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Seit acht Jahren sucht Brigitte vergeblich nach ihrem in Brasilien verschollenen Sohn Tobias. Nach ihrer Rückkehr von einer solchen Reise findet sie ihren Hund vergiftet im Garten. Einige Tage später gibt Brigitte eine Party, auf der sie sich im Laufe des Abends skandalös verhält. Am nächsten Morgen kann sie sich an nichts erinnern. In den folgenden Tagen und Wochen häufen sich die unerklärlichen Ereignisse, so dass Brigitte an sich selbst zu zweifeln beginnt. Ist sie psychisch krank? Wird sie wirklich bedroht, oder leidet sie unter Verfolgungswahn? Passieren diese schrecklichen Dinge tatsächlich oder entspringen sie nur ihrem zeitweise verwirrten Geist? Steckt vielleicht doch mehr dahinter? -- Dieser Roman erzählt hauptsächlich von Brigittes Leben in der Gegenwart. In Rückblicken erfährt der Leser, was sich in der Vergangenheit ereignet hat. Dadurch entsteht für ihn ein Gesamtbild, das ihn vielleicht ahnen lässt, wer oder was hinter den merkwürdigen Ereignissen stecken könnte.
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Seitenzahl: 776
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Claudia Rimkus
Die weiße Villa
Im Netz des Wahnsinns
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Impressum neobooks
2003
Tagelang hatte ein heftiger Orkan über Roraima im Norden Brasiliens gewütet und eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Heftige Regenfälle, Erdrutsche und Überschwemmungen, umgestürzte Bäume und Strommasten hatten im gesamten Bundesstaat für Chaos gesorgt. Hütten lagen in Trümmern, Telefonleitungen funktionierten nicht mehr. Rettungskräfte waren ständig im Einsatz.
Das kleine aus den Balken mächtiger Urwaldriesen erbaute Buschkrankenhaus hatte dem Sturm ohne größere Schäden widerstanden. Für viele Menschen aus der Umgebung war es der einzige erreichbare Zufluchtsort. Die nächste Ortschaft Alto Alegre lag viel zu weit entfernt, um sie gefahrlos zu erreichen. Die Schutzsuchenden saßen bei den Patienten in den Krankenzimmern oder lagen auf den Fußböden in den Fluren. Hier fühlten sie sich sicher. Die meisten von ihnen waren im Laufe des Abends vor Erschöpfung eingeschlafen.
Unweit des Hospitals lehnte ein Mann in der Dunkelheit an einem Pickup. Er war ganz in schwarz gekleidet und lauerte im Windschatten des Wagens. Ungeduldig blickte er abwechselnd auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr und zum Hospital hinüber. Der Sturm hatte etwas nachgelassen und es regnete nicht mehr. Dennoch fühlte sich der Mann sicher vor Entdeckung. Abermals warf er einen Blick zur Uhr. Bisher war alles nach Plan verlaufen. Allmählich müsste in der Klinik Ruhe einkehren. Niemand würde ihn stören.
Er blickte sich noch einmal nach allen Seiten um. Kein Mensch weit und breit. Ohne Eile ging er um den Wagen herum und nahm die beiden großen Benzinkanister von der Ladefläche. Damit schlich er geduckt zur Rückseite der Klinik. Einen der Blechkanister stellte er neben einem Busch ab und öffnete dann den Verschluss des anderen.
Während er die Flüssigkeit gegen die Außenwände spritzte, verschwendete er keinen Gedanken an die Menschenleben, die er in dieser Nacht auslöschen würde. Das war ein Job für ihn – ein lukrativer dazu. Skrupel kannte er nicht. Es war nicht sein erster Auftrag dieser Art. Deshalb wusste er genau, an welchen Stellen des Gebäudes er den Brandbeschleuniger einsetzen musste. In der Nähe der Fenster war er besonders vorsichtig, um nicht zufällig gesehen zu werden.
Als er beide Kanister geleert hatte, schlich der Mann zu seinem Wagen zurück und tauschte sie gegen zwei gefüllte aus, um auch sie in der näheren Umgebung der Klinik auszugießen. Zuletzt verschüttete er noch eine dünne Spur, die nicht weit von seinem Fahrzeug an einem Pfeiler endete. Die leeren Kanister stellte er auf die Ladefläche zurück und zog eine Plane darüber.
Hastig stieg er in seinen Wagen, startete und lenkte ihn über die holprige, vom Regen aufgeweichte Erdpiste bis unter eine Baumgruppe in der Nähe. Hier würde ihn niemand aufspüren.
Nervös trommelten seine Fingerspitzen auf dem Lenkrad. Dabei beobachtete er das Satellitentelefon auf der Ablage, das sein Auftraggeber ihm zur Verfügung gestellt hatte.
Der Typ hatte an alles gedacht. In dieser abgelegenen Gegend gab es kein Handynetz. Nur über das Satellitentelefon konnten sie Verbindung zueinander aufnehmen. Plötzlich leuchtete das Display des Telefons auf. Gleichzeitig ertönte ein leiser Klingelton – einmal, zweimal. Dann war es vorbei. Im Stillen zählte der Mann langsam bis dreißig.
Wie abgesprochen, läutete es abermals: einmal - zweimal - dreimal - viermal – und verstummte. Das verabredete Signal!
Ohne zu zögern, stieg er aus dem Wagen. Um kein unnötiges Geräusch zu verursachen, lehnte er die Tür nur an und lief zu der Stelle zurück, an der die Benzinspur endete.
Mit dem Rücken zum Wind blieb er stehen und zog einen Fidibus und ein Zippo mit einem Phoenixemblemaus der Jackentasche. Rasch blickte er sich noch einmal um, bevor er in die Hocke ging und den Deckel mit dumpfem Klacken öffnete. Mit dem Daumen drehte er das kleine Rädchen neben dem Docht. Sofort sprang ein Funke über.
Schützend hielt der Mann seine Hand vor die Flamme und entzündete das Holzstückchen, bevor er es auf die benzingetränkte Erde fallen ließ. Augenblicklich brannte der Boden.
Während der Mann zu seinem Wagen zurücklief, bahnten sich die Flammen der Spur entlang ihren Weg.
Aus sicherer Entfernung beobachtete der Brandstifter sein Werk. Im Nu war die Klinik vom Feuer eingeschlossen. Angefacht vom Wind, fraß es sich immer schneller an das Gebäude heran. Dunkle Rauchschwaden stiegen in den Himmel. Es roch nach verbranntem Holz.
Die Menschen in dem kleinen Krankenhaus wurden im Schlaf von den Flammen überrascht. Die meisten erstickten im dichten Rauch. Einem Mann gelang es, dem Inferno zu entkommen. Wie eine lebende Fackel wankte er ins Freie. Seine gellenden Schreie durchschnitten die Nacht. Verzweifelt warf er sich auf die Erde, wälzte sich herum, aber die wütenden Flammen waren stärker. In gekrümmter Haltung blieb er liegen.
Bis auf die Grundmauern brannte das Buschkrankenhaus ab. Es gab keine Überlebenden. Den Rettungskräften, die am Morgen eintrafen, bot sich ein Bild des Grauens und der Zerstörung. Für die Menschen kam jede Hilfe zu spät. Man konnte nur versuchen, ein weiteres Ausbreiten des Feuers zu verhindern, das längst auf die umstehenden Bäume übergegriffen hatte. Durch den heftigen Wind fanden die Flammen stetig neue Nahrung. Erst nach drei Tagen gelang es, die letzten Feuer zu löschen.
2011
Beim Landeanflug konnte man aus dem Flugzeug tief unten die satten Farben der Wiesen und Felder sehen. Obwohl Brigitte Gundlach auf einem Fensterplatz saß, hielt sie die Augen geschlossen. Sie war müde und erschöpft. Nicht nur der lange, anstrengende Flug von São Paulo und das Umsteigen in Frankfurt waren der Grund. Auch dass sie wieder keine Spur von ihrem Sohn entdeckt hatte, machte ihr zu schaffen. Alljährlich reiste sie kreuz und quer durch Brasilien, um nach ihm zu suchen. Schon seit acht Jahren galt er als verschollen. Damals war das kleine Buschkrankenhaus, in dem er als Arzt gearbeitet hatte, bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Obwohl es angeblich keine Überlebenden gab, war Brigitte fest davon überzeugt, dass ihr Sohn noch lebte.
Nervös wartete ihr Neffe im Flughafenterminal Hannover-Langenhagen auf die Ankunft der Maschine. Sein Blick wechselte immer wieder zwischen der Uhr und der Anzeigetafel.
Endlich erschien auf dem Monitor die Information, dass der Flieger aus Frankfurt gelandet war.
Unwillkürlich umfasste er den üppigen Rosenstrauß fester und hielt durch die Glasscheiben der Abfertigung Ausschau nach seiner Tante. Er musste sich eine Weile gedulden, bis die schlanke Gestalt, die einen Gepäckwagen vor sich herschob, die Ankunftshalle betrat.
Sofort eilte Udo Gundlach auf sie zu.
„Herzlich willkommen, Tante Biggi", begrüßte er sie und schloss sie in die Arme. „Wie war dein Flug?"
„Lang und anstrengend." Dankbar nahm sie die Blumen entgegen. „Das ist lieb von dir. Ich kann eine Aufmunterung gebrauchen."
„Es tut mir leid, dass du wieder nichts erreicht hast“, sagte er, wobei er den Gepäckwagen übernahm. Durch einige Telefongespräche, die er mit seiner Tante während ihrer Reise geführt hatte, wusste er, dass es keine neuen Erkenntnisse gab.
