eines Tages doch zu Ende, und es kommen bessere Zeiten?« fragte Turbin vor sich hin.
Der Geistliche regte sich im Sessel.
»Die Zeiten sind zweifellos schwer, sehr schwer«, murmelte er. »Aber man darf nicht den Mut verlieren.«
Dann schob er plötzlich die weiße Hand aus dem schwarzen Ärmel seines Priesterrocks, legte sie auf einen Stoß Bücher und öffnete das oberste, da, wo das buntbestickte Lesezeichen lag.
»Man darf nicht verzagen«, sagte er verlegen, aber irgendwie sehr überzeugend. »Verzagtheit ist eine große Sünde. Obwohl mir scheint, uns stehen große Prüfungen bevor. Ja, ja, große Prüfungen.« Er sprach immer sicherer. »In letzter Zeit, wissen Sie, sitze ich viel über den Büchern, natürlich aus meinem Fachgebiet, meist über Gottes Wort.«
Er hob das Buch so, daß das letzte Licht vom Fenster auf die Seite fiel, und las:
Es war also ein weißzottiger Dezember. Rasch näherte er sich seiner Mitte. Schon war der Abglanz von Weihnachten auf den verschneiten Straßen zu spüren. Das achtzehnte Jahr würde bald zu Ende sein.
Oberhalb des zweigeschossigen Hauses Nummer dreizehn, das eine ganz seltsame Bauart hatte (die Turbinsche Wohnung lag zur Straße im ersten Stock und zu dem kleinen, zum Haus her abfallenden gemütlichen Hof im Erdgeschoß), in dem Garten, der an einem steilen Berg klebte, hingen die Zweige, vom Schnee gebeugt. Der Berg war verschneit, und die Schuppen im Hof hatten sich in einen riesengroßen Zuckerhut verwandelt. Das Haus hatte eine Generalsmütze aufgesetzt, in der unteren Etage (zur Straße hin Erdgeschoß, zum Hof aber, unter Turbins Veranda, Kellergeschoß) glomm das gelbliche Licht beim Ingenieur, Feigling, Bourgeois und Scheusal Wassili Iwanowitsch Lissowitsch auf, und in der oberen Etage leuchteten hell und lustig die Fenster der Turbins.
In der Dämmerung gingen Alexej und Nikolka in den Schuppen nach Holz.
»Oh, verdammt wenig Holz. Sieh mal, sie haben wieder gestohlen.«
Aus Nikolkas Taschenlampe sprang ein bläulicher Lichtkonus, in dem man sah, daß die Bretterwand von außen abgerissen und flüchtig wieder angenagelt worden war.
»Weiß Gott, ich würde die Halunken gerne abschießen. Setzen wir uns doch heute nacht hier auf Wache! Ich weiß, das sind die Schuhmacher aus Nummer elf. Diese Schurken! Dabei haben sie mehr Holz als wir.«
»Laß sie. Komm, faß an.«
Das rostige Schloß quietschte, Schnee fiel vom Dach auf die Brüder, sie trugen das Holz in die Wohnung. Um neun konnte man die Kacheln schon nicht mehr anfassen.
Der herrliche Ofen hatte auf seinen blendendweißen Kacheln folgende historische Inschriften und Zeichnungen, draufgetuscht zu verschiedenen Zeiten des Jahres achtzehn von Nikolka und erfüllt von tiefem Sinn und Bedeutung:
Wenn man dir sagt, die Verbündeten würden uns zu Hilfe eilen, glaube es nicht. Die Verbündeten sind Schurken.
Er sympathisiert mit den Bolschewiken.
Eine Zeichnung: Die Fratze von Momus.
Unterschrift:
»Der Ulan Leonid Jurjewitsch.«
Schreckliches Gerücht im Lande:Zieht heran die rote Bande!
Eine farbige Zeichnung: Ein schnauzbärtiger Kopf mit einer Papacha, von deren Spitze ein langer blauer Schwanz hängt.
Unterschrift:
»Nieder mit Petljura!«
Jelena und die alten zärtlichen Jugendfreunde der Turbins, Myschlajewski, Karausche und Scherwinski, hatten mit Farben, Tusche, Tinte und Kirschsaft geschrieben:
Jelena liebt uns alle sehr,den einen noch, den andern nicht mehr.
Jelena, ich habe Karten für »Aida«1. Rang, Loge 8, rechts.
Am 12. Mai 1918 habe ich mich verliebt.
Sie sind dick und häßlich.
Jetzt bleibt mir nur eines – Selbstmord.
(Darunter war, gut getroffen, ein Browning gezeichnet.)
Es lebe Rußland!Es lebe die Monarchie!
Juni. Barkarole.
Und nicht umsonst gedenkt ganz Rußlanddes Heldentags von Borodino.
Mit Druckbuchstaben hatte Nikolka darunter geschrieben:
Ich befehle nachdrücklich, kein unnützes Zeug auf den Ofen zu kliern. Bei Zuwiderhandlung droht jedem Genossen Erschießung nebst Entzug der bürgerlichen Rechte. Der Kommissar des Stadtbezirks Podol. Damen-, Herren- und Frauenschneider Abram Prushiner
30. Januar 1918
Die bemalten Kacheln verstrahlten Hitze, die schwarze Uhr ging wie vor dreißig Jahren: ticktack. Der ältere Turbin – blond, glattrasiert, seitdem 25. Oktober 1917 finster und gealtert – lag in einem Uniformrock mit riesigen Taschen, in blauer Reithose und neuen weichen Schuhen im Sessel – seine Lieblingsstellung. Zu seinen Füßen saß auf einer Fußbank Nikolka mit seinem Haarwirbel, die Beine fast bis zum Büfett ausgestreckt – das Eßzimmer war klein. An den Füßen hatte er Schnallenstiefel. Seine Freundin, die Gitarre, sang zärtlich und dumpf: »Trrrum.« So unbestimmt – »trrrum«, denn, sehen Sie, vorläufig wußte man nichts Bestimmtes. Unruhig, nebelhaft, schlimm war es in der STADT.
Auf den Schultern hatte Nikolka Unteroffiziersklappen mit weißer Litze und auf dem linken Ärmel einen dreifarbigen Winkel. (Erstes Infanteriebataillon, dritte Kompanie. Es wird in Anbetracht der herannahenden Ereignisse schon den vierten Tag neu aufgestellt.)
Aber ungeachtet aller Ereignisse ist es im Eßzimmer eigentlich sehr schön. Warm, gemütlich, die cremefarbenen Vorhänge zugezogen. Die Ofenhitze macht die Brüder träge.
Der Ältere legt das Buch zur Seite und reckt sich.
»Spiel doch mal die ›Aufnahme‹.«
Trum-ta-tam-ta … Trum-ta-tam-ta …
»Schicke Stiefel,flotte Mützen,Junkeringenieure marschieren!«
Der Ältere fällt ein. Seine Augen sind finster, aber in ihnen flammt ein Fünkchen auf, das Blut pulsiert schneller. Doch leiser, meine Herren, leiser, leiser.
»Seid gegrüßt, ihr Sommerfrischler,seid gegrüßt, ihr schönen Fraun …«
Die Gitarre spielt einen Marsch, im Takt der Saiten marschiert die Ingenieurkompanie – eins, zwei! Vor Nikolkas Augen tauchen Erinnerungen auf:
Die Infanterieschule. Die abgebröckelten Alexandersäulen, die Geschütze … Junker kriechen auf dem Bauch von Fenster zu Fenster und erwidern das Feuer. In den Fenstern stehen Maschinengewehre.
Eine Wolke von Soldaten belagert die Schule, eine wahre Wolke. Was tun? General Bogorodizki, eingeschüchtert, ergibt sich, ergibt sich zusammen mit den Junkern. Diese Schande …
»Seid gegrüßt, ihr Sommerfrischler,seid gegrüßt, ihr schönen Fraun,längst begann die Geländevermessung.«
Auf Nikolkas Augen legt sich ein Schleier.
Hitzewellen über den rotgoldenen ukrainischen Feldern. In einer Staubwolke marschieren die staubgepuderten Junkerkompanien. Das alles war einmal, war wirklich, und nun ist es aus. Eine Schande. Ein Blödsinn.
Jelena zog die Portiere auseinander, und in der dunklen Öffnung zeigte sich ihr rötlichblonder Kopf. Den Brüdern schickte sie einen sanften Blick, der Uhr aber einen beunruhigten, sehr beunruhigten. Das war verständlich. In der Tat, wo blieb Talberg? Die Schwester war aufgeregt.
Um ihre Aufregung nicht zu zeigen, wollte sie mitsingen, hielt aber plötzlich inne und hob den Finger.
»Wartet mal. Hört ihr?«
Die Kompanie blieb plötzlich auf allen sieben Saiten stehen: Haalt! Alle drei horchten – ja, Kanonendonner. Schwer, fern und dumpf. Da, noch einmal: Bum … Nikolka legte die Gitarre beiseite und stand rasch auf, ächzend erhob sich auch Alexej.
