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Eine Mordserie hält Hannover in Atem. Bald stellt sich heraus, dass alle Getöteten Verbindungen zu Heimkindern hatten. Zunächst ist Charlotte Stern an den Ereignissen nur interessiert. Als sie jedoch erfährt, dass ihre Freundin Anneliese jedes Opfer kannte und deshalb womöglich auch auf der Todesliste steht, schaltet sie sich in die Ermittlungen ein. Eine Spur aus der Vergangenheit führt sie zur Psychiatrischen Klinik Uhlenbrock. Laufen dort alle Fäden zusammen? Die beiden Seniorinnen kommen dem Täter gefährlich nah. Zu nah?
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Seitenzahl: 386
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Claudia Rimkus
Uhlenbrock
Kriminalroman
Blutige Rache Vor Jahren war er Opfer, jetzt ist er Täter. Ein Serienkiller arbeitet in Hannover seine ganz persönliche Todesliste ab. Jeden, den er für sein Schicksal verantwortlich macht, will er zur Rechenschaft ziehen. Medienwirksam inszeniert er die Leichen an besonderen Plätzen der Stadt, sodass er bald »der Regisseur« genannt wird. Auch in Charlotte Sterns Senioren-WG sind die Morde Gesprächsthema. Nicht nur, weil die Polizei Professor Philipp Thaler hinzuzieht, um ein Täterprofil zu erstellen. Mitbewohnerin Anneliese hatte mit allen Opfern beruflichen Kontakt. Da Charlotte fürchtet, dass die Freundin in Gefahr ist, hilft sie ihr, die Identität des Verbrechers aufzudecken. Eine Spur aus der Vergangenheit führt sie zur Psychiatrischen Klinik Uhlenbrock. Laufen dort alle Fäden zusammen? Bevor sich der Verdacht erhärtet, verschwindet Anneliese spurlos. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …
Claudia Rimkus wurde 1956 in Hannover geboren, wo sie noch heute lebt und arbeitet. Die Autorin ist mit ihrer Heimatstadt eng verbunden. Deshalb ist die Leinemetropole oft Schauplatz ihrer Geschichten. Diese sind trotz aller Dramatik immer mit Humor gewürzt. Ihre ersten Erzählungen wurden erfolgreich als Fortsetzungsromane in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und den angeschlossenen Lokalzeitungen veröffentlicht. Danach folgten mehrere Kurzgeschichten und Romane. Wenn sie nicht schreibt, ist sie gern mit der Kamera unterwegs. Ihre Fotos haben schon mehrere Preise gewonnen. Auch das genaue Beobachten ihrer Umwelt inspiriert sie zu ihren Geschichten.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Sebastian Grote / shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-7002-8
Für Katharina und Christian In Liebe
Mit Blaulicht und Martinshorn raste Hauptkommissar Bremer in Hannover über die Kreuzung am Königsworther Platz. Er hielt sich links Richtung Westschnellweg, um gleich darauf nach rechts in die Jägerstraße abzubiegen, der er mit hoher Geschwindigkeit bis zum Wilhelm-Busch-Museum folgte. Normalerweise konnte man von dort aus nicht in den Georgengarten fahren, aber an diesem Morgen war die Sperre aufgehoben, sodass er mit dem Wagen auf dem Spazierweg bis an die rot-weißen Bänder der Polizeiabsperrung gelangte. Beim Aussteigen fragte er sich, warum man ihn so oft an seinem freien Wochenende frühmorgens aus dem Bett holte. Er war kein junger Spund mehr. Mit Mitte fünfzig brauchte er nach einer anstrengenden Woche ein bisschen Zeit und Ruhe, um die Energietanks aufzuladen.
Ein Kollege von der Schutzpolizei hob das gestreifte Trassierband an, um ihn durchzulassen. Hannes Bremer nickte ihm mit einem gemurmelten Gruß zu und verschaffte sich einen ersten Überblick. Buntgefärbtes Laub an alten, hohen Bäumen, ein Teich, in dem sich eine gebogene steinerne Brücke spiegelte.
Der Tote saß mit ausgestreckten Beinen auf einer mit farbenfrohem Graffiti besprühten Bank. Ein schwarzer Hut beschattete vollständig das Gesicht. Es schien, als hätte der Mann diesen Platz gewählt, um ungehindert zum Leibniztempel hinüberzuschauen, der nun im Licht der weiträumig aufgestellten Scheinwerfer erstrahlte.
Der korpulente Rechtsmediziner Horst Fleischmann war, über den Toten gebeugt, mit der ersten Leichenschau beschäftigt.
Kriminaltechniker sicherten in großem Umkreis Spuren. Einige suchten die nähere Umgebung der Augustenbrücke ab, andere schauten sich drüben auf dem kleinen Hügel zwischen den zwölf ionischen Säulen des Tempels um. Alle trugen weiße Overalls und einen Mundschutz. Die ungewohnte Betriebsamkeit schien die Enten und Teichhühner auf dem Wasser nicht zu stören. Unbeirrt zogen sie ihre Bahnen. Nur die Möwen flatterten aufgescheucht über der Szenerie.
Hannes sah seine jüngere Kollegin auf sich zukommen. Mit jedem ihrer Schritte wippte der Pferdeschwanz im Takt, zu dem sie ihr langes blondes Haar gebunden hatte.
»Moin«, grüßte sie knapp und reichte ihm einen Becher.
Skeptisch betrachtete er das rote Coffee-to-go-Gefäß, das mit einer schwarzen Hannover-Skyline bedruckt war.
»Hannoccino«, erklärte Pia Wagner. »Mehrwegpfandbecher. Die werden wir ab sofort immer benutzen.«
»Warum?«
Sie deutete auf den überquellenden Papierkorb neben einer der Bänke.
»Der Umwelt zuliebe. Wir produzieren viel zu viel Müll.«
Darauf hätte er auch selbst kommen können. Lustlos nippte er am Kaffee. Das Koffein weckte nur langsam seine Lebensgeister.
»Wo steckt eigentlich Martin?«
Vage zuckte sie die Schultern. Sie hatte den Teamkollegen nicht erreicht. Wahrscheinlich war sein Handy stummgeschaltet, weil er an diesem Wochenende seine Beziehung retten wollte.
»Ist er nicht mit seiner Freundin an die Ostsee gefahren?«
»Kann sein.«
»Soll ich ihm eine Nachricht schicken?«
»Damit warten wir. Sonst bin ich schuld, wenn sie ihm den Laufpass gibt.« Hannes wusste aus Erfahrung, wie begeistert Frauen darauf reagieren konnten, wenn man zu allen möglichen Tages- oder Nachtzeiten zurückgepfiffen wurde. Er drehte sich zum Chef der Kriminaltechnik herum. »Wissen wir, wer der Tote ist?«
»Er hatte keine Papiere bei sich – auch kein Handy.«
»Wer hat ihn gefunden?«
Benno Winkler streifte seine Kapuze ab und deutete zur Absperrung.
»Da drüben, die beiden Jogger. Die sind hier jeden Samstagmorgen unterwegs.«
Als der Rechtsmediziner nun seinen Alukoffer schloss und den Mundschutz entfernte, gingen Pia und Hannes zu ihm hinüber.
»Moin, Horst. Was haben wir?«
»Männliche Leiche … zwischen 65 und 70 …« Der Schwergewichtige schnaufte wie ein Marathonläufer auf der Zielgeraden. »Ziemlich übel zugerichtet.«
»Todesursache?«
»Keine Ahnung.«
»So genau wollte ich es gar nicht wissen.«
»Keine Einschusslöcher, keine Stichwunden, keine Würgemale. Wären da nicht die Gesichtsverletzungen, würde ich sagen, der Mann ist friedlich auf der Bank entschlafen.« Er zog einen kleinen Zellophanbeutel hervor, den er dem Kommissar übergab. »Das hatte er in seiner rechten Hand.«
Stirnrunzelnd betrachtete Hannes das Fundstück von allen Seiten.
»Das ist …«
»Ein Auge.«
»Wurde es ihm entfernt?«
»Es ist künstlich. Seine eigenen sind da, wo sie hingehören.«
»Och nö.« Hannes wusste aus Erfahrung, worauf es hinauslaufen konnte, wenn ein Täter einen symbolartigen Gegenstand bei der Leiche zurückließ: Möglicherweise bedeutete das den Beginn einer Serie. Die Presse würde dem Mörder einen prägnanten Namen verpassen, Trittbrettfahrer würden die Ermittlungen behindern.
»Ich weiß, was du befürchtest«, sagte Pia und nahm den Beutel von ihm entgegen. »Kann sein, muss aber nicht.«
Er brummte etwas Unverständliches, bevor er sich an den Rechtsmediziner wandte, der mit einem Taschentuch über seine schweißnasse Glatze wischte.
»Kannst du was zum Todeszeitpunkt sagen?«
»Schätzungsweise zwischen 21 Uhr und Mitternacht. Vielleicht früher. Ich muss mich erst nach der Außentemperatur im möglichen Tatzeitraum erkundigen. Sowie ich mehr weiß, melde ich mich.«
»Okay. Danke, Horst.«
Unterdessen versammelten sich immer mehr Neugierige hinter dem Absperrband. Uniformierte Beamte hatten alle Hände voll damit zu tun, die Leute hinter der Barriere in Schach zu halten. Inmitten der Menge stand ein unscheinbarer Beobachter. Hinter der Fassade einer teilnahmslosen Miene verfolgte er das Geschehen mit Argusaugen.
Schaulustige! So sind sie, die angeblich normalen Menschen. Ob Mann oder Frau, arm oder reich, jung oder alt: Sie bleiben stehen und gaffen, wenn sie einen Unfall oder gar einen Toten sehen – egal, wie schrecklich dieser Anblick sein mag. Sie sind neugierig, ergötzen sich am Leid anderer und sind gleichzeitig erleichtert, dass es nicht sie selbst getroffen hat.
Meine erste Leiche in dieser Stadt, in der alles begann, wirkt auf den ersten Blick nicht furchterregend. Dafür habe ich gesorgt. Ich habe mir viel Mühe gegeben, sie friedlich aussehen zu lassen. Hier, in der freien Natur, in diesem idyllischen Park, ist ein hübsches Plätzchen für einen Toten. Verdient hatte der Kerl es nicht, dass ich ihn dort deponiert habe, wo er sich gern aufgehalten hat, wenn er nachdenken wollte. Das steht sogar in seiner Biografie. Der alte Leibniz war sein Vorbild. Was für ein Gegensatz! Ein Versager bewundert ein Universalgenie. Den Fundort hier zu arrangieren, war die einfachste Lösung. Die Inszenierung in dieser beliebten Gartenanlage ist außerdem medienwirksam, weckt Aufmerksamkeit. Alle werden sich fragen, warum dieser ehrenwerte Mann auf so grausame Weise sterben musste. Erst wenn sie ihn aufschneiden, wird das ganze Ausmaß meiner Strafe sichtbar. Ich will, dass sie in seinem Leben herumstochern, jedes Steinchen umdrehen, bis die Wahrheit darunter hervorkriecht wie ein ekelhafter, glitschiger Wurm.
Das ist aber längst nicht alles. Es ist erst der Anfang. Meine Liste ist lang. Wenn sie nicht die Verantwortung für ihr Versagen übernehmen, werden sie dafür bezahlen, was sie mir angetan haben. Ich kriege sie alle. Jeden Einzelnen. Keiner wird mir entkommen. Niemand kann sich schützen – denn ich bin wie ein Phantom. Ich schlage zu, wenn keine Menschenseele damit rechnet.
Einmal im Monat traf sich eine Handvoll Kollegen aus Ermittlerkreisen am Donnerstagabend in der Altstadtkneipe »Alibi« zum Stammtisch. Der umfangreiche Rechtsmediziner kam etwas früher als die anderen und bestellte eine Kanzlerplatte. Während er sich über die Riesencurrywurst mit Pommes hermachte, setzte sich Charlotte Stern zu ihm. Bis zu ihrer Pensionierung hatte sie das Kriminalarchiv geleitet und zählte seit Jahren zu diesem Freundeskreis.
»Guten Appetit«, sagte sie statt einer Begrüßung. »Hoffentlich bekommen dir die vielen Vitamine.«
»Passt schon«, erwiderte er grinsend, wobei er sie wohlgefällig musterte. Sie war zwei Jahre älter als er, wirkte aber jünger. »Ich hatte den ganzen Tag keine Zeit, was Vernünftiges zu essen. Im Gegensatz zu dir habe ich niemanden, der mich mittags bekocht. Vielleicht sollte ich auch in eine WG ziehen. Habt ihr zufällig ein Zimmer frei?«
Amüsiert schüttelte sie den Kopf.
»Leider nicht. Außerdem ist das eine Ruheständler-WG. Du müsstest deinen Job aufgeben, aber ohne deine Schnippelei hältst du es sowieso nicht aus.« Flink stibitzte sie ein Kartoffelstäbchen von seinem Teller. »Es sei denn, wir würden dich zu täglichem Küchendienst verdonnern.«
»Horst ist für uns unentbehrlich«, sagte Hannes, der sich mit den Kommissaren Pia Wagner und Martin Drews zu ihnen setzte. »n’Abend zusammen.«
Per Handzeichen bestellte er eine Runde Bier.
Als die Getränke serviert wurden, war der Rechtsmediziner mit seiner Mahlzeit fertig. Zufrieden lehnte er sich zurück, faltete die Hände über seinem stattlichen Bauch und ließ den Blick über die Anwesenden schweifen.
»Alles klar bei dir?« Aufmerksam musterte Charlotte ihn. »Anscheinend habt ihr in der Rechtsmedizin zurzeit besonders viel zu tun.«
»Aber nur, weil die Verbrecher immer verrückter werden.«
Er tauschte einen Blick mit Hannes, der zustimmend nickte. Der Hauptkommissar wusste, dass Charlotte mit den Informationen nicht hausieren gehen würde. Im Gegenteil: Sie würde darüber nachdenken. So manches Mal hatte sie zur Lösung eines Falles beigetragen.
»Oft genügt ein Loch in der Brust oder das Messer im Rücken, um die Todesursache zu erkennen«, fuhr Horst fort. »Plötzlich kommt so ein Killer daher, der sich für besonders schlau hält und so was wie eine Schnitzeljagd durch die Leiche veranstaltet. Oder er hat einfach nur alles, was ihm zur Verfügung stand, ausprobiert. Jedenfalls hat er seinem Opfer Drogen verabreicht, es gezwungen, mit einem langsam wirkenden Gift gewürzte Pizza zu essen, und ihm säurehaltige Getränke eingeflößt. Also muss einer wie ich rausfinden, was in welcher Reihenfolge verabreicht wurde, wie die einzelnen Substanzen für sich und in Kombination mit den anderen wirken. Erst das erlaubt Rückschlüsse auf die genaue Todesursache. Hinzu kommen zahlreiche Frakturen am ganzen Körper.«
»Da fragt man sich, ob der Täter nur auf Nummer sicher gehen wollte oder ob er sein Opfer mit Genuss gequält hat.« Charlotte schaute einen nach dem anderen an. »Sprechen wir über den Toten aus dem Georgengarten? Seit er gefunden wurde, stand gar nichts mehr über ihn in der Zeitung.«
»Morgen erscheint ein Bericht in der Presse«, warf Hannes ein. »Wir haben den Mann erst heute identifiziert.«
»Immerhin. Ich erinnere mich an die Leiche, die Weihnachten 2016 im Georgengarten entdeckt wurde, im Teich beim Leibniztempel. Es hat mehr als zwei Jahre gedauert, bis der Tote identifiziert werden konnte. Im Gegensatz dazu ging das bei euch erstaunlich schnell.« Sie sah, dass Pia eine Grimasse schnitt, und konzentrierte sich auf sie. »Warum habt ihr kein Foto von ihm veröffentlicht, damit ihn schnell jemand erkennt?«
»Das Gesicht war ziemlich zerschlagen«, sagte die Kommissarin. »Dadurch war eine fotografische Identifizierung nicht möglich. Der Tote sah wie ein Monster aus. Das hätten wir der Öffentlichkeit nicht zumuten können. Zumal es nichts gebracht hätte.«
»Wir haben ihn über die Vermisstenmeldungen identifiziert«, fügte ihr jüngerer Kollege Martin Drews hinzu. »Enak Flachsbarth, 69 Jahre alt, pensionierter Psychologe. Vielleicht kannte dein Professor ihn.«
»Ich werde Philipp darauf ansprechen.« Charlottes Interesse war geweckt. »Habt ihr einen Hinweis auf ein Motiv? Oder einen Verdacht, wer den armen Mann ins Jenseits befördert haben könnte?«
»Weder – noch.« Mit ernster Miene schüttelte Hannes den Kopf, bevor er vielsagend lächelte. »Hast du Blut geleckt, Charly? Du kannst es anscheinend immer noch nicht lassen.«
»Ich halte mich da raus«, erwiderte sie zur Überraschung aller. »Meine Abenteuerlust ist erst mal gestillt.« Schelmisch blinzelte sie ihm zu. »Es sei denn, ihr kommt ohne meine brillante Kombinationsgabe nicht aus. Dann lasse ich mich vielleicht überreden, euch zu unterstützen.«
»Never.« Er wollte verhindern, dass Charlotte womöglich erneut in Gefahr geriet. Deshalb erfuhr niemand etwas von dem gefundenen Auge oder der kleinen Sanduhr, die sie in der Jackentasche des Toten entdeckt hatten. »Nur über meine Leiche.«
»Mach dir darüber keine Gedanken«, neckte sie ihn. »Zur Not finde ich gleich mit raus, wer dich auf dem Gewissen hat.«
»Du solltest deinen Ruhestand genießen.«
»Das tue ich.«
»Ich habe eher den Eindruck, dass du in eurer Urnen-WG unterfordert bist.«
»Bin ich nicht, aber meine grauen Zellen wollen hin und wieder mit kniffligen Aufgaben beschäftigt werden.«
»Kauf dir ein Rätselheft für Fortgeschrittene«, schlug Horst vor, der viel für sie empfand. »Ich habe jedenfalls keine Lust auf schlaflose Nächte, weil du schon wieder ermittelst.«
Sie tätschelte lächelnd seinen Arm.
»Schau’n wir mal …«
Im weiteren Verlauf des Abends sprachen sie nicht mehr über den Leichenfund.
Charlotte wurde über ihr Leben in der WG ausgefragt. Sie stellte ihren Alltag mit komischen Begebenheiten dar, sodass viel gelacht wurde. Später berichtete Martin von seiner Beziehungskrise und erhoffte sich Ratschläge. Horst Fleischmann gab Anekdoten von der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin in Hamburg zum Besten, die er kürzlich besucht hatte. So wurde es ein unterhaltsamer Abend. Besonders den Kommissaren tat die Ablenkung von den laufenden Ermittlungen gut. Sie würden sich am nächsten Morgen erneut damit beschäftigen müssen, dem Verbrecher auf die Spur zu kommen.
Nach dem gemeinsamen Frühstück verließen die meisten der sechs Bewohner der Senioren-Wohngemeinschaft die große Küche. Professor Philipp Thaler, Gründer der WG und Besitzer des Hauses, zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. General a. D. Albert Scheuermann ließ sich zur Physiotherapie fahren, und Diplommeteorologe Conrad Lenz ging ein paar Schritte durch den spätherbstlichen Garten. Er hatte sich hinter dem Haus eine kleine Wetterstation mit Thermometer, Windrichtungsgeber und weiteren Messgeräten eingerichtet. Elisabeth Seegers, die nach ihrem Einzug in dieses Haus ihre Freude am Backen wiederentdeckt hatte, wollte ein neues Rezept für einen Apfelkuchen mit Marzipan und Rosinen ausprobieren. Während sie die Zutaten dafür zusammensuchte, setzte sich Charlotte mit der HAZ an den Küchentisch und vertiefte sich in den Leitartikel. Kurz darauf gesellte sich die oft »Strick-Liesel« genannte Anneliese Grothe zu den Freundinnen. Unaufgefordert reichte Charlotte ihr den Hannover-Teil der Tageszeitung.
»Alter Schwede!«, entfuhr es ihr nach einer Weile, worauf Charlotte fragend aufblickte und Elli über ihre Schulter schaute.
»Was ist?«
»Erinnert ihr euch an die Leiche, die am letzten Samstag im Georgengarten gefunden wurde?« Annelieses Blick wechselte zwischen den Frauen. »Hier steht, dass es schwierig war, den Mann zu identifizieren. Inzwischen weiß man, wer der Tote ist.« Sie atmete tief durch. »Stellt euch vor, ich kannte ihn.«
Erstaunt hob Charlotte die Brauen.
»Du kanntest diesen Flachsbarth?«
»Woher weißt du, wie der … Ach, du hattest ja gestern Stammtisch – wahrscheinlich mit Infos aus erster Hand.«
»Wir haben nur kurz über den Fall gesprochen.«
Sie schob ihren Zeitungsteil beiseite und zog die vor der Freundin liegenden Seiten zu sich heran. Rasch überflog sie den Artikel. Danach betrachtete sie das abgebildete Foto. Es musste vor einigen Jahren aufgenommen worden sein, denn es zeigte keinen fast Siebzigjährigen, sondern einen etwa 50-jährigen Mann mit einer rahmenlosen Brille und wenig Haar.
»Was hattest du denn mit ihm zu tun?«
»Er war Psychologe beim Jugendamt. Unsere Wege haben sich manchmal beruflich gekreuzt. Er müsste aber seit ein paar Jahren im Ruhestand gewesen sein.«
Verstehend nickte Charlotte.
»Was war er für ein Mensch?«
Vage zuckte Anneliese die Schultern.
»Schwer zu sagen … besserwisserisch … Wenn er sich eine Meinung gebildet hatte, ließ er sich noch nicht mal durch logische Argumente umstimmen.«
»Demnach könnte er Feinde gehabt haben.«
Mit vorwurfsvollem Blick trat Elisabeth zu ihnen an den Tisch.
»Das klingt, als würdet ihr mitten in Mordermittlungen stecken. Lasst euch dabei bloß nicht von Philipp erwischen.«
»Wir unterhalten uns nur«, erwiderte Charlotte mit Unschuldsmiene. »Mach dir keine Sorgen, Elli. Die Polizei findet den Täter bestimmt ohne uns. Man soll sich sowieso nur bei der Kripo melden, wenn man sachdienliche Hinweise geben kann.«
»Die haben wir nicht«, gab Anneliese zu. »Ich kannte den Mann ja nur beruflich – und das ist Jahre her.«
Sie schaute zur Tür, als Philipp hereinkam. Er schenkte sich aus der Warmhaltekanne einen Pott Kaffee ein und setzte sich damit den Damen gegenüber. Dabei registrierte er die aufgeschlagene Zeitung, worauf Anneliese auf das abgebildete Foto deutete.
»Sagt dir der Name Enak Flachsbarth etwas?«
»Ist er tot?«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil ihr euch anscheinend für ihn interessiert.« Sein wacher Blick wechselte zwischen ihnen. »Was berichtet die HAZ? Wurde er ermordet? Oder ist er nur unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen?«
Charlotte unterdrückte ein Lächeln.
»Anneliese hatte öfter beruflich mit ihm zu tun – und du vielleicht auch?«
Nachdenklich fixierte er das Zeitungsfoto.
»Hin und wieder wurde ich vom Gericht als zweiter Gutachter bestellt.«
»Wozu war das nötig?«
»Wenn es zum Beispiel um die Glaubwürdigkeit eines Jugendlichen ging. Flachsbarth war für die Begutachtung zuständig. Wenn nun der Rechtsbeistand des Angeklagten oder der Staatsanwalt an der psychologischen Beurteilung oder der Prognose zweifelte, wurde ein zweites Gutachten beantragt. Waren alle Beteiligten damit einverstanden, kam ich manchmal ins Spiel.«
»Flachsbarth war außerdem zuständig, wenn eine Inobhutnahme durch das Jugendamt stattfand«, fügte Anneliese hinzu, die jahrelang eine Einrichtung geleitet hatte, in der überwiegend auffällig gewordene Kinder und Jugendliche betreut wurden. »Mitunter können Kinder wegen einer Notsituation nicht in der Familie bleiben. Manche haben psychische Probleme, sind enorm aggressiv. Es gibt viele Gründe, aus denen sie anderweitig untergebracht werden müssen.«
»Verstehe«, sagte Charlotte, bevor sie Philipp anschaute. »Was hattest du für einen Eindruck von Flachsbarth? War er ein so netter und einfühlsamer Psychologe wie du?«
»Natürlich nicht«, scherzte er, wobei er ihr zuzwinkerte. Er wurde aber gleich wieder ernst. »So gut kannte ich ihn nicht.«
»War er kompetent?«
Bedächtig wiegte er den Kopf.
»Unsere Einschätzungen stimmten selten überein. Das sagt aber nicht viel über ihn aus. Vielleicht waren einige seiner Beurteilungen und Prognosen falsch. Genauso gut könnten es meine gewesen sein. Im Gegensatz zu ihm habe ich nach dem Gerichtsurteil meistens nichts mehr über die weitere Entwicklung des Betreffenden erfahren.«
»Demnach kann man nicht ausschließen, dass sich jemand an ihm rächen wollte«, überlegte sie. »Eltern, denen das Kind weggenommen wurde, oder jemand, der von ihm falsch begutachtet worden war und deshalb im Heim aufwachsen musste. Oder ein …«
»Was wird das, Sternchen?«, fragte er mit ruhiger Stimme. »Haben sie dich gestern beim Stammtisch mit Infos geködert?«
Sie wusste, dass er sie liebte und sich um sie sorgte.
»Wir haben eben nur über den Fall gesprochen, weil Anneliese den Mann kannte.«
»Es steht erst heute in der Zeitung, wer der Tote aus dem Georgengarten ist«, fügte die Freundin hinzu. »Ich kannte ihn zwar nicht besonders gut, aber es ist was anderes, wenn ein Mordopfer kein Fremder war. Wahrscheinlich dauert das eine Weile, aber ich denke, ich sollte zu seiner Beerdigung gehen. – Kommt ihr mit?«
»Ich bin dabei.« Charlotte bemerkte selbst, dass ihr die Zusage zu schnell entschlüpft war und dadurch ihr Interesse verriet. »Niemand geht gern allein auf den Friedhof.«
Philipps Blick verriet, dass er sie durchschaute, aber er sagte nichts dazu.
»Hier steht noch ein interessanter Artikel«, teilte Anneliese den Freunden mit. »Ein 84-Jähriger hat eine 77 Jahre alte Frau mit einer Schusswaffe zum Sex gezwungen – und das anscheinend nicht zum ersten Mal.«
»Was sagt man dazu?« Charlotte konnte ein amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken. »Das war bestimmt schlimm für die Frau, aber wenn man sich das bildlich vorstellt … Warum muss ich dabei eigentlich an unseren Freund Pippich und sein Viagra-Experiment im Eichengrund denken?«
Auch Philipp musste schmunzeln.
»Weil man so eine Nummer nicht so schnell vergisst. Wir können ihn ja mal besuchen.«
»Das muss nicht sein.« Damit erhob sich Charlotte. »Ich werde erst mal eine Runde laufen. Conrad hat gesagt, dass es gegen Mittag regnen soll.«
Im Polizeipräsidium wartete Hannes Bremer auf die Rückkehr seiner beiden Kollegen, die unterwegs waren, um Nachbarn des Ermordeten zu befragen. Der Tote hatte in Hannover-Kirchrode in einem Mehrfamilienhaus gewohnt.
Unterdessen las der Hauptkommissar abermals den Obduktionsbericht. Die Vielzahl der Verletzungen, die der Rechtsmediziner festgestellt hatte, dokumentierte ein Crescendo der Wut. Möglicherweise handelte es sich um einen Sadisten, der anderen aus reiner Lust Schmerz zufügte. Bislang gab es keinen Anhaltspunkt in irgendeine Richtung. Sie wussten nicht viel mehr, als dass der Fundort des Toten nicht mit dem Tatort übereinstimmte. An der Leiche war keine Fremd-DNA gefunden worden. Und auf den Aufzeichnungen der Verkehrskameras war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Sie brauchten dringend ein möglichst vollständiges Bewegungsprofil des Ermordeten: Wer hatte den Psychologen wann zuletzt gesehen, wo hatte er sich vermehrt aufgehalten? Das würde sie hoffentlich weiterbringen.
Als Hannes Geräusche von nebenan hörte, schaute er erwartungsvoll durch die große Glasscheibe, die sein Büro von dem der Kollegen trennte. Die beiden zogen ihre warmen Jacken aus, bevor Pia zu ihrem Chef hinüberging.
»Und?«, fragte Hannes gespannt. »Was habt ihr über Flachsbarth rausgekriegt?«
»Nicht viel.« Die erfahrene Kommissarin lehnte sich gegen die Schreibtischkante. »Er lebte seit seiner Scheidung vor beinah 20 Jahren zurückgezogen, hatte anscheinend nicht viele Freunde. Die Nachbarn beschreiben ihn als ruhigen, unauffälligen Mann.«
Martin kam mit zwei Bechern Kaffee dazu und reichte einen davon an die etwas ältere Kollegin weiter. Ernst schaute er anschließend seinen Chef an.
»Die alte Dame, die über ihm wohnt, hat in der letzten Zeit öfter einen weißen Lieferwagen bemerkt, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand. Der Fahrer ist nach ihren Worten immer im Wagen geblieben. Seit dem Leichenfund ist er nicht wieder aufgetaucht.«
»Ihr glaubt, dass Flachsbarth observiert wurde?«
»Ist jedenfalls nicht auszuschließen. Leider konnte sich die Frau nicht an das Kennzeichen erinnern. Das Modell konnte sie auch nicht genau beschreiben. Allerdings ist sie sicher, dass an dem Transporter kein Firmenlogo angebracht war.«
»Solche Fahrzeuge gibt es vermutlich massenhaft: Firmenwagen, Paketdienste, zum Camper umgebaute Lieferwagen«, resümierte ihr Vorgesetzter wenig begeistert. »Hoffentlich bringt uns die Befragung von Flachsbarths ehemaligen Kollegen weiter.« Er warf einen Blick auf die große Wanduhr. »Aber nicht mehr heute. Erfahrungsgemäß arbeiten die Behörden freitags nur bis mittags.«
»Verbrecher machen aber keinen Feierabend«, sagte Pia. »Wenn das wirklich eine Serie werden sollte, schlägt der Killer wahrscheinlich bald wieder zu.«
»Mal den Teufel nicht an die Wand.«
Nichts! Diese Dummköpfe hatten genug Zeit, die Unfähigkeit dieses Psychologen ans Licht zu zerren. Ich wollte, dass die ganze Stadt nach seinem Tod davon erfährt. Aber nichts passiert. Zwei mickrige Artikel in der Zeitung. Kein Wort über die Gegenstände, die ich so sorgfältig ausgesucht habe. Nur vage Angaben über die Verletzungen. Warum erkennen sie meine Kreativität nicht an? Die Polizei hält sich absichtlich bedeckt. Diese Idioten verheimlichen der Öffentlichkeit wichtige Fakten, weil sie wissen, dass es noch nicht vorbei ist. Sie wollen keine Angst schüren, aber die Menschen sollen Angst vor mir haben. Beim nächsten oder übernächsten Toten werden einige Leute ahnen, dass sie ebenfalls auf meiner Liste stehen. Sie werden sich irgendwo verkriechen, aber ich finde sie. Alle. Mir entkommt niemand. Sie werden bitter bereuen, was sie mir angetan haben. Sie haben mein Leben zerstört. Ich muss sie dafür bestrafen, hart bestrafen. Am eigenen Leib sollen sie spüren, was es bedeutet, wenn es keinen Ausweg gibt. Wenn niemand da ist, der ihnen hilft. Sie haben sich das selbst eingebrockt. Auch wenn inzwischen Jahre vergangen sind. Wahrscheinlich haben sie es längst vergessen. Aber ich werde sie daran erinnern, ihnen vor Augen führen, dass ihr Handeln für mich so etwas wie ein Todesurteil bedeutete. Ich will, dass sie ihre Fehler einsehen. Sie sollen zugeben, dass sie versagt haben. Sollten sie sich herausreden, ist es nur gerecht, dass sie sterben müssen – und vorher genauso leiden, wie ich gelitten habe. Endlich kann ich tun, was ich mir seit Jahren ausgemalt habe. Ihre Uhr ist abgelaufen …
An diesem Samstag läutete Hauptkommissar Bremers Handy eine Stunde später als in der Vorwoche. Schlaftrunken tastete er nach dem Telefon.
»Wer wagt es?«
»Moin, Hannes«, vernahm er die Stimme seiner Kollegin, die bereits morgens um sieben frisch und munter klang. »Wir haben eine Leiche.«
Sofort war er hellwach.
»Wo?«
»In der Aegidienkirche.«
»Weiß Horst Bescheid – und die Spusi?«
»Sind alle unterwegs. Die Staatsanwältin habe ich eben informiert.«
Mit einer Hand schlug Bremer die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett.
»Okay, ich komme.«
Barfuß lief er ins Bad. Nach kurzer Morgentoilette zog er sich an und verließ ohne Frühstück das Haus. In seinem Beruf kam das häufiger vor – genau wie die Tatsache, dass er selten pünktlich Feierabend machen konnte. An seinen unregelmäßigen Dienstzeiten scheiterten regelmäßig seine Beziehungen.
Auf dem Weg von Döhren in die City kramte er in seinem Gedächtnis nach Informationen über den Fundort der Leiche. Er war kein waschechter Hannoveraner, kam ursprünglich aus Celle. Erst nach der Ausbildung hatte es ihn in die Leinemetropole verschlagen, aber das war immerhin knapp 30 Jahre her. Er wusste dennoch nicht viel mehr, als dass die alte Kirche in der Innenstadt stand und kein Dach hatte.
Er bog vom Friedrichswall nach rechts in die Osterstraße ein, worauf sich die Ruine in sein Blickfeld schob. Uniformierte Beamte waren damit beschäftigt, das Gelände um die Kirche herum abzusperren.
Pia stand an der Straßenecke, sah seinen Wagen und gab Hannes Zeichen, links über die Breite Straße auf den Aegidienkirchhof zu fahren. Dort standen mehrere Autos der Spurensicherung. Als der Hauptkommissar aus dem Fahrzeug stieg, kam seine Kollegin von der anderen Seite herbei. Sie öffnete die Beifahrertür ihres Dienstwagens und holte einen roten Hannoccino-Becher heraus.
»Moin«, begrüßte sie ihren Chef und reichte ihm den Kaffee. Sie wusste, dass Hannes erst einmal eine Ladung Koffein brauchte.
»Danke.« Er schaute sich kurz um. »Wo ist der Eingang?«
Mit dem Kopf deutete sie nach rechts und führte ihn an die zur Breite Straße gelegene Seite der Kirche. Die Gittertür der ersten Spitzbogenpforte war verschlossen. Bei der zweiten war das Metalltor weit geöffnet. Hannes trat in den dachlosen Kirchenraum, blieb stehen und ließ die Szenerie auf sich wirken. Das Innere der Ruine mit seinen charakteristischen dreieckigen Seitengiebeln wurde durch Scheinwerfer bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet. Die in Schutzanzüge gekleideten Leute von der Kriminaltechnik sicherten Spuren.
Vor dem Chor war eine große Bodenplatte mittig zum Altar eingefügt. ›Unseren Toten‹, war darin in großen Buchstaben eingemeißelt. Auf dem steinernen Altar befand sich die männliche Leiche. Der Tote lag lang ausgestreckt auf dem Rücken, die Hände wie zum Gebet gefaltet.
Der beleibte Rechtsmediziner Horst Fleischmann begann gerade mit der Leichenschau. Hannes wusste, dass der Freund dabei nicht gestört werden wollte, und blickte sich weiter um. Er sah die weißen gezackten Linien auf den Steinplatten des Kirchenbodens und runzelte die Stirn.
»Das ist die Schattenlinie der Südseite der Ruine. Sie soll an Leben und Tod an diesem besonderen Ort erinnern.«
»Wie passend«, brummte Hannes. Er wunderte sich über die prompte Erklärung, da Pia aus Lübeck stammte. »Woher weißt du das?«
»Als ich damals nach Hannover versetzt wurde, habe ich eine Stadtführung mitgemacht. War interessant. Außerdem habe ich viel über die Stadt gelesen, in der ich lebe. In unserem Beruf kann es nie schaden, gut informiert zu sein.« Schelmisch blinzelte sie ihm zu. »Vorsichtshalber habe ich die Kirche aber vorhin gegoogelt.«
Eine Führung durch Hannover mitzumachen, hatte er sich oft vorgenommen, aber ihm fehlte die Zeit. Seine Augen schweiften zum Turm, der mit herbstlich rot gefärbtem wildem Wein bewachsen war. Ein schöner Anblick, zu dem der Leichenfund nicht so recht passte.
»Wer hat den Toten entdeckt?«
»Männer von der Straßenreinigung. Die werfen morgens immer einen Blick in die Ruine, weil es vorkommt, dass hier Trinker ihre Bierdosen entsorgen. Martin befragt sie gerade draußen auf der anderen Straßenseite.«
Hannes setzte sich in Bewegung, um die links neben dem Altarraum angebrachte Wandtafel näher zu betrachten. Er las, wie viele Todesopfer Krieg und Katastrophen unter den Einwohnern der Stadt gefordert hatten. Über Mordopfer aus jüngerer Zeit stand nichts auf der Gedenktafel.
»Hier hat während meiner ganzen Laufbahn keine Leiche gelegen«, sprach ihn Benno Winkler, der Leiter der Kriminaltechnik, an. »Der Fundort ist allerdings nicht der Tatort.«
Der Hauptkommissar wandte sich um und zählte insgesamt fünf Eingänge mit Gittertüren: an jeder Längsseite zwei und einen direkt in der Mitte des Kirchturms.
»Kann man hier rund um die Uhr überall rein?«
»Nur durch dieses«, Benno wies nach rechts, »und das Tor gegenüber. Die anderen sind permanent verschlossen und durch Vorhängeschlösser gesichert.«
»Also kann der Täter das Opfer nur über den Eingang Breite Straße oder über die Osterstraße hier reingebracht haben. Dabei hat er in Kauf genommen, dass man ihn beobachtet. Warum hat er das riskiert?«
»Nachts ist hier nicht viel Verkehr.«
»Aber von Freitag auf Samstag sind mehr Nachtschwärmer unterwegs als unter der Woche.«
Er ließ den Kollegen stehen, als der Rechtsmediziner mit der ersten Leichenschau fertig war. Mit wenigen Schritten war er bei ihm, wartete jedoch, bis Pia hinzukam.
»Schieß los, Horst.«
»Männliche Leiche, Todesursache unklar.«
»Ist das alles?«
»Er war 72 Jahre alt, Pastor im Ruhestand und …« Er unterbrach sich, als erstaunte Blicke ihn trafen. »Verblüffe ich euch? Ich habe sogar einen Namen: Berthold Rugard. Diesmal hat der Mörder seinem Opfer die Brieftasche gelassen. Wahrscheinlich hat ihm die Identifizierung beim letzten Mal zu lange gedauert.«
»Wenn du davon ausgehst, dass es der gleiche Täter wie bei der Leiche aus dem Georgengarten war, hast du noch was für uns.« Fordernd streckte Pia die Hand aus. »Gib her.«
Ein Klarsichtbeutel wechselte den Besitzer. Die Kommissarin hielt das Tütchen etwas von sich, damit Hannes das kleine, zerbrochene Holzkreuz ebenfalls sehen konnte.
»Der Tote hatte die Teile in den gefalteten Händen«, kommentierte Horst und reichte einen zweiten Beweismittelbeutel weiter. »Die Sanduhr steckte in der Jackentasche. Ein Handy hatte er nicht bei sich. – Alles wie gehabt. Vermutlich werde ich bei der Obduktion auf ähnliche Verletzungen wie bei Flachsbarth stoßen.«
»Verdammt, ich habe es geahnt!«, stieß Hannes hervor. »Wir haben es mit einem Serienkiller zu tun.« Sein Blick suchte den des schwergewichtigen Rechtsmediziners. »Schick uns deinen Bericht so schnell wie möglich.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich an Pia. »Koordinierst du die Befragung der Anwohner? Ich fahre zur Staatsanwaltschaft. Wir brauchen dringend mehr Leute.«
Da die Staatsanwältin unterrichtet war, würde er sie in ihrem Büro antreffen.
Die Strecke von der Aegidienkirche über den Schiffgraben bis zum Amtssitz im Volgersweg legte er in sieben Minuten zurück. Um diese frühe Stunde herrschte ein geringes Verkehrsaufkommen.
Ohne den großen roten Skulpturen vor dem Haupteingang einen Blick zu schenken, eilte der Hauptkommissar daran vorbei und betrat das Gebäude. Im Lift fuhr er in die 5. Etage. Die Tür zum Arbeitszimmer von Frau Dr. Pauli stand weit offen.
»Kommen Sie rein, Herr Bremer«, sagte sie, als er an der Schwelle zögerte, und winkte ihn heran. »Setzen Sie sich hin – und mich in Kenntnis.«
Er kannte ihre Vorliebe für Wortspielereien, kommentierte sie aber nicht.
»Es ist, wie ich befürchtet habe«, sagte er und nahm auf dem bequemen Lederstuhl vor ihrem Schreibtisch Platz. »Wir können den Toten in der Aegidienkirche dem gleichen Täter zuordnen wie die Leiche aus dem Georgengarten.«
»Woraus schließen Sie das?«
Er berichtete von der Auffindsituation und den bei dem Toten sichergestellten Gegenständen.
»Diesmal ein Kreuz – und eine Sanduhr«, wiederholte sie nachdenklich. »Warum ein kaputtes Kreuz? Zufall oder Absicht?«
»Das könnte bedeuten, dass der Mörder nicht gläubig ist. Oder der Pastor war in seinen Augen kein würdiger Mann Gottes. Vielleicht ist es unabsichtlich zerbrochen und symbolisiert einfach nur den Beruf des Toten.«
»Haben Sie eine Idee, was uns der Killer mit der Sanduhr sagen will?«
Ratlos zuckte Hannes die Schultern.
»Sie könnte was mit Zeit zu tun haben. Vielleicht das letzte Stündlein, das geschlagen hat.«
»Bringt uns das irgendwie weiter?«
»Erst mal nicht. Wir müssen das Obduktionsergebnis abwarten – und den Bericht der KTU. Möglicherweise ergibt sich daraus ein Hinweis auf den Tatort. Der Mann wurde definitiv nicht in der Ruine umgebracht.«
Sekundenlang dachte die Staatsanwältin nach.
»Wie viele Leute benötigen Sie zur Unterstützung?«
»So viele ich kriegen kann.«
»Ich kümmere mich darum.« Mit ernster Miene musterte sie den Hauptkommissar. »Wir brauchen schnelle Ergebnisse – und einen erstklassigen Profiler.« Ihr Blick wurde eindringlich. »Dafür kommt nur einer infrage.«
Sie musste nicht ins Detail gehen.
»Das gefällt mir nicht.«
»Es gibt keinen besseren.«
»Ich weiß.«
Durch gedämpfte Geräusche erwachte Charlotte. Sie war am Vorabend mit Philipp, seiner Schwester Sophia und seinem Schwager Axel Martens auf einer Vernissage im SofaLoft gewesen. Anschließend hatten sie in ihrem Lieblingsclub, dem Musikladen, ein Glas Wein getrunken. Dadurch war es spät geworden.
Widerstrebend schlug Charlotte die Augen auf. Trotz geschlossener Jalousien fiel vom Flur her genug Licht in den Raum, um zu sehen, dass Philipp, ihr den Rücken zugewandt, an einer Kommode hantierte.
»Was machst du denn da mitten in der Nacht?«
Er drehte sich herum und setzte sich auf die Bettkante.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.«
»Wie spät ist es denn?«
»Gleich acht.«
»Egal«, entschied sie und hob die Decke etwas an. »Heute ist Sonntag. Komm wieder ins Bett.«
Rasch zog er den Morgenmantel aus und schlüpfte zu ihr unter die Decke. Wohlig schmiegte sie sich an ihn. Er duftete nach einem herben Duschgel. Hatte er die Morgentoilette bereits hinter sich?
»Warum bist du schon aufgestanden?«
»Ich habe nur was vorbereitet.«
»Wofür?«
»Für ein kleines Jubiläum.«
Sie richtete sich etwas auf, stützte den Kopf in die rechte Hand und versuchte, in Philipps Gesicht zu lesen.
»Habe ich etwa einen Termin vergessen?«
Er legte den Arm um Charlottes Schultern und zog sie dicht zu sich heran.
»Vor genau 40 Tagen hat sich mein Leben auf wundervolle Weise verändert.«
»Aha …« Nun wusste sie, was er meinte, tat aber ahnungslos. »Vor etwa sechs Wochen? Da haben wir unsere neue Gemeinschaftskutsche bekommen.«
»Das war tatsächlich ein Highlight«, ging er darauf ein. »Schwer zu toppen, aber du hast es geschafft.«
»Ich? Wie konnte mir denn das gelingen?«
»Du hast mich in dein Bett eingeladen und verführt.«
»Ich dich?«, tat sie entrüstet. »Das habe ich aber ganz anders in Erinnerung.«
»Egal«, wiederholte er mit einem Lächeln in der Stimme. »Wichtig ist das Ergebnis.«
»Es hätte schlimmer kommen können.«
»Du bist ganz schön keck am frühen Morgen.«
»Tja …« Spontan beugte sie sich über ihn und küsste ihn sanft auf die Lippen. »Das hast du nun davon.« Sie schmeckte seinen frischen Atem und strich mit den Fingerspitzen über seine glatt rasierte Wange. »Hast du was vor?«
»Ich dachte, wir frühstücken heute mal im Bett, aber so einen stoppeligen Kerl wollte ich dir nicht zumuten.«
Flink drehte sie sich herum und stand auf.
»Wohin willst du?«
»Nur kurz ins Bad.« Sie wollte sich wenigstens etwas frisch machen und die Zähne putzen.
Wie meistens nach einer Nacht in seinem Bett, hatte sie nur das Oberteil seines Pyjamas an, das ihr knapp bis über die Schenkel reichte. Die passende Hose trug Philipp.
Als sie in sein Schlafzimmer zurückkehrte, sah sie im Licht der Nachttischlampe ein mit Köstlichkeiten beladenes Tablett auf der Matratze. Auf dem Nachtschrank entdeckte sie eine bunte, etwa 30 Zentimeter große Figur. Als Hannoveranerin wusste Charlotte natürlich, dass es sich um die Plastik einer französischen Künstlerin handelte. Am Leibnizufer der Leine bildeten drei dieser Nanas den Grundstein der Skulpturenmeile. Sie waren erst kürzlich gereinigt, poliert und mit einer neuen Hochglanzversiegelung versehen worden, wodurch sie in neuer Pracht erstrahlten.
»Gefällt sie dir, Sternchen?«
»Sehr.«
»Weißt du, wie sie heißt?«
»Mir hat mal jemand erzählt, dass Niki de Saint Phalle sie nach der von Goethe verehrten Charlotte Buff benannt hat.«
»Der Geheimrat hat sie geliebt, aber er musste auf sie verzichten. Ich habe mit meiner Charlotte mehr Glück.«
»Hast du die Skulptur deshalb gekauft?«
»Auch weil ich sie schön finde. Sie symbolisiert viel von dir.«
Skeptisch schaute sie ihn an.
»So üppig bin ich aber nicht.«
»Du hast die Figur eines jungen Mädchens. Aber das meinte ich nicht. Die Bezeichnung ›Nana‹ steht im Französischen für eine moderne, selbstbewusste, erotische Frau mit Lebenskraft.« Dicht zog er sie an sich. »Das bist du auch. Es macht dich unwiderstehlich.«
Unterdessen saßen die anderen WG-Bewohner in der großen Küche des Hauses beim Frühstück.
»Wo bleiben denn Charlotte und Philipp?«, fragte Anneliese, während sie ihrem Lebensgefährten Kaffee nachschenkte. »Bei den beiden ist es gestern wohl spät geworden.«
»Ich habe sie weit nach Mitternacht nach Hause kommen hören«, sagte Conrad. »Sie schlafen sicher noch.«
Mit wissendem Lächeln bestrich Elisabeth eine Brötchenhälfte mit Butter.
»Als ich vorhin den Tisch gedeckt habe, war Philipp hier. Er hat ein Frühstück für zwei mit raufgenommen.«
»Schön, dass er sich Gedanken macht, wie er seinem Sternchen was Gutes tun kann«, sagte die Strick-Liesel versonnen. »Das ist beneidenswert.«
Prompt meldete sich Conrads Gewissen. Er zeigte Anneliese viel zu selten, wie viel sie ihm bedeutete. In diesen Dingen war er ungeübt, wodurch er sich unsicher fühlte. Seit der Trennung von seiner Frau vor fast 35 Jahren hatte es für ihn außer einigen Sexualkontakten keine näheren Beziehungen gegeben.
Als Charlotte später herunterkam, begegnete sie Conrad am Fuße der Treppe.
»Moin.«
»Guten Morgen«, grüßte er zurück, wobei er sie musterte. Sie besaß die Ausstrahlung einer Frau, die mit sich selbst im Einklang war. »Du siehst richtig glücklich und zufrieden aus.«
»Das bin ich. Meiner Familie geht es gut, ich bin gesund, habe keine finanziellen Sorgen, lebe in einem schönen Haus mit wundervollen Menschen zusammen – und habe einen Mann, der mich liebt und den ich liebe. Das ist so viel mehr als manch anderer hat.«
Zustimmend nickte er. Es schien, als wolle er etwas hinzufügen, jedoch er unterließ es.
»Alles gut bei dir?«
Abermals nickte er.
»Entschuldige, Albert wartet auf mich. Wir wollen eine Partie Schach spielen.«
Rasch wandte er sich um und strebte auf die Räume des Generals zu.
Charlotte zuckte die Schultern und ging in die Küche. Dort begrüßte sie Elisabeth, die mit dem Einräumen der Spülmaschine beschäftigt war.
»Kann ich dir helfen?«
»Nicht nötig. Ich bin gleich fertig. Hast du euer Frühstücksgeschirr nicht mitgebracht?«
»Das trägt Philipp gleich runter. Hast du ihm bei der leckeren Auswahl geholfen?«
»Das hat er mir nicht erlaubt. Er wollte das Frühstück für sein Sternchen ganz allein zubereiten.« Sie schloss den Geschirrspüler und drehte sich herum. »Wie war es denn gestern Abend?«
»Die Vernissage war beeindruckend. Tolle, farbgewaltige Bilder und interessante Lichtinstallationen. Danach waren wir mit Sophia und Axel im Musikladen.«
»Magst du sie?«
»Ich bin Philipps Schwester vorher nur einmal im Vorbeigehen begegnet. Ihren Mann kannte ich gar nicht. Zuerst habe ich befürchtet, dass sie mich vielleicht nicht mögen oder genau unter die Lupe nehmen würden, aber sie waren sympathisch offen, als wären wir alte Freunde.«
»So liebenswürdig haben wir Sophia vor kurzem auch kennengelernt. Anneliese hatte sie nach deinem Verschwinden aus dem Internat Rabeneck angerufen. Philipp war fix und fertig. Seine Schwester ist sofort gekommen, um ihm beizustehen.«
»Darüber hat sie kein Wort verloren. Ich bin froh, dass wir uns auf Anhieb so gut verstanden haben.« Sie wandte sich zur Tür. »Hast du unser fleißiges Lieschen gesehen?«
»Ich glaube, Anneliese wollte drüben im Wohnzimmer Zeitung lesen.«
Als Charlotte eintrat, saß die Mitbewohnerin, ihr Tablet-PC in den Händen, auf dem Sofa. Sie war blass und wirkte, als hätte ihr jemand einen Schock versetzt.
»Alles in Ordnung?«
Mit ernster Miene reichte sie das Tablet weiter.
»Lies das bitte mal.«
Charlotte setzte sich und richtete den Blick auf das Display. Dort war eine Website der HAZ zu sehen. ›Leichenfund in der Aegidienkirche‹ lautete die Schlagezeile. Konzentriert las sie den Artikel, bevor sie das abgebildete Foto des Toten mit zwei Fingern größer zog, um es genauer zu betrachten. Es zeigte einen etwa 70-Jährigen mit kurzem grauem Haar und gütigem Lächeln.
Charlotte legte den flachen Computer auf den Tisch und schaute die Freundin an. Sie ahnte, dass Anneliese aus einem bestimmten Grund Interesse an diesem Toten hatte.
»Du kanntest Pastor Rugard.«
»Er war vor Jahren neben der Gemeindearbeit als Jugendseelsorger tätig.«
»Hattet ihr engen Kontakt?«
»Seit seinem Weggang nicht mehr.«
»Und davor?«
Hilflos hob sie die Schultern, ließ sie langsam sinken.
»Wir hatten mal was miteinander, … vier oder fünf Monate. Bert war ein lieber Kerl, aber furchtbar konservativ. Das ging auf die Dauer nicht gut.«
»Wie lange ist das her?«
»Über 35 Jahre.«
»Trotzdem berührt es dich, wenn du erfährst, dass ein Mensch, der dir mal nahestand, ermordet wurde.«
»Nicht nur das. Außerdem ist er der zweite Mann, den ich kannte, der umgebracht wurde. – Und das innerhalb einer Woche.« Forschend blickte sie ihre Mitbewohnerin an. »Was glaubst du, was das bedeutet – aus kriminalistischer Sicht?«
»Ohne die näheren Umstände zu kennen, ist das schwierig.«
»Komm schon, Charlotte. Was sagt dir deine Spürnase?«
Die ehemalige Leiterin des Kriminalarchivs musste nicht lange darüber nachdenken.
»Kannten sich die Toten?«
»Mit Sicherheit.«
»Da eine Verbindung zwischen beiden Männern besteht, würde ich auf einen Serientäter tippen.«
»Das habe ich befürchtet«, gestand Anneliese. »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«
»Was soll ich tun?«
»Ich muss mit Kommissar Bremer darüber sprechen. Begleitest du mich morgen zu deinen Polizeifreunden?«
»Mach ich. – Wir sollten das aber vorläufig für uns behalten, um unsere Mitbewohner nicht zu beunruhigen.«
Anneliese schien etwas erleichtert zu sein, aber Charlotte ließ sich alles, was sie über die beiden Toten gehört und gelesen hatte, noch einmal durch den Kopf gehen. Nach längerem Nachdenken war sie überzeugt davon, dass sie es hier mit einem Serienkiller zu tun hatten. Sie erinnerte sich, was Horst über den Zustand der ersten Leiche gesagt hatte. Der ermordete Psychologe war auf vielfältige Weise gefoltert worden. Es lag nahe, dass der Pastor ähnliche Qualen durchlitten hatte. Das ließ auf eine große Wut des Täters schließen. Man musste mit weiteren Toten rechnen. Was Charlotte aber am meisten Sorge bereitete, war die Tatsache, dass Anneliese beide Opfer gekannt hatte. Es bestand eine Verbindung zwischen ihr und den Ermordeten. An einen Zufall glaubte sie nicht. Außerdem hatten alle drei mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Nüchtern betrachtet, könnte die Freundin in großer Gefahr schweben. Darüber sprach Charlotte jedoch nicht.
Später saßen die WG-Bewohner in der Küche beim Mittagessen zusammen, das fast immer Conrad zubereitete. Seit seiner Jugend zählte Kochen zu einer seiner Lieblingsbeschäftigungen. An diesem Sonntag brachte er überbackenes Schweinefilet mit Senf – Sahne-Kruste, Champignons und Kartoffelspalten auf den Tisch. Wie gewöhnlich, lobten die Freunde seine Kochkünste.
»Es freut mich, dass es euch schmeckt.« Seine Augen schweiften von einem zum anderen, kamen bei Anneliese zur Ruhe. »Wann wart ihr eigentlich das letzte Mal auf dem Jahrmarkt?«
»Bei mir ist das Ewigkeiten her«, sagte seine Lebensgefährtin. Mit einem Blick gab sie die Frage an Charlotte weiter.
»Ich war im Sommer vor zwei Jahren mit meinen Enkelkindern auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg. ›Dom‹ heißt das Schützenfest dort. Es findet dreimal im Jahr statt.«
Philipp und Albert konnten sich ebenso wenig wie Elisabeth daran erinnern, wie lange ihr letzter Kirmesbesuch her war.
»Heute endet das Oktoberfest. Ich möchte euch einladen. Wir fahren gegen Abend, bummeln über den Festplatz, essen und trinken was und lernen in der Geisterbahn das Gruseln.«
Während seine Mitbewohner zustimmten, schüttelte der General den Kopf.
»Macht das lieber ohne mich. Auf dem Rummelplatz herrscht bestimmt viel Gedränge. Da bin ich mit meinem Rollstuhl nur im Weg.«
»Das könnte dir so passen«, sagte Philipp. »Mitgefangen, mitgehangen.«
»Genau«, stimmte Charlotte ihm zu, während sie Albert anschaute. »Mich interessiert seit damals, ob dein Meisterschuss im Eichengrund nicht reines Glück war. Heute bekommst du die Gelegenheit, uns von deinen Schießkünsten zu überzeugen. Jede von uns Mädels würde sich über eine Rose von der Schießbude freuen.«
Auch die anderen redeten ihm zu. Dadurch konnte er nicht mehr ablehnen. Im Grunde freute er sich sogar darüber. Seit ihrem Kennenlernen wurde er trotz seines Handicaps akzeptiert und in alle Aktivitäten einbezogen. Anfangs hatte er sich aus Unsicherheit hinter seinem Kasernenton versteckt. Er war fast sein ganzes Leben lang Soldat gewesen – mit Einsätzen im In- und Ausland. Für eine enge Beziehung hatte es an Zeit und Gelegenheit gemangelt. Er hatte sich stets eingeredet, nichts zu vermissen. Erst im Alter war ihm bewusst geworden, wie sehr ihm eine Familie und nahe Freunde fehlten, wie einsam er war. Schließlich hatte ihn diese kleine Gruppe in ihren Kreis aufgenommen. Dass seine ruppige Fassade zerbröselt war, verdankte er nicht zuletzt Charlotte. Er würde für sie durchs Feuer gehen.
Am späten Nachmittag orderte Philipp ein Großraumtaxi, das sie zum Schützenplatz brachte. Am Gilde-Tor stiegen sie aus. Der General, der wegen einer Verletzung bei einem Auslandseinsatz nur wenige Schritte laufen konnte, setzte sich in seinen faltbaren Reiserollstuhl. Wie selbstverständlich fasste Elisabeth nach den Schiebegriffen. Anneliese hängte sich bei Conrad ein; Philipp legte den Arm um Charlottes Taille. An geparkten Autos vorbei schlenderten sie auf den Rummel. Ein Gemisch aus lauter Musik, Lockrufen der Betreiber von Fahrgeschäften und Losverkäufern empfing sie. In der Luft hing der Duft von Zuckerwatte, gebrannten Mandeln und Gegrilltem. Vorbei an Kinderkarussell, Autoskooter und Riesenrad bummelten sie über den Festplatz. Philipp zog an einer Bude 20 Lose aus einem kleinen gelben Eimer, erwischte aber nur Nieten. Beim zweiten Versuch war wenigstens ein Trostpreis dabei. Er wählte einen kleinen Teddy aus, den er Charlotte mit großer Geste reichte.
»Pech im Spiel«, flüsterte er ihr dabei zu, »aber unglaublich viel Glück in der Liebe.«
Sie lächelte nur und ließ den Kuschelbären in ihrer Umhängetasche verschwinden, während sie Blickkontakt zu Anneliese aufnahm. Die Freundin hatte eine Schießbude entdeckt und deutete mit dem Kopf hinüber. Charlotte zwinkerte ihr unmerklich zu und ging ein paar Schritte voraus. Die anderen folgten ihr.
»Kompanie halt!« Sie schaute Albert an und salutierte schneidig. »Zeit für Ihre Schießübung, Herr General!«
Würdevoll nickte ihr der aristokratisch wirkende Rollifahrer zu.
»Wegtreten, Rekrut Stern!«
Über seine Schulter gab er Elisabeth ein Zeichen, ihn näher an die Schießbude zu schieben. Er ließ sich vom Schausteller eine Flinte geben und begutachtete sie.
»Das Ding stammt ja aus der Zeit, als das Schießpulver noch gar nicht erfunden war«, monierte er und verlangte ein neueres. Der Budenbesitzer sog scharf die Luft ein und übergab ihm eine andere Büchse. Diese inspizierte Albert genauso gründlich und schien einigermaßen zufrieden mit dem Ergebnis zu sein.