Die weiße Sklavin - Barbara Cartland - E-Book

Die weiße Sklavin E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Amelias Stiefschwester ist offiziell mit Julius Verton verlobt, liebäugelt aber damit, mit dem reichen Lord Rothwyn durchzubrennen. Als Sophie ihre Meinung ein weiteres Mal ändert, schickt sie Amelia zum vereinbarten Treffpunkt, um Lord Rothwyn die Botschaft zu überbringen. Schäumend vor Wut heiratet Lord Rothwyn statt dessen Amelia, auch um eine Wette zu gewinnen, den seine Freunde waren überzeugt, daß Sophie nicht auftauchen würde. Vom stürmischen Anfang dieser Ehe und der vielen Ängste, die Amelia mitbringt, mitunter die vor ihrer Stiefmutter, erzählt diese Geschichte des frühen 19. Jahrhunderts.

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Die Weiße Sklavin

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2015

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

Inhaltsverzeichnis

1819

„Aber Sophie, das kannst du doch nicht tun!“

„Ich tue, was mir gefällt!“ antwortete das junge Mädchen.

Man konnte sich kaum vorstellen, daß es jemanden gab, der schöner war als sie. Mit ihren goldenen Locken, ihrer zarten weißen Haut und ihren vollkommenen Zügen war Sophie Studley zu einer Berühmtheit geworden, sobald die Dandys von St. James sie erblickt hatten.

Nach einem Monat in London wurde sie „Die Unvergleichliche“ genannt, und nach zwei Monaten fand ihre Verlobung mit Julius Verton statt, der nach dem Tod seines Onkels der Duke of Yelverton sein würde.

Die Verlobung war in der „Gazette“ bekannt gegeben worden, und schon trafen Hochzeitsgeschenke in dem Haus in Mayfair ein, das Lady Studley für die Londoner Saison gemietet hatte.

Aber nun, zwei Wochen vor der Hochzeit, hatte Sophie erklärt, sie beabsichtige, mit Lord Rothwyn zu fliehen.

„Es wird einen Riesenskandal geben“, wandte Amelia ein. „Warum willst du das nur tun?“

Der Unterschied zwischen den beiden nahezu gleichaltrigen Mädchen war erschreckend. Während Sophie dem herrschenden Schönheitsideal entsprach und einer englischen Rose glich, sah Amelia mitleiderregend aus. Nach einer langen Krankheit bestand sie - wie die Dienerschaft sagte - nur noch aus „Haut und Knochen“. Da sie Stunden damit zugebracht hatte, für ihre Stiefmutter zu nähen, ohne ausreichend Licht zu haben, waren ihre Augen nun entzündet und geschwollen. Das glatte Haar, das grau erschien, war straff zurückgekämmt und ließ ihre Stirn sehen, auf der Sorgenfalten standen. Beide Mädchen hatten etwa die gleiche Größe, doch während Sophie Gesundheit und Lebensfreude verkörperte, wirkte Amelia wie ein Schatten und dem Tode nah.

„Ich hätte gedacht“, antwortete Sophie in hartem Ton, „daß der Grund selbst für einen geistig minderbemittelten Menschen wie dich klar auf der Hand liegen würde.“

Da Amelia nicht antwortete, fuhr sie fort: „Julius wird einmal Duke - sonst hätte ich seinen Antrag nie angenommen -, die Frage ist nur, wann. Der Duke of Yelverton ist erst sechzig. Er kann noch zehn oder fünfzehn Jahre leben. Bis dahin bin ich zu alt, um meine Stellung als Duchess genießen zu können.“

„Du wirst auch dann noch schön sein“, sagte Amelia.

Sophie wandte sich zum Spiegel um. Sie lächelte bei dem Anblick, der sich ihr dort bot. Zweifellos stand ihr das teure, blaßblaue Kleid mit dem modernen Ausschnitt ausgezeichnet. Das teure Korsett aus Paris ließ ihre Taille zierlich erscheinen, und dieser Effekt wurde noch unterstrichen durch die zahlreichen, mit Blumen und Tüllrüschen verzierten Röcke.