„Lass uns später darüber sprechen“, bat Brigitte. Trotz der milden Frühlingstemperatur fröstelte sie, als sie den Terminal durch die automatische Tür verließen. Der Wagen war in der Kurzparkzone in der Nähe des Ausgangs geparkt. Dennoch empfand sie die wenigen Schritte als unangenehm, da ihr Körper noch an den brasilianischen Sommer gewöhnt war. „Ich möchte nur nach Hause.“ Mit einem verwunderten Blick kommentierte sie, dass er sie mit der Firmenlimousine abholte. „Hast du deinen Porsche zu Schrott gefahren?"
„Natürlich nicht", verneinte er und öffnete die Beifahrertür. „Nach dem langen Flug sollst du es so bequem wie möglich haben."
„Wie fürsorglich. Fast könnte ich glauben, dass du deine alte Tante vermisst hast."
„Alte Tante ...", wiederholte er vorwurfsvoll. „Du bist eine Frau in den besten Jahren."
„Die liegen hinter mir", widersprach sie und hüllte sie sich in nachdenkliches Schweigen, bis sie das abendliche Petersfelden und das Anwesen der Fabrikantenwitwe erreichten.
Durch den gepflegten Park rollte die Limousine auf die weiße Villa zu. Kaum hatte Udo den Wagen gestoppt, wurde die schwere Haustür geöffnet, und Helga Busse trat lächelnd ins Freie. Ein sandfarbener Labrador-Mischling folgte ihr auf dem Fuß.
Augenblicke später lagen sich die Freundinnen, die dieses Haus gemeinsam bewohnten, in den Armen, während der Hund vor Freude schwanzwedelnd um sie herumsprang.
„Willkommen zu Hause", sagte Helga herzlich. „Schön, dass du wieder da bist."
„Danke, Helga." Sie übergab ihr die Blumen und strich dem aufgeregt fiependen Hund über den Kopf, ehe sie in die Hocke ging und das Tier an sich drückte. „Ach, Apollo, du hast mir gefehlt. Wahrscheinlich bist du der Einzige, der mir geblieben ist.“
„Er hat dich auch vermisst", sagte Helga. „So, wie wir alle."
Während sie vorausgingen, trug Udo das Gepäck seiner Tante ins Haus.
Wenig später saßen sie im kleinen Salon bei einem Glas Wein und einem Imbiss, den Helga vorbereitet hatte. Deprimiert berichtete Brigitte von ihrer erfolglosen Suche in Brasilien. Dabei kraulte sie den Hund, der neben ihrem Sessel saß.
„Der einzige Lichtblick dieser Reise war José Vargas", schloss sie, worauf ihr Neffe missbilligend die Brauen hob.
„Ist der alte Knabe etwa immer noch hinter dir her?"
„Erstaunlich, nicht!? Stell dir vor, er hat mir sogar einen Heiratsantrag gemacht."
„Das ist doch absurd!", entfuhr es Udo. „Was hat dir dieser alte Regenwäldler denn noch zu bieten?"
„José ist nur knapp zwei Jahre älter als ich."
„Du wirkst aber viel jünger. Du brauchst einen Partner, der dazu passt.“
„Mit dem ich mich dann in der ganzen Stadt lächerlich mache", fügte sie ironisch hinzu. „Man würde behaupten, die alte Gundlach erlebt ihren ...wer weiß, wievielten Frühling."
„Das würde der alten Gundlach aber ganz gut tun", meinte Helga. „Allerdings ist Petersfelden nicht der richtige Ort, nach einem Geliebten Ausschau zu halten. Die in Frage kommenden Männer hier kann man doch allesamt vergessen."
„Recht herzlichen Dank", kommentierte Udo. „Sie sind heute wieder umwerfend charmant."
„Jeder wie er kann", erwiderte sie, ohne eine Miene zu verziehen. „Außerdem lebe ich schon lange genug hier, um das beurteilen zu können.“
„Wie dem auch sei“, sagte Udo, „ich glaube jedenfalls, dass Vargas nicht der richtige Partner für dich ist, Tante Biggi. Oder willst du etwa in Brasilien leben? Du würdest dort bis ans Ende deiner Tage vergeblich nach Tobias suchen."
„Ob ich José heirate oder nicht, ändert überhaupt nichts daran, dass ich meinen Sohn nicht aufgebe! Ich weiß, dass Tobias noch lebt! Irgendwann werde ich ihn finden!"
„Du machst dir selbst was vor", behauptete ihr Neffe. „Seit beinah acht Jahren suchst du ihn jetzt schon. Würde er noch leben, hätte er sich längst bei uns gemeldet."
„Tobias ist nicht tot! Das spüre ich ganz deutlich!"
„Warum hörst du nicht auf, dich zu quälen? Sicher ist es für eine Mutter nicht leicht, ihr einziges Kind zu verlieren, aber du lebst doch an der Realität vorbei, wenn du dir einredest, dass Tobias bei dem Feuer nicht umgekommen ist. Wo sollte er denn sein? Es gibt überhaupt keinen Grund für ihn, sich irgendwo zu verstecken. Das würde er dir außerdem niemals antun. Tobias ist tot!"
„Hör auf!" Erregt hielt Brigitte sich die Ohren zu. „Ich will das nicht mehr hören! Du solltest jetzt besser gehen!"
„Wie du meinst." Seufzend erhob sich ihr Neffe. „Eines Tages wirst du erkennen, dass ich Recht habe. Dann wirst du die Realität akzeptieren müssen."
Nachdem er sich verabschiedet hatte, verließ Udo den kleinen Salon. Er achtete nicht auf den Hund, der ihm hinausfolgte. Erst als er in sein Auto steigen wollte, bemerkte er das Tier, das erwartungsvoll bei ihm stehenblieb.
„Du kannst nicht mit“, sagte Udo und strich ihm über den Rücken. „Frauchen geht nachher bestimmt noch eine Runde mit dir.“
Sanft schob er Apollo beiseite und stieg in den Wagen. Auf der Fahrt über das Anwesen sah er im Rückspiegel den Hund, der ihm nachlief. Udo war sicher, dass Apollo am Tor umkehren würde. Das kluge Tier wusste, wie weit es sich vom Haus entfernen durfte. Tatsächlich blieb Apollo an der Grundstückseinfahrt stehen. Er schaute den Rücklichtern der Limousine noch einen Moment lang nach, bevor ein Rascheln seine Aufmerksamkeit erregte. Es kam aus der Nähe eines großen weißblühenden Rhododendrons. Sofort lief der Hund in diese Richtung. Dabei nahm er die Witterung eines Fremden auf und fing an zu bellen. Hinter dem Alpenrosenstrauch trat ein dunkel gekleideter Mann hervor. Seine Finger steckten in schwarzen Lederhandschuhen. Als der Hund ihn erreichte, sprach er leise auf ihn ein.
„Ganz ruhig, Apollo. Schau, was ich dir Leckeres mitgebracht habe.“ Er zog eine dicke Bockwurst aus der Jackentasche, die er dem Tier zeigte. Abrupt verstummte das Bellen. „Mach brav Sitz! Dann bekommst du sie.“ Zögernd kam der Hund der Aufforderung nach. Seine Augen waren auf die Wurst gerichtet. „So ist es fein“, lobte der Mann. „Bist ein guter Junge.“
Vorsichtig hielt er dem Tier den Leckerbissen hin. Wie erwartet, konnte Apollo nicht widerstehen und schnappte nach der Wurst. Während er sie verschlang, lief der Mann zum Tor und verschwand auf der Straße.
Unterdessen bemerkte Brigitte im kleinen Salon Helgas besorgten Blick, als sie sich eine Zigarette aus der hölzernen Dose nahm und nach ihrem vergoldeten Feuerzeug griff. Seit ihrer Rückkehr lagen schon einige ausgedrückte Zigarettenstummel im Aschenbecher.
„Du solltest nicht so viel rauchen, Brigitte."
„Willst du mir jetzt auch noch vorschreiben, was ich tun soll? Ich mache, was ich will!"
„Du solltest aber auch an deine Gesundheit denken."
„Wozu?" Entmutigt schüttelte sie den Kopf. „Was habe ich denn noch vom Leben zu erwarten? Seit Eduard und Tobias nicht mehr da sind, ist alles so sinnlos. Ich fühle mich schrecklich nutzlos."
„Ruh dich ein paar Tage aus. Das wird dir gut tun. Du kannst lange Spaziergänge mit Apollo unternehmen und ..."
„Wo steckt der Hund eigentlich?", fiel Brigitte ihr ins Wort und schaute sich um. „Vorhin hat er noch vor meinen Füßen gelegen."
„Wahrscheinlich ist er eben mit Udo rausgelaufen. Apollo ist bestimmt wieder in den Garten entwischt."
„Dann mache ich noch einen kleinen Rundgang mit ihm." Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und erhob sich. „Kommst du mit?"
„Ich räume inzwischen ab", verneinte die Freundin, worauf Brigitte das Haus über die Terrasse verließ. In der Abenddämmerung ging sie in den Park. Nur die Laternen links und rechts des Weges von der Auffahrt zum Haus spendeten etwas Licht.
