Geraubtes Leben - Claudia Rimkus - E-Book

Geraubtes Leben E-Book

Claudia Rimkus

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Beschreibung

Die Ärztin Constance Meves wacht, an eine Eisenkette gefesselt, in einer Holzhütte auf. Zunächst kann sie sich an nichts erinnern, doch dann vermutet sie, dass ihre Tante Elsbeth mit den Entführern gemeinsame Sache macht. Die Kidnapper würden Lösegeld von ihrem Vater erpressen – und sie dann freilassen. Oder nicht? Sie ahnt nicht, welch teuflischer Plan wirklich hinter ihrer Entführung steckt - und dass ihr Tod bereits beschlossene Sache ist.

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Seitenzahl: 582

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Claudia Rimkus

Geraubtes Leben

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40 ­

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Impressum neobooks

Kapitel 1

6. Oktober 2012 in einer Holzhütte

Wirre Bilder wirbelten durch Constances Kopf, während sie sich auf der harten Pritsche wälzte. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen die Ohnmacht an, die sie immer wieder in die Tiefe sog. Nur langsam kam sie zu sich. Ihre Lider fühlten sich bleischwer an. Endlich gelang es ihr, die Augen zu öffnen. Sie nahm eine derbe Holzwand wahr, während ein dumpfer Schmerz unaufhörlich hinter ihrer Stirn pochte, als wolle er jedes klare Denken verhindern. Dennoch wurde ihr allmählich bewusst, dass sie sich nicht in ihrem Bett befand.

Benommen richtete sie sich auf. Dabei bemerkte sie, dass etwas ihren linken Arm festhielt. Entsetzt sah sie die Handschelle an ihrem Handgelenk, die an einer langen Metallkette befestigt war. Panik erfasste sie. Heftig zerrte sie an der Kette, erkannte, dass diese mit einem an der Wand verankerten Eisenring verbunden war.

„Hilfe!", rief sie laut. „Ist da jemand?" Alles blieb still. „Hallo!", schrie sie abermals. „Hört mich denn keiner?"

Immer noch keine Antwort. Niemand kam herein. Verzweifelt riss sie immer wieder an der Kette. Es war zwecklos. Trotzdem gab sie nicht auf. Sie sah sich die Wandbefestigung genauer an. Der Ring war mit vier dicken Schrauben mit abgerundeten Köpfen an den Holzbohlen der Wand angebracht. Ohne Werkzeug war es unmöglich, sie zu lösen. Mit beiden Händen fasste sie nach dem Eisenring und versuchte, ihn durch kräftiges Rucken zu lockern, aber er bewegte sich keinen Millimeter.

„Verdammt, ich will hier raus!“

Wütend rüttelte sie wieder und wieder daran – vergeblich.

Reiß dich zusammen! Du darfst jetzt nicht die Nerven verlieren!

Sie atmete ein paar Mal tief durch. Dann suchten ihre Augen den Raum ab: ein alter Tisch, ein Stuhl, die Pritsche, auf der sie hockte, ein schwarzer Ofen in der Ecke - das war alles. Die Wände waren aus grobem Holz; die Fenster schienen mit Brettern vernagelt. Nur durch eine kleine Luke im Dach fiel etwas Licht.

Wie bin ich hierhergekommen?

Angestrengt versuchte sie, ihr Gedächtnis zu aktivieren. Wie Puzzleteile fügten sich Erinnerungsfetzen nach und nach zusammen.

Vormittags war ich im Zentrum ... und in der Mittagspause im Supermarkt ... Claas hat mich an das Konzert erinnert ... Später hat Tante Betty angerufen. Es ging ihr nicht gut. Deshalb bin ich am Nachmittag zu ihr gefahren ... und dann? Ich wollte nach Hause, um mich für den Theaterbesuch umzu­ziehen...

Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Hatte sie das auch getan?

Wa­rum erinnerte sie sich nicht daran, dass sie nach Hause gefahren war? Ihr Gedächtnis ließ sie doch sonst nicht im Stich!

Du hattest einen Blackout, meldete sich ihre innere Stimme. Aber aus welchem Grund? Sie hatte keinen Alkohol getrunken und auch keine Tabletten geschluckt. Eine Erinnerungslücke kam doch nicht von ungefähr, es sei denn, jemand hätte sie betäubt! Nun erinnerte sie sich an die Müdigkeit, die sie nach dem Tee bei ihrer ­Tante verspürt hatte.

Vielleicht hatte man sie beim Verlassen von Tante Bettys Haus gekidnappt? Dass ihre Tante etwas mit ihrer Entführung zu tun haben könnte, wäre einfach zu absurd. Zwar war das Verhältnis der Ellerbrooks zu den Lohmanns nie besonders eng gewesen. Trotzdem traute sie ihrer Tante so eine Gemeinheit nicht zu.

Warum aber war das letzte, an das sie sich erinnerte, der Besuch bei Tante Betty? Eigentlich war sie ja auch gar nicht richtig krank gewesen ... Unbewusst schüttelte sie den Kopf. - War es möglich, dass sie aus einem anderen Grund in die Wohnung gelockt wurde? Wieder dachte sie an den Tee. Der hatte doch merkwürdig bitter geschmeckt. So sehr sie auch überlegte, ihr fiel keine andere Erklärung ein, als dass ihre Tante ihr irgendetwas in den Tee getan haben musste, um sie außer Gefecht zu setzen. – Aber wieso? Weil sie es immer noch völlig abwegig fand, Harry zu heiraten? - Das Gespräch mit Barbara fiel ihr wieder ein. Hatte ihre Freundin recht mit der Vermutung, dass Tante Betty enger mit der Familie verknüpft sein wollte? Was brächte ihr das ein? Höheres gesellschaftliches Ansehen? Oder spekulierte sie auf finanzielle Zuwendungen?

Wahrscheinlich ging es ihr nur ums Geld, dachte sie missbilligend. Steckte sie hinter der Entführung, um von ihrem Vater ein hohes Lösegeld zu kassieren? So musste es gewesen sein! Dann wusste bestimmt auch Harry davon. Seit sie ihm unmissverständlich klargemacht hatte, dass sich seine Hoffnungen niemals erfüllen würden, benahm er sich seltsam. Er hatte ihr sogar gedroht: Sie würde ihr Verhalten noch bedauern. Vermutlich hatten sie die Entführung schon zu diesem Zeitpunkt geplant. Dann war es sicher Harry, der sie hierher gebracht hatte.

Schwerfällig erhob sie sich. Die lange Kette ermöglichte es ihr, sich wenige Schritte von der Pritsche zu entfernen und den Tisch zu erreichen. Darauf befanden sich zwölf kleine Flaschen Mineralwasser. Sie griff nach einer der Plastikflaschen und vergewisserte sich, dass der Verschluss unversehrt war. Sie wollte nicht noch einmal betäubt werden. Schließlich öffnete sie die Flasche und trank sie bis zur Hälfte aus. Dann sah sie sich die bereitliegenden Lebensmittel genauer an: ein Päckchen Butterkekse, zwei Tüten Zwieback und ein 6er-Pack Kaugummi. Sie hasste Kaugummi. Trotzdem öffnete sie die Verpackung und zog einen Streifen heraus, den sie vom Papier befreite. Widerstrebend schob sie ihn in den Mund, weil sie hoffte, dadurch den schalen Geschmack loszuwerden.

In einer Ecke neben der Pritsche entdeckte sie eine Camping­toilette, einen Plastikeimer, der mit Wasser gefüllt war, und ein Stück Seife. Auch das befand sich in der Reichweite, die ihr die Eisenkette ließ.

Obwohl sie sich nach einer heißen Dusche sehnte, tauchte sie die Hände in das kalte Wasser und benetzte ihr Gesicht damit. Suchend schaute sie sich nach einem Handtuch um, aber das hatten ihre Entführer anscheinend vergessen. Ihr Blick fiel auf das Paket Toilettenpapier. Sie nahm eine der sechs Rollen heraus, riss einen langen Streifen ab und tupfte damit Gesicht und Hände trocken.

Deprimiert ließ sie sich wieder auf der Pritsche

nieder und griff nach der dünnen Wolldecke, die darauf lag. Fröstelnd wickelte sie sich darin ein. Sie trug nur ein knielanges schwarzes Shirt. Man hatte sie nicht nur ihrer Kleider beraubt; ihre Armbanduhr und ihr Ring fehlten ebenfalls, wie sie mit einem Blick erkannte. Automatisch hob sie die Hand und tastete nach den Ohrringen. Erleichtert stellte sie fest, dass man ihr Adrians Geschenk nicht abgenommen hatte. Wahrscheinlich hatten ihre Haare es verdeckt.

„Adrian ...", murmelte sie mit Tränen in den Augen. Sie sehnte sich nach ihm, nach der Geborgenheit in seinen Armen. Wann würde sie ihn wiedersehen? Ließ man sie nach der Lösegeldübergabe überhaupt frei? Oder würde man sie in dieser elenden Hütte ihrem Schicksal überlassen?

Verzweifelt schluchzte sie auf. Was würde dann aus ihrer Tochter? Wie würden ihre Eltern das verkraften? Und vor allem ihre Großmutter?

Ihre Gedanken kehrten zu Adrian zurück. Sie kannten sich seit etwa zwei Monaten, waren aber erst seit einer Woche zusammen. Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht, als sie an ihre erste Begegnung dachte.

Kapitel 2

August 2012

Constance hatte das Therapiezentrum ein halbes Jahr zuvor eröffnet. Es war schon immer ihr Traum gewesen, alle für ihre Fachrichtung wichtigen Behandlungen unter einem Dach anzubieten. Dadurch entfielen für ihre Patienten, die überwiegend in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt waren, lange Wege. Außerdem konnte sie die weitere Behandlung mit den Kollegen persönlich und zeitnah absprechen.

