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Moskau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Der »russische Faust« – Michail Bulgakows zweites Meisterwerk endlich neu übersetzt und ab jetzt wieder in Einzelausgabe erhältlich Es gibt Geschichten, deren Sprengkraft ist einfach zu groß. Michail Bulgakows Novelle Das hündische Herz entstand schon 1925, aber sie konnte erst 1968 gedruckt werden – und auch damals nicht in Bulgakows Heimatland, sondern in einer russischen Exilzeitschrift in Deutschland.Warum? Ein genialer Chirurg nimmt einen Straßenköter bei sich zu Hause auf und schafft aus ihm den »neuen Menschen« – er pflanzt ihm Hirnanhangsdrüse und Hoden eines schmierigen Kleinkriminellen ein.Der zum kommunistischen Genossen mutierte Tiermensch erweist sich aber bald nicht nur als echter Widerling: gewissen- und verantwortungslos wie er ist, wird er zur Gefahr für alle. Er bleibt Tier, freilich in Menschengestalt, und erst die gewaltsame Rückoperation kann die Gesellschaft retten. Ein Text, böse und bissig wie kaum ein zweiter, schillernd vieldeutig und grandios geschrieben. Dergleichen wollte man in einem Land, in dem man den »Neuen Menschen« propagierte und das Volk zur Macht erklärte, nicht zulassen. Bis heute wird der vielschichtige Meistertext als Parabel auf russische Verhältnisse gelesen – doch freilich ist er noch mehr: Wie Goethes Faust oder Mary Shelleys Frankenstein ist Bulgakows Novelle eine zeitlose Parabel auf die Widersprüche und Verwerfungen der conditio humana.
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Seitenzahl: 201
Michail Bulgakow
Eine fürchterliche Geschichte
Roman
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Titelseite
Über Michail Bulgakow
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
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Michail Bulgakow (1891–1940) wurde erst lange nach seinem Tod berühmt. Seine wichtigsten Werke durften zu Lebzeiten nicht erscheinen. Der Weltklassiker Meister und Margarita, an dem er die letzten zwölf Jahre vor seinem Tod geschrieben hatte, erschien, zudem in zensierter Fassung, in der UdSSR erst 1966/67. Das hündische Herz hatte Bulgakow schon deutlich früher fertiggestellt, nämlich 1925. Das Urteil des einflussreichen ZK-Mitglieds Leo Kamenew dazu: »Es handelt sich um eine ätzende Attacke auf unsere gegenwärtigen Verhältnisse und kommt auf keinen Fall für eine Veröffentlichung in Betracht.« In der Sowjetunion erschien der Text erstmalig im Jahr 1987(!).
Der Übersetzer
1969 in Moskau geborene und jetzt in Wien lebende Alexander Nitzberg hat mit seinen Gedichten und Übersetzungen russischer und englischer Klassiker wie Daniil Charms, Marina Zwetajewa, Wladimir Majakowski, Anton Tschechow und Edmund Spenser auf sich aufmerksam gemacht. Für seine im Herbst 2012 erschienene Übersetzung von Meister und Margarita, die als »Jahrhundertübersetzung« Furore machte, wurde Nitzberg 2013 für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung nominiert.
Seine Neuübersetzung des hündischen Herzens ist die erste Übertragung ins Deutsche, die auf dem Typoskript letzter Hand basiert.
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Moskau am Rande des Nervenzusammenbruchs
Der »russische Faust« – Michail Bulgakows zweites Meisterwerk endlich neu übersetzt
Es gibt Geschichten, deren Sprengkraft ist einfach zu groß. Michail Bulgakows Novelle Das hündische Herz entstand schon 1925, aber sie konnte erst 1968 gedruckt werden – und auch damals nicht in Bulgakows Heimatland, sondern in einer russischen Exilzeitschrift in Deutschland.
Warum? Ein genialer Chirurg nimmt einen Straßenköter bei sich zu Hause auf und schafft aus ihm den »neuen Menschen« – er pflanzt ihm Hirnanhangsdrüse und Hoden eines schmierigen Kleinkriminellen ein.