Im Wohnzimmer war es stockdunkel. Nikolka stieß gegen einen Stuhl. Vor den Fenstern die Oper »Die Nacht vor Weihnachten« – Schnee und Lichter. Flimmernd und blinkend. Nikolka drückte sich ans Fenster. Aus seinen Augen schwanden die Hitze und die Schule, die Augen forschten höchst gespannt: Wo? Er zuckte die Unteroffiziersschultern.
»Weiß der Teufel. Scheint, als ob bei Swjatoschino geschossen wird. Merkwürdig, so nah kann’s doch nicht sein.«
Alexej stand im Finstern, Jelena näher zum Fenster, und es war zu sehen, daß ihre Augen vor Angst dunkel waren. Warum ist Talberg noch nicht da? Der Ältere spürte ihre Erregung und sagte daher kein Wort, obwohl er gerne etwas gesagt hätte. In Swjatoschino also. Kein Zweifel. Geschossen wird zwölf Kilometer vor der STADT, nicht weiter. Was bedeutet das?
Mit einer Hand faßte Nikolka den Fensterriegel, mit der anderen drückte er die Nase gegen die Scheibe, als wolle er sie zerdrücken und hinauskriechen.
»Ich möcht gerne hin, erfahren, was los ist.«
»Ja, du hast dort gerade noch gefehlt.«
Jelenas Stimme klang beunruhigt. So ein Unglück. Ihr Mann sollte spätestens – hören Sie: spätestens heute nachmittag um drei zurückkehren, und jetzt war es schon zehn.
Schweigend kehrten sie ins Eßzimmer zurück. Die Gitarre schwieg finster. Nikolka brachte aus der Küche den Samowar, der drohend zischte und spuckte. Auf dem Tisch standen Tassen, außen mit zarten Blumen verziert und innen vergoldet, besondere Tassen, kunstvollen Säulen gleich. Als die Mutter Anna Wladimirowna noch lebte, war dies das Sonntagsservice der Familie gewesen, jetzt benutzten die Kinder es jeden Tag. Das Tischtuch war trotz der Kanonen, der zermürbenden Unruhe und allen Unsinns schneeweiß gestärkt. Dafür sorgte Jelena, die nicht anders konnte, dafür sorgte die im Hause Turbin aufgewachsene Anjuta. Der Fußboden glänzte, und jetzt, im Dezember, standen auf dem Tisch in einer hohen Milchglasvase hellblaue Hortensien und zwei traurige, glühende Rosen, die die Schönheit und Festigkeit des Lebens bestätigten, obwohl auf den Zugangswegen zur STADT ein heimtückischer Feind lauerte, der wohl imstande war, die herrlich verschneite STADT zu zerschlagen und die Reste der Ruhe mit den Stiefeln zu zertreten. Blumen. Diese Blumen waren ein Geschenk von Jelenas treuem Verehrer, dem Gardeleutnant Leonid Jurjewitsch Scherwinski, einem Freund der Verkäuferin im berühmten Süßwarengeschäft »Marquise« und der Verkäuferin im gemütlichen Blumenladen »Flora aus Nizza«. Im Schatten der Hortensien standen ein blaugemustertes Tellerchen mit ein paar Scheiben Wurst, Butter in einer Glasdose und ein Brotkorb mit einer Brotsäge und einem länglichen Weißbrot. Wie gemütlich hätte man Tee trinken und essen können, wären nicht diese betrüblichen Umstände gewesen. Ach … Ach … Auf der Teekanne ritt ein aus bunter Wolle gehäkelter Hahn, und der blanke Samowar spiegelte verzerrt die drei Gesichter der Turbins; Nikolkas Wangen sahen wie die von Momus aus. In Jelenas Augen stand Trauer, und ihre rötlich behauchten Strähnen hingen mutlos.
Talberg war irgendwo mit dem Geldzug des Hetmans steckengeblieben und hatte den Abend verdorben. Weiß der Teufel, vielleicht war ihm etwas zugestoßen? Die Brüder kauten mißmutig ihre Brote. Vor Jelena erkaltete die Tasse Tee, daneben lag das Buch »Der Herr aus San Franzisko«. Ihre verschleierten Augen sahen blicklos auf die Worte:
Dunkelheit, Ozean, Sturm.
Jelena las nicht.
Schließlich hielt es Nikolka nicht mehr aus:
»Ich möchte doch wissen, warum so nah geschossen wird. Es kann schließlich nicht sein …«
Er unterbrach sich selbst, und sein Spiegelbild im Samowar verzerrte sich von der Bewegung.
Pause.
Der Zeiger kroch über die zehnte Minute und strebte – ticktack – gegen Viertel elf.
»Es wird geschossen, weil die Deutschen Schurken sind«, knurrte plötzlich der Ältere.
Jelena hob den Kopf zur Uhr und fragte:
»Wollen die uns etwa unserm Schicksal überlassen?« Ihre Stimme klang traurig.
Die Brüder wandten ihr wie auf Kommando die Köpfe zu und begannen zu lügen.
»Keiner weiß was«, sagte Nikolka und biß ein Stück Brot ab. »Ich hab das … hm … als Vermutung gesagt. Das sind Gerüchte.«
»Nein, das sind keine Gerüchte«, antwortete Jelena trotzig, »das ist die Wahrheit; heute hab ich die Stscheglowa getroffen, die hat mir erzählt, daß zwei deutsche Regimenter aus der Gegend von Borodjanka abgezogen wurden.«
»Unsinn.«
»Überlege selbst«, sagte der Ältere, »ist es denkbar, daß die Deutschen diesen Halunken auch nur in die Nähe der Stadt lassen? Na? Mir ist unbegreiflich, wie sie mit dem auch nur eine Minute auskommen können. Ein völliges Absurdum. Die Deutschen und Petljura. Sie nennen ihn selbst nicht anders als Bandit. Lächerlich.«
»Ach, was erzählst du da! Ich kenne jetzt die Deutschen. Ich habe selber schon einige mit roten Schleifen gesehen. Und einen betrunkenen Unteroffizier mit einem Weib. Das Weib war auch betrunken.«
»Was hat das zu sagen? Fälle von Zersetzung können auch in der deutschen Armee vorkommen.«
»Ihr meint also, Petljura wird die Stadt nicht einnehmen?«
»Hm … Ich halte das für ausgeschlossen.«
»Apsolman. Gieß mir bitte noch ein Täßchen Tee ein. Reg dich nicht auf. Bewahre, wie es heißt, die Ruhe.«
»O Gott, wo bleibt nur Sergej? Ich bin überzeugt, der Zug ist überfallen worden und …«
»Was ›und‹? Warum machst du dir unnötige Sorgen? Die Eisenbahnstrecke ist doch frei.«
»Warum ist er dann noch nicht zurück?«
»Oh, mein Gott! Du weißt doch selbst, was jetzt Fahren heißt. Bestimmt haben sie auf jeder Station vier Stunden gestanden!«
»Eine revolutionäre Fahrt. Eine Stunde fahren, zwei Stunden stehen.«
Jelena seufzte tief, sah zur Uhr, schwieg eine Weile und begann dann wieder:
»O Gott, o Gott! Wenn die Deutschen nur nicht diese Niedertracht begehen, dann ist alles in Ordnung. Zwei ihrer Regimenter reichen aus, um euren Petljura zu zerquetschen wie eine Fliege. Nein, ich sehe, die Deutschen treiben ein gemeines Doppelspiel. Und wo bleiben die gepriesenen Verbündeten? Diese Schurken! Nur Versprechungen, Versprechungen …«
Der Samowar, der bislang still gewesen war, begann plötzlich zu summen, und mit Asche bedeckte Glut fiel aufs Tablett. Die Brüder blickten unwillkürlich zum Ofen. Dort stand die Antwort. Bitte schön:
Die Verbündeten sind Schurken.
Der Zeiger verharrte auf Viertel, die Uhr knarrte solide und schlug einmal. Sogleich antwortete ihr eine schrille Klingel in der Diele.
»Gott sei Dank, da kommt Sergej«, sagte der Ältere erfreut.
»Das ist Talberg«, bestätigte Nikolka und lief, um aufzumachen. Jelena erhob sich, ihr Gesicht rötete sich leicht.
Aber es war nicht Talberg. Drei Türen knallten, und im Treppenflur ertönte Nikolkas erstaunte Stimme. Dann eine Antwortstimme. Den Stimmen folgte das Poltern beschlagener Stiefel und das Aufschlagen eines Gewehrkolbens. Durch die Dielentür kam Kälte herein, und vor Alexej und Jelena erschien eine hohe, breitschultrige, bis zu den Fersen in einen Militärmantel gehüllte Gestalt mit khakifarbenen Schulterstücken, auf die mit Tintenstift drei Leutnantssterne gezeichnet waren. Sein Baschlik war reifbedeckt, das schwere Gewehr mit dem braunen Bajonett war so lang wie die Diele.