„Apollo!", rief sie nach dem Hund. Sie hatte den Mischling vor einigen Jahren aus dem Tierheim mitgebracht, für das sie sich mit Spenden und Beratung engagierte. „Apollo, komm her!" Verwundert ging sie weiter, als er nicht wie gewohnt gleich reagierte. „Apollo! Wo steckst du denn?" Aus der Nähe einer Baumgruppe drang leises Jaulen zu ihr herüber. Sofort beschleunigte Brigitte ihre Schritte in diese Richtung. „Apollo!?", rief sie abermals und entdeckte im nächsten Augenblick den Hund, der unter dem Fliederbusch lag. „Da bist du ja." Besorgt ging sie neben dem winselnden Tier in die Hocke und strich dem apathisch daliegenden Hund über den Kopf. „Was ist mit dir? Du bist doch nicht etwa krank? – Na komm, wir gehen rein und rufen den Tierarzt."
Als der Hund nur ein klägliches Wimmern von sich gab, sprang Brigitte auf und lief zum Haus zurück.
„Helga!", rief sie nach der Freundin, die auf die Terrasse trat.
„Ist was passiert?"
„Apollo liegt da hinten bei den Bäumen", erklärte sie atemlos. „Irgendwas stimmt nicht mit ihm. Wir müssen den Tierarzt holen."
„Er war doch den ganzen Tag über putzmunter", erwiderte Helga erstaunt. „Vielleicht hat er was gefressen, das ihm nicht bekommen ist. Wir bringen ihn erst mal ins Haus." Gemeinsam liefen sie zu der Stelle, an der das Tier nun reglos auf der Seite lag. „Apollo!?", sprach Helga den Hund an und hockte sich neben ihn. Seine Augen waren geöffnet, wirkten aber starr und blicklos. Helga war auf einem Gutshof aufgewachsen und erkannte schon nach kurzer Untersuchung, dass dem Tier nicht mehr zu helfen war. Deshalb erhob sie sich gleich wieder. „Brigitte ..."
„Was ist mit ihm? Du kennst dich doch mit Tieren aus.“
„Wir können nichts mehr für ihn tun", sagte sie mit Bedauern in der Stimme. „Apollo ist tot."
„Tot?" Ungläubig schüttelte Brigitte den Kopf. „Nein, das ist nicht wahr!" Verzweifelt sank sie neben dem Hund auf die Knie. „Apollo! Bitte, wach auf! Du darfst mich nicht auch noch verlassen!"
Behutsam legte Helga die Hand auf ihre Schulter.
„Komm, ich bringe dich rein." Fürsorglich half sie der Freundin auf, die sie aus tränenverhangenen Augen anschaute.
„Wir können ihn doch hier nicht so liegen lassen."
„Darum kümmere ich mich später", versprach Helga und stützte ihre Freundin, die am Ende ihrer Kräfte war. Der Schock schien sie zu lähmen.
Sehr spät an diesem Abend lenkte die Ärztin den roten Wagen durch den Park auf die weiße Villa zu. Auf dem Vorplatz stoppte sie unter einer Laterne und schaltete die Scheinwerfer aus. Rasch verließ sie das Fahrzeug, nahm ihre schwarze Tasche aus dem Kofferraum und eilte durch den leichten Regen die wenigen Stufen zum Haus hinauf. Ehe sie jedoch den Klingelknopf berührt hatte, wurde die Tür von innen geöffnet.
„Frau Dr. Hellberg? - Ich bin Helga Busse, die Freundin von Frau Gundlach."
„Wir haben miteinander telefoniert", sagte Mona Hellberg, während sie eintrat. „Wo ist die Patientin?"
„Oben in ihrem Schlafzimmer", gab Helga ihr Auskunft und deutete zur Galerie hinauf. „Brigitte wollte nicht, dass ich einen Arzt rufe, aber ich mache mir Sorgen um sie." Um Verständnis bittend, schaute sie die Ärztin an. „Es tut mir leid, dass ich Sie so spät noch herbemüht habe, aber ich fürchte, diese Aufregungen heute waren einfach zu viel für meine Freundin."
„Um welche Art von Aufregungen handelte es sich?", fragte die Ärztin, als sie die Treppe hinaufgingen.
Knapp berichtete Helga von den Ereignissen.
„Inzwischen war der Tierarzt hier und hat festgestellt, dass Apollo vergiftet wurde“, schloss sie. „Als Brigitte das hörte, ist sie beinah zusammengebrochen. Sie hat sehr an dem Tier gehangen." Behutsam klopfte sie an die Schlafzimmertür und trat ein. „Brigitte", sprach sie die Freundin, die im Bett lag, an. „Ich habe nach einem Arzt telefoniert, damit ..."
„Ich brauche keinen Arzt", unterbrach Brigitte sie mit tränenerstickter Stimme und kehrte ihr den Rücken zu. „Ich will niemanden sehen."
Hilflos schaute Helga die Ärztin an.
„Lassen Sie mich bitte mit Frau Gundlach allein", sagte Dr. Hellberg leise, worauf Helga das Halbdunkel des Raumes verließ und die Tür hinter sich schloss.
Interessiert blickte sich die Ärztin im Schlafzimmer um, bevor sie ans Bett trat.
„Frau Gundlach!? Ich bin Dr. Hellberg.“
Argwöhnisch drehte sich die Patientin herum. Dass es sich bei diesem Arzt um eine Frau handelte, noch dazu um eine sehr hübsche, erregte ihr Misstrauen.
„Gehen Sie!", stieß sie kühl hervor und zog mit einer unbewussten Geste die Bettdecke höher. „Ich brauche Sie nicht!"
„Frau Gundlach, ich bin Ärztin", erklärte Mona Hellberg geduldig. „Man hat mich gerufen, weil Sie heute sehr viel Aufregung hatten und einem Zusammenbruch nahe waren. Ihre Hände zittern ja immer noch, und Sie atmen rasch und flach." Entschlossen öffnete sie ihre Tasche und nahm das Stethoskop heraus. „Da ich nun mal hier bin, kann ich Sie auch untersuchen." Ernst erwiderte sie den Blick der Patientin, wobei sie sich unaufgefordert auf die Bettkante setzte.
Widerwillig ließ Brigitte es geschehen, dass die fremde Ärztin die Bettdecke etwas herunterschob. Während Dr. Hellberg ihren Brustkorb durch den dünnen Stoff des Nachthemdes abhorchte, schloss Brigitte ergeben die Augen und gab so der Ärztin Gelegenheit, ihr Gesicht eingehend zu betrachten. Da Frau Busse am Telefon das Alter der Patientin mit neunundfünfzig Jahren angegeben hatte, war sie erstaunt über die glatte Haut der Älteren, die immer noch eine schöne, gewiss Aufsehen erregende Frau war. Nachdenklich nahm die Ärztin das Blutdruckmessgerät aus der Tasche und legte die Manschette um den Oberarm der Patientin. Als sie die Werte gemessen hatte und die Geräte in die Tasche zurücklegte, fiel ihr Blick auf die silbergerahmten Fotos, die auf dem Nachtschränkchen standen: Das eine zeigte eine jüngere Brigitte Gundlach im Arm eines sympathisch wirkenden Mannes. Auf der anderen Aufnahme war ein blonder, etwa 30-jähriger Mann zu sehen, dessen Anblick der Ärztin einen Stich versetzte.
Unterdessen kehrte Udo Gundlach noch einmal in die weiße Villa zurück.
„Ist das wahr, Helga?", sprach er die Freundin seiner Tante in der hohen Eingangshalle an. „Ich war eben noch ein Bier trinken, da sagte der Kronenwirt, dass Apollo vergiftet wurde. Der Tierarzt hätte das kurz vorher erzählt."
„Das stimmt leider", bestätigte Helga. Mit wenigen Worten berichtete sie davon.
„Das muss Tante Biggi tief getroffen haben", vermutete Udo, und es klang mitfühlend. „Schläft sie schon?"
„Wie könnte sie nach dieser Aufregung schlafen? Es geht ihr gar nicht gut. Dr. Hellberg ist bei ihr."
„Das tut mir so leid", sagte er in bedauerndem Ton. „Dazu haben wohl auch meine Vorwürfe beigetragen.“
Derweil nahm Dr. Hellberg im Schlafzimmer der Hausherrin einige Utensilien zur Hand.
„Was ist das?", fragte Brigitte, wobei sich auf ihrer Stirn eine steile Falte bildete.
„Ich gebe Ihnen eine Injektion, damit Sie schlafen können."
„Das werden Sie nicht tun", widersprach die Patientin bestimmt. „Wer weiß, was das für ein Zeug ist ..."
„Das klingt, als hätten Sie Angst, dass ich Ihnen etwas Böses antun würde", entgegnete die Ärztin sichtlich irritiert. „Ich bin hier, um Ihnen zu helfen."
„Helfen?", spottete Brigitte. „Ich habe Sie nicht darum gebeten. Wozu auch? Ich fühle mich ausgezeichnet."
„Das ist nicht wahr", behauptete die Ärztin äußerlich ruhig, obwohl das Misstrauen der Patientin sie verletzte. Mit unbewegter Miene legte sie das Spritzbesteck in die schwarze Tasche zurück. „Ich kann Sie nicht zwingen, sich von mir behandeln zu lassen, Frau Gundlach. Trotzdem rate ich Ihnen, bald einen Kollegen Ihres Vertrauens zu konsultieren, der Sie gründlich durchcheckt."
Ohne ein weiteres Wort griff sie nach ihrer Tasche und verließ mit einem gemurmelten Gruß den Raum. Niedergeschlagen wandte sie sich zur Treppe. Erst nach einigen Stufen bemerkte sie den Mann, der bei Frau Busse in der Halle stand. Er hob den Kopf und sah sie an. Er schien verwundert zu sein, fing sich aber rasch und ging ihr einige Stufen entgegen.
Unbemerkt von den anderen stand die Hausherrin, die es im Bett nicht mehr ausgehalten hatte, in der halb geöffneten Schlafzimmertür und beobachtete diese Szene.