Der zum kommunistischen Genossen mutierte Tiermensch erweist sich aber bald nicht nur als echter Widerling: gewissen- und verantwortungslos wie er ist, wird er zur Gefahr für alle. Er bleibt Tier, freilich in Menschengestalt, und erst die gewaltsame Rückoperation kann die Gesellschaft retten.
Ein Text, böse und bissig wie kaum ein zweiter, schillernd vieldeutig und grandios geschrieben. Dergleichen wollte man in einem Land, in dem man den »Neuen Menschen« propagierte und das Volk zur Macht erklärte, nicht zulassen. Bis heute wird der vielschichtige Meistertext als Parabel auf russische Verhältnisse gelesen – doch freilich ist er noch mehr: Wie Goethes Faust oder Mary Shelleys Frankenstein ist Bulgakows Novelle eine zeitlose Parabel auf die Widersprüche und Verwerfungen der conditio humana.
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
Epilog
Verwendete russische Ausgabe
Cave canem! Bulgakows bissiges Buch
Danksagung
Fördernachweis
U-u-u-u-u-huh-huh-huuuuh! Da schaut, wie ich vor die Hunde gehe. Der Schneesturm heult durch den Hof adieu, und ich heule dazu. Alles hin, alles hin. Dieser Schurke mit Haube – dieser Wirt der Kantine für Normale Ernährung der Mitarbeiter des Volkswirtschaftsrates – schüttet kochendes Wasser über mich aus und verbrüht mir die linke Flanke. So ein Wicht, so was schimpft sich noch Proletarier. Ach, Herrgott, das tut ganz schön weh! Die Hitze fährt mir durch Haut und Knochen. Darum heule ich heute, ich heule und heule, doch es hilft nichts.
Komm ich ihm etwa in die Quere? Fress ich dem Volkswirtschaftsrat was weg, wenn ich einmal im Abfall wühle? Geiziges Biest. Seht euch nur seine Fratze an: ist breiter als hoch. Ein Schlawiner mit Schweineschnute. Ach, Menschen, ach, Menschen! Zur Mittagszeit hat mir die Haube Saures gegeben, aber nun ist es dunkel, vielleicht 4 Uhr, dem Zwiebelgeruch nach zu urteilen, der dem Pretschistenka-Löschhaus entweicht. Feuerwehrleute essen zu Abend bekanntlich Grütze – das Allerletzte, genauso wie Pilze. Meine Kumpel, die Köter von der Pretschistenka[1], haben mir übrigens erzählt, am Neglinny, im Restaurant Bar, mampft man Pilze Sauce Piquante als Hauptgericht für 3,75. Na ja, wer es mag – genauso gut kann man auch Gummistiefel abschlecken … U-u-u-u-uh …
Die Seite schmerzt höllisch, und meine weitere Karriere scheint klipp und klar zu sein: Bereits morgen gibt’s schwellende Geschwüre, fragt sich nur, wie ich die verarzten soll. Im Sommer könnte man nach Sokolniki[2] abzischen, dort wächst ein besonderes heilsames Kraut, außerdem hast du Wurstzipfel gratis, die Flaneure lassen überall eingefettetes Stullenpapier liegen, einfach zum Ablecken. Und wäre da nicht die Vettel, die beim Vollmond auf der Wiese »Celeste Aida«[3] jault, dass einem das Herz im Leibe stockt, es wäre schlichtweg fantastisch. Nun gut, aber jetzt? Schon einmal mit dem Schuhabsatz getreten worden? Jawohl. Einen Backstein auf die Rippen gekriegt? Na reichlich, danke der Nachfrage. Ist alles nicht neu, will auch keineswegs jammern, und wenn ich es tue, dann vor physischem Schmerz und Hunger und weil mein Lebensmut glüht … Der hündische Lebensmut ist unauslöschlich.