»Guten Abend«, sang die Gestalt mit heiserem Tenor und griff mit kältesteifen Fingern zum Baschlik.
»Vitja!«
Nikolka half ihm, die Enden aufzubinden, die Kapuze rutschte herab, darunter zeigte sich eine flache Offiziersmütze mit dunkel gewordener Kokarde, und sie erkannten über den mächtig breiten Schultern den Kopf des Leutnants Viktor Viktorowitsch Myschlajewski. Dieser Kopfwar sehr schön, von der merkwürdig traurigen, anziehenden Schönheit einer alten, echten, im Aussterben begriffenen Rasse. Schön waren seine verschiedenfarbigen, kühn blickenden Augen und die langen Wimpern. Die Nase hatte einen kleinen Höcker, die Lippen waren stolz, die Stirn weiß und glatt, ohne besondere Merkmale. Ein Mundwinkel aber war traurig herabgezogen und das Kinn schräg abgeschnitten, als hätte ein Bildhauer, der ein adeliges Gesicht modellierte, in einem Anflug wilder Phantasie plötzlich Lust bekommen, ein Stück Lehm abzubeißen und dem mannhaften Gesicht ein kleines, unregelmäßiges Frauenkinn zu geben.
»Wo kommst du her?«
»Vorsicht«, antwortete Myschlajewski schwach, »nicht zerschlagen. Da ist eine Flasche Wodka drin.«
Nikolka hängte den schweren Militärmantel behutsam auf, aus der Tasche sah ein mit Zeitungspapier umwickelter Flaschenhals hervor. Daneben hängte er die schwere Mauserpistole im hölzernen Futteral, durch die der Kleiderständer mit dem Hirschgeweih ins Wanken kam. Erst jetzt drehte sich Myschlajewski zu Jelena um, küßte ihr die Hand und sagte:
»Aus Krasny Traktir. Erlaube, daß ich bei euch übernachte, Lena. Ich schaff’s nicht bis nach Hause.«
»Ach Gott, selbstverständlich.«
Plötzlich stöhnte Myschlajewski, versuchte, sich auf die Finger zu pusten, aber die Lippen gehorchten ihm nicht. Die weißen Augenbrauen und der reifgraue gestutzte Schnurrbart begannen zu tauen, das Gesicht wurde feucht. Der ältere Turbin knöpfte ihm die Uniformjacke auf, tastete die Naht entlang und zog das schmutzige Hemd heraus.
»Das hab ich mir gedacht. Es wimmelt.«
»Hör zu, Nikolka.« Die erschrockene Jelena wurde hastig und vergaß für einen Moment Talberg. »In der Küche ist Holz. Lauf schnell und heize den Badeofen. Wie ärgerlich, daß ich Anjuta Ausgang gegeben habe. Alexej, zieh ihm rasch die Uniformjacke aus.«
Im Eßzimmer bei den Kacheln sank Myschlajewski auf den Stuhl und hielt das Stöhnen nicht mehr zurück. Jelena lief hin und her und klirrte mit Schüsseln. Alexej und Nikolka knieten vor Myschlajewski und zogen ihm die eleganten Stiefel mit den Wadenschnallen aus.
»Nicht so doll … och, langsam …«
Widerliche fleckige Fußlappen wickelten sie auf. Darunter kamen lila Seidensocken zum Vorschein. Die Uniformjacke verfrachtete Nikolka gleich auf die kalte Veranda, damit die Läuse krepierten. Myschlajewski in seinem dreckstarrenden Batisthemd, über dem sich die schwarzen Hosenträger kreuzten, und in seiner blauen Hose mit den Schnürbändern sah dünn und schwarz, krank und bedauernswert aus. Die blau gewordenen Handflächen tasteten, patschten über die Kacheln.
Schreckliches Gerücht …Zieht heran … rote Bande …
Am 12. Mai … verliebt …
»Was sind das für Schurken!« schrie Turbin plötzlich auf. »Konnten sie euch nicht Filzstiefel und Pelzjacken geben?«
»Filz … stiefel«, wiederholte Myschlajewski weinend. »Filz … stief …«
In der Wärme schmerzten seine Hände und Füße unerträglich. Als er Jelenas Schritte in der Küche verhallen hörte, schrie er wütend und weinerlich: »Saustall!«
Zischend und sich windend fiel er um, zeigte mit dem Finger auf die Socken und stöhnte:
»Ausziehen, ausziehen, ausziehen …«
Es roch widerlich nach denaturiertem Sprit, in einer Schüssel taute ein Schneeberg, und von einem Glas Wodka wurde der Leutnant Myschlajewski so betrunken, daß seine Augen ganz trüb aussahen.
»Wird man etwa amputieren müssen? O Gott …« Er wiegte sich kummervoll im Sessel.
»I wo, warte doch. Ist nicht so schlimm … So, der große Zeh ist angefroren. Das vergeht. Das hier auch.«
Nikolka hockte sich hin und zog ihm saubere schwarze Socken an, und Myschlajewskis steife Arme fuhren in die Ärmel eines Bademantels. Auf seinen Wangen erblühten rote Flecke, der fast erfrorene Leutnant, am Ofen zusammengekauert, in sauberer Unterwäsche und im Bademantel, fühlte sich entspannt und neu belebt. Gräßliche Flüche prasselten ins Zimmer wie Hagelkörner aufs Fenstersims. Zur Nase schielend, beschimpfte er mit unflätigen Worten den Stab in den Wagen erster Klasse, einen Oberst Stschotkin, den Frost, Petljura, die Deutschen, den Schneesturm und schließlich mit den gemeinsten Gassenausdrücken sogar den Hetman der Ganzen Ukraine.
Alexej und Nikolka sahen zu, wie der sich erwärmende Leutnant mit den Zähnen klapperte, und riefen von Zeit zu Zeit »sachte, sachte«.
»Hetman, hä? … seine Mutter!« knurrte Myschlajewski. »Elitetruppen? Im Schloß? Hä? Und uns haben sie rausgejagt, so wie wir waren. Vierundzwanzig Stunden in Frost und Schnee … O Gott! Ich dachte, wir würden alle umkommen. Zum Teufel! Ein Offizier vom andern hundert Sashen entfernt, das soll eine Kette sein? Beinah wären wir wie Hühner abgeschlachtet worden!«
»Moment mal.« Turbin war ganz benommen von den Flüchen. »Sag doch, wer steht da eigentlich bei Traktir?«
»Ach!« Myschlajewski winkte ab. »Kein Mensch weiß Bescheid! Weißt du, wie viele wir bei Traktir waren? Vierzig Mann! Kommt doch dieser Hurenbock, Oberst Stschotkin, und sagt« (Myschlajewski verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und ahmte den ihm verhaßten Oberst Stschotkin mit hoher Lispelstimme nach): »›Meine Herrn Offiziere, alle Hoffnungen der Stadt liegen in Ihren Händen. Rechtfertigen Sie das Vertrauen der am Rand des Abgrunds stehenden Mutter der russischen Städte. Sollten sich feindliche Truppen zeigen, so gehen Sie zum Angriff über, Gott mit uns! In sechs Stunden schicke ich Ablösung. Ich bitte jedoch, mit Munition zu sparen.‹« (Myschlajewski sprach mit normaler Stimme weiter:) »Und er verduftete im Auto mit seinem Adjutanten. Finster wie im Arsch! Der Frost stach wie mit Nadeln.«
»Wer ist denn dort, um Gottes willen? Petljura kann doch unmöglich schon bei Traktir stehen!«
»Weiß der Teufel! Glaubst du, gegen Morgen waren wir fast verrückt. Um Mitternacht hatten wir Stellung bezogen und warteten auf die Ablösung. Hände und Füße wie tot. Die Ablösung kommt nicht. Feuer konnten wir natürlich nicht machen, zwei Werst von uns war ein Dorf, und eine Werst ab lag Traktir. In der Nacht schien das Feld sich zu bewegen, als ob sie gekrochen kämen. Was werden wir wohl machen? dachte ich. Wir rissen das Gewehr hoch und überlegten: schießen oder nicht? Verlockend war’s ja. Wir standen und heulten wie die Wölfe. Wenn ich rief, antwortete jemand in der Kette. Schließlich hab ich mich in den Schnee gebuddelt, mir mit dem Gewehrkolben ein Grab gewühlt, mich reingehockt und mich bemüht, nicht einzuschlafen, denn wenn man einschläft, ist es aus! Gegen Morgen konnte ich mich nicht mehr halten, ich merkte, daß ich anfing einzuschlafen. Weißt du, was mich gerettet hat? Maschinengewehre. Im Morgengrauen hör ich’s plötzlich drei Werst entfernt rattern. Und kannst du dir vorstellen, ich hatte keine Lust aufzustehen! Da bumst auch eine Kanone los. Ich stand auf, jeder Fuß schien ein Pud zu wiegen. Durch den Kopf zuckte es: Gratuliere, Petljura ist da! Mühsam zogen wir die Kette zusammen, riefen einander. Dann beschlossen wir: Sollte was kommen, bilden wir einen Trupp und ziehen uns, das Feuer erwidernd, zur Stadt zurück. Wenn wir abgeschossen werden, haben wir Pech gehabt. Dann gehen wir wenigstens gemeinsam zugrunde. Und, stell dir vor, es wurde wieder still. Am Morgen liefen wir zu dreien nach Traktir, um uns aufzuwärmen. Weißt du, wann die Ablösung kam? Heute um zwei Uhr nachmittags. Aus dem ersten Bataillon an die zweihundert Junker. Und stell dir vor – bestens angezogen: Papachas, Filzstiefel, ein Maschinengewehrtrupp dabei. Oberst Nai-Turs befehligte sie.«
»Ah, das ist einer von uns!« rief Nikolka
»Wart mal, ist er etwa ein Belgoroder Husar?« fragte Turbin.