Herzstück des Zentrums war ihre Praxis für Orthopädie und Sportmedizin. Daran angeschlossen waren verschiedene Abteilungen: Physiotherapie, Ergotherapie und Hydrotherapie, außerdem zählten Massagen, Gymnastik- und Yogakurse zu den Angeboten.

Constance war nicht nur stolz darauf, dass sie ihre Pläne ohne die finanzielle Hilfe ihres Vaters verwirklicht hatte, sondern auch auf den Erfolg ihrer Idee. Das Zentrum wurde von Patienten so gut angenommen, dass sie den Wartebereich hatte erweitern müssen. Zwar klappte die Terminvergabe gut, aber viele Patienten kamen unangemeldet. Deshalb waren zusätzliche Sitzplätze notwendig.

Für die Umgestaltung hatte sie einen Mittwochnachmittag gewählt, an dem das Zentrum geschlossen war, und aus Kostengründen einen Helfer von der Jobvermittlung angefordert.

Als dieser Mann endlich erschien, hatte Constance schon mit der Arbeit begonnen. Sie war etwas ungehalten über die Verspätung des Helfers, der zunächst verwundert darüber schien, dass er eine Wand streichen sollte. Er wirkte auch nicht wie ein Gelegenheitsarbeiter, der öfter solche Jobs übernahm. Aber Constance fragte nicht weiter nach, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Sie wusste, dass es Arbeitslosen oft unangenehm war, darüber zu sprechen, wie sie in diese Lage geraten waren.

Nach etwa zwei Stunden machten sie eine kurze Pause. Bei einer Flasche Mineralwasser begutachteten sie ihr Werk.

„Wer hat Sie eigentlich dazu verdonnert, hier zu pinseln?“, fragte er, wobei er sie ungeniert musterte. Was er sah, schien ihm zu gefallen. „Der alte Drache?“

Irritiert blickte sie ihn an.

„Wer?“

„Ihre Chefin. - Angeblich soll diese Frau Dr. Meves ziemlich resolut sein.“ Erwartungsvoll trat er einen Schritt näher. „Unter uns gesagt: Ist sie wirklich so ein harter Brocken?“

Rasch blickte sie sich nach allen Seiten um, als müsse sie sich vergewissern, dass sie von niemandem gehört wurde.

„Unter uns gesagt: Diese Frau hat Haare auf den Zähnen. Man sollte sich besser nicht mit ihr anlegen.“

„Ist sie wirklich so schlimm?“

„Das bleibt aber bitte unter uns. Sonst müsste ich mir wahrscheinlich einen neuen Job suchen.“

„Ich kann schweigen“, behauptete er, bevor er sie noch einmal taxierte. „Obwohl eine Frau wie Sie bestimmt nicht lange arbeitslos wäre.“

„Darauf möchte ich es lieber nicht ankommen lassen. Deshalb sollten wir jetzt weiterarbeiten.“

„Okay“, sagte er und stellte seine Flasche auf die Fensterbank. „Sie gefallen mir trotzdem“, fügte er hinzu und griff wieder nach der Farbrolle. „Sehr sogar.“

Sie kommentierte seine Worte nicht, obwohl er anziehend auf sie wirkte. Unter anderen Umständen hätte sie sich vielleicht auf einen Flirt eingelassen, aber dafür hatte sie keine Zeit. Sie musste sich auf ihre Arbeit im Zentrum konzentrieren, damit sie kürzertreten konnte, wenn ihre Tochter in sechs Monaten von ihrem Auslandsschuljahr zurückkehren würde.

Als die Wände gestrichen waren, räumten sie die Malerutensilien in einen Abstellraum und falteten gemeinsam die Folie auf dem Fußboden zusammen.

Schließlich blieb der Helfer dicht vor Constance stehen und übergab ihr seine Hälfte der Plane. Dabei verfingen sich ihre Blicke.

In diesem Moment kamen vier Männer herein, die allesamt in schwarze Lederkombis gekleidet waren.

„Stören wir?“

„Ja“, sagte Constances Hilfsarbeiter etwas ungehalten, aber sie schüttelte den Kopf.

„Nein.“

„Aha“, meinte der Mann, dessen Körperbau einem Kleiderschrank ähnelte. „Dann kann die Party ja steigen.“

Bevor Constance etwas sagen konnte, schob sich ihr Helfer zwischen sie und den vermeintlichen Rocker.

„Hier gibt es keine Party. Ihr solltet besser verschwinden.“

Mit breitem Grinsen verschränkte der vollbärtige Mann die mächtigen Arme vor der Brust.

„Woher hast du denn den Komiker?“

„Die Jobvermittlung hat ihn geschickt“, erklärte Constance.

„Zum Pinseln? Der sieht eher aus wie ein Schreibtischhengst. Hat er auch einen Namen?“

„Man nennt mich Karate-Kid“, sagte der Helfer völlig ernst. „Außerdem bin ich vielseitig begabt. Also spar dir deine dummen Sprüche.“

„Okay, das reicht jetzt, Jungs!“ Energisch trat Constance zwischen die Männer, die sie allesamt überragten. „Habt ihr die Stühle abgeholt, Buddy?“

„Wir müssen sie nur noch ausladen.“ Herausfordernd blickte er Karate-Kid an. „Du kannst auch mit anpacken. Oder bist du nur zum Pinseln zu gebrauchen?“

„Das wirst du gleich sehen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte er hinaus.

Zu fünft trugen sie das neue Mobiliar aus dem vor dem Haus geparkten Lastwagen ins Zentrum. Constance zeigte ihnen, wohin sie die Stühle stellen sollten.

„Das war’s", wandte sich Buddy schließlich an Constance. „Hast du sonst noch was für uns zu tun?"

„Nein, danke. Meinetwegen könnt ihr den Laster jetzt zurückbringen. Wir treffen uns dann bei Didi. Er soll schon mal seine größten Steaks für uns in die Pfanne hauen; ich habe einen Bärenhunger."

„Didi weiß schon Bescheid", sagte ein blonder Hüne mit Bürstenhaar­schnitt. „Ich habe ihn vorhin schon vorgewarnt, dass wir nachher mit Mordshunger im Domino einfallen. Punkt acht steht für jeden von uns ein Bier auf dem Tisch."

„Keule, du bist einmalig", lobte Constance ihn lächelnd. „Sowie ich ge­duscht und mich umgezogen habe, stoße ich zu euch."

„Okay, bis dann", entgegnete der Mann, worauf die vier Freunde das Zentrum verließen.

„So, und nun zu Ihnen", wandte sich Constance an ihren Helfer. „Sie waren gegen vier Uhr hier; jetzt ist es gleich halb acht. Mit der Arbeitsvermittlung waren zehn Euro pro Stunde vereinbart." Mit zwei Fingern fischte sie eine Banknote aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und reichte dem Mann den Fünfzigeuroschein.

„Das ist aber zu viel", protestierte er. „Leider habe ich kein Wechselgeld bei mir."

„Lassen Sie nur", winkte sie ab. „Sie haben gut gearbeitet. Gönnen Sie sich von dem Rest einen netten Abend, oder kaufen Sie Ihrer Frau einen Blumenstrauß."

„Bislang habe ich mich noch nicht einfangen lassen." Seine braunen Augen funkelten provokant. „Ein wilder Hengst lässt sich nicht so leicht zähmen."

Sie ahnte, dass er über einige Erfahrung mit Frauen verfügte, obwohl sein Lächeln jungenhaft wirkte.

„Ein sattelfester Reiter wüsste sicher auch ein noch so störrisches Pferd zu bändigen", meinte sie spöttisch. „Oder haben Sie noch nie von Zuckerbrot und Peitsche gehört? Das ist alles nur eine Frage der Dosierung."

„Sprechen Sie aus Erfahrung?" Erwartungsvoll musterte er sie von Kopf bis Fuß. „Hätten Sie nicht Lust herauszufinden, ob Ihre Methode auch bei mir funktioniert?"

„Kein Bedarf."

„Glücklich verheiratet?"

„Völlig ungebunden", verneinte sie. „Klinisch formuliert: Ich mag Männer lieber ambulant als stationär."

Skeptisch hob er die Brauen.

„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?"

Ihr abschätzender Blick maß ihn von Kopf bis Fuß.

„Besser nicht."

„Sind Sie tatsächlich eine dieser fürchterlichen Emanzen, die alles allein meistern will?", fragte er sichtlich enttäuscht. „Ich hätte sie eher für eine sinnliche Frau gehalten: anschmiegsam und hingebungsvoll."

„So kann man sich irren. Anscheinend sind Sie einer dieser Machos, die von einer Frau erwarten, dass sie gleich nachgibt."

„Bis jetzt hat sich bei mir noch keine Frau beklagt. Die meisten mögen es, wenn man ihnen den Hof macht.“

„Ist das Ihre Taktik?", fragte sie direkt. „Und wenn Sie Ihr Ziel er­reicht haben? Wenn sie schwach geworden ist? Wahrscheinlich verlieren Sie dann bald das Interesse und halten nach der nächsten Ausschau."

„Und was ist mit Ihnen? Wenn Sie Lust haben, reißen Sie sich einen willigen Mann auf. Danach werfen ihn raus oder gehen nach Hause. - Finden Sie das okay?"

„Jedenfalls ist es ehrlicher, als Hoffnungen zu wecken, die man doch enttäuschen würde."

Während sie sich fragte, warum sie ausgerechnet mit einem Hilfs­arbeiter, der ihr noch dazu völlig fremd war, über dieses Thema diskutierte, trat er dicht vor sie hin.

„Wissen Sie überhaupt, was aufrichtige Empfindungen sind?" Sein Blick hielt ihre Augen wie durch Magie gefangen. „Gewöhnlich ist es schwerer, Gefühle zu verbergen, die man hat, als welche zu heucheln, die man nicht hat."