Doch mein Leib ist zermartert, geschlagen, zur Genüge von Menschen geschändet. Und das Schlimmste: Seit er mir Heißes verpasste, fraß es sich ein bis unter das Fell, was wiederum heißt: Die linke Seite hat keinerlei Schutz mehr. Ich könnte mit größter Leichtigkeit an einer Lungenentzündung erkranken, und erkranke ich daran, dann, liebe Mitbürger, werde ich vor Hunger krepieren. Bei einer Lungenentzündung liegt man nämlich unter der Stiege vom Hauseingang, und wer, wenn nicht ich, ein liegender Junggesellenköter, soll bitte schön die Mistkübel durchstöbern auf der Suche nach etwas Essbarem? Wenn es einen Lungenflügel erwischt, werde ich vermutlich bäuchlings kriechen, alle Kraft verlieren, sodass selbst der letzte Facharbeiter mich mit einem Stock erledigen kann. Und Straßenkehrer mit Blechkokarden fassen mich bei den Beinen und schmeißen mich auf den Karren …
Straßenkehrer – von allen Proletariern eindeutig das ekelhafteste Pack. Menschlicher Abschaum – unterste Liga. Köche gibt es solche und solche. Nehmen wir den verstorbenen Wlas von der Pretschistenka, der keinen vergaß! Denn was ist das Wichtigste während der Krankheit? – Koste es, was es wolle, einen Happen ergattern. Und so kam es vor, berichten die alten Rüden, dass der Wlas ab und zu mal einen Knochen herüberwachsen ließ – und darauf noch jede Menge Restfleisch. Gott hab ihn selig, eine echte Persönlichkeit, aus der Herrschaftsküche der Grafen Tolstoi, nicht etwa vom Rat für Normale Ernährung. Was sie dort bei der Normalen Ernährung so treiben, entzieht sich meinem Hundeverstand! Diese Mistkerle kochen aus stinkigem Pökelfleisch eine Suppe, und die armen Schweine haben keinen blassen Schimmer, was sie da eigentlich futtern dürfen! Also laufen sie hin und fressen und schlürfen!
Manch eine kleine Sekretärin verdient in der Gehaltsstufe 9 knapp 50 Rubel, obgleich ihr Kavalier sie auch hin und wieder mit feschen Fil-de-perse-Strümpfen bedenkt. Aber was muss sie der Fil-de-perse wegen an Schikanen über sich ergehen lassen![4] Kommt die kleine Sekretärin angerannt, bei knapp 50 Rubel gehst du eben nicht in die Bar. Das reicht ja nicht mal für den Kintopp; dabei ist der Kintopp im Leben einer Frau der einzige Trost. Sie zögert, sie rümpft die Nase und schluckt es doch. Also wirklich: 40 Kopeken für 2 Gerichte, die keine 15 Kopeken wert sind, weil die restlichen 25 der Kantinenwirt eingeheimst hat. Ist das die Verköstigung, die sie benötigt? Ihre rechte Lungenspitze ist angeschlagen[5], sie ist unpässlich, man hat ihr den Arbeitslohn gekürzt, sie mit Vergammeltem vollgestopft, da ist sie, da ist sie! Läuft durch die Toreinfahrt in den Strümpfen des Kavaliers. Die Beine sind kalt, der Bauch friert, weil ihr Fell nicht viel besser ist als meins, die Hose durchlässig, bloß Spitzenschnickschnack. Lumpen für den Herrn Kavalier. Sollte sie es doch einmal wagen, in Flanell zu schlüpfen. Schon brüllt der los:
– Einfach keine Klasse! Nein, dieses Landei bin ich leid, nicht noch mehr Ärger mit Flanellhosen, hoppla, hier komm ich. Seht, ich bin jetzt nämlich Vorsitzender, und was ich mir da zusammengerafft habe, wird ausgegeben für den weiblichen Körper, Meeresfrüchte und Markensekt. Hab weiß Gott in der Jugend genug gehungert, und an ein Jenseits glaub ich nicht.
Die Ärmste. Doch bin ich noch ärmer dran. Das sage ich gewiss nicht aus Eigenliebe, allein meine Lage ist deutlich schlechter. Sie hat es wenigstens zu Hause warm, und was ist mit dir! Und du, und du? U-u-u-u-uh! …
– Hier, hiiiier! Lumpi[6], Lumpi … Na, was jaulst du, Kleiner? Na, wer hat dir wehgetan? Uff …
Die Schneesturmhexe ruckelte am Tor, schlug dem Fräulein voll Wucht mit dem Besen aufs Ohr. Riss den Rock hoch, bis an die Knie, legte cremefarbene Strümpfe frei und einen schmalen Streifen schlecht gewaschener Spitzenwäsche, erstickte die Worte, überschüttete den Hund.