»Ja, ja, ein Husar. Verstehst du, die waren entsetzt, als sie uns sahen: Wir dachten, hier sind zwei Kompanien, sagten sie, mit Maschinengewehren. Aber wie habt ihr euch hier gehalten?
Sie erzählten, gegen Morgen habe eine an tausend Mann starke Bande einen Angriff auf Serebrjanka unternommen, daher das Maschinengewehrfeuer. Zum Glück haben die nicht gewußt, daß dort nur eine Kette ungefähr wie unsere stand, sonst hätte die ganze Meute der Stadt einen Besuch abgestattet, das kannst du dir vorstellen! Zum Glück bestand Verbindung mit Post-Wolynski. Sie benachrichtigten die dortigen Artilleristen, und eine Batterie schoß Schrapnellfeuer. Na, der Eifer der Bande hat sich schnell gelegt, verstehst du, sie unterbrach den Angriff und scherte sich zum Teufel!«
»Aber wer war das? Etwa Petljura-Leute? Das kann doch nicht sein.«
»Weiß der Teufel. Ich glaube, es waren Bauern aus den umliegenden Ortschaften, Dostojewskis Gottesträger! Himmeldonnerwetter!«
»O Gott!«
»Ja …«, krächzte Myschlajewski und zog an der Zigarette, »wir wurden, Gott sei Dank, abgelöst. Zählten ab – achtunddreißig. Da haben wir’s: Zwei waren erfroren. Zum Teufel. Zwei andere mußten getragen werden, ihnen wird man die Füße amputieren.«
»Sind die ganz und gar erfroren? Tot?«
»Was dachtest du? Ein Junker und ein Offizier. In Popeljucha aber, das ist bei Traktir, da war’s noch schöner. Ich war mit Unterleutnant Krassin hingegangen, um einen Schlitten für die Erfrorenen zu besorgen. Das Dörfchen wie ausgestorben, keine Menschenseele. Endlich entdecken wir einen Alten mit Schafpelz und Krückstock. Stell dir vor, der freut sich, wie er uns sieht. Ich ahne gleich Böses. Was mag das bedeuten? überleg ich. Weshalb freut sich dieser Gottesträger so? ›Jungs … Jungs … ‹ Und ich sag freundlich zu ihm: ›Tag, Großvater. Gib uns rasch einen Schlitten.‹ Da meint er: ›Wir haben keine. Die Offiziershalunken haben alle Schlitten nach Post requiriert.‹ Ich zwinker Krassin zu und frag: ›Die Offiziershalunken? Soso. Wo sind denn eure Männer?‹ – ›Zu Petljura abgehauen‹, platzt der Alte heraus. Wie findest du das? Er hat nicht richtig sehen können, daß wir unter den Baschliks Schulterstücke hatten, und hielt uns für Petljuraleute. Na, du wirst verstehen, daß ich mich nicht mehr beherrschen konnte. Die Kälte … kochende Wut … Ich pack den Alten am Schlafittchen, daß ihm beinah die Seele entweicht, und schrei: ›Zu Petljura abgehauen? Ich knall dich ab, dann wirst du wissen, wie man zu Petljura abhaut! Ins Himmelreich beförder ich dich, du Aas!‹ Na, klarer Fall, dem heiligen Ackerbauern, Sämann und Beschützer« (Myschlajewski stieß einen lawinenartigen fürchterlichen Fluch aus), »dem geht ein Licht auf. Natürlich fällt er mir zu Füßen und jammert: ›Oh, Euer Hochwohlgeboren, verzeihen Sie mir Altem, ich hab’s in meiner Dummheit gesagt, ich konnte nicht richtig sehen, ich hol sofort Pferde, bloß schießen Sie mich nicht tot!‹ Wir kriegten Pferde und Schlitten.
In der Dämmerung kamen wir nach Post. Was dort los war, kannst du dir nicht vorstellen. Auf den Gleisen habe ich vier Batterien gezählt, noch eingepackt – keine Munition. Ein Stab auf dem andern. Keiner kennt sich aus. Wir wußten nicht, wohin mit den Toten. Endlich finden wir einen fliegenden Verbandplatz. Glaubst du, wir haben die Toten dort mit Gewalt abgeladen, sie wollten sie nicht nehmen. ›Fahrt sie in die Stadt‹, hieß es. Da sind wir fuchsteufelswild geworden. Krassin wollte einen vom Stab abknallen. ›Das sind ja Petljuramanieren‹, sagte der und verduftete. Abends hatte ich endlich den Wagen von Stschotkin gefunden. Erster Klasse, elektrisch Licht. Und was glaubst du? Steht doch da ein Lakai und läßt mich nicht rein. Was sagst du dazu? ›Er schläft‹, sagt er, ›ich darf keinen reinlassen. ‹ Da hab ich den Gewehrkolben gegen die Wand gehauen, und auch die andern haben randaliert. Aus allen Abteilungen kamen sie rausgesaust, Stschotkin auch. Er dreht und wendet sich: ›Ach du lieber Gott. Aber natürlich. Sofort. He, Melder, Kohlsuppe und Kognak. Werden euch gleich unterbringen. Völlige Ruhe. Das ist ja Heldentum. Ach, was für ein Verlust, aber was soll man machen, es sind eben Opfer. Ich habe mich selber abgequält … ‹ Dabei hatte er eine Kognakfahne fünf Meter gegen den Wind. Uaaah!« Myschlajewski gähnte plötzlich und nickte ein. Wie im Schlaf murmelte er weiter: »Der Trupp bekam einen Güterwagen mit Ofen … Jaaa! Ich hatte Schwein. Er wollte mich wohl los sein nach diesem Krach. ›Ich kommandiere Sie in die Stadt ab, Leutnant, zum Stab von General Kartusow. Machen Sie dort Meldung. ‹ Jaaa! Ich auf eine Lok … steifgefroren … Tamaras Schloß … Wodka …«
Die Zigarette fiel ihm aus dem Mund, er lehnte sich an den Ofen und schnarchte los.
»Das sind ja Sachen«, sagte Nikolka verwirrt.
»Wo ist Jelena?« fragte der Ältere besorgt. »Wir müssen ihm ein Badetuch geben. Bring ihn ins Bad.«
Jelena weinte unterdessen im Zimmer neben der Küche, wo hinter einem Kattunvorhang im Badeofen bei der Zinkwanne trockene Birkenscheite loderten. Die heisere Küchenuhr schlug elf. In ihrer Vorstellung sah sie Talberg tot. Natürlich, der Zug mit dem Geld ist überfallen, die Wache getötet worden, und auf dem Schnee liegt Blut und Gehirn. Jelena saß im Halbdunkel, durch die zerzauste Haarkrone leuchtete die Flamme, über die Wangen flossen Tränen. Tot. Tot …
Da plötzlich bimmelte die Klingel durch die ganze Wohnung. Jelena raste durch die Küche und die dunkle Bibliothek ins Eßzimmer. Die Lichter brannten heller. Die schwarze Uhr begann zu ticken, zu schlagen, zu laufen.
Die Stimmung Nikolkas und des älteren Bruders sank jedoch nach dem ersten Freudenausbruch rasch. Sie hatten sich ohnehin mehr für Jelena gefreut. Talbergs keilartige Achselklappen des Hetmankriegsministeriums widerten die Brüder an. Im übrigen war schon vor den Achselklappen, gleich nach Jelenas Hochzeit, im dünnen Gefäß der Turbinschen Beziehungen ein Riß entstanden, durch den das gute Wasser unmerklich entwich. Das Gefäß war nun trocken. Die Hauptursache lag wahrscheinlich in den zweischichtigen Augen des Hauptmanns im Generalstab Sergej Iwanowitsch Talberg.