„Ich heuchele keine Gefühle", erwiderte sie ruhig, obwohl seine unmittel­bare Nähe ein leises Kribbeln in ihrem Nacken verursachte. So erging es ihr immer, wenn sie sich physisch stark zu einem Mann hingezogen fühlte.

„Das können wir ja gleich mal testen", schlug er vor und legte leicht die Hände auf ihre Schultern. Ein sinnliches Lächeln umspielte seine Lippen. Ohne den Blick aus ihren Augen zu lösen, kam sein Gesicht gefährlich nahe. Der herbe Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase. Plötzlich schien sich die Luft zwischen ihnen elektrisch aufzuladen.

Bevor seine Lippen ihren Mund jedoch berührten, trat Constance instinktiv einen Schritt zurück.

„Angst?", fragte er daraufhin leise.

„Mir ist nur gerade nicht danach. Außerdem bestimme ich Ort und Zeitpunkt dafür gern selbst. Vor allem aber wähle ich mir sorgfältig aus, auf wen ich mich einlasse." Rasch warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Sie sollten jetzt gehen; ich habe noch eine Verabredung."

Mit einem Seufzer ließ er die Hände sinken.

„Wollen Sie sich wirklich mit diesen Typen treffen?"

„Diese Typen sind meine Freunde", betonte sie. „Wirkliche Freunde."

„Warum haben die Ihnen dann nicht bei der Renovierung geholfen?"

„Weil sie beruflich stark eingespannt sind. Buddy hat eine Autowerkstatt, und Keule ist in der Werbebranche, Andy ist Rechts­anwalt und Gus arbeitet bei der Stadtverwaltung. Ich bin schon froh, dass sie die Stühle nach Feierabend für mich abgeholt haben." Energisch ging sie zur Tür. „Nun möchte ich meine Freunde nicht länger warten lassen."

Widerstrebend folgte er ihr hinaus.

„Okay, dann gehe ich jetzt. - Aber ich komme wieder."

„In der nächsten Zeit brauche ich keine Hilfe."

„Wer weiß ...", meinte er schmunzelnd, hängte sich seinen Pullover über die Schultern und öffnete die Tür. „Ciao, Bella!"

Auch Constance verließ das Zentrum. Sie musste nur die Straße überqueren, um ihre Wohnung im Haus gegenüber zu erreichen. Dort duschte sie rasch, kleidete sich an und fuhr zu ihrem Stammlokal.

Dieter Grundmann hatte die ehemalige Eckkneipe vor zwei Jahren übernommen und in ein wahres Schmuckstück verwandelt. Während er selbst hinter der Theke stand, entfaltete sein Lebensgefährte in der Küche seine Kochkünste. Diese wurden inzwischen in der ganzen Stadt gerühmt, so dass das Domino als Geheimtipp unter Feinschmeckern galt. Dementsprechend war es nicht immer einfach, dort abends einen Tisch zu bekommen.

Als Constance das Lokal betrat, kam der Wirt sofort hinter der Theke hervor. Lächelnd ging er ihr entgegen.

„Hallo, Conny“, begrüßte er sie und küsste sie auf beide Wangen. „Schön, dich wieder mal hier zu haben.“

„Ich weiß doch, was ich meinem Magen schuldig bin, Didi.“

„Du kommst nicht nur meinetwegen?“, sagte er in gespielter Verzweiflung. „Lass dich trotzdem erst mal anschauen.“ Anerkennend musterte er ihre Gestalt, die nun in einem leichten Kleid steckte. „Hinreißend siehst du aus, meine Liebe. Wäre ich ein normaler Mann, wäre ich dir längst rettungslos verfallen.“

„Du bist normaler als die meisten Männer, die ich kenne, du alter Schmeichler", gab sie amüsiert zurück. Es störte sie nicht im Geringsten, dass er homosexuell war. Sie hegte keine Vorurteile, bewunderte sogar, dass er - trotz der auch heute noch existierenden nega­tiven Einstellung darüber - offen zu seiner gleichgeschlechtlichen Neigung stand. „Bringst du mir bitte ein Bier, Didi?"

„Ist schon unterwegs", versprach er, worauf sie sich zu ihren Motorradfreunden gesellte.

„Entschuldigt meine Verspätung", bat sie und nahm neben Buddy Platz. „Habt ihr schon gegessen?"

„Wir haben auf dich gewartet", verneinte Gus, der eigentlich Gustav hieß. „Wer hat dich denn noch aufgehalten?" Ein vielsagendes Schmunzeln breitete sich auf seinem schmalen Gesicht aus. „Dein Anstreicher?"

„Wie kommst du denn darauf?"

„Hast du nicht gemerkt, wie er dich angeguckt hat?"

Mit Unschuldsmiene erwiderte sie seinen Blick.

„Wie hat er mich denn angeschaut?"

„Wie ein gieriger Hund einen äußerst delikaten Knochen."

„Vielen Dank für den netten Vergleich mit einem Knochen", entgegnete sie trocken. „Eigentlich dachte ich immer, dass an mir etwas mehr dran ist."

„Du weißt schon, wie ich das meine", behauptete er lachend. „Zu deiner Beruhigung kann ich dir aber versichern, dass deine Anatomie genau an den richtigen Stellen alles andere als knochig ist. Das ist auch deinem Anstreicher aufgefallen."

„Kam der wirklich von der Jobvermittlung?", zweifelte Andy, der Rechtsanwalt. „Auf mich hat er eher den Eindruck eines Playboys gemacht."

„Wie ein Hilfsarbeiter hat der tatsächlich nicht ausgesehen", fügte Buddy hinzu. „Solche Typen machen sich normalerweise nicht die Hände schmutzig. Der passt eher in ein vornehmes Büro."

„Habt ihr den schwarzen Porsche vor dem Haus gesehen?", fragte Constance nachdenklich. „Damit ist er weggefahren."

„Das war seine Kiste?" Beeindruckt nickte Buddy. „Kein schlechter Wa­gen. Ich habe ihn mir angeschaut. Ein historisches Modell – gut und gerne dreißig Jahre alt. Und sehr gepflegt.“

„Vielleicht war das so ein reicher Spinner", überlegte Volker, dem der Spitzname Keule anhaftete, seit er eine erfolg­reiche Werbekampagne für Hähnchenschenkel entworfen hatte. „Manche Leute kommen auf die merkwürdigsten Ideen, wenn sie zu viel Kohle haben."

„Im Grunde ist völlig unwichtig, wer er war", meinte Constance. „Er hat mir bei der Renovierung geholfen, und ich habe ihn dafür bezahlt. Damit ist die Sache für mich erledigt." Sie nahm das Bierglas entgegen, das der Wirt nun brachte. „Danke, Didi." Lächelnd blickte sie in die Runde. „Und euch danke ich für eure Hilfe. – Prost!"

Niemand in dem gut besuchten Lokal beachtete die Frau mit den dunklen Locken, die in einer Nische saß. Die Augen hinter den dicken Brillengläsern beobachteten die Runde der fünf Freunde unauffällig, aber sehr genau. Besonders interessierte sie die Frau mit dem blonden Haar. Jede Bewegung, jede Geste von Constance Meves versuchte sie sich einzuprägen – wie sie ihr Glas hielt, wie sie sich leicht zurücklehnte, wenn sie lachte, wie sie sich mit der Serviette den Mund abtupfte ...

Kapitel 3

8. Oktober 2012 in einer Holzhütte

Nach drei Tagen Gefangenschaft war Constance hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Sie hatte noch nie so viel Angst verspürt, sich noch nie so einsam gefühlt. Während sie Stunde um Stunde im Dämmerlicht der Hütte verharrte, kreisten ihre Gedanken um ihre Tochter, um ihre Familie und um ihre Entführung. Die Kidnapper hatten sich immer noch nicht gezeigt. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Die Ungewissheit war unerträglich.

Regen prasselte unaufhörlich auf die kleine Dachluke. Es war empfindlich kalt geworden.

Du musst dich bewegen!

Langsam kam sie auf die Beine, nahm die Wolldecke von der Pritsche und legte sie sich um die Schultern. Sie reichte ihr bis zu den nackten Waden. Barfuß ging sie zwei Schritte nach rechts und drehte sich wieder herum. Vier Schritte nach links, die Metallkette jetzt vor der Brust. Sechs Schritte hin, sechs zurück. Sechs hin, sechs zurück. Immer die gleiche Anzahl. Laut zählte sie mit. Das lenkte sie von ihrer Angst ab.

„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. – Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ...“

Immer der gleiche Weg. Wie ein Tiger im Käfig. Sechs Schritte - mehr ließ die Kette nicht zu.

„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ...“

Du kommst hier wieder raus! Paps wird zahlen! Egal, wie viel sie verlangen!

„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ...“

Nicht nachdenken! Zählen!

„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ...“

Entkräftet sank sie schließlich auf die Pritsche. Viel wärmer war ihr nicht geworden. Dafür spürte sie deutlich ihre kalten Füße. Rasch zog sie den linken Fuß unter sich und rieb mit der Hand immer wieder über die rechte Fußsohle. Nach einer Weile wechselte sie die Position und zog den rechten Fuß unter sich. Durch ihre Körperwärme fühlte sich der linke Fuß nicht mehr so kalt an. Trotzdem rieb sie kräftig weiter. Was hätte sie jetzt alles für ein Paar Wollsocken gegeben! Sie wusste, wie wichtig es war, dass ihr Körper nicht auskühlte. Sie durfte sich nicht erkälten! Ihre Entführer würden sie kaum mit Medikamenten versorgen. Wenn sie überhaupt irgendwann auftauchten.

Grübelnd rollte sie sich in embryonaler Haltung zusammen und zog die Decke dicht um sich.