– Mein Gott … Welch ein Wetter … Uff … Und der Bauch tut weh. Wohl das Pökelfleisch, wohl das Pökelfleisch! Wann wird das alles ein Ende haben?
Den Kopf gesenkt, stürzte sich das Fräulein in den Kampf, brach durchs Tor, wurde auf der Straße herumgewirbelt, herumgezwirbelt, hin und her geschleudert, schließlich von einem Schneestrudel erfasst – und war weg.
Der Hund aber blieb zurück in der Einfahrt, mit schmerzender Seite, drückte sich an die kalte harte Wand, schnappte nach Luft, fest entschlossen, nirgendwo mehr hinzugehen, doch hier in der Einfahrt zu verrecken. Die Verzweiflung warf ihn um. Zu viel Schmerz und Bitternis, zu viel Furcht und Einsamkeit – schon krochen winzige Hundetränen wie Bläschen aus den Augen hervor und vereisten sofort. Die entstellte Seite ragte in verfilzten steif gefrorenen Büscheln empor, und dazwischen zeigten sich rote bedrohliche Flecken der Verbrühung. Wie hirnlos, stumpfsinnig und grausam sind doch die Köche! – »Lumpi«, so hat sie ihn genannt, nicht wahr? … Zum Teufel, was denn für ein »Lumpi«? »Lumpi«, so heißen pralle, wohlgenährte, dumme, Hafer fressende Hurensöhne aus gutem Hause, er aber ist struppig, hager, zerzaust, ein schmächtiger Streuner, ein herrenloser Hund. Aber trotzdem: Danke für das Kompliment.
Auf der anderen Straßenseite fiel die Tür des grell erleuchteten Geschäfts zu, und heraus trat ein Bürger. Und zwar wirklich ein Bürger und kein Genosse, möglicherweise – ja, höchstwahrscheinlich – sogar ein Herr. Je näher, desto deutlicher: Richtig – ein Herr. Glaubt ihr, ich urteile dem Mantel nach? Blödsinn. Mantel tragen jetzt viele, eben auch Proletarier. Gut, der Kragen ist anders, versteht sich von selbst, aber von Weitem doch ziemlich ähnlich. Was aber gar nicht ähnlich ist – egal ob von Weitem, ob aus der Nähe –, sind die Augen! Augen sind was Signifikantes! Eine Art Barometer. Alles zu sehen – jemand hat große Dürre im Gemüt, kann unsereinem so mir nichts, dir nichts mit der Stiefelspitze in die Rippen stoßen, jemand hat im Gegenteil vor jedermann Angst. Und genau solche Waschlappen beißt man besonders gern in die Wade. Hast du Bammel? – Ist auch besser so. Geschieht dir recht … r-r-r … wau-wau.
Der Herr überquerte sehr selbstbewusst in einer Sturmsäule die Straße und bewegte sich Richtung Toreinfahrt. Richtig, bei dem ist alles zu sehen. Der wird kein vergammeltes Pökelfleisch mampfen, und bekommt er es vorgesetzt, wird er ein Theater veranstalten, in die Zeitungen setzen: Ich, Filipp Filippowitsch, wurde ein Opfer der Gastronomie.
Noch näher, noch näher. Der schmaust ganz üppig und klaut nichts. Stößt auch niemanden in die Rippen und hat selbst vor niemandem Angst, und zwar deshalb nicht, weil er immer satt ist. Der Herr ist ein Intellektueller, hat ein kultiviertes spitzes Bärtchen, einen ergrauten flauschigen tollkühnen Schnauzer, wie bei französischen Chevaliers, allein der Geruch, den der Sturm bringt, ist übel – Krankenhaus, Zigarren.