Ach, ach … Wie dem auch sei, die vordere Schicht war jetzt deutlich zu lesen. Sie zeigte schlichte menschliche Freude über die Wärme, das Licht und die Sicherheit. Dahinter aber lag eine sichtbare Unruhe, und die hatte Talberg jetzt mitgebracht. Die hinterste Schicht war natürlich wie immer verborgen. Jedenfalls war Talbergs Gestalt nichts anzusehen. Sein Koppel war breit und hart. Von den beiden weißen Abzeichen – von der Akademie und der Universität – ging ruhiger Glanz aus. Die hagere Gestalt drehte sich unter der schwarzen Uhr wie ein Automat. Talberg war sehr durchgefroren, lächelte aber allen wohlwollend zu. Auch in diesem Wohlwollen war Unruhe zu spüren. Nikolka mit seiner langen Schnüffelnase bemerkte das als erster. Talberg erzählte langsam, die Worte dehnend, in fröhlichem Ton, wie der Zug, der Geld in die Provinz beförderte und den er begleitet hatte, bei Borodjanka, vierzig Werst vor der STADT, von Unbekannten überfallen wurde. Jelena kniff vor Angst die Augen zu und drückte sich an die Abzeichen, die Brüder riefen wieder »sachte«, und Myschlajewski schnarchte in tiefem Schlaf, drei Goldkronen zeigend.
»Was waren das für welche? Petljura-Leute?«
»Dann«, sagte Talberg mit nachsichtigem und zugleich unruhigem Lächeln, »würde ich mich hier kaum mit euch … äh … unterhalten. Ich weiß nicht, wer sie waren. Wahrscheinlich demoralisierte Serdjukleute. Sie drangen in die Wagen ein, fuchtelten mit den Gewehren und schrien: ›Von wem kommt der Konvoi?‹ Ich antwortete: ›Von Serdjuk!‹ Sie wurden unsicher, traten von einem Fuß auf den anderen, und dann hörte ich das Kommando: ›Raus, Jungs!‹ Und sie verschwanden. Ich nehme an, sie suchten Offiziere, dachten wahrscheinlich, es war kein ukrainischer, sondern ein Offizierskonvoi.« Talberg schielte bedeutungsvoll auf Nikolkas Litzenwinkel, sah zur Uhr und sagte dann plötzlich: »Jelena, komm, ich muß dich sprechen.«
Jelena folgte ihm eiligst in ihr gemeinsames Schlafzimmer, wo auf dem Wandteppich überm Bett der Falke auf weißem Handschuh saß, wo auf Jelenas Schreibtisch weich die grüne Lampe brannte und auf dem Mahagonipostament bronzene Hirtenjungen auf dem Fronton der Uhr standen, die alle drei Stunden die Gavotte spielte.
Es kostete Nikolka viel Mühe, Myschlajewski wachzurütteln. Er wankte im Gehen, stieß zweimal polternd gegen die Tür und schlief in der Wanne wieder ein. Nikolka paßte auf, daß er nicht ertrank. Der ältere Turbin aber, ohne selbst zu wissen warum, ging ins dunkle Wohnzimmer, drückte sich ans Fenster und lauschte: Wieder waren in der Ferne dumpfe, wie durch Watte dringende harmlose Kanonenschüsse zu hören, selten und entfernt.
Die goldhaarige Jelena schien älter und häßlicher geworden zu sein. Ihre Augen waren gerötet. Mit hängenden Armen hörte sie Talberg traurig zu. Er, diese dürre Säule des Stabes, ragte über ihr auf und sagte erbarmungslos:
»Jelena, es geht nicht anders.«
Da sagte Jelena, sich mit dem Unvermeidlichen abfindend, folgendes:
»Nun, ich verstehe. Du hast natürlich recht. In fünf, sechs Tagen also? Vielleicht wendet sich doch noch alles zum Guten?« Talberg wurde schwer zumute. Er nahm sogar sein ewiges patentiertes Lächeln vom Gesicht. Es wurde älter, und jeder Punkt darauf zeigte Entschlossenheit. Jelena … Jelena. Ach, unsichere, schwankende Hoffnung. Fünf … sechs Tage. Aber Talberg sagte:
»Ich muß sofort weg. Der Zug fährt um ein Uhr nachts.«
Eine halbe Stunde später stand im Zimmer mit dem Falken alles kopf. Der Koffer lag auf dem Boden, sein innerer Segeltuchdeckel ragte hoch. Jelena, abgemagert und mit strengen Falten um den Mund, packte schweigsam Hemden, Unterhosen und Laken in den Koffer. Talberg kniete vor der unteren Schublade des Schranks und stocherte mit dem Schlüssel im Schloß. Und außerdem … und außerdem sah das Zimmer abscheulich aus wie jedes Zimmer, wo die Unordnung des Packens herrscht. Noch schlimmer ist es, wenn der Schirm von der Lampe abgenommen wird. Nehmt niemals, niemals den Schirm von der Lampe ab! Der Schirm ist heilig. Flieht niemals wie eine Ratte vor einer Gefahr ins Ungewisse! Träumt lieber am Lampenschirm, lest – laßt den Sturm heulen – und wartet, bis man zu euch kommt.
Talberg aber wollte fliehen. In seinem langen Militärmantel, mit schwarzen Ohrenschützern, mit graublauer Hetmankokarde und mit umgehängtem Säbel ragte er über seinem verschlossenen, schweren Koffer und zertrat Papierfetzen.
Auf dem Ferngleis des Stadtbahnhofs I steht schon ein Personenzug, allerdings noch ohne Lok, wie eine Raupe ohne Kopf: neun Wagen mit blendendweißem elektrischen Licht. Mit diesem Zug fährt um ein Uhr nachts der Stab des Generals von Bussow nach Deutschland ab. Talberg wird mitgenommen. Talberg hat Verbindungen … Das Hetmanministerium, das ist eine dumme, abgeschmackte Operette (Talberg liebte es, sich trivial, aber kraftvoll auszudrücken) wie übrigens auch der Hetman selbst. Um so mehr abgeschmackt, als …
»Versteh doch« (flüsternd), »die Deutschen lassen den Hetman im Stich, und es ist möglich, sehr möglich sogar, daß Petljura die Stadt einnimmt. Er hat eigentlich gesunde Wurzeln. Die Masse der Bauern ist auf seiner Seite, und das, weißt du …«
O ja, Jelena wußte! Jelena wußte sehr gut. Im März 1917 war Talberg der erste gewesen, verstehen Sie, der erste, der mit einer breiten roten Binde am Ärmel in die Militärschule kam. Das war in den ersten Tagen des Jahres, als bei den Nachrichten aus Petersburg noch allen Offizieren in der STADT Zornröte ins Gesicht schoß und sie sich in dunkle Korridore zurückzogen, um nichts mehr zu hören. Talberg und kein anderer hatte als Mitglied des Revolutionären Kriegskomitees den berühmten General Petrow festgenommen. Als aber gegen Ende des berühmten Jahres in der STADT schon viel Wunderbares und Merkwürdiges geschah, als Menschen auftauchten, die keine Stiefel trugen, dafür aber weite Pumphosen, die unter den langen grauen Militärmänteln hervorsahen, und als diese Menschen erklärten, daß sie unter keinen Umständen an die Front gehen würden, wo sie nichts zu tun hätten, sondern hier in der STADT blieben, denn das sei ihre STADT, eine ukrainische und keineswegs eine russische Stadt, da war Talberg recht reizbar geworden und hatte trocken erklärt, das sei nicht das richtige, sondern eine abgeschmackte Operette. Und er hatte in gewisser Hinsicht recht behalten. Denn es wurde wirklich eine Operette daraus, freilich keine einfache, sondern eine mit großem Blutvergießen. Die in den Pumphosen wurden sehr bald von grauen Regimentern aus der STADT verjagt, Regimentern, die hinter den Wäldern hervor aus der Ebene, die nach Moskau führte, gekommen waren. Talberg sagte, die Wurzeln, wenn sie auch bolschewistisch seien, säßen in Moskau, die mit den Pumphosen aber seien Abenteurer.
Eines Märztages aber rückten die Deutschen in grauen Reihen in die STADT. Auf den Köpfen hatten sie rötlichbraune Metallschüsseln, die sie vor Schrapnellkugeln schützen sollten, und ihre Husaren trugen so zottige Mützen und ritten solche Pferde, daß Talberg bei ihrem Anblick sofort begriff, wo die Wurzeln saßen. Nach einigen schweren Schüssen der deutschen Kanonen nahe der STADT verschwanden die aus Moskau irgendwo hinter den graublauen Wäldern, um Aas zu fressen, und die mit den Pumphosen zogen hinter den Deutschen in die STADT ein. Das war eine große Überraschung. Talberg lächelte verwirrt, fürchtete aber nichts, denn die Pumphosen waren in Anwesenheit der Deutschen sehr still, wagten niemand zu töten und liefen sehr vorsichtig durch die Straßen, als seien sie sich ihrer selbst nicht sicher. Talberg erklärte, daß sie keine Wurzeln besäßen, und leistete zwei Monate lang keinerlei Dienst. Nikolka Turbin lächelte, als er eines Tages Talbergs Zimmer betrat. Talberg saß und schrieb auf einem großen Blatt Papier grammatische Übungen, und vor ihm lag ein dünnes, auf schlechtem grauem Papier gedrucktes Büchlein:
»Ignati Perpillo – Ukrainische Grammatik«.