„Ja“, erwiderte sie langsam, „ich werde auch dann noch schön sein. Aber ich möchte sofort Duchess werden. Dann könnte ich zu der Parlamentseröffnung gehen, wo ich meine Adelskrone tragen würde, und könnte meine Rolle bei der Krönung spielen.“ Nach einer Pause fügte sie hinzu: „Dieser langweilige alte König muß doch bald mal sterben.“

 „Vielleicht läßt der Duke dich nicht lange warten“, meinte Amelia mit ihrer sanften, melodischen Stimme.

„Ich beabsichtige überhaupt nicht zu warten, weder kurze noch lange Zeit. Ich fliehe heute Nacht mit Lord Rothwyn! Es ist schon alles vorbereitet.“

„Glaubst du wirklich, daß das vernünftig ist?“ fragte Amelia.

„Er ist sehr reich“, gab Sophie zurück, „einer der reichsten Männer Englands, und er ist ein Freund des Königs, was Julius nie werden wird.“

„Er ist älter als Mr. Verton. Außerdem glaube ich - ich habe ihn aber natürlich noch nie gesehen -, er ist etwas furchteinflößend.“

„Das ist richtig“, stimmte Sophie zu, „er ist dunkel, sehr ernst und zynisch. Das macht ihn unglaublich attraktiv!“

„Liebt er dich?“ fragte Amelia leise.

„Er betet mich an! Beide tun das, aber, offen gesagt, wenn man beide Männer gegeneinander abwägt, glaube ich, ist Lord Rothwyn die bessere Partie.“

Einen Moment herrschte Stille, dann sagte Amelia: „Ich glaube, was du eigentlich bedenken solltest, Sophie, ist, mit wem du glücklicher sein würdest. Das ist es doch, was in einer Ehe wirklich wichtig ist.“

„Du hast schon wieder gelesen! Mama wäre furchtbar böse, wenn sie das wüßte. Liebe ist etwas für Bücher und Milchmädchen, nicht aber für Damen der Gesellschaft.“

„Kannst du dir wirklich eine Ehe ohne Liebe vorstellen?“

„Ich kann mir die Ehe mit jedem vorstellen, der mir als Frau Vorzüge zu bieten hat. Und ich bin sicher, Lord Rothwyn ist dazu in der Lage. Er ist reich! Er ist sogar sehr reich.“

Sie wandte sich vom Spiegel ab und trat an den Schrank, der mit teuren, auserlesenen Kleidern angefüllt war, deren Rechnungen - wie Amelia wußte - noch nicht bezahlt waren.

Aber sie waren die wesentlichen Waffen gewesen, die Sophie benötigt hatte, um die Aufmerksamkeit der Beau Monde auf sich zu lenken; eine Aufmerksamkeit, die ihr immerhin drei Anträge eingebracht hatte.

Einer kam von Julius Verton, dem zukünftigen Duke of Yelverton, der zweite unerwartet in der letzten Woche von Lord Rothwyn.

Der dritte, den sie jedoch unverzüglich abgelehnt hatte, wurde ihr von Sir Thomas Whernside gemacht, einem ältlichen, liederlichen Ritter, der - entgegen allen Erwartungen seiner Freunde, die ihn für einen erklärten Junggesellen hielten - schon auf den ersten Blick von Sophies Schönheit überwältigt worden war.

Natürlich hatte es auch andere gegeben, sie waren aber für Sophie absolut unwesentlich gewesen.

Als Julius Verton ihr die Ehe vorgeschlagen hatte, schien es, als würden all ihre Träume wahr.

Selbst Sophies kühnste Gedanken waren von der Tatsache übertroffen worden, daß sie Duchess werden sollte. Aber obwohl sie seinen Antrag entzückt angenommen hatte, gab es doch Nachteile, die bedacht werden mußten. Am schlimmsten war, daß Julius Verton kaum Geld besaß. Er erhielt monatlich einen geringen Betrag von seinem Onkel, da er der Erbe des Dukedom war. Aber diese Summe würde es ihnen nur erlauben, ein ruhiges, wenn auch verhältnismäßig komfortables Leben zu führen, bis er die Yelverton-Ländereien erben würde.