Was zum Geier sucht denn so jemand in der Zentralwirtschaftskooperative? Jetzt ist er ganz nah … Worauf wartet er? U-u-u-uh … Was kann so jemand in einem derart schäbigen Laden schon kaufen wollen, was er am Ochotny Rjad[7] nicht erhält? Na was wohl?! Wurst. Guter Mann, wüssten Sie nur, woraus die gemacht ist, Sie würden einen weiten Bogen um den Laden schlagen. Die ist eher was für mich!
Und wie besessen kroch der Köter mit letzter Kraft aus dem Tor auf den Bürgersteig. Der Schneesturm ballerte aus seiner Büchse über dem Kopf, schleuderte riesige Buchstaben empor – das Stofftransparent »Ist Verjüngung möglich?«.[8]
Oh ja, und wie sie möglich ist. Der Duft verjüngt mich, hebt mich vom Bauch hoch, zieht brausend, siedend den bereits seit 2 Tagen leeren Magen zusammen, der Duft, der das Krankenhaus besiegt, der himmlische Duft nach zerhacktem Gaul mit Knoblauch und Paprika. Ich spüre und weiß – in der rechten Tasche seines Pelzes – die Wurst. Er ist über mir. Oh, mein Gebieter! Sieh auf mich herab. Ich sterbe. Ach, unser sklavisches Wesen, das elende Los!
Der Köter kroch bäuchlings wie eine Schlange, weinte bittre Tränen. Beachten Sie, was die Köche da tun. Doch Sie geben’s mir eh nicht. Nur zu gut kenn ich die reichen Leute. Hand aufs Herz – was wollen Sie überhaupt damit? Wozu brauchen Sie ein vergammeltes Pferd? Das eklige Zeug kommt ausschließlich vom – na, woher denn sonst? – Mosselprom.[9] Dabei haben Sie heute schon gefrühstückt, Sie, eine international anerkannte Kapazität, dank der männlichen Geschlechtsdrüsen … U-u-u-uh … Ach, was ist das doch nur für ein Leben! Zum Sterben scheint es noch etwas zu früh, und jammern ist wahrlich das Allerletzte. Also nichts wie hin, ihm die Hände lecken.
Der rätselhafte Herr beugte sich über den Köter, ließ die golden gesäumten Augen schillern und entnahm seiner rechten Tasche ein weißes und längliches Paket. Ohne die braunen Handschuhe auszuziehen, wickelte er das Papier auseinander, welches sofort der Sturm erfasste, und brach ein Stück von der Wurst ab, die da heißt »Krakauer spezial«. Ein Stück für den Hund! Oh, du Großzügigkeit in Person. U-u-uh!
– Hier, hier –, sprach der Herr und fügte mit strengster Stimme hinzu: – Da, nimm! Lumpi, Lumpi!
Schon wieder »Lumpi«! Tja, dann bin ich das jetzt! Von mir aus – nennen Sie mich, wie Sie wollen. Für eine so edelmütige Tat …
Der Hund riss schleunigst die Pelle ab, verbiss sich schluchzend in der Krakauer und würgte sie in null Komma nichts herunter. Dabei verschluckte er sich beinahe an der Wurst und dem Schnee, denn vor lauter Heißhunger hätte er um ein Haar auch die Schnur mitgefressen. Noch mehr, noch mehr, leck ich Ihnen die Hand. Küss ich Ihnen die Hose, mein Wohltäter!
– Das reicht fürs Erste –, der Herr sprach abgehackt, beinahe befehlend. Er rückte näher an Lumpi heran, blickte ihm forschend in die Augen und strich unerwartet mit dem Finger im Handschuh intim und kosend über Lumpis Bauch.
– Aha –, äußerte er bedeutsam, – kein Halsband, na bestens, genau dich suche ich. Komm mit. – Und er schnippte mit den Fingern, – hier, hier!
Mitkommen? Und sei es bis ans Ende der Welt, treten Sie mich ruhig mit Ihren Filzschuhen, ich werde nicht klagen.