Im April neunzehnhundertachtzehn, zu Ostern, summten im Zirkus lustig die elektrischen Milchglaskugeln, und der Zirkus war bis zur Kuppel schwarz von Menschen. Talberg stand in der Arena wie eine fröhliche, kampflustige Säule und zählte die Stimmen: Mit den Pumphosen war es aus, es würde eine Ukraine geben, aber eine Hetmanukraine – man wählte den »Hetman der Ganzen Ukraine«.
»Wir sind gegen die blutige Moskauer Operette abgeschirmt«, sagte Talberg und paradierte mit seiner komischen Hetmanuniform zu Hause vor den altvertrauten Tapeten. Verächtlich krächzte die Uhr – ticktack, und das letzte Wasser lief aus dem Gefäß ihrer Beziehungen. Nikolka und Alexej wußten nicht mehr, worüber sie mit Talberg reden sollten. Das wäre auch sehr schwer gewesen, denn Talberg wurde bei jeder Unterhaltung über Politik sehr böse, zumal wenn Nikolka taktlos begann: »Aber im März, Serjosha, hast du gesagt …« Talberg zeigte dann gleich die auseinanderstehenden, aber großen und weißen oberen Zähne, in den Augen blitzten gelbe Funken, und er begann sich zu erregen. Demzufolge gewöhnte man sich Gespräche ganz ab.
Ja, die Operette … Jelena wußte, was dieses Wort von den etwas vollen baltischen Lippen Talbergs bedeutete. Es drohte jetzt Schlimmes an, nicht den Pumphosen, nicht denen aus Moskau, nicht irgendeinem Iwan Iwanowitsch, sondern Sergej Iwanowitsch Talberg selbst. Jeder Mensch lebt unter seinem eigenen Stern, und nicht umsonst hatten die Hofastrologen des Mittelalters mit Horoskopen die Zukunft geweissagt. Oh, sie waren weise! Sergej Iwanowitsch Talbergs Stern aber paßte nicht zu ihm, es war kein glücklicher Stern. Talberg hätte es gut gehabt, wenn alles in einer geraden, bestimmten Linie verlaufen wäre, doch die Ereignisse in der STADT verliefen damals nicht gerade, sie machten bizarre Zickzacksprünge, und Talberg suchte vergeblich zu erraten, was kommen würde. Es gelang ihm nicht … Noch stand weit von hier, hundertfünfzig oder auch zweihundert Werst von der STADT entfernt, auf grell erleuchteten Gleisen ein Salonwagen. Darin kullerte wie eine Erbse in der Schote ein glattrasierter Mann umher, während er seinen Schreibern und Adjutanten in einer seltsamen Sprache, mit der selbst Perpillo seine Mühe gehabt hätte, etwas diktierte. Wehe Talberg, wenn dieser Mann in die STADT einrückte, und er konnte einrücken! Wehe ihm. Die Nummer der »Westi« war allen bekannt und der Name des Hauptmanns Talberg, der den Hetman gewählt hatte, auch. In der Zeitung gab’s einen Artikel aus Talbergs Feder, darin standen die Worte:
»Petljura ist ein Abenteurer, der mit seiner Operette unser Land mit Untergang bedroht …«
»Dich, Jelena, kann ich auf die Wanderung ins Ungewisse nicht mitnehmen, das verstehst du doch?«
Jelena sagte kein Wort, denn sie war stolz.
»Ich hoffe, es gelingt mir, über Rumänien auf die Krim und von dort zum Don zu gelangen. Von Bussow versprach mir Unterstützung. Man schätzt mich. Die deutsche Okkupation hat sich in eine Operette verwandelt. Die Deutschen rücken schon ab.« (Flüsternd:) »Petljura wird sich nach meiner Schätzung auch nicht mehr lange halten können. Die wahre Kraft kommt vom Don her. Und du weißt, ich darf nicht fehlen, wenn eine Armee der Ordnung und des Rechts formiert wird. Fernbleiben bedeutet die Karriere zugrunde richten; du weißt, Denikin war mein Divisionschef. Ich bin überzeugt, in knapp drei Monaten, spätestens aber im Mai kommen wir in die STADT. Du brauchst keine Angst zu haben. Man wird dich auf keinen Fall belästigen, im schlimmsten Fall hast du den Personalausweis mit deinem Mädchennamen. Ich werde Alexej bitten, dich zu beschützen.«
Jelena wurde plötzlich lebhaft.
»Warte«, sagte sie, »wir müssen den Brüdern sofort sagen, daß die Deutschen uns verraten.«
Talberg wurde über und über rot.
»Natürlich, natürlich, ich werde ihnen unbedingt … Im übrigen, sag du’s ihnen lieber selbst. Obwohl das an der Sache nicht viel ändert.«
Ein merkwürdiges Gefühl durchzuckte Jelena, aber sie hatte keine Zeit, Überlegungen anzustellen: Talberg küßte bereits seine Frau, und es war einen Augenblick lang in seinen zweischichtigen Augen nur eines – Zärtlichkeit. Jelena hielt es nicht mehr aus und begann zu weinen, aber leise, leise, sie war eine charakterfeste Frau, eine würdige Tochter Anna Wladimirownas. Dann fand im Wohnzimmer der Abschied von den Brüdern statt. In der bronzenen Lampe flammte rosa Licht auf und überflutete die ganze Ecke. Das Klavier zeigte gemütliche weiße Zähne und die Margarete-Partitur, aufgeschlagen an der Stelle, wo die schwarzen Notenkrakel in dichten Reihen marschieren und der buntgekleidete rotbärtige Valentin singt:
Ich lasse Margarete,Sie bleibt hier ohne Schützer,Die Mutter wacht nicht mehr!
Selbst Talberg, dem sentimentale Regungen fremd waren, prägten sich in diesem Moment die schwarzen Akkorde und die abgegriffenen Seiten des ewigen Faust ins Gedächtnis. Ach, ach … Talberg würde nicht mehr die Kavatine vom allmächtigen Gott vernehmen, würde nicht mehr hören, wie Jelena auf dem Klavier Scherwinski begleitete! Dennoch würden, wenn Talberg und die Turbins nicht mehr auf der Welt waren, die Tasten wieder tönen, und der buntgekleidete Valentin würde an die Rampe treten, in den Logen würde es nach Parfüm duften, und zu Hause würden Frauen, vom Licht gefärbt, akkompagnieren, denn Margarete, wie auch Zar und Zimmermann, ist absolut unsterblich.
Am Klavier stehend, erzählte Talberg. Die Brüder schwiegen höflich und bemühten sich, die Augenbrauen nicht zu heben. Der jüngere aus Stolz, der ältere, weil er ein Waschlappen war. Talbergs Stimme zitterte.
»Beschützt Jelena.« Die vordere Schicht seiner Augen blickte bittend und unsicher. Er stand noch eine Weile unschlüssig, sah dann zerstreut auf die Taschenuhr und sagte hastig:
»Ich muß weg.«
Jelena zog ihren Mann am Hals zu sich herunter, bekreuzigte ihn flüchtig und küßte ihn. Talberg stach beide Brüder mit den Spitzen seines kurzgestutzten schwarzen Schnurrbarts. Dann öffnete er die Brieftasche, prüfte nervös einen Packen Papiere, zählte in dem mageren Fach das ukrainische Papiergeld und die deutschen Mark und schritt lächelnd, angespannt lächelnd, und sich umdrehend hinaus. Klirr … klirr … In der Diele das Oberlicht, im Treppenhaus das Poltern des Koffers. Jelena lehnte sich über das Geländer und sah zum letztenmal die Spitze des Baschliks.
Um ein Uhr nachts fuhr vom fünften Gleis, hinaus aus der mit den Friedhöfen leerer Güterwaggons vollgestopften Dunkelheit, mit hoher dröhnender Geschwindigkeit und glutatmendem Zugloch ein krötengrauer Panzerzug ab und heulte wild. Er durchfuhr acht Werst in sieben Minuten, erreichte Post-Wolynski mit seinem Lärm, Gepolter und Laternenlicht und bog, ohne die Geschwindigkeit zu vermindern, über rasselnde Weichen von der Hauptstrecke ab. In den halberfrorenen Junkern und Offizieren, die in Güterwaggons kauerten oder direkt bei Post-Wolynski Kette standen, schwache Hoffnung und Stolz erweckend, fuhr er kühn, nichts fürchtend, in Richtung der deutschen Grenze. Zehn Minuten nach ihm passierte ein Personenzug mit Dutzenden erleuchteter Fenster und einer riesigen Lok Post. Die pfostenartig massiven, bis über die Augen eingemummten deutschen Posten auf den Perrons huschten vorbei, ihre breiten schwarzen Bajonette blinkten. Die Weichenwärter, denen vor Kälte der Atem stockte, sahen die langen Pullmanwagen auf den Gleisfugen federn, die Fenster warfen Lichtgarben auf sie. Dann verschwand alles, und die Seelen der Junker füllten sich mit Neid, Wut und Sorge.