„Ich bin Udo Gundlach", stellte er sich vor. „Wie geht es meiner Tante?"
„Nicht gut.“
„Dann werde ich gleich mal nach ihr sehen", sagte er, aber Mona Hellberg vertrat ihm spontan den Weg.
„Heute nicht mehr, Herr Gundlach", bestimmte sie. „Ihre Tante braucht jetzt absolute Ruhe."
„Ein kurzer Besuch wird ihr sicher nicht schaden", meinte er und wollte an ihr vorbei.
„Ich sagte: heute nicht mehr!", wiederholte sie energisch, worauf es in seinen Augen spöttisch aufblitzte.
„Wollen Sie mir vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe?"
„Wollen Sie die Verantwortung dafür übernehmen, wenn sich Frau Gundlachs Verfassung Ihretwegen verschlechtert?", versetzte sie, lächelte dann aber unverbindlich. „Da Ihnen das Wohl Ihrer Tante bestimmt am Herzen liegt, werden Sie Ihren Besuch sicher auf morgen verschieben können."
Sekundenlang lieferten sich ihre Augen ein stummes Duell. Schließlich gab Udo nach.
„Also gut.“ Mit einer übertriebenen Geste deutete er in die Halle. „Nach Ihnen, Frau Doktor." Seite an Seite gingen sie die Treppe hinunter. „Ich komme morgen wieder, Helga", sagte er im Vorbeigehen. „Gute Nacht, meine Damen."
Als Udo das Haus verlassen hatte, schaute Helga die Ärztin besorgt an.
„Schläft Brigitte jetzt?"
„Wohl kaum. Leider hat Frau Gundlach ein Beruhigungsmittel von mir abgelehnt."
„Warum? Sie wird die ganze Nacht nicht schlafen können."
„Aus welchem Grund lehnt jemand die Hilfe eines Arztes ab, obwohl sie ihm Linderung verschaffen würde? Weil das Vertrauen in den behandelnden Arzt fehlt. Anscheinend habe ich zu viel erwartet, als ich dachte, in einem so kultivierten Haus nicht auf Vorurteile zu stoßen."
„Man macht es Ihnen hier in Petersfelden sehr schwer, nicht?“
„Meine ehemaligen Kollegen hatten mich schon davor gewarnt, in einer Kleinstadt eine Praxis aufzumachen", bestätigte sie. „Trotzdem habe ich die Praxis meines verstorbenen Onkels übernommen. Ich hätte nicht gedacht, dass die Abneigung der Menschen gegenüber einem jungen, noch dazu weiblichen Arzt so groß sein würde. In den vier Wochen, die ich jetzt schon in Petersfelden praktiziere, haben nur wenige Patienten den Weg zu mir gefunden." Bedauernd hob sie die Schultern. „Wenn das so weitergeht ..."
„Was haben Sie dann vor?"
„Dann bin ich gezwungen, die Praxis zu schließen. Ich habe modernisiert und in teure Geräte investiert, die bezahlt werden müssen. Und schließlich muss ich ja auch von irgendwas leben." Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Glücklicherweise hat mir mein Professor in Hannover zugesichert, dass ich jederzeit wieder in seiner Klinik anfangen kann. Mir bleibt wohl keine andere Wahl."
„Es tut mir leid, dass die Leute hier so verbohrt sind. Zu allem Überfluss habe ich Sie auch noch so spät gerufen."
„Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Frau Busse. Zwar habe ich heute keinen Notdienst, aber wenn ich tagsüber nichts zu tun habe, kämpfe ich mit Einschlafschwierigkeiten.“
„Anscheinend habe ich Sie aus dem Bett geholt. Sie hätten mich an einen Notarzt verweisen sollen."
„Kein Problem; ich war erst mit einem Fuß unter der Bettdecke", winkte Mona ab. „Bevor ich dorthin zurückkehre, lasse ich Ihnen ein Rezept für Frau Gundlach hier. Obwohl ..." Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. „Wahrscheinlich wird sie es nicht einlösen, nachdem sie mir praktisch unterstellt hat ..." Verzagt brach sie ab und notierte Namen und Telefonnummer eines Kollegen auf dem Rezeptblock. „Sollte Frau Gundlach heute Nacht noch ärztliche Hilfe benötigen, wenden Sie sich bitte an Dr. Dorn. Er ist Oberarzt des Kreiskrankenhauses." Kurz entschlossen nahm sie ein Päckchen Beruhigungstabletten aus ihrer Tasche. „Die lasse ich Ihnen für den Notfall hier. Eine dürfte genügen, damit Frau Gundlach schlafen kann.“
„Danke, Frau Dr. Hellberg“, sagte Helga und half der Ärztin in den Mantel. „Schicken Sie uns bitte Ihre Rechnung."
„Schauen Sie ab und zu nach Ihrer Freundin. – Gute Nacht."
Durch ein Fenster im Obergeschoss sah Brigitte die Ärztin zu ihrem Wagen gehen. Sie stellte die Tasche in den Kofferraum und lehnte sie sich sekundenlang mit hängenden Schultern gegen die Autotür. Dann straffte sie ihre Haltung, wischte sich mit den Fingerspitzen über die Wangen und stieg in ihr Fahrzeug.
Bedrückt kehrte Brigitte in ihr Schlafzimmer zurück. Sie hatte sich unmöglich benommen. Ohne Grund hatte sie diese junge Ärztin angegriffen und dadurch verletzt. Wie verloren sie dort draußen in der Dunkelheit gewirkt hatte. Anscheinend hatte sie sogar geweint. Dabei hätte sie ihr dankbar sein müssen, dass sie ihretwegen so spät noch gekommen war. Niedergeschlagen ließ sich Brigitte auf die Bettkante sinken. Was war nur aus ihr geworden? Wieso begegnete sie ihren Mitmenschen neuerdings so misstrauisch? Das leise Klopfen an der Tür schreckte sie aus ihren Gedanken.
„Komm rein, Helga!", rief sie die Freundin, die daraufhin mit sorgenvoller Miene eintrat.
„Warum liegst du nicht im Bett, Brigitte? Frau Dr. Hellberg hat gesagt, dass du viel Ruhe brauchst. Du solltest wenigstens versuchen zu schlafen."
„Ich kann jetzt nicht schlafen, und ich will es auch nicht!", erwiderte Brigitte energisch. „Eben ist mir das erste Mal bewusst geworden, wie sehr ich mich verändert habe." Betrübt zog sie die Freundin neben sich auf die Bettkante. „Sag mir bitte ganz offen, wann aus mir ein altes, argwöhnisches Weib geworden ist. War das nach Eduards Tod? Oder nach Tobias' plötzlichem Verschwinden? Oder war ich schon immer so, ohne dass ich es bemerkt habe? Hat Udo recht, wenn er mir vorwirft, dass ich unrealistisch und verbohrt bin?“
„Du bist weder das eine noch das andere", widersprach Helga. „Natürlich haben diese Schicksalsschläge dich verändert. Das ist aber normal, wenn man zuerst den Mann und dann das einzige Kind verliert. Trotzdem warst du immer ein einfühlsamer und gerechter Mensch. Lass dir von Udo nichts einreden. Manchmal ist er furchtbar unbedacht mit seinen Äußerungen."
„Udo meint es doch nur gut", nahm sie ihren Neffen in Schutz. „Ich bin froh, dass wenigstens er mir geblieben ist. Würde er mir nicht zur Seite stehen ..."
„Er fährt ja auch nicht gerade schlecht dabei. Als dein einziger lebender Verwandter ..."
„Ich weiß, du glaubst auch, dass Tobias tot ist", unterbrach Brigitte sie erregt. „Aber das ist nicht wahr! Ich bin seine Mutter; ich spüre, dass Tobi noch lebt! Irgendwann werde ich ihn finden!“
„Bitte, beruhige dich." Tröstend legte sie den Arm um die Schultern der Freundin. „Es ist nun mal eine traurige Tatsache, dass Tobias schon so lange verschollen ist. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen von ihm. Deshalb kann man zumindest nicht ausschließen, dass ihm etwas zugestoßen ist."
„Mein Sohn ist nicht tot!", beharrte Brigitte und sprang auf. „Auch wenn ihr alle das behauptet! Tobias lebt! Eines Tages kommt er zurück!" Haltsuchend stützte sie sich an einer Kommode ab, als der Boden unter ihren Füßen plötzlich zu schwanken schien. „Tobi muss ... noch am ... Leben sein ..."
„Brigitte!" Schon war die Freundin neben ihr und führte sie zum Bett. „Leg dich hin. Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten."
Als Brigitte leise stöhnend in die Kissen sank, deckte Helga sie zu.
„Gib mir bitte eine von den Tabletten", bat Brigitte mit schwacher Stimme, worauf Helga sie verwundert anschaute.
„Woher weißt du ...?"
„Ich habe fast alles gehört, was unten gesprochen wurde", erwiderte sie, während die Freundin die Tabletten aus der Jackentasche zog. „Warum war Udo eigentlich so spät noch mal hier?"
„Er hat in der Krone von der Sache mit Apollo erfahren und war deshalb besorgt um dich." Mit geschickten Fingern löste sie eine Tablette aus der Packung und gab sie der Freundin. Dann reichte sie ihr das gefüllte Wasserglas vom Nachtschränkchen. „Udo kommt morgen wieder, weil Frau Dr. Hellberg ihm für heute einen Besuch bei dir verboten hat."
„Es hat mich beeindruckt, wie energisch sie ihn fortgeschickt hat", sagte Brigitte und schluckte die Tablette. „Warum hast du ausgerechnet sie gerufen? Kennst du sie schon länger?"
„Nein, aber ich habe gehört, dass die Petersfeldener die neue Ärztin boykottieren, weil sie lieber wieder einen erfahrenen Mann in der Praxis hätten. Eine junge, attraktive Frau erregt ihr Misstrauen. Ich habe aber keine Vorurteile. Schließlich leben wir nicht mehr im Mittelalter."
„Von der Existenz einer Nichte unseres alten Dr. Seifert wusste ich gar nichts. Hatte er sich nicht mit seiner Familie überworfen?"
„Vor vielen Jahren schon", bestätigte Helga. „Trotzdem hat seine Nichte ihn hin und wieder besucht. Sie war wohl die einzige aus der Familie, mit der er Kontakt hatte. Einmal hat er erwähnt, wie stolz er auf sie war, weil sie es in ihrem Alter schon zur Oberärztin gebracht hatte. Frau Dr. Hellberg war es auch, die ihren Onkel nach Hannover in die Klinik geholt hat, als er so schwer krank wurde."
„Dann hat er ihr wohl das Haus vererbt", überlegte Brigitte. „Da die Praxis recht altmodisch war, hat sie vermutlich viel Geld investiert. - Nun bleiben die Patienten aus und sie kann ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen.“ Fragend hob sie die Brauen. „Beurteile ich das richtig?"
„Leider ist das so. Mir täte es jedenfalls sehr leid, wenn diese nette junge Frau vor der Sturheit der Leute kapitulieren müsste."
„Das wird nicht passieren", sagte Brigitte entschlossen, weil sie glaubte, etwas gutmachen zu müssen. „Sowie es mir wieder besser geht, kümmere ich mich darum."
„Was hast du denn vor? Als Frau Dr. Hellberg nach dem Besuch bei dir so bedrückt wirkte, dachte ich, dass du sie nicht leiden kannst."
„Wegen Apollo war ich noch so durcheinander", gestand Brigitte. „Deshalb war ich wohl ziemlich unwirsch. Ich werde mich bei Frau Dr. Hellberg entschuldigen. Außerdem bringe ich die Petersfeldener irgendwie zur Vernunft. Es wäre doch gelacht, wenn ich sie nicht beeinflussen könnte. Immerhin verdienen viele von ihnen ihr Brot in meiner Firma." Erschöpft strich sie sich über die Stirn. „Allmählich werde ich müde. Die Tablette scheint zu wirken."
„Es handelt sich ja auch um ein Präparat von Edugu-Pharma", erklärte Helga. „Schlaf dich mal richtig aus, Brigitte. Und ruf mich, wenn du was brauchst. - Gute Nacht."
„Danke, Helga. - Gute Nacht."
Edugu-Pharma, wiederholte Brigitte im Stillen, als Helga die Tür von außen geschlossen hatte. - Manchmal wünschte sie, Eduard sei nur ein kleiner Beamter gewesen. Was nützte ihr all das viele Geld? Es konnte ihr auch nicht ersetzen, was sie verloren hatte.
1973
Konzentriert saß die 18jährige Brigitte Leonhardt in der Lobby des Hotels am Stadtpark in Hannover bei einer Tasse Kaffee über Vertragsunterlagen, als ein junger Mann vor ihr stehenblieb.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?"
Mit ernster Miene hob sie den Blick und musterte ihn kühl.
„Wenn Sie keine Gesellschaft suchen - ja."
„Sind Sie so beschäftigt?", fragte er und nahm im Sessel neben ihr Platz. „Oder haben Sie generell was gegen Männer?"
„Nur gegen solche, die neugierige Fragen stellen."
Sein herzhaftes Lachen wirkte jungenhaft. Er war schätzungsweise Mitte zwanzig und zwinkerte ihr vergnügt zu.
„Glauben Sie, ich bin einer von dieser Sorte?"
„Da das schon Ihre vierte Frage war ...", gab sie mit leisem Spott zurück. „Um die Sache abzukürzen: Danke, ich bin nicht interessiert."
Trotz dieser Abfuhr beugte er sich etwas zu ihr hinüber. Anscheinend würde er sich nicht so leicht entmutigen lassen. Nun blickte er nachdenklich vor sich hin. Brigitte gestand sich ein, dass er auf Anhieb sympathisch wirkte. Warum hatte sie plötzlich das Gefühl, ihn schon lange zu kennen? So etwas war ihr noch nie passiert, und es verunsicherte sie. Ihre Erfahrungen mit Männern beruhten bislang nur auf freundschaftlichen Beziehungen. Obwohl sie einige Verehrer hatte, die hartnäckig waren, wollte sie so schnell wie möglich ihr Studium durchziehen, um auf eigenen Füßen zu stehen. Für die Liebe war später noch Zeit. Oder nicht? Verwirrt darüber, überhaupt solche Gedanken zuzulassen, rief sie sich insgeheim zur Ordnung: Sie war nicht zu ihrem Vergnügen hier!
„Woran sind Sie denn interessiert?", hörte sie ihn fragen.
„Derzeit an Edugu-Pharma", entgegnete sie so sachlich wie möglich. „Ich bin hier mit Herrn Gundlach verabredet."
„Ach ...“, sagte er gedehnt. „Was wollen Sie denn von ihm?"
„Entscheidend ist, was er von mir möchte", antwortete sie und schlug die Beine übereinander. „Da er mich bezahlt, wird er sich kaum nach meinen Wünschen richten."
„Mögen Sie den alten Knaben?“, fragte er in missbilligendem Ton. Ihm schien nicht zu gefallen, was er soeben gehört hatte. „Er könnte glatt Ihr Vater sein."
„In meiner Situation kann man sich die Leute nicht aussuchen. Ich muss das Geld für mein Studium verdienen." Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Allerdings gebe ich zu, dass es mir auch Spaß macht – jetzt besonders. Herr Gundlach ist wirklich sehr nett. Gestern haben wir schon viel Zeit zusammen verbracht. Wenn er zufrieden mit mir ist, bucht er mich hoffentlich öfter."
Verblüfft schüttelte der junge Mann den Kopf.
„Das klingt, als würden Sie diese ... Tätigkeit gern ausüben!?"
„Es ist das, was ich am besten kann." Rasch setzte sie die Kaffeetasse an die Lippen, als sie Eduard Gundlach aus dem Fahrstuhl kommen sah.
Da trat der Konzernchef zu den jungen Leuten.
„Wie ich sehe, habt ihr euch schon miteinander bekannt gemacht", sagte er, bevor er den Mann neben ihr anschaute. „Von dieser jungen Dame kannst du noch viel lernen. Brigitte ist nicht nur perfekt in ihrem Job, sondern auch sehr einfühlsam, was die Wünsche ihres Gegenübers betrifft. Auch meine Verhandlungspartner sind ganz begeistert von ihr."
„Entschuldigen Sie uns bitte einen Moment", wandte sich der Jüngere an Brigitte, erhob sich und führte Eduard Gundlach außer Hörweite. „Hast du dieses Mädchen wirklich mit den Spaniern zusammengebracht, Vater?"
„Deshalb habe ich Brigitte doch engagiert", bestätigte er. „Sie erfüllt ihre Aufgabe so gut, dass ich ihr einen Bonus zukommen lassen werde, wenn das Geschäft unter Dach und Fach ist."
„Findest du das nicht geschmacklos?" Vorwurfsvoll blickte er ihn an. „Du hast mich herbeordert, damit ich was lerne. Was du damit gemeint hast, wird mir erst jetzt klar. Ich hätte nie gedacht, dass du es nötig hast, auf diese Weise Geschäfte zu machen. In meinen Augen ist das mehr als unseriös."
Verständnislos schüttelte sein Vater den Kopf.
„Leider kann ich dir nicht folgen."
„Glaubst du, ich weiß nicht, was hier läuft!? Wenn du dich mit diesem jungen Ding vergnügst, ist das eine Sache, aber dass du die Spanier mit Hilfe dieses Flittchens dazu bringen willst, die Verträge zu deinen Bedingungen zu unterzeichnen, ist widerwärtig! Bezahl die Kleine und schick sie weg!"
Beide bemerken nicht, dass Brigitte aufgestanden war und das Gespräch aus der Nähe mitanhörte. Einen Moment lang war sie aus Empörung wie gelähmt. Was bildete sich dieser Typ ein? Mit welchem Recht hielt er sie für ein Flittchen? Ausgerechnet sie? Mit solchen Leuten wollte sie nichts zu tun haben!
„Es ist nicht nötig, mich wegzuschicken", sagte sie mit seltsam fremd klingender Stimme. „Ich gehe von allein. – Vorher muss ich allerdings noch was tun." Entschlossen trat sie näher und versetzte dem jungen Mann eine schallende Ohrfeige. Wortlos wandte sie sich dann ab und durchschritt in stolzer Haltung die Hotelhalle.
„Du bist ein Idiot!", herrschte Eduard sen. seinen Sohn an. „Sie ist die Dolmetscherin von der Studentenvermittlung!" Rasch eilte er der jungen Frau nach. „Brigitte! Bitte, warten Sie!" Noch vor dem Ausgang holte er sie ein und fasste sie behutsam am Arm. „Hören Sie mich bitte an: Dieser Zwischenfall tut mir sehr leid. Mein Sohn hat die ganze Situation völlig missverstanden."
„Dieser Rüpel ist Ihr Sohn!? Sie können wirklich stolz auf ihn sein."
„Gewöhnlich bin ich das auch. Mir ist unbegreiflich, wie er Sie für eine ..." Verlegen hob er die Schultern. „Für ein leichtes Mädchen halten konnte. Das bedauere ich außerordentlich. Ich verstehe, dass Sie nun nicht mehr für mich arbeiten möchten. Trotzdem bitte ich Sie, mich nicht im Stich zu lassen. Sie sind inzwischen mit den Verträgen vertraut und wissen, worauf es mir ankommt. Ein neuer Dolmetscher würde uns viel zu viel Zeit kosten."
„Ich weiß, Herr Gundlach, aber ..."
„Bitte, lassen Sie mich nicht hängen", unterbrach er sie. „Ich brauche Sie. Wenn Sie weiter für mich arbeiten, zahle ich Ihnen das Doppelte des vereinbarten Honorars.“
„So viel liegt Ihnen daran?
„Ja."
„Also gut", gab sie nach. Immerhin konnte sie ihm keinen Vorwurf machen. „Ich bleibe – aber zu den ursprünglichen Bedingungen. Ich möchte aus dieser Sache kein Kapital schlagen."
„Sie sind ein prachtvolles Mädchen. – Danke, Brigitte."
Bei der Zusammenkunft mit den spanischen Geschäftsfreunden war auch Eduard jr. dabei. Allerdings hielt er sich im Hintergrund und beteiligte sich nur hin und wieder durch einen Vorschlag an den Verhandlungen. Das war Brigitte nur recht. Sie versuchte, seine Anwesenheit zu ignorieren und konzentrierte sich darauf, zu übersetzen. Dabei gelang es ihr auch, Streitpunkte zu schlichten und Formulierungen so abzuändern, dass alle Beteiligten zufrieden waren.
Nach erfolgreichem Abschluss der Verträge zeigte sich der Konzernchef überaus zufrieden.
„Sie waren großartig, Brigitte", lobte er die junge Frau. „Ohne Ihre Mithilfe hätten die Verhandlungen wohl noch Stunden gedauert."
„Ich habe doch nur übersetzt", erwiderte sie, worauf er lächelnd den Kopf schüttelte.
„Sie haben weitaus mehr getan, mein Kind. – Und das wissen Sie auch. Ich möchte, dass wir nachher alle zusammen zu Abend essen. Bis dahin muss ich allerdings noch einige Telefonate führen." Wohlwollend wechselte sein Blick zwischen den jungen Leuten. Ihm war nicht entgangen, auf welche Weise sein Sohn diese bemerkenswerte junge Frau anschaute. „Ihr zwei solltet inzwischen versuchen, eure Missverständnisse beizulegen. Künftig werden wir nämlich öfter zusammenarbeiten." Rasch warf er einen Blick zur Uhr. „Ich schlage vor, wir treffen uns in einer Stunde in der Lobby." Sprach‘s und ging mit langen Schritten davon.
Verlegen schaute Brigitte zu dem jungen Mann auf, der sie trotz ihrer Größe von 1,75 m noch ein Stück überragte.
„Und nun, Herr Gundlach?"
„Jetzt ist wohl eine Entschuldigung fällig."
Unmerklich straffte sie ihre Gestalt.
„Falls Sie glauben, dass ich mich für die Ohrfeige entschuldige, nur weil Sie der Junior-Chef von Edugu-Pharma sind, täuschen Sie sich", sagte sie mit fester Stimme. „Eher verzichte ich auf eine weitere Zusammenarbeit mit Ihrem Vater."
„Eigentlich wollte ich mich bei Ihnen entschuldigen", gestand er. „Es tut mir aufrichtig leid, dass ich so voreilig falsche Schlüsse gezogen habe." Entwaffnend lächelte er sie an. „Andererseits bin ich froh, dass Sie nicht das sind, wofür ich Sie irrtümlich gehalten habe, Brigitte. Eine ehemalige Dolmetscherin ist mir als Ehefrau nämlich sehr viel lieber."
Erstaunt schaute sie ihn an. Der war ganz schön frech! Vor ein paar Stunden hatte er sie noch beleidigt, und nun flirtete er schon mit ihr. Das konnte ja heiter werden!
„Ich mache Sie gern mit einigen dolmetschenden Kommilitoninnen bekannt“, sagte sie, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Allerdings reagierte er anders, als sie erwartet hätte.
„Ihr Humor ist wundervoll! Es stört Sie doch hoffentlich nicht, dass ich Ihr wohlgemeintes Angebot nicht annehmen kann, weil ich meine Wahl bereits getroffen habe!?"
„Schon wieder eine von diesen neugierigen Fragen", murmelte sie scheinbar verzweifelt. „Wohin soll das nur führen?"
„Erstmal zu einem Spaziergang im Park", antwortete er prompt. „Bald in meine Arme und in absehbarer Zeit vor den Traualtar." Er ignorierte ihren erstaunten Gesichtsausdruck und bot ihr seinen Arm. „Gehen wir?"
„Wenn ich jetzt: ja sage, bedeutet das aber nicht, dass ich auch mit allem anderen einverstanden bin."
„Noch nicht ...", verkündete er und zog ihre Hand durch seine Armbeuge.
Im Stadtpark nahmen sie bald auf einer Bank in der warmen Abendsonne Platz.
„Sind Sie mir noch böse, Brigitte?“ Als sie nicht gleich antwortete, raufte er sich die Haare. „Mir ist schleierhaft, was mich vorhin geritten hat. Sie haben mir sofort gefallen. Plötzlich dachte ich, Sie und mein Vater ... Ich weiß, das war dumm von mir ... Er hat nie ... Obwohl meine Mutter schon mehr als zwanzig Jahre tot ist ...“ Schuldbewusst schaute er sie an. „Normalerweise verhalte ich mich nicht so idiotisch. Glauben Sie, wir können noch mal bei null anfangen?“
Brigitte hatte den Eindruck, dass er es aufrichtig meinte. Deshalb nickte sie nach kurzem Zögern.
„Ich bin nicht nachtragend, Herr Gundlach.“
„Danke.“ Er schien unsagbar erleichtert. „Ich heiße übrigens Eduard – wie mein Vater. Alte Familientradition. Sie können mich aber auch wie meine Freunde Hardy nennen. Was ist Ihnen lieber?“
„Das weiß ich noch nicht. Wie kennen uns doch kaum. Deshalb kann ich nicht beurteilen, was besser zu Ihnen passt.“
„Bald werden Sie es wissen“, sagte er, und es klang überzeugt. „Darf ich Ihnen noch ein paar neugierige Fragen stellen? Verraten Sie mir, wo Sie so perfekt Spanisch gelernt haben?"
„Das verdanke ich dem Beruf meines Vaters", erzählte sie bereitwillig. Trotz allem mochte sie den jungen Mann. „Er war Bauingenieur und hatte viel im Ausland zu tun. Meine Mutter und ich, wir haben ihn immer begleitet. Wir haben schon in Panama, in Paraguay, im Kongo und in Jordanien gelebt. Dadurch habe ich Spanisch, Französisch und Englisch gelernt. Italienisch ist vor zwei Jahren dazugekommen, als ich sechs Monate eine Schule in Florenz besucht habe. Mein nächstes Ziel ist die chinesische Sprache."
„Sie haben doch nicht etwa vor, deswegen in China zu leben?"
„Warum nicht?", gab sie amüsiert über seinen betroffenen Gesichtsausdruck zurück. „Eine Sprache lernt man am besten dort, wo sie gesprochen wird." Zögernd legte sie ihre schmale Hand auf seinen Arm. „Nun schauen Sie mich nicht so entsetzt an. Vorläufig kann ich es mir gar nicht leisten, nach China zu fliegen. – Es sei denn, Ihr Vater engagiert mich mehrmals in der Woche."
„Das werde ich zu verhindern wissen", sagte er zuversichtlich. „Es wundert mich allerdings, dass Sie sich Ihr Studium verdienen müssen. Unterstützen Ihre Eltern Sie denn nicht?"
Diese Frage rief traurige Erinnerungen wach. Brigitte sprach nicht gern darüber. Schon gar nicht mit einem Fremden.
„Mein Vater ist vor zwei Jahren bei Brückenbauarbeiten in Bolivien tödlich verunglückt“, erklärte sie trotzdem. Aus einem ihr rätselhaften Grund vertraute sie ihm. „Meine Mutter ist nie über seinen Tod hinweggekommen. Im letzten Frühjahr ist sie an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben."
Unerwartet umschloss er ihre Hand mit seinen Fingern.
„Sie hat sich das Leben genommen?“
„Mama konnte ohne Paps nicht leben", erwiderte sie leise. „Monatelang hat sie es versucht, aber ..." Hilflos hob sie die Schultern. „Sie hat ihn so sehr geliebt, dass sie ihm in den Tod gefolgt ist."
„Das muss sehr schwer für Sie gewesen sein. Wenn man plötzlich ganz allein und mittellos dasteht ..."
„Es war nicht leicht für mich, aber irgendwie konnte ich Mama verstehen. Ganz mittellos bin ich nicht. Ich habe immer noch das kleine Häuschen meiner Eltern. Solange ich finanziell mit dem Dolmetschen über die Runden komme, möchte ich es nicht verkaufen. Es birgt so viele schöne Erinnerungen." Plötzlich fragte sie sich, warum sie ihm das so vertrauensvoll erzählt hatte. Sie war doch sonst viel zurückhaltender. „Jetzt wissen Sie alles über mich."
„Sie haben mir noch nicht erzählt, ob Sie an jemanden gebunden sind", widersprach er. „Was bei einer so attraktiven Frau natürlich anzunehmen ist. Falls es also einen Mann in Ihrem Leben gibt, schicken Sie ihn weg – ja!?"
„Wird umgehend abserviert", ging sie lächelnd darauf ein. „Hoffentlich verstehen Sie was von Deutscher Literatur!?"
„Zwar lese ich viel, aber ansonsten ..."
„Tja, dann werde ich den einzigen Mann in meinem Leben wohl behalten müssen. Er ist nämlich mein Germanistikprofessor. Ohne ihn kann ich kaum weiterstudieren."
„In diesem Fall muss ich wohl großzügig sein", lautete seine beruhigte Antwort. Dann blickte er die junge Frau sehr ernst an. „Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick, Brigitte?"
„Nein", erwiderte sie spontan. „Ich weiß nicht", räumte sie gleich darauf verlegen ein. „Vielleicht ..."
Schon wenige Tage später glaubte Brigitte Leonhardt daran.
Obwohl sie in dieser Zeit nichts von Eduard jr. hörte, vermisste sie ihn auf seltsame Weise. Ihm erging es nicht anders, so dass er bald häufig von Petersfelden nach Hannover fuhr, um Brigitte zu sehen. Am nächsten Weihnachtsfest feierten sie unter dem Tannenbaum Verlobung, und zwei Tage nach ihrem neunzehnten Geburtstag wurde Brigitte seine Frau.
2011
Am Morgen nach ihrer Rückkehr aus Brasilien fühlte sich Brigitte noch schlapp. Diesmal spürte sie den Jetlag stärker als bei ihren früheren Reisen. Trotz der Tabletteneinnahme war ihr Schlaf immer wieder von Wachphasen unterbrochen worden, in denen sie sich unruhig herumgewälzt hatte. Obwohl ihr das Aufstehen schwergefallen war, hatte ihre Disziplin sie aus dem Bett getrieben. Als sie ihr Schlafzimmer verließ, blieb sie einen Moment lang gedankenverloren stehen. Gewöhnlich lag Apollo morgens schon vor der Tür, weil er es kaum erwarten konnte, mit seinem Frauchen Gassi zu gehen. Jetzt war er tot – wie fast alle anderen, die sie geliebt hatte. Aber daran durfte sie nicht denken, sonst würde ihr das noch mehr zusetzen. Langsam ging Brigitte die Treppe hinunter. Dabei fiel ihr Blick auf die Ecke in der Halle, in der Apollos Korb seinen Platz hatte. Er war nicht mehr da. Anscheinend hatte Helga ihn weggeräumt. Auch die Leine und das Hundespielzeug waren verschwunden. Nun musste Brigitte doch gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. Sie machte Helga keinen Vorwurf; die Freundin hatte richtig gehandelt. Die leere Stelle in der Halle wirkte aber so erschütternd endgültig. Brigitte musste sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass nun niemand mehr da war, der sie ungeduldig mit seiner feuchten Nase anstubste, wenn er raus wollte oder der sich unbändig freute, wenn sie nach Hause kam – egal ob sie zehn Minuten oder vier Wochen fort gewesen war. Apollo würde ihr schrecklich fehlen.
Später am Vormittag kam Udo wieder in die weiße Villa.
„Wie geht es meiner Tante?", fragte er, als Helga ihm öffnete. „Ist sie wieder auf den Beinen?"
„Brigitte fühlt sich heute etwas besser", gab sie ihm Auskunft und nahm ihm den Mantel ab. „Sie ist drüben im kleinen Salon."
„Danke, Helga."
Mit langen Schritten durchquerte Udo die Halle und betrat nach kurzem Anklopfen den Lieblingsraum seiner Tante.
Über den Rand ihrer Lesebrille hinweg blickte Brigitte ihrem Neffen ernst entgegen. Um diese Stunde war sie gern ungestört, um das Petersfeldener Tageblatt und die Hannoversche Allgemeine zu lesen.
„Wie geht es dir heute, Tante Biggi?", erkundigte er sich mit einem Lächeln und legte ihr einen Strauß weißer Rosen in den Arm.
„Danke, ganz gut." Skeptisch betrachtete sie die Blumen. „Schon wieder Rosen? Hast du ein schlechtes Gewissen?"
„Na ja, ich ..." Verlegen erwiderte er ihren forschenden Blick. „Es tut mir halt leid, dass ich dir gestern so zugesetzt habe. Das war rücksichtslos von mir. Du hattest den langen Flug, die Zeitverschiebung und den Klimawechsel zu verkraften. Und ich ..." Leicht hob er die Schultern. „Ich wollte dich unbedingt davon überzeugen, wie sinnlos diese Reisen nach Brasilien sind."
„Schon gut", winkte sie ab und zog die Brille von der Nase. „Ich weiß, dass du es nur gut meinst. Komm, setz dich zu mir. Kann ich dir was anbieten? Eine Tasse Kaffee vielleicht?"
„Nein, danke", lehnte er ab und nahm neben ihr auf dem Sofa Platz. „Du siehst immer noch mitgenommen aus. Diese schreckliche Sache mit Apollo hat dich bestimmt sehr getroffen. Du musst mehr Rücksicht auf deine Gesundheit nehmen."
„Mir fehlt nichts", beruhigte sie ihn. „Ich brauche nur ein bisschen Ruhe. In meinem Alter stellt man sich nicht mehr so rasch um, wenn man wochenlang auf der anderen Seite des Globus rumgereist ist."
„Du mutest dir damit einfach zu viel zu. Ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber ich habe Angst, dass das auf die Dauer nicht gut geht. Letzte Nacht habe ich aus Sorge um dich lange wachgelegen und überlegt, wie ich dich entlasten könnte. Vielleicht solltest du dich endgültig aus dem Geschäftsleben zurückziehen!?"
„Wie stellst du dir das denn vor?"
„Am einfachsten wäre es, wenn du mir die uneingeschränkte Verantwortung für den Konzern übertragen würdest. Selbstverständlich erhältst du eine angemessene Jahresrente, mit der du deinen bisherigen Lebensstandard aufrechterhalten kannst."
„Du willst mich aufs Altenteil schicken?", empörte sie sich. Dieser Vorschlag trieb ihr das Blut in die Wangen. „Noch bin ich nicht zu gebrechlich, meine Interessen selbst wahrzunehmen, Udo! Außerdem scheinst du zu vergessen, dass ich immer noch einen Sohn habe, der eines Tages den Konzern übernimmt!"
„Nun fang nicht wieder damit an! Du musst endlich die Realität akzeptieren! Du hättest Tobias längst für tot erklären lassen sollen!"
„Das werde ich ganz sicher nicht tun!", stieß sie aufgebracht hervor. „Ich weiß, dass er nicht tot ist!"
„Tante Biggi", versuchte er es noch einmal geduldig, wobei er besänftigend über ihre Hand strich. „Ich weiß, wie schwer das für dich ist, aber du kannst dich doch nicht ewig vor der Wahrheit verschließen. Die Suchtrupps haben damals keine Spur gefunden, und auch die brasilianischen Behörden konnten uns nicht weiterhelfen. Tobias gilt seit fast acht Jahren als verschollen. Denkst du wirklich, er wird nach so langer Zeit ohne ein Lebenszeichen plötzlich wieder auftauchen? Selbst deine Nachforschungen vor Ort haben nie was ergeben. Und deine Theorie, er könnte einen Unfall gehabt und dadurch das Gedächtnis verloren haben, ist so unwahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto."
„Trotzdem glaube ich fest daran, dass er lebt. Ich kann die Hoffnung nicht aufgeben." Sekundenlang schloss sie die Augen. „Ich kann es einfach nicht! Tobias ist doch alles, was mir geblieben ist."
„Ich bin doch auch noch da", sagte er sanft und legte den Arm um ihre Schultern. „Für mich ist das alles genauso schwer. Tobias war wie ein kleiner Bruder für mich. Aber ich bin realistisch genug, die Tatsache zu akzeptieren, dass wir ihn verloren haben. Wir müssen nun zusammenhalten und das Beste daraus machen. Dazu gehört auch, dass ich dich so gut wie möglich entlaste."
„Das weiß ich zu schätzen", erwiderte sie nun wieder ruhiger. „Noch ist das aber nicht nötig. Seit ich dir vor zwei Jahren die Geschäftsleitung übertragen habe, gibt es für mich in der Firma sowieso nicht mehr viel zu tun."
„Denk bitte trotzdem über meinen Vorschlag nach", bat er und erhob sich. „Ich muss jetzt zurück ins Werk." Liebevoll küsste er sie auf die Stirn. „Ruf an, wenn du mich brauchst. – Ciao, Tante Biggi."
„Bis bald, Udo."
Kaum hatte er die Villa verlassen, betrat Helga den Salon.
„Alles in Ordnung, Brigitte?"
„Ja, ja ...", nickte sie abwesend. „Sei so lieb und stell die Blumen ins Wasser."
„Udo entpuppt sich wohl allmählich als Rosenkavalier", bemerkte die Freundin, aber Brigitte reagierte nicht. Gedankenverloren zündete sie sich eine Zigarette an. „Frau Dr. Hellberg hat eben angerufen."
„Ach, tatsächlich!?" Überrascht erwiderte sie Helgas Blick. „Was wollte sie denn?"
„Sich nach deinem Befinden erkundigen. – Allerdings sollte ich dir das verschweigen." Achselzuckend nahm sie die Blumen vom Tisch. „Ich habe ihr zwar gesagt, dass du dein Verhalten von gestern bedauerst, aber ich fürchte, nach ihren bisherigen Erfahrungen in Petersfelden ist es ihr schwergefallen, das zu glauben. Aber sie hat ja sowieso vor, das Handtuch zu werfen."
„Sie will die Stadt wirklich wieder verlassen?"
„Wahrscheinlich wird sie die Praxis Ende des Monats schließen und hofft, bald einen Nachfolger zu finden, der das Haus und die Praxis mit allem Inventar übernimmt."
„Dann muss ich schnell handeln.“ Nach kurzem Nachdenken fuhr sie sich mit der Hand durch die Fülle ihrer braunen Locken. „Müsste ich nicht dringend zum Frisör?"
„Wie kommst du jetzt darauf? Dein Haar sitzt wie immer perfekt."
„Es sieht schrecklich aus", widersprach Brigitte. „So kann ich doch nicht rumlaufen. Sei so gut und vereinbare gleich für morgen Vormittag einen Termin für mich."
„Was hast du vor?" Prüfend musterte Helga die Freundin. „Immer, wenn du dieses merkwürdige Glitzern in den Augen hast, führst du irgendwas im Schilde.“
„Eigentlich möchte ich nur ein paar Neuigkeiten in Umlauf bringen", entgegnete Brigitte mit Unschuldsmiene. „Welcher Ort wäre dafür besser geeignet, als ein Frisiersalon?"
Am darauffolgenden Morgen parkte Brigitte Gundlach ihren Sportwagen vor dem Salon Bertram. Schon an der Tür wurde sie vom Meister persönlich erwartet. Nach der Begrüßung führte er sie zu einem freien Platz. Als sie sich setzte, bemerkte Brigitte durch den großen Spiegel vor sich die neugierigen Blicke, die sie sowohl von den anwesenden Kundinnen als auch vom Personal trafen. Zufrieden darüber, dass der Salon an diesem Morgen so gut besucht war, lehnte sich Brigitte zurück.
„Was kann ich für Sie tun, Frau Gundlach?"
„Wie immer", entgegnete sie und setzte eine bekümmerte Miene auf. Mit der Rechten fuhr sie sich durch die Frisur. „Ihre Kollegen in Südamerika waren einfach unfähig, mich ordentlich zu frisieren. Schauen Sie nur, wie stumpf und angegriffen mein Haar aussieht."
„Das kriegen wir mit unserer neuen Pflegeserie schon wieder hin."
Nachdem er ihr das Haar gewaschen hatte, nahm er einen Kamm zur Hand.
„Wie ich gehört habe, wurde Ihr Hund vergiftet, Frau Gundlach. Weiß man schon Näheres?"
„Leider nicht. Mir ist unbegreiflich, wie jemand so grausam sein kann. Apollo war ein so lieber Kerl. Bei meiner Rückkehr war er noch ganz munter. – Ein paar Stunden später war er plötzlich tot. Ich vermisse ihn schrecklich.“
„Das ist ja furchtbar", sagte er mitfühlend. „Hatten Sie wenigstens eine angenehme Reise?"
„Ich will mich nicht beklagen, aber das feuchtwarme Klima hat mir doch arg zu schaffen gemacht. Ich bin eben nicht mehr die Jüngste."
„Ich bitte Sie, Frau Gundlach", widersprach er sofort. „Sie haben sich in den letzten Jahren doch kaum verändert, wenn ich das so sagen darf."
„Sie sind ein Charmeur, Herr Bertram", sagte sie lächelnd, da er ihren Plan unwissentlich unterstützte. „Dass ich keine zwanzig mehr bin, habe ich bei meiner Rückkehr deutlich gespürt. Die anstrengende Reise, der Zeitunterschied und der plötzliche Klimawechsel haben mir so zugesetzt, dass ich nach der Landung in Hannover richtig krank wurde."
„Dann haben Sie gleich in Hannover einen Arzt aufgesucht!?"
„Wo denken Sie hin?" Scheinbar vorwurfsvoll schaute sie ihn durch den Spiegel an. „Glauben Sie, ich würde einen mir gänzlich unbekannten Arzt konsultieren? - Nein, ich habe mich sofort nach Hause fahren lassen. Immerhin haben wir in Petersfelden einen guten Arzt."
„Hatten", erinnerte er die Kundin mit Bedauern. „Unser alter Doktor ist ja leider seit fast drei Monaten tot."
„Die Praxis ist doch längst wiedereröffnet", entgegnete Brigitte gerade so laut, dass auch die anderen Anwesenden mithören konnten. „Ganz im Vertrauen: Frau Dr. Hellberg ist viel kompetenter, als ich dachte. Sie müssen wissen, ich habe enge Freunde in Hannover, die mir berichtet haben, dass man Frau Dr. Hellberg in der dortigen Klinik gar nicht gehen lassen wollte. Trotzdem ist sie nach Petersfelden gekommen, um die Arbeit ihres Onkels fortführen."
„Sie haben sich von einer so jungen Ärztin behandeln lassen?", fragte der Frisör mit einer Mischung aus Erstaunen und Skepsis. „Konnten Sie ihr einfach so vertrauen?"
„Wenn jemand auf Anhieb so sympathisch wirkt, fällt einem das nicht schwer. Ich bin mehr als zufrieden mit meiner neuen Ärztin. Innerhalb von 24 Stunden hat sie mich wieder auf die Beine gebracht. Seitdem fühle ich mich großartig." Vernehmlich seufzte sie auf. „Leider werde ich wohl künftig immer nach Hannover fahren müssen, wenn ich Beschwerden habe. Die weite Anfahrt nehme ich aber gern in Kauf, seit ich weiß, dass ich bei Frau Dr. Hellberg in den besten Händen bin."
„Sie will nach Hannover zurück?"
„Es wäre wohl zu viel Aufwand, die Praxis nur wegen Frau Busse und mir weiterzuführen. Sie kennen doch die Pertersfeldener, Herr Bertram: Allem Neuen gegenüber verhalten sie sich misstrauisch. Sie und ich, wir beide wissen natürlich, dass unserem Städtchen nichts Besseres als eine so fähige Ärztin passieren konnte. Aber die anderen ..." Kopfschüttelnd winkte sie ab. „Mir persönlich macht es nichts aus, wenn wir hier vielleicht bald einen verknöcherten Medizinmann haben, der mit den neuesten Behandlungsmethoden nicht vertraut ist. Dann verbinde ich künftig eben Treffen mit meinen Freunden in Hannover mit einem Arztbesuch."
„Steht Frau Dr. Hellbergs Entschluss, die Praxis zu schließen, denn schon fest?", fragte er, während er ihr Haar auf Wickler rollte.
„Was täten Sie an ihrer Stelle? Wenn Sie mit den besten Absichten einen Salon eröffneten, aber keine Kunden kämen? Wenn man Sie spüren ließe, nicht willkommen zu sein? Da Sie irgendwie Ihren Lebensunterhalt bestreiten müssten, bliebe Ihnen keine andere Wahl, als das Geschäft zu schließen. Sie würden dorthin zurückgehen, wo man Sie und Ihre Arbeit zu schätzen weiß."
„Vielleicht könnte man sie aber überreden, zu bleiben", meinte der Mann. „Sie wird die Praxis ihres Onkels doch nicht leichten Herzens an einen fremden Arzt übergeben."
„Das sicher nicht", stimmte sie ihm zu. „Anderseits wartet in Hannover eine hochdotierte Stelle auf sie, während die Patienten es hier bei uns vorziehen, den alten Doktor im Nachbarort aufzusuchen."
„Und wenn sich das ändern würde?"
„Sie meinen, falls Frau Dr. Hellbergs Praxis plötzlich rege frequentiert würde?" Während Brigitte sich nachdenklich gab, sah man ihr die Zufriedenheit über den Verlauf des Gesprächs nicht an. „Das könnte ihre Entscheidung vielleicht beeinflussen", sagte sie schließlich. „Jedenfalls wäre das sehr wünschenswert."
Nach einem spartanischen Mittagessen, das aus einer Scheibe Vollkornbrot und einem Stückchen Käse bestanden hatte, kehrte Mona Hellberg lange vor Beginn der Nachmittagssprechstunde in die im Erdgeschoss gelegenen Praxisräume zurück.
Nachdenklich ging sie im Ordinationszimmer auf und ab, ehe sie an das Fenster trat und in den Garten blickte.
Die warmen Strahlen der Frühlingssonne weckten nach und nach die Tulpen aus ihrem unterirdischen Schlaf; die Bäume und Sträucher zeigten das erste zarte Grün.
Mona liebte diesen etwas verwildert aussehenden Garten, in dem sie als kleines Mädchen manchmal gespielt hatte. Sogar die alte Schaukel hing noch immer an einem dicken Ast des Apfelbaums. Es war ein friedlicher Anblick, der Mona wehmütig stimmte. Wenn die Natur erst ihre ganze Pracht entfaltet hätte, würde sie nicht mehr hier sein, dachte sie traurig. So sehr sie auch gewünscht hatte, in Petersfelden ihre Wurzeln zu finden. Es wäre besser gewesen, sie hätte den Rat der Freunde und Kollegen befolgt. Aber sie hatte sich über alle Warnungen in dem Glauben hinweggesetzt, ein guter Arzt sei überall willkommen. Rasch war sie eines Besseren belehrt worden: Man wollte sie in Petersfelden nicht. Also würde sie gehen. – Genauso still, wie sie gekommen war. Wahrscheinlich würde man ihren Rückzug mit Erleichterung aufnehmen.
Trotz dieser Niederlage konnte Mona es den Menschen in dieser Stadt nicht verübeln, dass man sie ablehnte. Sie würde in ihre Heimatstadt zurückkehren – und zwar so schnell wie möglich, sonst würden ihr die Schulden über den Kopf wachsen.