Auf der ganzen Pretschistenka strahlten Laternen. Die Seite schmerzte schier unerträglich, aber Lumpi vergaß es von Zeit zu Zeit, vertieft in einen einzigen Gedanken – bloß nicht in all dem Tohuwabohu die Erscheinung im Pelz aus den Augen verlieren, ihr irgendwie Liebe und Treue beweisen. Und von der Pretschistenka bis zur Obuchow-Gasse bewies er sie ungefähr 7 Mal. An der Totengasse küsste er einen Absatz, mit wildem Geheul den Weg bahnend, erschreckte er irgendeine Dame, bis sie auf einen Prellstein niedersank, ein paarmal jaulte er mitleidheischend.
So ein widerlicher, auf sibirisch machender Straßenkater kam unter der Regenrinne hervor und witterte, trotz Schneesturm, die Krakauer. Lumpi zog es das Herz zusammen bei der Vorstellung, der reiche Kauz, welcher wunde Köter in der Toreinfahrt aufgabelt, könnte dieses Gesindel mitnehmen, woraufhin das Mosselprom-Erzeugnis zu teilen wäre. Er schnappte mit den Zähnen in Richtung Kater mit solcher Wucht, dass jener zischend – so zischt ein löchriger Wasserschlauch – das Rohr bis zum ersten Stock hinaufschoss.
– F-r-r-r … wau … Hau ab! Die gesamte Mosselprom-Produktion reicht nicht aus für das Lumpenpack, das sich hier auf der Pretschistenka herumtreibt.
Der Herr wusste die Treue zu schätzen – direkt am Löschhaus, vor dem Fenster, aus dem ein Waldhorn wohltönend brummte, belohnte er den Hund mit einem zweiten Stück, diesmal etwas kleiner, so an die 5 Deka. Komischer Kauz. Meint, mich locken zu müssen. Nur keine Sorge. Ich bleibe bei Fuß. Laufe brav nebenher, wohin Sie nur wollen.
– Hier, hier, hier. Hiiier!
In die Obuchow-Gasse? Aber gern. Diese ist uns nämlich bestens vertraut.
– Hier, hier!
Hiiiier? Mit Vergnü… Oh, nein! Mit Verlaub. Da ist ein Portier. Es gibt nichts Gemeineres als dieses Gezücht. Weitaus schlimmer als Straßenkehrer. Eine ganz und gar hassenswerte Rasse. Fieser als Kater. Ein Schinder mit Litzen!
– Jetzt hab keine Angst, hiiierher, hierher!
– Seien Sie gegrüßt, Filipp Filippowitsch.
– Tag, Fjodor.
Also das nenne ich Persönlichkeit! Jesses, an wen bin ich da geraten, was beschert mir mein Hundeschicksal! Was ist denn das nur für ein menschliches Wesen, das in der Lage ist, Straßenköter an Portiers vorbei in ein Haus der Wohngenossenschaft zu schleusen? Und nun seht euch diesen Wicht mal an – kein Mucks, keine Mätzchen. In seinen Augen bleibt es zwar trübe, aber er hält sich zurück unter dem Mützenschirm mit goldener Kordel. So als wäre alles in bester Ordnung. Tja, meine Herren, das zeugt von Respekt! Und ich gehe seelenruhig mit. Na? Ist was? Einen Versuch gefällig? Kannst mich mal. Ach, nur einmal kräftig packen das schwielige Proletarierschienbein. Für all die Schikanen von euresgleichen. Wie oft hast du mir mit einem Schrubber die Schnauze zerschunden, na sag schon, wie oft?
– Hiiier, hiiier.
Wird gemacht, wird gemacht, nur keine Sorge. Wir folgen Ihnen Schritt auf Tritt. Wenn Sie nur so freundlich wären, mir den Weg zu zeigen, werde ich schon nachkommen, ohne Rücksicht auf die verflixten Schmerzen.
Von der Stiege hinunter:
– Keine Post für mich, Fjodor?
Von unten zur Stiege herauf – voller Hochachtung:
– Tut mir leid, keine Post, Filipp Filippowitsch. – (Traulich halblaut hinterdrein:) – Und auf Nummer 3 sind jetzt neue Wohngenossen.
Der würdevolle Hundepatron drehte sich auf der Stufe ruckartig um, beugte sich über das Geländer und fragte entsetzt:
– Und? Weiter?