»Uuuch … diese Halunken!« stöhnte es irgendwo an der Weiche, und über die Güterwaggons peitschte ein glühender Schneesturm. Post-Wolynski wurde in dieser Nacht zugeschneit.
Zu dieser nächtlichen Stunde herrschte unten in der Wohnung des Hausbesitzers, des Ingenieurs Wassili Iwanowitsch Lissowitsch, völlige Stille, die nur von Zeit zu Zeit im kleinen Eßzimmer von einer Maus gestört wurde. Die Maus knabberte aufdringlich und geschäftig im Büfett an einer alten Käserinde und verfluchte die Knauserigkeit der Ingenieursgattin Wanda Michailowna. Die also verfluchte, knochendürre, eifersüchtige Wanda schlief fest im dunklen Schlafzimmer der kühlen und feuchten Wohnung. Der Ingenieur aber war noch wach und hielt sich in seinem mit Möbeln und Büchern vollgestopften, mit Vorhängen verhängten und demzufolge urgemütlichen Arbeitszimmer auf. Eine Stehlampe, die eine ägyptische Prinzessin darstellte, tauchte mit ihrem grüngeblümten Schirm das ganze Zimmer in zarte und geheimnisvolle Farben, und auch der Ingenieur in seinem tiefen Ledersessel sah geheimnisvoll aus. Geheimnis und Zwiespältigkeit der unsicheren Zeit drückten sich vor allem darin aus, daß der Mann im Sessel gar nicht Wassili Iwanowitsch Lissowitsch war, sondern Wassilissa. Das heißt, er selbst nannte sich Lissowitsch, und viele, mit denen er zu tun hatte, nannten ihn Wassili Iwanowitsch, aber nur ins Gesicht. Hinter seinem Rücken, in der dritten Person, wurde der Ingenieur nur Wassilissa genannt. Das kam daher, daß der Hausbesitzer seit Januar 1918, als in der Stadt unbestreitbar schon Wunder geschahen, seine deutliche Schrift verändert hatte und statt des bestimmten »W. Lissowitsch« aus Angst vor künftiger Verantwortung in Fragebögen, Bescheinigungen, Ausweisen, Ordern und auf Karten nur noch »Was. Lis.« schrieb.
Nachdem Nikolka am achtzehnten Januar achtzehn aus Wassili Iwanowitschs Händen die Zuckerkarte empfangen hatte, bekam er statt Zucker auf dem Krestschatik mit schrecklicher Wucht einen Stein ins Kreuz und spuckte zwei Tage Blut. (Eine Artilleriegranate war direkt über der Zuckerschlange detoniert, die aus furchtlosen Menschen bestand.) Zu Hause angekommen, hielt sich Nikolka, grün im Gesicht, an der Wand fest, preßte aber doch ein Lächeln heraus, um Jelena nicht zu erschrecken. Er spuckte die Schüssel voll Blutflecke und antwortete auf Jelenas Schrei »O Gott! Was ist passiert?«:
»Das ist Wassilissas Zucker, daß ihn der Teufel hole!« Dann wurde er leichenblaß und kippte zur Seite. Nach zwei Tagen stand er wieder auf, Wassili Iwanowitsch Lissowitsch aber existierte nicht mehr. Zuerst im Hof des Hauses Nummer dreizehn und dann in der ganzen Stadt nannte man den Ingenieur nur noch Wassilissa, und allein der Träger dieses Frauennamens stellte sich noch mit »Lissowitsch, Vorsitzender des Hauskomitees« vor.
Nachdem Wassilissa sich überzeugt hatte, daß die Straße vollkommen ruhig geworden, daß auch kein gelegentliches Knirschen von Schlittenkufen mehr zu hören war, horchte er aufmerksam auf das Pfeifen aus dem Schlafzimmer seiner Frau, ging in den Korridor, befühlte Schlösser, Riegel, Kette und Haken und kehrte in sein Arbeitszimmer zurück. Der Schublade seines massiven Schreibtisches entnahm er vier blanke Sicherheitsnadeln. Dann ging er auf Zehenspitzen irgendwohin in die Dunkelheit und brachte ein Laken und ein Plaid. Noch einmal horchte er, legte sogar den Finger auf die Lippen. Dann zog er die Jacke aus, krempelte die Ärmel hoch, holte vom Regal ein Glas Kleister, ein sorgfältig zusammengerolltes Stück Tapete und eine Schere. Nun trat er dicht ans Fenster, beschirmte die Augen mit beiden Händen und blickte aufmerksam auf die Straße. Vor das linke Fenster hängte er bis zu halber Höhe das Laken und vor das rechte mit Hilfe der Sicherheitsnadeln das Plaid. Sorgfältig zupfte er alles zurecht, damit keine Ritzen frei blieben. Dann stieg er auf einen Stuhl, suchte tastend über der oberen Bücherreihe, ritzte mit seinem Taschenmesser die Tapete zuerst vertikal und dann rechtwinklig zur Seite, schob das Messer unter den Schnitt und legte ein akkurates, zwei Backsteine großes Geheimfach frei, das er in der vergangenen Nacht selbst gebaut hatte. Das Türchen – eine dünne Zinkplatte – drückte er zur Seite, stieg herunter, sah sich ängstlich um, befühlte das Laken. In der unteren Schublade, die er mit zweifach klirrender Schlüsseldrehung öffnete, zeigte sich ein sorgfältig in Zeitungspapier verpacktes, kreuzweise verschnürtes und versiegeltes Päckchen. Dieses steckte Wassilissa in das Geheimfach und schloß die Tür zu. Lange schnitt er auf dem roten Tuch seines Tisches Streifen zu, bis er sie so hatte, wie er sie brauchte. Mit Kleister eingestrichen, legten sie sich so fein auf die Schnittstelle, daß es eine Freude war: ein halbes Sträußchen des Musters ans andere, ein Quadrat ans andere. Der Ingenieur stieg vom Stuhl und überzeugte sich, daß an der Wand keine Spuren des Geheimfaches zu sehen waren. Zufrieden rieb er sich die Hände, zerknüllte und verbrannte die Tapetenreste, verrührte die Asche und versteckte den Kleister.
Auf der schwarzen, menschenleeren Straße kletterte eine zerlumpte graue Wolfsgestalt vom Ast einer Akazie herunter, auf dem sie frierend eine halbe Stunde gesessen hatte, gierig die Arbeit des Ingenieurs durch den Spalt über dem Laken beobachtend. Gerade mit diesem Laken vor dem grünbeleuchteten Fenster hatte der Ingenieur das Unglück heraufbeschworen. Elastisch sprang die Gestalt in den Schnee und ging die Straße hinauf, etwas weiter tauchte sie mit ihrem Wolfsgang in den Gassen unter, und der Schneesturm, die Dunkelheit und die Schneewehen verschlangen sie und verwischten ihre Spuren.
Es ist Nacht. Wassilissa sitzt im Sessel. Im grünen Schatten sieht er wie Taras Bulba aus. Sein buschiger Schnauz hängt herunter: Wieso Wassilissa? Das ist ein richtiger Mann! In den Schubladen summt es zart, und vor Wassilissa auf dem roten Tischtuch liegen Packen länglichen Papiers – grün getüpfelt wie Spielkarten:
Geldschein der Staatsbank50 KarbowanzenDen Banknoten gleichgestelltes Zahlungsmittel.
Auf den Tüpfeln ein Bauer mit Hängeschnauz, bewaffnet mit einem Spaten, und eine Bäuerin mit Sichel. Auf der Kehrseite in ovalem Rahmen die vergrößerten rötlichen Gesichter desselben Bauern und derselben Bäuerin. Auch hier der Schnurrbart auf ukrainische Art nach unten hängend. Und über allem die Warnung:
Fälschung wird mit Zuchthaus bestraft.
Eine energische Unterschrift:
Direktor der Staatsbank, Lebid-Jurtschik.
Auf ehernem Pferd Alexander II. mit dem abgegriffenen gußeisernen Seifenschaum des Backenbartes inmitten seiner Reiter; er schielt gereizt auf Lebid-Jurtschiks Kunstwerk und wohlwollend zu der Lampenprinzessin. Von der Wand blickt entsetzt ein Beamter mit einem Stanislaw-Orden am Hals auf die Staatspapiere – Wassilissas Vorfahr in Öl. Im grünen Licht glänzen weich die Buchrücken von Gontscharow und Dostojewski, machtvoll steht in Reih und Glied die schwarzgoldene Gardekavallerie der Enzyklopädie Brockhaus-Efron. Gemütlichkeit.