Trotzdem konnte man eine solch vorteilhafte gesellschaftliche Bindung natürlich nicht ablehnen.

Lady Studley hatte sehr schnell die Anzeige in der „Gazette“ aufgegeben, und die Hochzeit sollte vor der Abreise des Königs nach Brighton in St. George, am Hanover Square, stattfinden.

Sophies Tage waren angefüllt mit Anproben bei der Schneiderin, mit der Durchsicht der Geschenke, die täglich in dem Haus in der Hill Street eintrafen, und mit der Entgegennahme von Glückwünschen seitens ihrer Bekannten; Freunde hatte sie in London noch nicht gefunden. Studley war vielleicht ein bekannter Name auf dem Lande, wo sie herkamen, aber Sophies Erfolg in der Beau Monde beruhte nur auf ihrer Schönheit.

Alles schien ruhig zu verlaufen - bis plötzlich Lord Rothwyn auftauchte.

Sophie hatte ihn auf einem der zahlreichen Bälle getroffen, zu denen sie und Julius Verton Nacht für Nacht eingeladen waren. Lord Rothwyn war vorher nicht in London gewesen und hatte sie deshalb noch nicht kennengelernt.

Unter einem schimmernden Kerzenhalter stehend, dessen Kerzen goldene Flammen in ihrem Haar entzündeten und das zauberhafte Weiß ihrer Haut enthüllten, war Sophie in der Lage, auch dem stärksten Mann den Kopf zu verdrehen, wenn sie dazu noch verführerisch nach allen Seiten lächelte.

„Wer zum Teufel ist das?“ hörte sie eine Stimme ausrufen und erblickte einen dunklen, zynisch wirkenden Mann, der sie vom anderen Ende des Saales aus anstarrte.

Das überraschte sie nicht, denn sie war daran gewöhnt, daß die Männer von ihrem Anblick überwältigt waren, und so gelang es ihr, zur Seite zu blicken und auf diese Weise ihr vollkommenes Profil zur Geltung zu bringen.

„Wer ist der Herr, der gerade den Saal betreten hat?“ fragte sie leise.

„Das ist Lord Rothwyn. Kennen Sie ihn noch nicht?“ antwortete der Herr, den sie angesprochen hatte.

„Ich habe ihn nie zuvor gesehen.“

„Er ist ein seltsamer Kerl mit teuflischem Temperament, aber ein Krösus. Und der König konsultiert ihn immer, wenn er eines seiner verrückten Gebäude plant.“

„Oh, wenn er dem Pavillon in Brighton zugestimmt hat, muß er verrückt sein. Ich hörte gestern jemanden sagen, er sei der Alptraum eines Hindus“, bemerkte Sophie.

„Das ist sicher eine gute Beschreibung. - Wie ich sehe, ist Lord Rothwyn entschlossen, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Offensichtlich hatte Lord Rothwyn darum gebeten, Sophie vorgestellt zu werden, und nun kam ein gemeinsamer Bekannter auf sie zu.

„Miss Studley“, sagte er, „darf ich Ihnen Lord Rothwyn vorstellen?“

Sophie lächelte verführerisch, als sich Lord Rothwyn mit einer Eleganz, die sie nicht von ihm erwartet hatte, vor ihr verbeugte, und sie versank graziös in einen tiefen Knicks.

„Ich war einige Zeit nicht in London und muß nun bei meiner Rückkehr feststellen, daß ein Meteor auf die Stadt niedergegangen ist, der mit seiner göttlichen Kraft über Nacht alles verändert hat.“

Dies war der Anfang eines wirbelsturmartigen Freiens um sie, so feurig und heftig, daß Sophie völlig überwältigt war.

Es schien, als kämen stündlich Blumen, Briefe und Geschenke.

Lord Rothwyn fuhr mit Sophie spazieren, lud sie und ihre Mutter in die Oper ein und gab eine Gesellschaft für sie in Rothwyn House, die - wie Amelia später erfuhr — alles übertraf, was Sophie bis dahin erlebt hatte.