Seine Augen wurden runder, der Schnauzer sträubte sich.
Der Portier unten hob den Kopf, legte die Hand an den Mund und bestätigte:
– Jawohl. Exakt vier Stück.
– Meine Güte! Ich ahne, wie es in der Wohnung zugehen wird. Und wie sind die?
– Je nun …
– Und Fjodor Pawlowitsch?[10]
– Holt Bretter und Ziegel. Will Trennwände einbauen.
– Nicht zu fassen!
– Alle Wohnungen außer der Ihrigen, Filipp Filippowitsch, werden jetzt untervermietet. Es gab eben eine Vollversammlung, dabei wurden neue Vertreter gewählt. Alle früheren aber jagt man zum Teufel.
– Ach, du liebe Zeit! Oje, oje … Hier, hier …
Ist ja gut, komme ja schon. Bitte sehen Sie es mir nach, dass meine Seite sich leider Gottes bemerkbar macht. Gestatten Sie, Ihnen das Schühchen zu lecken?
Die Kordel des Portiers verschwand. Auf dem marmornen Treppenabsatz drang durch die Rohre ein warmer Hauch, noch einmal wenden und da – die Beletage.
Lesenlernen kann man sich schenken, wenn Fleisch so stark riecht, dass man es bereits von Weitem erschnuppert. Und trotzdem, vorausgesetzt, Sie leben in Moskau und haben ein klein wenig was in der Birne, lernen Sie schon ganz beiläufig lesen, und zwar ohne irgendwelche schlauen Kurse. Von den zigtausend Moskauer Rüden kann sich höchstens ein vollkommener Trottel die Lettern WURST nicht zusammenreimen.
Zuerst hatte Lumpi nach Farben gelernt. Er ist knapp 4 Monate alt, da werden in ganz Moskau blaugrüne Schilder ausgehängt mit der Aufschrift M. S. P. O. METZGERWAREN[11]. Wie gesagt, das alles spielt eh keine Rolle, denn Fleisch ist so oder so zu riechen. Auch ist es schon mal zu Verwechselungen gekommen: Als Lumpi, dessen Witterung ein Motor mit Benzindunst ausgeknockt hatte, im Vertrauen auf die giftig blaue Farbe statt in einem Fleischerladen im Geschäft für Elektrogeräte der Gebrüder Golubisner (Mjasnizkaja-Straße) landete. Die Gebrüder kredenzten ihm Isolierkabel, das nicht schlechter schmeckt als die Kutscherpeitsche. Diese berühmte Episode darf als Initialzündung für Lumpis Studium gelten. Bereits auf dem Gehsteig kapierte Lumpi: »Blau« muss nicht unbedingt »Fleisch« heißen, und seinen Schwanz vor scharfem Schmerz zwischen die zitternden Schenkel klemmend und laut heulend entsann er sich: Auf allen Metzgereien steht ganz links vorne so ein goldenes oder fuchsrotes Dingens, das einem Schlitten ähnlich schaut. – M
Mit der Zeit ging es immer besser. Das A lernte er dank AUSGABE auf dem FISCHMARKT Ecke Mochowaja, dann auch das B (es war bequemer, sich von der Schwanzseite des Wortes heranzupirschen – an dessen Anfang stand meist ein Milizmann).
Gekachelte Quadrate, welche in Moskau gewisse Häuserecken verkleideten, bedeuteten immer und unausweichlich »Käse«. Ein schwarzer Samowarhahn zu Beginn eines Wortes meinte den früheren Eigentümer Tschitschkin[12], Berge von roten holländischen Rollern, Bestien von hundehassenden Händlern, Späne am Boden und ekligen, streng riechenden Backsteiner[13].
Wenn Harmonika gespielt wurde (nicht wirklich besser als »Celeste Aida«) und es nach Würstchen duftete, reihten sich die ersten Lettern der weißen Plakate wie von selbst zum Wort OBSZ, was so viel bedeutete wie OBSZÖNITÄTEN UND TRINKGELDER VERBOTEN. Hier brausten zuweilen Raufereien empor, Menschen wurden mit der Faust auf die Schnauze geschlagen, freilich selten – Hunde dagegen ständig – mit Servietten oder Stiefeln.