Sollten Tante Betty und Harry wirklich hinter der Entführung stecken, würden die sie freilassen, sowie sie das Lösegeld hätten. Schließlich waren sie trotz allem miteinander verwandt. Tante Betty hatte sie doch immer gemocht – und Harry sowieso. Musste ihnen nicht daran gelegen sein, dass sie unversehrt zu ihrer Familie zurückkehrte?

Jäh setzte sie sich auf. Oder etwa nicht? Mussten die beiden nicht damit rechnen, dass sie sich an den Besuch bei ihrer Tante erinnerte – und an den bitter schmeckenden Tee? War es nicht viel zu gefährlich, sie freizulassen? Vielleicht ließen sich ihre Entführer deshalb nicht sehen! Dann würde sie in dieser elenden Hütte sterben!

Unwillkürlich schossen ihr Tränen in die Augen. Schluchzend krümmte sie sich zusammen. Sie weinte, bis sie erschöpft einschlief.

Kapitel 4

August 2012

Am Tag nach der Renovierung fuhr Constance gleich morgens zur Klinik am Stadtpark. Nach ihrem Medizinstudium hatte sie sich auf Störungen im Bewegungsapparat des Menschen spezialisiert. Wenigstens einmal in der Woche suchte sie die Patienten auf, die nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus bei ihr im Zentrum ambulant weiter­behandelt wurden. Eine ihrer Mitarbeiterinnen betreute diese Patienten vormittags in der Klinik, in manchen Fällen übernahm Constance die Therapie jedoch von Anfang an selbst.

An diesem Morgen beschäftigte sie sich intensiv mit einem Schlaganfallpatienten, der unter rechtsseitigen Lähmungen litt.

Anschließend schaute sie in das Arbeitszimmer der Oberärztin der Orthopädie Dr. Sabine Schubert, mit der sie seit Jahren befreundet war.

„Hallo, Sabine", sagte Constance mit der Klinke in der Hand. „Hast du einen Moment Zeit?"

„Für dich immer", erwiderte die Kollegin und klappte eine Patientenakte zu. „Nimm dir einen Kaffee und setz dich zu mir."

Gern kam Constance dieser Aufforderung nach.

„Was gibt es Neues, Conny?", fragte Sabine, als sie ihr gegenüber saß. „Hast du die Renovierung deines Wartezimmers schon durchgezogen?"

„Es ist gestern fertiggeworden", bestätigte Constance, ehe sie an ihrem heißen Kaffee nippte. „Und wie sieht es bei dir aus? Der Flurfunk meldet, dass du Piet endlich erhört hast.“

„Was hätte ich tun sollen? Du wolltest mich doch unbedingt mit ihm verkuppeln.“

„Ich?“

„Tu bloß nicht so unschuldig. Das ist doch dein liebstes Hobby. Nur weil es dir nicht gelingt, deine Eltern wieder zusammenzubringen, spielst du bei anderen Leuten Amors Assistentin. Dabei solltest du dich besser um dein eigenes Liebesleben kümmern.“

„Das sagst ausgerechnet du?“, erwiderte Constance ohne Vorwurf. „Immerhin warst du fast so lange Single wie ich. Hättest du Piet nicht kenngelernt ...“ Gespannt hob sie die Brauen. „Wie ist es ihm denn gelungen, diesen Zustand zu beenden?“

„Er hat mich damit geködert, dass er einen Kurs in japanischer Liebeskunst absolviert hat."

„Wie funktioniert das denn? Etwa mit Stäbchen?"

„Wenn ich das rausgefunden habe, gebe ich meine Erfahrungen gern an dich weiter."

„Du bist eine wahre Freundin", meinte Constance amüsiert. „Verrätst du mir auch, wie du dich mit dem neuen Verwaltungsdirektor geeinigt hast? Darfst du das Pflegepersonal auf deiner Station behalten?"

„Eine Schwester hat er mir schon gestrichen", monierte sie. „Demnächst sollen auch noch die Pfleger drankommen." Kampfeslustig reckte sie das Kinn. „Aber ohne mich! Von meiner Station gebe ich keinen her!"

„Was sagen denn die anderen Kollegen?"

„Die sind alle nicht besonders gut auf den Herzog zu sprechen. Mit seinen Umstrukturierungsmaßnahmen bringt er alles durcheinander. Er lässt sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich wurde er ja eingestellt, um die Kosten der Klinik zu reduzieren. Wahrscheinlich dauert es nicht mehr lange, bis er auch dich und deine Leute am Wickel hat."

„Darüber mache ich mir keine Gedanken, Sabine. Immerhin habe ich einen Vertrag."

„... der Ende des Jahres ausläuft", erinnerte die Freundin sie. „Vergiss nicht, dass es sich bei deiner Tätigkeit für die Klinik um einen befristeten Modellversuch handelt."

„Mir wurde aber eine Vertragsverlängerung zugesichert, falls sich die Zusammenarbeit zwischen der Klinik und dem Therapie-Zentrum bewährt."

„So, wie ich diesen Mann einschätze, findet er ein Haar in jeder Suppe, wenn er nur lange genug danach sucht. Darauf ist der doch speziali­siert.“

„An mir würde er sich genauso die Zähne ausbeißen wie vor ihm Benno Gerlach", sagte Constance zuversichtlich. „Der versucht doch auch dauernd, mir Steine in den Weg zu legen. – Nur, weil ich seine männ­liche Eitelkeit gekränkt habe."

„Ich begreife nicht, wie er erwarten konnte, dass du ihm freude­strahlend in die Arme sinkst. Immerhin hattet ihr jahrelang keinen Kontakt. Wie konntest du damals überhaupt auf ihn reinfallen?"

„Meine Güte, ich war eben jung und naiv. Mit achtzehn tut man manchmal etwas, das man später selbst nicht mehr ver­steht. Damals war mir nicht klar, dass es das Geld meines Vaters war, das ihn am meisten an mir interessiert hat. Benno hat mir wohl nie verziehen, dass ich ihn sofort abserviert habe."

„Trotzdem hat er gleich wieder versucht mit dir anzubandeln, als er hier vor sieben Monaten die Buchhaltung übernommen hat. Wahrscheinlich wollte er sogar Verwaltungsdirektor werden. Ihm hat es bestimmt nicht gepasst, dass ihm der Aufsichtsrat den Herzog vor die Nase gesetzt hat, als Bollmann in Pension ging."

„Soviel ich weiß, hat man sich für den besten Bewerber entschieden. Das muss auch Benno akzeptieren."

„Das fällt ihm sicher schwer. Er ärgert sich doch schon darüber, dass so viele Schwestern für den Herzog schwärmen."

„Sieht er so toll aus?"

„Na ja ...“, überlegte Sabine, „...er ist keiner dieser nichtssagenden Schönlinge, hat aber das gewisse Etwas - außerdem eine starke Ausstrahlung – und einen sexy Hintern."

„Sabine!", tadelte Constance sie lächelnd. „Wo schaust du nur immer hin?"

„Das ist rein anatomisches Interesse", meinte sie augenzwinkernd. „Man muss doch wissen, mit wem man es zu tun hat."

Mit langen Schritten durchquerte Verwaltungsdirektor Adrian Herzog die Klinikhalle.

Er war gerade im Begriff, die Chirurgische Ambulanz zu betreten, als er die junge Frau bemerkte, die eben den Lift verließ.

Sie war in einen beigefarbenen Hosenanzug gekleidet und trug eine große schwarze Arzttasche in der rechten Hand. Ihr blondes Haar glänzte im hellen Licht; die langen Ohrringe wippten bei jedem ihrer Schritte mit.Lächelnd nickte sie einigen Angehörigen des Pflegepersonals zu, während sie dem Ausgang zustrebte.

– Das war doch die hübsche Angestellte aus dem Therapie-Zentrum, dachte der Ver­waltungschef erfreut darüber, sie so bald wiederzusehen.

Schon wollte er ihr nachlaufen, aber es stellte sich ihm ein hochgewachsener, in einen weißen Kittel gekleideter Mann in den Weg.

„Gut, dass ich Sie treffe, Herr Herzog", sprach er den Verwaltungschef an. „Ich muss Sie dringend sprechen."

„Später, Herr Professor. Ich wollte gerade ..."

„Später habe ich keine Zeit!", unterbrach Professor Kronenburg den Jüngeren bestimmt und führte ihn am Arm zum Lift. „Kommen Sie; es dauert nicht lange."

Widerstrebend fügte sich Adrian Herzog dem Drängen des Chefarztes. Er wollte den Professor nicht schon wieder verärgern, nachdem die meisten Beschwerden über die personellen Veränderungen beim medizinischen Leiter der Klinik landeten. Dem fiel dann die un­dankbare Aufgabe zu, die Gemüter zu beruhigen.

Während der Verwaltungsdirektor sich nun einige Vorhaltungen des Professors anhörte, kehrte Constance Meves ins Therapie-Zentrum zurück. Dort wandte sie sich zuerst an die Mitarbeiterin hinter der Anmeldung.

„Irgendwelche Anrufe für mich, Martina?"

„Ich habe alles notiert und zusammen mit der Post auf deinen Schreib­tisch gelegt, Conny."

„Danke. - War sonst etwas Wichtiges?"

„Herr Claasen hat nach dir gefragt. Er ist jetzt bei Harry zur Massage."

„Dann werde ich ihn kurz begrüßen", beschloss Constance, ehe

sie sich nach der griechischen Auszubildenden erkundigte. „Wo ist denn unser Küken heute?"

„Elena ist bei Barbara im Gymnastikraum. - Ist das in Ordnung?"

„Ja, aber heute Nachmittag möchte ich sie in meiner Sprechstunde haben.“­

Über die Treppe gelangte die Ärztin zu dem in der ersten Etage liegenden Behandlungsraum von Harry Lohmann. Der Masseur war ein Vetter dritten Grades von ihr und seit Kindertagen total vernarrt in sie. Sie hielt ihn für ein wenig verschroben, aber sie wusste ihn zu nehmen, so dass sie recht gut miteinander auskamen.

Nach kurzem Anklopfen trat Constance ein.

„Oh, die Chefin persönlich", sagte Herr Claasen, der schon wieder fertig angezogen aus der Umkleidekabine kam. „Schön, Sie zu sehen, meine liebe Constance."

Lächelnd reichte sie dem älteren Herren die Hand.

„Ich freue mich auch, Claas."

„Darf ich hoffen, dass Sie mich demnächst wieder mal ins Konzert begleiten?"

„Mit dem größten Vergnügen. Sagen Sie mir nur rechtzeitig Bescheid, damit ich disponieren kann."

„Sowie ich etwas Geeignetes für unsere verwöhnten Ohren ausgekund­schaftet habe, melde ich mich", versprach er, bevor er sich verabschiedete.

Kopfschüttelnd schloss Harry Lohmann die Tür hinter ihm und lehnte sich dagegen. Er war ganz in Weiß gekleidet, nicht größer als seine Cousine und hatte eine sportlich durchtrainierte Figur.

„Was findest du bloß an diesem alten Zausel?", fragte er missbilligend. Er war eifersüchtig auf jeden Mann, dem seine Cousine Aufmerksamkeit schenkte. „Wieso verschwendest du deine Zeit mit dieser Mumie?"

„Sprich nicht so respektlos von Herrn Claasen", tadelte Constance ihn. „Ältere Menschen sind wie Museen: Nicht auf die Fassade kommt es an, sondern auf die Schätze im Inneren."

„In meinen Augen ist das ein aufdringlicher alter Bock. Wenn er noch könnte, wie er gern möchte, dann ..."

„Hör doch auf mit dem Unsinn", unterbrach sie ihn unwillig. „Herr Claasen ist ein Gentleman alter Schule. Ich mag ihn sehr gern. Er ist nicht nur sympathisch, sondern auch ein kluger Gesprächspartner."

„Außerdem hat er eine Schwäche für dich", fügte der Masseur spöttisch hinzu. „Aber so ergeht es schließlich vielen Männern. Ob jung, ob alt - alle sind in dich verknallt."

„Nur kein Neid. Erzähl mir lieber, wie dir das neue Wartezimmer gefällt."

„Es ist großartig geworden, Conny." Schuldbewusst fuhr er sich mit allen zehn Fingern durch sein kurzes, rotblondes Haar. „Es tut mir leid, dass ich gestern mit meinen Skatbrüdern auf Ostseetour war, anstatt dir zu helfen."

„Ich hatte doch jemanden von der Jobvermittlung angefordert."

Der aufmerksame Blick, der auf ihr ruhte, wurde lauernd.

„Was war das für ein Typ?"

„Irgendein Arbeitsloser", wich sie achselzuckend aus. „Mit seiner Hilfe war alles rechtzeitig fertig, als die Jungs mit der Einrich­tung kamen."

Nachdem der letzte Patient das Sprechzimmer verlassen hatte, betrat die Sportlehrerin Barbara Möller mit einer Vase in den Händen den Raum.

Erstaunt erhob sich Constance.

„Habe ich etwa meinen Geburtstag vergessen?"

„Das sähe dir ähnlich“, meinte Barbara trocken und stellte den Strauß auf den Schreibtisch. „Dein neuester Verehrer hat die Rosen vor knapp einer Stunde gebracht."

Skeptisch hob Constance die Brauen.

„Hat er auch einen Namen?"

„Den hat er mir leider nicht verraten, Conny. Er war auf der Suche nach einer Frau, die sehr hübsch ist, und die gestern das Wartezimmer renoviert hat."

„Aha“, erwiderte Constance nur, die plötzlich ahnte, wer die Blumen gebracht hatte. Vorsichtig griff sie nach dem Umschlag, der zwischen den Blüten steckte, und entnahm die Karte:

Für die sinnlichste Frau, die ich jemals mit einem Pinsel in der Hand gesehen habe.

Wir sollten die knisternde Spannung zwischen uns so bald wie möglich beleben.

In freudiger Erwartung - Karate Kid

„Nun sag schon", drängte Barbara die Freundin, als Constance die Karte kommentarlos in ihrer Kitteltasche verschwinden ließ. „Wer ist dein Rosenkavalier?"

„Einer, der sich für unwiderstehlich hält."

„Er ist unwiderstehlich!", korrigierte Barbara sie mit verzücktem Augenaufschlag.

„Ich überlasse ihn dir gern", bot Constance ihr an. „Aller­dings musst du dann damit rechnen, dass er dich gleich am ersten Abend flachlegt."

„Bist du etwa schon bei ihm schwachgeworden?"

„Natürlich nicht. – Aber es war nicht ganz einfach, ihm zu widerstehen."

„Das kann ich mir gut vorstellen. Wer ist er denn nun?"

„Diese Frage kann ich dir leider nicht beantworten, Babs", entgegnete Constance zur Überraschung der Sportlehrerin. „Ich weiß nur, dass er einen schwarzen Porsche fährt, selten handwerklich arbeitet und nicht beabsichtigt, sich von einer Frau einfangen zu lassen."

Ungläubig schaute Barbara sie an.

„Weißt du wirklich nicht, wie er heißt?"

„Er nannte sich: Karate Kid. Diesen Namen hat er sich aber nur ausgedacht, um Buddy zu imponieren."

„Aber wenn du ihn kaum kennst, was will er dann von dir? Dem liegen die Frauen doch bestimmt reihenweise zu Füßen."

„Jedenfalls werde ich mich nicht dazu legen", betonte Constance und schlüpfte aus ihrem kurzen weißen Arztmantel. „Jetzt gehe ich erst mal rüber in meine Wohnung. Ich möchte die Mittagszeit nutzen, um noch an meinem Vortrag zu arbeiten."

„Wird dir das alles eigentlich nie zu viel? Das Zentrum, die Patienten in der Klinik, deine Arbeit für die Schlaganfall-Stiftung, dein Training für das Rennen, Familie und ..."

„Hör auf!", unterbrach Constance sie lachend. „Das klingt ja furchtbar!"

„Das ist dein Leben", erinnerte Barbara sie mit komischer Miene. „Zu Risiken und Nebenwirkungen schlagen Sie Ihren Arzt oder Apotheker."

„Wann sollte ich das tun? Nach allem, was du aufgezählt hast, müsste mein Tag mindestens 36 Stunden haben. Da mir aber nur 24 zur Verfügung stehen, ist meine Zeit einfach nur gut organisiert." Augenzwinkernd griff sie nach ihrer Um­hängetasche. „Stell dir vor, Babs, ich bekomme sogar regelmäßig Schlaf."

„Fragt sich nur, wie viel, du Arbeitstier."

„Genug", erwiderte Constance, während sie das Sprechzimmer verließen. „Behalt das aber bitte für dich. Sonst kommt am Ende noch jemand auf den Gedanken, dass ich nicht ausgelastet bin."

In ihrer Wohnung warf Constance zunächst einen Blick in die Zeitung. Dabei stieß sie auch auf einen Artikel über den neuen Verwaltungschef der Klinik am Stadtpark. Der Mann, der auf dem Foto neben Professor Kronenburg abgebildet war, ähnelte auf verblüffende Weise dem Porschefahrer, der ihr bei der Renovierung geholfen hatte.

„Wer hätte das gedacht ...“, murmelte Constance. „Karate Kid ist also mit Adrian Herzog identisch.“

Am Nachmittag besuchte Elsbeth Lohmann das Therapie-Zentrum.

Wie gewöhnlich war die Mutter des Masseurs für ihr Alter zu jugendlich gekleidet. Ihr farbenfrohes Outfit hätte besser zu einer Zwanzigjähri­gen als zu einer reifen Frau jenseits der Sechzig gepasst. Das traf auch auf ihr zu stark geschminktes Gesicht zu. Allerdings wagte niemand, ihr das zu sagen. Frau Lohmann war für ihre spitze Zunge bekannt, so dass man es tunlichst vermied, sich mit ihr anzulegen.

„Tag, Fräulein Martina", sagte sie und rauschte an der Anmeldung vorbei. „Ist meine Nichte da?"

Rasch lief Martina ihr nach, als Elsbeth, ohne eine Antwort abzuwarten, geradewegs auf das Sprechzimmer der Ärztin zueilte.

„Warten Sie, Frau Lohmann." Energisch vertrat sie ihr den Weg. „Sie können da jetzt nicht rein."

Sekundenlang schaute Elsbeth sie mit einer Mischung aus Verblüffung und Verärgerung an. Dieses junge Ding wagte es, sich ihr in den Weg zu stellen! Empört funkelte sie die Sprechstundenhilfe an.

„Lassen Sie mich gefälligst durch! Sie haben wohl vergessen, wer ich bin?"

„Ich habe Anweisung, niemand unaufgefordert reinzulassen, wenn die Frau Doktor einen Patienten hat."

„Das gilt aber nicht für mich!“

„Tut mir leid, aber es gibt keine Ausnahme. Die Patienten haben ein Recht auf eine ungestörte Konsultation. Sie können gern im Wartezimmer Platz nehmen, bis Frau Dr. Meves frei ist.“

„Diese Sache wird ein Nachspiel haben!“, schimpfte Elsbeth aufgebracht. „Über Ihren ungehörigen Ton werde ich mich bei meiner Nichte beschweren!“ Aus schmalen Augen musterte sie die Sprechstundenhilfe. „Dann gehe ich jetzt zu meinem Sohn! Oder wollen Sie mich daran auch hindern?“

„Nein“, erwiderte Martina. „Ihr Sohn hat im Moment keinen Patienten.“

Erhobenen Hauptes wandte sich Elsbeth um und eilte auf die Treppe zu. Ohne anzuklopfen, betrat sie das Behandlungszimmer ihres Sohnes.

„Mutter ...“, begrüßte Harry sie überrascht. „Was tust du denn hier?“

„Ich wollte mal nach dem Rechten sehen“, erwiderte sie und hielt ihm die Wange zum Kuss hin. Vorwurfsvoll blickte sie ihren Sohn dann an. „Du verdrückst dich ja immer, anstatt mir Bericht zu erstatten.“

„Jetzt fang doch nicht gleich wieder davon an. Gut Ding braucht Weile.“

„Unternimm endlich was, um ans Ziel deiner Wünsche zu kommen", sagte Elsbeth ungehalten. „Wie lange soll ich denn noch warten? Von der kleinen Rente, die ich seit dem Tod deines Vaters beziehe, kann ich kaum leben. Verstehst du denn nicht, dass ich auch noch ein paar angenehme Jahre haben möchte?" Unruhig ging sie vor dem Fenster auf und ab. „Ich will noch was von der Welt sehen, Harry. Das ist aber nur möglich, wenn du Constance heiratest. Sie erbt einmal ein großes Vermögen und ..."

„Geld interessiert mich nicht", unterbrach er sie. „Meinetwegen kann Onkel Anton ewig leben. Ich liebe Conny! Nur deshalb will ich sie für mich haben!"

„Warum tust du dann nichts, um bei ihr voranzukommen?", erregte sich seine Mutter. „Du bist ein stattlicher Mann von vierzig Jahren! Obwohl ich manchmal das Gefühl habe, dass deine Muskeln besser als dein Verstand arbeiten, dürfte es doch nicht allzu schwer sein, Constance davon zu überzeugen, dass du der Richtige für sie bist!"

„Meine Güte, du weißt doch selbst, dass sie gar nicht daran denkt, sich noch mal zu binden, Mutter!", erregte nun auch er sich. „Glaubst du, unter diesen Umständen ist es so einfach, sie mal eben zu überreden, mich zu heiraten?" Resigniert strich er übers Haar. „Conny nimmt mich doch gar nicht ernst."

„Dann bemühst du dich eben nicht intensiv genug. Du musst ihr Geschenke bringen: Rosen, Parfum, Konfekt ... Führe sie zum Essen oder zum Tanzen aus, mach dich unentbehrlich. Schließlich braucht auch eine unabhängige Frau, wie Constance es ist, hin und wieder einen potenten Mann. Oder denkst du, dass ausgerechnet sie völlig enthaltsam lebt?"

„Leider tut sie das nicht", sagte Harry mit einem Seufzer. „Manchmal leistet sie sich einen Geliebten."

„Woher weißt du das so genau? Sie wird dir das kaum erzählt haben."

„Trotzdem bin ich ganz sicher", erwiderte ihr Sohn. Allerdings sah er in jedem Mann, mit dem Constance Kontakt hatte, einen potentiellen Liebhaber. „Das ist aber nie von Dauer.“

Nachdenklich musterte Elsbeth ihren Sohn.

„Macht es dir gar nichts aus, dass sie es mit anderen Männern treibt?“

„Das ist mir lieber, als wenn sie eine feste Beziehung hätte. Dann würde sie nämlich etwas für den Mann empfinden. Dagegen bedeuten ihr diese Affären nichts. Ich könnte es einfach nicht ertragen, wenn es einen Mann in ihrem Leben geben würde, den sie liebt. Um den loszuwerden, würde ich wahrscheinlich alles tun."

„Das wird nicht nötig sein", behauptete seine Mutter. „Wenn es dir nicht innerhalb der nächsten Woche gelingt, Constance für dich zu ge­winnen, nehme ich die Sache in die Hand. Ich habe schon einen Plan, wie sich deine und meine Wünsche erfüllen werden."

Prompt schoben sich seine buschigen Augenbrauen zusammen.

„Was hast du vor?"

„Das erfährst du noch früh genug, Harry." Triumphierend blitzte es in ihren Augen auf. „Ein Ass habe ich noch im Ärmel. Wenn wir es geschickt ausspielen, wird es uns mit Sicherheit ans Ziel bringen." Aufmunternd klopfte sie ihrem Sohn auf die Schulter. „Keine Sorge, mein Junge, Ich habe die Sache fest im Griff. – Jetzt gehe ich erst ­mal zu deiner Cousine."

Durch die telefonische Ankündigung ihrer Sprechstundenhilfe wusste Constance bereits, dass Elsbeth Lohmann im Anmarsch war.

Deshalb zeigte sie sich wenig überrascht, als ihre Tante eintrat.

„Guten Tag, Tante Betty", begrüßte sie die Ältere freundlich, obwohl ihr Verhältnis zueinander nicht besonders herzlich war. Es ärgerte sie, dass Elsbeth sich ständig in Dinge einmischte, die sie absolut nichts angingen. „Was führt dich her?"

„Zufällig hatte ich in der Gegend zu tun", entgegnete Elsbeth lächelnd. „Und da ich dich viel zu selten zu Gesicht bekomme, musste ich einfach reinschauen." Prüfend blickte sie ihre Nichte an. „Wie geht es dir, Constance?"

„Danke, ich kann nicht klagen", erwiderte sie. Einladend deutete sie auf einen der bequemen Stühle vor dem Schreibtisch. „Möchtest du dich nicht setzen? Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee?"

„Bemüh dich nicht", lehnte Elsbeth mit einem Kopfschütteln ab und nahm Platz. „Ich möchte dich nicht lange aufhalten, mein Kind. Du hast doch immer so viel zu tun. Harry erzählte mir, dass das Zentrum ein großer Erfolg ist. Es zu eröffnen, war goldrichtig. Leider kommt dein Privatleben dabei ein wenig zu kurz."

Innerlich amüsiert blickte Constance ihre Tante an. Insgeheim schätzte sie vor jedem ihrer Besuche ab, wie lange Elsbeth wohl brauchen würde, ihr Lieblingsthema zur Sprache zu bringen. So schnell wie heute kam sie allerdings selten auf den Punkt.

„Allmählich solltest du wirklich daran denken, wieder zu heiraten", fuhr Elsbeth unbeirrt fort. „Es ist nicht gut für eine junge Frau, allein zu leben."

„Warum nicht?"

„Weil ... weil ..." Einen Moment lang brachte diese simple Frage Elsbeth aus der Fassung. Aber sie fing sich rasch wieder. „Weil jeder Mensch einen verlässlichen Partner an seiner Seite braucht", sagte sie schließ­lich. „Du bist da keine Ausnahme. Bestimmt gibt es genug Männer, die sich für dich interessieren. Ist denn keiner darunter, der dir gefällt?"

„Keine Ahnung. Bislang habe ich noch nicht darauf geachtet."

„Das solltest du aber tun." Der Vorwurf in Elsbeths Stimme war nicht zu überhören. „Immerhin bist du inzwischen sechsunddreißig. Es gibt nicht beliebig viele Männer, die im Alter zu dir passen würden, und die noch frei sind. Du musst außerdem an deine Tochter denken. Nathalie braucht einen Vater."

„Bis jetzt ist sie ganz gut ohne ausgekommen", behauptete sie, ob­wohl dieser Gedanke sie auch ab und zu beschlich. „Immerhin wächst Nathalie nicht ohne männliche Bezugspersonen auf. Sie hat ihren Großvater, Freunde von mir, mit denen sie sich gut versteht, und nicht zuletzt Harry."

„Harry liebt die Kleine wie ein eigenes Kind", bemerkte Elsbeth mit einem wohl dosierten Seufzer. „Bestimmt wäre er für Nathalie ein wundervoller Vater." Sekundenlang glitten ihre Augen forschend über das Gesicht ihrer Nichte. „Hast du eigentlich nie bemerkt, was Harry für dich und deine Tochter empfindet? Was glaubst du, aus welchem Grund er hier im Zentrum arbeitet? Das tut er nur, um dir näher zu sein. – Weil er dich liebt.“

„Das ist doch nicht wahr!", sagte Constance ungläubig. „Harry sieht allenfalls so was wie eine kleine Schwester in mir. Du reimst dir da was zusammen, Tante Betty."

„Und wenn ich recht hätte? Wie würdest du dich dann verhalten?“

„Ich habe Harry nie Anlass zu irgendwelchen Hoffnungen gegeben. Wir kennen uns von klein auf und sind außerdem miteinander verwandt. Uns verbinden nur freundschaftliche Ge­fühle.“

„Das könnte sich ändern. Falls ihr heiraten würdet, dann ..."

„Was soll denn das, Tante Betty!?", unterbrach Constance sie unwillig und sprang auf. „Ich werde weder Harry noch sonst jemanden heiraten. Aus der Katastrophe, die hinter mir liegt, habe ich gelernt, dass ich allein besser zurecht­komme. Außerdem habe ich seitdem keinen Mann kennengelernt, für den ich meine Freiheit aufgeben würde. Und damit lass uns das Thema bitte beenden.“

„Eines Tages, wenn du mein Alter erreicht hast, wirst du feststellen, was Einsamkeit bedeutet", prophezeite Elsbeth. „Dann wirst du es bitter bereuen, so viel Wert auf deine Freiheit gelegt zu haben."

„Möglich", räumte Constance ein. „Vielleicht denke ich in ein paar Jahren anders darüber. Jetzt bin ich aber zufrieden mit meinem Leben, wie es ist."

„Wie du meinst“, murmelte Elsbeth nur und erhob sich. „Es wird Zeit für mich, mein Kind. Bevor ich gehe, muss ich dir allerdings noch raten, dich nach einer anderen Sprechstundenhilfe um­zusehen. Wenn diese Martina deine Patienten genauso unfreundlich und patzig wie mich behandelt, sehe ich schwarz für die Zukunft des Zentrums. Trenn dich besser von dieser unmöglichen Person."

„Wenn ich das täte, müsste ich das Zentrum wahrscheinlich wirklich bald schließen. Martina ist nicht zu ersetzen. - Und die Patienten mögen sie."

„Du musst wissen, was du tust", grummelte Elsbeth und wandte sich zur Tür. „Lass bald mal von dir hören, Constance."

„Ich werde daran denken. - Ciao, Tante Betty."

Als sie allein war, ließ sich Constance leise seufzend in ihren Schreibtischsessel sinken. Die Besuche ihrer Tante erwiesen sich meist als recht anstrengend, zumal Elsbeth dazu neigte, ihre Mitmenschen zu bevormunden oder ihnen Ratschläge zu erteilen, die mitunter völlig absurd klangen. Leise lächelnd erinnerte sie sich daran, dass ihr Vater Elsbeth Lohmann manchmal als Plage bezeichnete.

Kapitel 5

10. Oktober 2012 in einer Holzhütte

Durch den Wechsel von Tageslicht und Dunkelheit wusste Constance, dass sie sich schon seit fünf Tagen in Gefangenschaft befand. Mit einem winzigen Stein, den sie unter der Pritsche entdeckt hatte, ritzte sie jeden Morgen einen Strich in die Wand über ihrem Lager.

In manchen Momenten fragte sie sich allerdings, warum sie das tat. Würde sie diese Hütte überhaupt lebend verlassen? Bisher hatte sich kein Entführer sehen lassen.

Auch die wenigen Nahrungsmittel, die sie vorgefunden hatte, gingen zur Neige, obwohl sie nur aß, wenn der Hunger übermächtig wurde. Außerdem fror sie permanent. Die herbstlichen Temperaturen kühlten die Hütte immer mehr aus. Nachts kroch außer der Angst auch die Kälte mit unter die dünne Wolldecke. Trotzdem verlor Constance ihren Lebenswillen nicht. Obwohl sie nur wenig Bewegungsfreiheit hatte, zwang sie sich immer wieder, vor der Pritsche auf und ab zu laufen. Es war auch die einzige Beschäftigung, um die quälend langsam vergehende Zeit totzu­schlagen. Da sie weder etwas Warmes zu essen oder zu trinken bekam, spürte sie die Kälte umso mehr. Deprimiert fragte sie sich, wie lange sie noch durchhalten konnte. Sie besaß noch drei Kekse, einen Zwieback und ein Päck­chen Kaugummi. Die Mineralwasserflaschen waren bis auf einen kleinen Rest leer.

Wie oft in den letzten Tagen zerrte sie verzweifelt an der Kette, aber die stabile Wandverankerung gab nicht nach. In ihrer Reichweite befand sich auch nichts, was sie als Werkzeug benutzen könnte. Sie bemerkte aber, dass die Handschelle, mit der sie an die Kette gefesselt war, etwas lockerer als zu Beginn ihrer Gefangenschaft um ihr Handgelenk lag. Wenn sie durch diese unfreiwillige Diät bis zum Skelett abgemagert wäre, käme sie wahrscheinlich frei, dachte sie sarkastisch. Nur würde es ihr dann nichts mehr nützen.

Ihr Blick wanderte durch den kargen Raum und blieb beinah sehnsüchtig an den schmutzigen Gummistiefeln hängen, die neben der Tür standen. Sie brauchte dringend etwas, um ihre kalten Füße zu wärmen, aber es war unmöglich, an diese alten Stiefel heranzukommen, und es gab auch nichts in ihrem Umkreis, mit dem sie danach angeln konnte.

Warum zeigten sich ihre sich Kidnapper nicht? Als Krimileserin wusste sie, dass bei Entführungsfällen das Lösegeld so schnell wie möglich gezahlt wurde. Jede Verzögerung bedeutete eine Gefahr, entdeckt zu werden – sowohl für das Opfer als auch für die Täter. Vielleicht hatte die Lösegeldübergabe nicht geklappt? Hatte ihr Vater womöglich die Polizei eingeschaltet – und die Täter hatten das bemerkt? Rührten sie sich etwa deshalb nicht?

Anderseits war Constance sicher, dass ihr Vater nichts tun würde, was ihr Leben gefährden könnte. Kidnapper drohten immer, die Geisel zu töten, falls die Polizei informiert würde. Ihr Vater würde sich nicht darüber hinwegsetzen. Er würde nichts riskieren, das ihr schaden könnte. Aber er würde ein Lebenszeichen verlangen. Schon deshalb müssten die Entführer doch in der Hütte auftauchen. Warum kamen sie dann nicht? Irgendetwas musste schiefgegangen sein! Eine andere Erklärung fiel ihr nicht ein. Sie würde hier elend zugrunde gehen. Ohne Wasser und Nahrung war es nur eine Frage der Zeit, wann es mit ihr zu Ende ginge.

„Ich will nicht sterben!“, rief sie gequält und riss so lange an der Eisenkette, bis sie entkräftet zurück auf die Pritsche sank.

Was nützte ihr noch das Wissen, dass sie sich irgendwo in einem Wald befand? Das ständige Rauschen der Bäume, das Vogelgezwitscher und die Eulenschreie in der Nacht hatten ihr verraten, in welcher Umgebung man sie gefangen hielt. Wahrscheinlich stand diese Hütte so einsam, dass man sie nicht zufällig finden würde. Constance wurde plötzlich bewusst, wie hoffnungslos ihre Lage wirklich war. Sie musste sich damit abfinden, bald zu sterben – einsam und allein.

Fröstelnd kauerte sie sich zusammen, zog die Wolldecke um ihren Körper und schloss die Augen auf der Suche nach wärmenden Erinnerungen an glückliche Tage.

Kapitel 6

August 2012

Adrian Herzog saß in seinem Arbeitszimmer in der Klinik am Stadtpark vor dem Computer.

Professor Kronenburg war gerade bei ihm gewesen und hatte ihn mehr oder weniger dazu verdonnert, am Abend an einer Informationsveranstaltung teilzunehmen. Derartige Veranstaltungen gehörten zum Klinikalltag, und als Verwaltungsdirektor sei seine Anwesenheit Pflicht, hatte der Professor argumentiert.

Da alle größeren Veranstaltungen in einem Hotel unweit der Klinik stattfanden, war dort anschließend regelmäßig ein ausgesuchter Kreis von Kollegen und Freunden zu einem Sektempfang eingeladen. Wenig begeistert hatte Adrian sein Kommen zugesagt. Ursprünglich hatte er am frühen Abend zum Therapie-Zentrum fahren wollen, um die Frau wiederzusehen, die ihm seit Tagen nicht mehr aus dem Sinn ging. Schon zum zweiten Mal hatte er ihr heute Rosen geschickt, und war zuversichtlich, dass sie seine Einladung zum Abendessen nicht ausgeschlagen hätte. Nun würde er den Abend statt in der Gesellschaft einer begehrenswerten Frau bei langweiligen Vorträgen verbringen müssen, was nicht gerade seine Stimmung hob. Dementsprechend lustlos saß er vor dem Monitor und sah sich die Aufstellung der Personalkosten an, als ein Kollege hereinkam.

„Sie wollten eine Liste der Firmen für Medizin-Technik, Herr Herzog", sagte Benno Gerlach. „Ich habe hier eine Aufstellung der deutschen und der ausländischen Betriebe. Die preisgünstigsten sind mit einem Stern markiert."

„Danke. Damit befasse ich mich später." Nachdenklich blickte er seinen Mitarbeiter dann an. „Sie sind hier doch schon länger an Bord: Was wissen Sie über das Therapie-Zentrum? Wie ist die Zusammenarbeit mit der Klinik entstanden?"

„Wahrscheinlich hat Frau Dr. Meves schon bei der Eröffnung des Zentrums darauf spekuliert, möglichst viele Patienten von uns zu übernehmen. Zuerst hat sie Ihren Vorgänger und dann den gesamten Aufsichts­rat der Klinik zur Zusammenarbeit überredet. Vorläufig handelt es sich aber um einen auf ein Jahr begrenzten Modellversuch. Ich muss zugeben, dass das recht gut funktioniert. Trotzdem bin ich der Meinung, es wäre nicht nur kosten­günstiger für die Patienten und die Krankenkassen, sondern auf längere Sicht auch einträglicher für die Klinik, wenn wir unsere Physiotherapieabteilung erweitern würden."

„Sollten unsere Patienten wegfallen, würde das Therapie-Zentrum dann nicht in finanzielle Schwierigkeiten geraten?"

„Sollten wir uns nicht in erster Linie um die Finanzen der Klinik kümmern?", antwortete Gerlach mit einer Gegenfrage. „Wenn sich Frau Dr. Meves mit dem Bau des Zentrums übernommen haben sollte, ist das ihr Risiko. Man sollte eben nicht nach den Sternen greifen."

„Irre ich mich, oder mögen Sie diese Frau Dr. Meves nicht?", fragte Adrian, da die Worte seines Mitarbeiters ziemlich hart klangen. „Was stört Sie an ihr?"

„In meinen Augen ist sie eine verwöhnte Person, die sich rücksichtslos nimmt, was sie will", entgegnete Benno Gerlach geringschätzig. „Und zwar in jeder Hinsicht. Sie tut immer überaus freundlich, aber das ist nur Fassade. Tatsächlich ist sie so kalt und berechnend, dass sie Men­schen, die ihr nicht mehr nützlich sein können, unbarmherzig einen Tritt versetzt."

Das passte mit dem zusammen, was ihm ihre Mitarbeiterin anvertraut hatte, überlegte Adrian. Sie sagte, ihre Chefin hätte Haare auf den Zähnen.

„In den nächsten Tagen werde ich mich in der Klinik umhören", beschloss er. „Sollte ich überwiegend Negatives über die Zusammenarbeit mit dem Zentrum erfahren, sorge ich dafür, dass dieser Vertrag nicht ver­längert wird."

„So einfach wird das nicht werden."

„Warum nicht?"

„Frau Dr. Meves hat gute Beziehungen zu Professor Kronenburg und zum Aufsichtsrat. Insbesondere zu Herrn Ellerbrook, unserem Vorsitzenden. Wenn man sich so nahe steht wie die beiden ..."

„Schläft sie etwa mit ihm?", mutmaßte Adrian Herzog missbilligend. „Allmählich verstehe ich: Eine Hand wäscht die andere, nicht wahr? Sie lässt sich von ihm protegieren und bereitet dem alten Knaben dafür einen zweiten Frühling."

Mit vielsagender Miene hob Benno Gerlach nur die Schultern.

Zum Informationsabend fanden sich im Hotel unweit der Klinik viele interessierte Zuhörer ein. Unter ihnen junge Ärzte sowie Mit­arbeiter des Pflegepersonals, aber auch Angehörige und Freunde un­mittelbar betroffener Schlaganfallpatienten.

Nachdem Professor Kronenburg einige Begrüßungsworte gesprochen hatte, bat er die Vorsitzende der Schlaganfall-Stiftung auf das Podium.

„Sehr verehrte Damen und Herren", ergriff Constance Meves das Wort. „Ich wurde gebeten, Ihnen heute Abend etwas über die Rehabilitation nach einem Schlaganfall zu erzählen. Ich möchte versuchen, dies nicht nur aus der Sicht des Therapeuten, sondern auch aus der des Betroffenen zu tun ..." Ihr ernster Blick umfasste den fast vollbesetzten Saal. „Ein überstandener Schlaganfall kann viel­fältige Behinderungen zurücklassen: Lähmungen beeinträchtigen die Muskelfunktion und somit den Gebrauch der Extremitäten, Sprachstörungen erschweren die Kommunikation und somit den Umgang mit den Mitmenschen. Endgültig und unbeeinflussbar sind jedoch nicht alle Beeinträchtigungen, die ein Schlaganfall auslöst ..."

Ohne ihren Vortrag zu unterbrechen, registrierte sie den Mann, der den Saal mit einiger Verspätung betrat und in der letzten Sitzreihe Platz nahm.

Während sie näher auf spezielle Übungen einging, war Adrian Herzog angenehm überrascht, sie hier zu sehen. Interessiert betrachtete er die Rednerin, die nur gelegentlich auf ihre Notizen blickte, an­sonsten aber frei sprach. Ihre Ausführungen waren informativ und präzise. Dadurch blieb es nicht aus, dass er ihren Ausführungen interessiert lauschte, obwohl er einen eher langweiligen Abend befürchtet hatte. Nun aber lernte er etwas über Ergotherapie, Bewegungsabläufe und Koordination von Muskeln und Gelenken.

„Besonders wichtig ist hierbei auch, dass Freunde und Verwandte durch den richtigen Umgang mit dem Patienten das Sprachvermögen fördern. Gespräche sollten nicht über seinen Kopf hinweg, sondern mit ihm geführt werden.– Auch wenn das oft mühsam ist. Eine weitere Ebene der Verständigung schafft der Blickkontakt. Bitte, denken Sie daran: Nur Geduld und Verständnis helfen einem Betroffenen, seine Sprache wiederzufinden."

Fasziniert hingen die Augen des Verwaltungsdirektors am Gesicht der Frau, von der er kaum mehr wusste, als dass sie im Therapie-Zentrum von Frau Dr. Meves arbeitete und anscheinend eine Vorliebe für Ohrringe besaß. Heute trug sie schimmernde Perlen, die zu der Kette an ihrem Hals passten.

„Bitte, vergessen Sie eines nicht", sagte Constance abschließend. „Das Erleben der eigenen Hilflosigkeit führt bei vielen Patienten zu Angst­gefühlen, Traurigkeit, depressiven Verstimmungen bis hin zu echten Depressionen. Nach dem Schlaganfall ist das Überwinden von Isolation und Resignation für den Betroffenen von großer Bedeutung. Wir alle, ob nun Ärzte, Therapeuten, Pflegepersonal oder Angehörige müssen uns bemühen, dem Patienten das Gefühl zu vermitteln, nicht allein gelassen zu werden. – Ich danke Ihnen."

Während das Auditorium applaudierte, verließ die Ärztin das Podium und nahm in der ersten Reihe Platz.

Noch einmal trat Professor Kronenburg nach vorn.

„Zunächst einmal möchte ich der charmanten Vorrednerin für diese ebenso klugen wie informativen Ausführungen danken. – Hören wir nun noch einige Worte zur erforderlichen Nahrungsumstellung der Schlag­anfall-Patienten von der Diätassistentin Frau Karin Rudolf."

Nach dem offiziellen Ende des Informationsabends bat der Professor seine persönlichen Gäste zu einer Erfrischung und zu einem kleinen Imbiss in den sogenannten „Blauen Salon“.

Da der Verwaltungschef noch nicht lange in Hannover lebte, kannte er die wenigsten der Anwesenden. Deshalb stellte der Chefarzt ihm einige Gäste namentlich vor.

„Ich möchte Sie mit noch jemandem bekanntmachen, Herr Herzog", sagte er, als er Constance mit zwei älteren Kolleginnen zusammenstehen sah. „Oder kennen Sie Frau Dr. Meves bereits?"

„Noch hatte ich nicht das Vergnügen."

„Dann wird es aber Zeit. – Kommen Sie."

Indes der Professor ihn zu der kleinen Gruppe führte, fragte sich Adrian, welche der beiden anderen Frauen wohl die Leiterin des Therapie-Zentrums sein mochte. Die übergewichtige Blondine im schwarzen Kostüm? Oder die hagere Rothaarige? Beide wirkten wenig attraktiv auf ihn. Trotzdem zwang er sich zu einem unverbindlichen Lächeln. Etwas erstaunt registrierte er, auf wessen Schulter der Professor seine Hand in einer vertraulichen Geste legte.

Mit fragendem Blick wandte sie sich ihm daraufhin zu.

„Wie ich höre, kennt ihr euch noch nicht", sagte Professor Kronenburg. „Das ist ..."

„Ich bin der alte Drache", kam Constance ihm lächelnd zuvor und streckte dem Verwaltungschef unbefangen die Hand entgegen. „Sie sind Adrian Herzog, nicht wahr!?"

Verblüfft ergriff er ihre Rechte und umschloss sie mit festem Druck.

„Wieso alter Drache?", wunderte sich der Chefarzt, ehe Adrian seine Sprache wiederfand.

Schelmisch blitzte es in Constances Augen auf.

„Kürzlich hat mich jemand so charmant bezeichnet."

„Das muss entweder ein ungehobelter Klotz oder ein kompletter Trottel gewesen sein", meinte der Professor schmunzelnd. „Der hatte wohl seine fünf Sinne nicht beisammen."

„In diesem komplizierten Fall wage ich noch keine Diagnose", erwiderte sie amüsiert, bevor sie den Verwaltungsdirektor anschaute. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätte ich nun gern meine Hand zurück."

Sichtlich verlegen gab er ihre Rechte frei.

„Wie lange wissen Sie schon, wer ich bin?"

„Lange genug."

„Jetzt brauche ich erst mal einen Drink."

„Ich begleite sie an die Bar", beschloss sie spontan, ehe sie sich an die Kolleginnen und an den Professor wandte. „Ihr entschuldigt uns!?"

Schweigend traten sie an das Getränkebuffet.

„Was darf es sein, Frau Dr. Meves?"

„Ein Bourbon auf Eis, bitte."

„Eine interessante Wahl", sagte er nur.

„Hat das alte Schlitzohr Sie genötigt, an diesem Informationsabend teilzunehmen?", fragte Constance, als er ihr eines der Gläser reichte.

„Wen meinen Sie?"

„Unseren Gastgeber – Professor Kronenburg.“

Beinah entsetzt verzog er das Gesicht.

„Nicht so laut", bat er mit gedämpfter Stimme. „Man könnte Sie hören."

Herausfordernd blitzte es in ihren Augen auf. Dann tauchte sie den Zeigefinger in das Glas und benetzte ihre Zungenspitze mit einem Tropfen Whisky.

„Na, und!?"

„Es wäre doch peinlich, wenn dem Herrn Professor zu Ohren käme, wie respektlos Sie ihn bezeichnen. Er ist immerhin ..."

„... ein geachteter Medizinmann", vollendete sie. „Außerdem ist er mein Patenonkel."

„Sie verblüffen mich schon wieder. Ich wusste nicht, dass Sie mit ihm verwandt sind."

„Das bin ich auch nicht. Onkel Julius und Tante Camilla sind langjährige Freunde meines Vaters."

„Ist Ihr Vater auch Mediziner?"

„Nein, er ist nur ein einfacher Kaufmann."

„Demnach hat Ihr Patenonkel Ihr Interesse für die Medizin geweckt?"

„Onkel Julius war tatsächlich nicht ganz unschuldig an meiner Berufs­wahl", bestätigte Constance. „Allerdings hätte er es lieber gesehen, wenn ich in der Klinik in seine Fußstapfen getreten wäre, anstatt mich selbständig zu machen."

„Immerhin arbeiten Sie aber eng mit der Klinik zusammen", meinte der Verwaltungschef. „Darüber möchte ich übrigens mal ausführlich mit Ihnen sprechen. Vielleicht rufen Sie mich in den nächsten Tagen an, damit wir einen Termin vereinbaren können!?"