„Seine Königliche Hoheit war anwesend“, hatte Sophie erzählt, „und als er mir zu meiner Verlobung gratulierte, sah ich, daß er bemerkt hatte, daß auch Lord Rothwyn um mich warb.“

„Ich nehme an, es wäre für jeden schwierig gewesen, das nicht zu bemerken“, hatte Amelia geantwortet.

„Er bewundert mich. Wenn er vor Julius um mich angehalten hätte, hätte ich seinen Antrag angenommen!“ hatte Sophie selbstzufrieden gesagt.

Und nun hatte sie sich plötzlich entschlossen, mit ihm zu fliehen.

„Das bedeutet, daß ich meine große Hochzeit opfere. Ich werde keine Brautjungfern haben, kein Empfang wird stattfinden, und ich kann auch mein schönes Hochzeitskleid nicht tragen“, sagte sie leise, „aber Seine Lordschaft hat mir einen riesigen Empfang versprochen, sobald wir von unserer Hochzeitsreise zurückgekehrt sein werden.“

„Vielleicht wird man - schockiert sein, daß du Mr. Verton so grausam - verraten hast“, meinte Amelia zögernd.

„Das wird sie nicht davon abhalten, eine Einladung nach Rothwyn House anzunehmen“, versicherte Sophie.

„Ich glaube trotzdem, du solltest den Mann heiraten, dem du dein Versprechen gegeben hast“, sagte Amelia leise.

„Ich bin froh, sagen zu können, daß mir das Gefühl für derlei Dinge abgeht. Trotzdem werde ich Seiner Lordschaft klarmachen, welches Opfer ich ihm bringe.“

„Glaubt er, daß du ihn liebst?“

„Natürlich glaubt er das. Ich habe ihm selbstverständlich erzählt, daß ich nur deshalb mit ihm fliehe, weil ich mich Hals über Kopf in ihn verliebt habe und nicht mehr ohne ihn leben kann.“

Sophie lachte. Es klang nicht angenehm.

„Ich könnte jeden heiraten, der so reich ist wie Lord Rothwyn.“ Sie seufzte leicht und fuhr dann fort: „Na, vielleicht wird Seine Lordschaft nicht lange leben. Dann werde ich eine reiche Witwe sein und kann vielleicht schließlich doch noch Julius Verton heiraten und Duchess werden.“

„Sophie!“ rief Amelia aus. „Wie kannst du etwas so Böses sagen!“

„Warum? Schließlich heiratete Elizabeth Gunning auch zwei Dukes, und sie war nicht schöner als ich! Man nannte sie die Doppelte Duchess.“

Amelia antwortete nicht, als hätte sie bemerkt, daß nichts Sophies Meinung ändern konnte.

„Holt Seine Lordschaft dich hier ab?“ fragte sie stattdessen.

„Nein, natürlich nicht. Er glaubt, daß Mama nichts von unserem Vorhaben weiß und uns Hindernisse in den Weg legen würde, wenn sie davon erführe.“ Lachend fügte sie hinzu: „Er kennt Mama nicht!“

„Wo triffst du ihn?“

„Vor der Kirche St. Alphage, gleich beim Grosvenor Square. Sie ist klein und dunkel, aber seiner Lordschaft erscheint sie als der richtige Treffpunkt bei einer Flucht. Und was noch wichtiger ist: Man kann den Vikar bestechen, den Mund zu halten. Das ist mehr, als man von den meisten anderen sagen kann, die fast alle mit den Zeitungen zusammenarbeiten.“

„Und wohin fahrt Ihr nach Eurer Hochzeit?“

Sophie zuckte mit den Schultern.