Wenn unfrischer Schinken im Schaufenster hing und sich lauter Orangen stauten, war es ein … na … rrr … rrr … war es ein Nahrrrungsmittelladen. Wenn trübe Flaschen mit grässlicher Brühe standen … ein wwwau … ein Wwweingeschäft … Frühere Gebrüder Jelissejew[14] …
Der fremde Herr, der den Köter zum Eingang seiner prächtigen Wohnung führte, die sich in der Beletage befand, klingelte, der Köter hob seinen Kopf und sah ein großes schwarzes Schild mit goldenen Buchstaben, seitlich der breiten, mit gewellten rosa Scheiben verglasten Tür. Die drei ersten Lettern fügte er sofort zusammen: P, R, O – PRO … Weiter ragte so ein hageres Gekrakel, gänzlich schleierhaft.
»Doch nicht etwa ein Proletarier?«, dachte Lumpi verblüfft. »Nein, ausgeschlossen.« Er reckte die Nase hoch, schnüffelte noch einmal am Pelz und kam zu der Überzeugung: »Nicht der leiseste Hauch eines Proletariers. Ein gelehrtes Wort, weiß Gott, was es heißt.«
Hinter der rosa Scheibe entflammte ein unverhofftes fröhliches Licht und stellte das schwarze Schild in den Schatten. Die Tür flog völlig geräuschlos auf, und ein hübsches Fräulein im weißen Schurz und mit Spitzenhäubchen trat vor den Hund und den Herrn. Ersterem schlug göttliche Glut entgegen, dem Rock des Fräuleins entströmten Maiglöckchen.
»Ich muss schon sagen. Gar nicht mal übel«, dachte der Rüde.
– Hereinspaziert, verehrter Monsieur Lumpi –, lud ihn der Herr ironisch ein, also spazierte Lumpi herein und wedelte dabei mit dem Schwanz.
Eine riesige Menge an Gegenständen überfüllte das luxuriöse Vorzimmer. Im Gedächtnis blieb der gewaltige Spiegel, der sogleich einen zweiten zerlumpten und verbummelten Lumpi zurückwarf, nebst Furcht einflößendem Hirschgeweih in der Höhe, unzähligen Pelzen, Galoschen sowie einer opalen elektrischen Tulpe an der Decke.
– Wo haben Sie denn dieses Prachtexemplar aufgetrieben, Filipp Filippowitsch? –, fragte lächelnd das Fräulein und half, den schweren Pelz abzulegen (schwarzbrauner Fuchs mit bläulichem Schimmer). – Wie räudig der ist! Du liebe Zeit!
– Dummes Zeug. Wo siehst du, dass er räudig ist? –, sprach der Herr recht bestimmt und abgehackt.
Den Pelz abgelegt, stand er da in einem schwarzen englischen Anzug, und auf seinem Bauch erschillerte matt und fröhlich eine goldene Kette.
– Halt still, ist ja gut, hiiier … halt doch still, Dummerchen. Hmmm! … Von wegen räudig … Jetzt halt still, verflixt … Hmmm … Aha. Das ist eine Verbrennung. Welch ein Scheusal hat dich denn verbrüht? Na, bleibst du wohl stehen!
»Der Koch, der Halunke. Es war der Koch!«, sagte mit flehenden Augen der Hund und jaulte ein wenig.
– Sina –, veranlasste der Herr, – in den Untersuchungsraum mit ihm und für mich einen Kittel!
Das Fräulein pfiff einige Male, schnippte mit den Fingern, und der Köter zögerte etwas und folgte ihr nach. Zusammen durchquerten sie einen schmalen, schwach beleuchteten Korridor (vorbei an einer lackierten Tür, bis zum Ende, dann nach links) und landeten in einer dunklen Kammer, die Lumpi auf Anhieb stark missfiel wegen ihres heiklen Geruchs. Das Finstre knipste, wurde helllichter Tag, wobei es auf einmal von allen Seiten her nur so blitzte, glitzerte, blendend weiß strahlte.