Die fünfprozentige Anleihe ist sicher im Geheimfach unter der Tapete versteckt. Dort liegen auch fünfzehn »Katharinas«, neun »Peters«, zehn »Nikolaus I.«, drei Brillantringe, eine Brosche, eine »Anna« und zwei »Stanislaws«.
Im Geheimversteck Numero zwei: zwanzig »Katharinas«, zehn »Peters«, fünfundzwanzig Silberlöffel, eine goldene Uhr mit Kette, drei Zigarettenetuis (»Dem lieben Kollegen«, obwohl Wassilissa nicht raucht), fünfzig goldene Zehnrubelmünzen, Salznäpfe, ein Besteckkasten mit Silber für sechs Personen und ein silbernes Teesieb. (Es ist ein großes Versteck im Holzschuppen, von der Tür zwei Schritt geradeaus, ein Schritt links, ein Schritt von einem Kreidezeichen auf einem Balken an der Wand. Alles in Blechdosen von Einem-Gebäck, in Wachstuch mit geteerten Nähten, zwei Arschin tief.)
Das dritte Versteck ist der Dachboden: zwei Spannen vom Schornstein Richtung Nordost, unter dem Balken im Lehm liegen eine Zuckerzange, hundertdreiundachtzig goldene Zehnrubelmünzen und Wertpapiere für fünfundzwanzigtausend Rubel. Die Lebid-Jurtschiks sind für die laufenden Ausgaben.
Wassilissa sah sich um wie immer, wenn er Geld zählte, und begann, die Tüpfel zu besabbern. Sein Gesicht wurde hingebungsvoll. Plötzlich erblaßte er.
»Fälschung, Fälschung«, murmelte er wütend und schüttelte den Kopf, »ein Jammer.«
Wassilissas blaue Augen wurden todtraurig. Im dritten Zehnerpäckchen ein falscher Schein, im vierten zwei, im sechsten zwei und im neunten hintereinander drei Scheine, für die Lebid-Jurtschik mit Zuchthaus drohte. Von einhundertdreizehn Scheinen trugen, bitte schön, acht deutliche Spuren einer Fälschung. Der Bauer sah irgendwie mürrisch aus, mußte aber lustig aussehen, und an der Garbe fehlten die geheimen, aber sicheren Zeichen: ein auf den Kopf gestelltes Komma und zwei Punkte. Das Papier war auch besser als das von Lebid-Jurtschik. Wassilissa sah gegen das Licht, und Lebid-Jurtschik leuchtete deutlich gefälscht durch.
»Einen kriegt morgen abend der Droschkenkutscher«, sagte Wassilissa zu sich selbst, »ich muß sowieso fahren. Und dann natürlich auf den Markt.«
Sorgfältig legte er die für den Kutscher und für den Markt bestimmten gefälschten Scheine zur Seite und versteckte den Packen hinter dem klirrenden Schloß. Er fuhr zusammen. An der Decke ertönten Schritte, und die Totenstille wurde von Lachen und dumpfen Stimmen zerrissen. Wassilissa sagte zu Alexander II.:
»Bitte schön: Niemals hat man Ruhe.«
Oben wurde es wieder still. Wassilissa gähnte, strich sich den bastartigen Schnurrbart, nahm das Plaid und das Laken von den Fenstern und zündete im Wohnzimmer, wo matt der Grammophontrichter blinkte, eine kleine Lampe an. Zehn Minuten später herrschte in der ganzen Wohnung Dunkelheit. Wassilissa schlief neben seiner Frau im klammen Schlafzimmer. Es roch nach Mäusen, nach Schimmel, nach mürrischer, schläfriger Langeweile. Da erschienen ihm im Traum Lebid-Jurtschik zu Pferde und irgendwelche Diebe aus Tuschino mit Dietrichen und brachen sein Geheimfach auf. Ein Herzbube stellte sich auf den Stuhl, spuckte ihm auf den Schnurrbart und schoß aus nächster Nähe. Wassilissa fuhr, in kalten Schweiß gebadet, mit einem Schrei hoch, und das erste, was er hörte, war eine Maus, die sich samt Familie im Eßzimmer mit einer Zwiebacktüte abmühte, dann vernahm er überaus zärtlichen Gitarrenklang und Lachen durch die Decke und die Teppiche.
Oben sang eine mächtige und leidenschaftliche Stimme, und die Gitarre spielte einen Marsch.
»Das einzige Mittel – ihnen die Wohnung kündigen.« Wassilissa zappelte in den Laken. »Unerhört! Weder bei Tag noch bei Nacht hat man Ruhe.«
Singend marschierendie Junker einher …
»Obwohl, im Falle eines Falles … Stimmt schon, wir leben in einer schlimmen Zeit. Wen ich kriege, weiß keiner, und die hier sind immerhin Offiziere, und kommt was, hat man Schutz … Husch!« schrie Wassilissa die emsige Maus an.
Gitarrenklang … Gitarrenklang … Gitarrenklang …
Im Kronleuchter des Eßzimmers brennen vier Lampen. Blaue Rauchhechte. Die Glasveranda mit den cremefarbenen Vorhängen dicht verhängt. Die Uhr nicht zu hören. Auf schneeweißem Tischtuch frische Sträuße Treibhausrosen, drei Flaschen Wodka und schlanke, deutsche Weißweinflaschen, geschliffene Gläser, Äpfel in funkelnden hohen Kristallschalen, Zitronenscheiben, Krümel, Krümel, Tee …
Auf dem Sessel ein zerknülltes Blatt der humoristischen Zeitung »Teufelspuppe«. Durch die Köpfe streichen Nebelschwaden, ziehen bald hin zur goldenen Insel unbegründeter Fröhlichkeit, bald hinein in die trübe Woge der Unruhe. Aus dem Nebel tauchen lose Worte:
Mit nacktem Hintern soll man sich nichtauf einen Igel setzen!
»Ein lustiges Blättchen … Die Kanonen sind verstummt. Geistreich, hol mich der Teufel! Wodka, Wodka und Nebel. Tram-ta-ta-tam! Gitarre.«
Melonen nicht auf Seife backen!Die Amis sitzen uns im Nacken.
Irgendwo hinter dem Rauchvorhang lacht Myschlajewski. Er ist betrunken.
Des Breitmanns Witze sind trivial.Wo bleiben die Truppen vom Senegal?
»Wo sind sie? Im Ernst, wo bleiben sie?« fragt der betrunkene Myschlajewski hartnäckig.
Die Schafe lammen gern im Walde,Rodsjanko wird Präsident sehr balde.
»Sie sind begabt, die Schurken, das muß man ihnen lassen!«
Jelena, der man nach Talbergs Abreise keine Zeit ließ, zur Besinnung zu kommen … vom Weißwein vergehen Kopfschmerzen nicht, werden nur dumpfer … Jelena saß in ihrem Sessel an der Schmalseite des Tisches. Ihr gegenüber Myschlajewski: flauschig, weiß, im Bademantel, das Gesicht rotfleckig vom Wodka und von grenzenloser Müdigkeit. Die Augen rot umrandet – Kälte, überstandene Angst, Wodka, Erbitterung. An einer Längsseite des Tisches Alexej und Nikolka, an der anderen Leonid Jurjewitsch Scherwinski, Leutnant des ehemaligen Ulanenregiments der Leibgarde und zur Zeit Adjutant im Stab des Fürsten Belorukow, und neben ihm Unterleutnant Fjodor Nikolajewitsch Stepanow, ein Artillerist, der vom Alexander-Gymnasium her den Spitznamen Karausche trug.
Der kleine, gewandte und einer Karausche wirklich sehr ähnliche Stepanow war zwanzig Minuten nach Talbergs Abreise direkt vor Turbins Haustür mit Scherwinski zusammengetroffen. Beide hatten Flaschen bei sich, Scherwinski ein Paket mit vier Flaschen Weißwein, Karausche zwei Flaschen Wodka. Außerdem trug Scherwinski einen riesengroßen, in drei Schichten Papier verpackten Strauß Rosen, für Jelena Wassiljewna selbstverständlich. Schon vor der Haustür teilte Karausche eine Neuigkeit mit: Auf seinen Schulterstücken glänzten goldene Kanonen – er habe es nicht mehr ausgehalten, alle müßten kämpfen gehen, denn mit dem Unterricht an der Universität sei ohnehin nichts los, und wenn Petljura die Stadt einnehme, werde noch weniger los sein. Alle müßten gehen, und die Artilleristen gehörten in die Mörserdivision. Deren Kommandeur sei Oberst Malyschew, die Division sei prächtig, heiße auch Studentendivision. Er, Karausche, sei verzweifelt, daß Myschlajewski sich zu dem blödsinnigen Bataillon gemeldet habe. Einfach dumm sei das. Habe sich als Held zeigen wollen und übereilt gehandelt. Wo er jetzt sei, wisse der Teufel! Vielleicht sei er schon vor der STADT gefallen.