„Das ist doch nicht so wichtig. Hauptsache, es ist komfortabel. Ich werde seinen Ring am Finger tragen und Lady Rothwyn sein.“

Wieder trat Ruhe ein, bis Amelia zögernd fragte: „Und was ist mit - Mr. Verton?“

„Ich habe eine Nachricht für ihn geschrieben, und Mama wird dafür sorgen, daß ein Diener sie ihm bringt, gerade wenn ich in der Kirche ankomme. Wir dachten, es sähe besser aus, wenn wir ihn benachrichtigen, bevor die Trauung stattfindet.“ Sie lächelte. „Das war wirklich listig, denn er ist bei seiner Großmutter in Wimbledon und wird meinen Brief erst erhalten, wenn ich längst verheiratet bin.“ Nach einer Pause fügte sie hinzu: „Aber er wird glauben, daß ich richtig gehandelt habe, und es wird zu spät für ihn sein, Seine Lordschaft zum Duell zu fordern, was wirklich peinlich wäre, um es vorsichtig auszudrücken.“

„Mr. Verton tut mir leid“, sagte Amelia leise. „Er ist sehr in dich verliebt, Sophie.“

„Das sollte er auch sein“, gab Sophie zurück. „Aber ganz offen, Amelia, ich habe ihn immer für unreif und langweilig gehalten.“

Sophies Worte erstaunten Amelia nicht im mindesten. Vom ersten Augenblick der Verlobung an hatte sie gewußt, daß Sophie nicht im geringsten an Mr. Verton als Mann interessiert war. Seine leidenschaftlichen und bewundernden Briefe blieben ungeöffnet, die von ihm geschickten Blumen wurden kaum eines Blickes gewürdigt, und Sophie beschwerte sich, daß seine Geschenke entweder nicht gut genug waren oder nicht ihren Vorstellungen entsprachen.

Und doch, fragte Amelia sich nun, war Sophie wirklich mehr an Lord Rothwyn interessiert?

„Wie spät ist es?“ fragte Sophie vom Frisiertisch.

„Halb sieben“, antwortete Amelia.

„Warum hast du mir nichts zu essen gebracht? Du kannst dir doch denken, daß ich hungrig bin.“

„Ich werde dir sofort etwas holen gehen.“

„Sieh zu, daß es gut ist. Ich brauche etwas Kräftiges für das, was ich heute Abend vorhabe.“

„Wann triffst du Seine Lordschaft?“ fragte Amelia, als sie zur Tür ging.

„Er wird um neun Uhr dreißig in der Kirche sein, und ich beabsichtige, ihn etwas warten zu lassen. Es wird gut für ihn sein zu befürchten, ich könnte im letzten Moment doch nicht kommen.“

Sie lachte.

Amelia verließ das Zimmer.

„Du kannst jetzt ruhig den Diener mit der Nachricht los schicken. Er wird über eine Stunde benötigen, um nach Wimbledon zu kommen. Der Brief liegt auf meinem Tisch.“

„Ich werde ihn schon finden“, antwortete Amelia.

Als sie den Brief betrachtete, hatte sie das Gefühl, Sophie täte etwas Unwiderrufliches, das sie vielleicht bereuen würde. Aber dann sagte sie sich, das ginge sie nichts an, und begab sich ins Tiefgeschoß.

Es gab nur wenige Bedienstete im Haus, denn Lady Studley hatte alles Geld, das sie besaß, und noch einiges mehr für die Miete des Hauses und für Sophies Kleider ausgegeben, damit reiche oder wichtige junge Männer um Sophie anhielten.

Diejenige, die darunter zu leiden hatte, war Amelia.

Selbst nach dem Tod ihres Vaters hatten einige der alten Diener noch weiter für sie gearbeitet, weil sie es schon so lange getan hatten.

Aber hier in London fand Amelia sich plötzlich in der Rolle der Köchin, des Hausmädchens und der Zofe. Sie fing als Erste zu arbeiten an und hörte als Letzte wieder auf.

Ihre Stiefmutter hatte sie immer gehaßt und nach dem Tode ihres Vaters auch kein Hehl daraus gemacht. In ihrem eigenen Haus und vor den Augen der Bediensteten, die Amelia noch aus ihrer Kinderzeit kannten, hatte sich Lady Studley noch beherrscht; in London jedoch hatte sie ihre Zurückhaltung völlig abgelegt. Amelia wurde zur Sklavin, mußte die Arbeiten ausführen, die andere verweigerten, und wurde hart bestraft, wenn sie protestierte.

Manchmal dachte sie, Lady Studley wolle sie töten, so hart wurde sie oft geschlagen.

Nur Amelia kannte die Wahrheit; nur sie wußte, auf welchen Geheimnissen Lady Studley ein neues Leben für sich und ihre Tochter aufgebaut hatte. Ihr Tod würde eine Erleichterung für die beiden bedeuten.

Aber dann sagte sie sich, daß diese Gedanken ihr nur aufgrund der schweren Krankheit kämen, die sie gerade durchgemacht hatte. Viel zu früh hatte sie ihr Bett verlassen müssen, einfach, weil man ihr in ihrem Zimmer kein Essen servierte.

Nachdem Amelia von Tag zu Tag schwächer geworden war, hatte sie sich eines Tages die Treppe hinabgequält, um nicht Hungers zu sterben.

„Wenn es dir so gutgeht, daß du essen kannst, dann kannst du auch arbeiten“, hatte ihre Stiefmutter gesagt, und wieder hatte sie alles machen müssen, was andere nicht tun wollten.

Amelia öffnete die Küchentür und erblickte den Diener, der, ein Glas Bier trinkend, am Tisch saß, und eine schlampige, grauhaarige Frau, die etwas kochte, was nicht gerade appetitlich roch. Sie war eine irische Emigrantin, die erst drei Tage zuvor eingestellt worden war, weil sich niemand sonst bereitfand, für den geringen von Lady Studley gebotenen Lohn zu arbeiten.

„Würden Sie bitte diese Nachricht der Dowager Duchess in Yelverton House überbringen?“ fragte Amelia den Diener.

„Ich gehe, wenn ich mein Bier ausgetrunken habe“, sagte der Diener bestimmt.

Er machte keinerlei Anstalten, sich zu erheben, und Amelia stellte wieder einmal fest, daß die Bediensteten immer sehr schnell merkten, wer im Hause zählte und wer nicht.

„Danke“, erwiderte sie ruhig.

Dann wandte sie sich an die Köchin.

„Miss Studley wünscht etwas zu essen.“

„Es ist nicht viel da“, gab diese zur Antwort. „Ich bereite gerade einen Eintopf, aber er ist noch nicht fertig.“

„Vielleicht sind ein paar Eier vorhanden, und sie kann ein Omelette bekommen“, schlug Amelia vor.

„Ich kann meine Arbeit hier nicht unterbrechen“, antwortete die Frau.

„Ich werde es machen“, bemerkte Amelia. Sie hatte diese Entwicklung ohnehin erwartet.

Während sie ein Omelette mit Pilzen vorbereitete, verließ der Diener grollend den Raum. Sie hatte ihm zu verstehen gegeben, daß der Auftrag nicht bis zum nächsten Tag warten konnte.

Als sie mit dem Tablett Sophies Zimmer betrat, sagte diese unzufrieden: „Du bist lange fort gewesen!“

„Es tut mir leid“, antwortete Amelia, „aber es war nichts vorbereitet. Ich habe dir ein Omelette gemacht. Es gab nichts anderes.“

„Ich verstehe nicht, warum du nicht genügend Lebensmittel bestellen kannst, damit etwas da ist, wenn man es wünscht. Du bist wirklich zu nichts fähig.“

„Der Schlachter liefert uns nichts mehr, bis wir unsere alten Rechnungen bezahlt haben“, erwiderte Amelia.

„Du findest immer irgendeine Entschuldigung“, sagte Sophie streng. „Gib mir das Omelette.“

Während sie aß, hatte Amelia das Gefühl, sie suche nach Mängeln, fände es in Wirklichkeit aber einfach delikat.

„Gieß mir Kaffee ein“, befahl Sophie.

Amelia hatte ein Geräusch gehört.

„Ich glaube, es ist jemand an der Haustür. Jim ist mit deiner Nachricht nach Yelverton gefahren, und ich bin sicher, daß die Köchin nicht öffnen wird.“

„Dann gehst du besser hinunter und schaust nach, wer es ist.“

Sophies Stimme klang sarkastisch.

Als Amelia die Haustür öffnete, stand dort ein Diener in Livree, der ihr eine Nachricht überreichte.

„Für Miss Sophie Studley, Madam.“ Damit wandte er sich ab.

Amelia nahm an, daß es sich um einen Liebesbrief für Sophie handelte, denn die kamen zu allen Tagesstunden. Als sie wieder die Treppe hinaufgehen wollte, ertönte ein Schrei aus dem Hinterzimmer, in dem Lady Studley schlief.

Amelia legte den Brief auf einen kleinen Tisch und begab sich zum Schlafzimmer ihrer Stiefmutter.

Lady Studley war eine große Frau, die in ihrer Jugend sehr gut ausgesehen hatte. Aber jetzt waren ihre Züge grob geworden, und sie hatte zugenommen. Es war schwer vorzustellen, daß sie Sophies Mutter war. Aber noch immer konnte sie sehr anziehend aussehen, wenn sie Wert darauf legte, und Personen, die sie nicht näher kannten, hielten sie für eine amüsante Gesellschafterin.

Nur diejenigen, die mir ihr lebten, wußten, wie grausam sie sein konnte. Sie bemühte sich selten, ihr Temperament zu zügeln.

Nach einem kurzen Blick in ihr Gesicht wußte Amelia sofort, daß sie wütend war.

„Komm her, Amelia“, sagte ihre Stiefmutter, als sie den Raum betrat.

Gehorsam trat sie näher. Lady Studley hielt ihr ein Spitzenkleid entgegen, dessen unterster Besatz zerrissen war.

„Ich habe dir vorgestern schon gesagt, du sollst es nähen!“

Dabei sah sie Amelia an. Dann - als würde der Anblick des Mädchens sie plötzlich die Beherrschung verlieren lassen - schrie sie: „Du faule kleine Schlampe! Du vergeudest deine Zeit und mein Geld, anstatt zu arbeiten. Ich habe dir tausendmal gesagt, daß ich das nicht länger mit ansehe und daß du etwas, was ich dir auftrage, sofort zu erledigen hast!“

Damit warf sie das Kleid Amelia vor die Füße.

„Heb es auf! Und damit du nicht vergißt, was ich dir gesagt habe, werde ich dir eine Lehre erteilen, an die du noch lange denken wirst.“

Bei diesen Worten ging sie durchs Zimmer und ergriff einen Spazierstock, der in der Ecke stand. Sie hielt ihn in der Hand, als sie auf Amelia zukam.

Amelia versuchte, dem Schlag auszuweichen, aber es war schon zu spät. Er traf sie an der Schulter, und als sie einen Schrei ausstieß, schlug ihre Stiefmutter erneut zu, zwang sie auf die Knie, wo Schlag auf Schlag auf sie niederprasselte.

Amelia trug ein Kleid, das einmal Sophie gehört hatte und viel zu groß für sie war. Dadurch saß es am Rücken sehr tief, und der Stock traf nun ihr blankes Fleisch. Sie blutete aus allen Wunden, die noch von früheren Schlägen herrührten, aber nach ihrem ersten Schrei kam kein Laut mehr über Amelias Lippen. Der Schmerz war so stark und der Schrecken über das, was - wie schon oft zuvor - geschah, so groß, daß sie kaum atmen konnte.

Noch immer folgte Schlag auf Schlag, bis sich plötzlich die Tür öffnete, und Sophie rief: „Mama! Mama!“

Ihre Stimme war so schrill, daß Lady Studleys Arm mitten im Schlag verhielt.

„Was ist los?“

Ohne sich um Amelia zu kümmern, die am Boden lag, reichte Sophie ihrer Mutter die Nachricht, die Amelia auf dem Tisch zurückgelassen hatte.

„Der Duke of Yelverton liegt im Sterben!“ rief sie aus. „Jemand hat in Julius’ Namen geschrieben und mir mitgeteilt, daß er sofort nach Hampshire abgereist ist und mich nicht mehr selbst benachrichtigen konnte.“

„Laß sehen.“ Mit diesen Worten ergriff Lady Studley den Brief und las dann laut: