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Während sich Hannover auf das Krimifestival freut, wird ein Thriller-Autor brutal ermordet. Auf die gleiche Weise wie das Opfer in einem seiner Romane. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren, als Charlotte Stern auf der Eröffnungsgala ein zweites Opfer findet. Alles spricht dafür, dass der Täter Jagd auf Bestsellerautoren macht und ihre Mordszenen kopiert. Hauptkommissar Bremer bittet Charlotte und ihren Lebensgefährten Philipp um Unterstützung. Gelingt es ihnen, weitere Morde zu verhindern oder muss das Festival abgesagt werden?
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Seitenzahl: 448
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Claudia Rimkus
Letztes Kapitel Hannover
Kriminalroman
Mörderisch kopiert Zum Krimifestival werden hunderte deutschsprachige Autorinnen und Autoren in Hannover erwartet. Einer von ihnen wird kurz nach seiner Ankunft in der Leinemetropole brutal ermordet – auf die gleiche außergewöhnliche Weise, wie das Opfer in einem seiner Romane. Wenige Tage später entdeckt Charlotte Stern auf der Eröffnungsgala ein zweites Opfer, das nach demselben Muster getötet wurde. Alles spricht für einen Täter, der Jagd auf Bestsellerautoren macht und deren Mordszenen bis ins kleinste Detail kopiert. Das Motiv bleibt im Dunklen. Hauptkommissar Bremer bittet Charlotte und ihren Lebensgefährten Philipp um Unterstützung. Gelingt es ihnen, weitere Morde zu verhindern oder muss das Festival abgesagt werden? Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren, als der Hauptkommissar einem Anschlag zum Opfer fällt. Ist womöglich ein zweiter Täter im Spiel?
Claudia Rimkus lebt und arbeitet in ihrer Geburtsstadt Hannover. Seit ihrer Jugend schreibt sie Gedichte, Kurzgeschichten und Romane. Ihre ersten Erzählungen wurden erfolgreich als Fortsetzungsromane in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und den angeschlossenen Lokalzeitungen veröffentlicht. Ihre Werke sind trotz aller Spannung immer mit Humor gewürzt. Die Autorin ist oft mit der Kamera unterwegs. Das genaue Beobachten ihrer Umwelt inspiriert sie sowohl beim Fotografieren als auch beim Schreiben. Ihre Fotos haben schon mehrere Preise gewonnen.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © blende11.photo / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-7800-0
Für unser geliebtes Nesthäkchen Matilda
Mit langen Schritten durchquerte der Autor die Lobby. Vor den Aufzügen zögerte er. Sollte er sich an der Hotelbar einen Schlummertrunk gönnen? Warum eigentlich nicht? Er hatte sich einen Drink verdient, nachdem ihn beim Abendessen das Geschwafel des Buchhändlers beinah zu Tode gelangweilt hatte. Ein boshaftes Lächeln glitt über seine Züge, während er daran dachte, dass dieser Spießer als Vorlage für ein Mordopfer in seinem nächsten Roman diente.
Nach kurzer Orientierung schlenderte der Schriftsteller zur Bar. Dort zog er sich einen der chromblitzenden Hocker heran, rutschte auf den Ledersitz und schnippte mit den Fingern. Mit einer Miene, die er für cool hielt, orderte er einen Nikka Coffey Whisky Old Fashioned auf Eis. Ein teurer Tropfen, den er sich, wie fast jeden anderen Luxus, leisten konnte. Mit geschlossenen Augen ließ er das frische Aroma mit Noten von Früchten, Minze und Moschus über seinen Gaumen rollen. Im Abgang schmeckte das Getränk leicht bitter. Dieses herbe Geschmackserlebnis auf der Zunge liebte er, sodass er sich nach dem Genuss fragte, ob er sich noch ein zweites Glas genehmigen sollte. Besser nicht, entschied er, und verließ die Bar über die Terrasse. Im Freien zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche. Da sein Anruf ins Leere lief, ging er hinein und bestieg den Fahrstuhl. Während die Kabine aufwärts schwebte, dachte er daran, dass er am nächsten Morgen zu einer Fahrt mit dem Bogenaufzug zur Rathauskuppel eingeladen war. Von dort oben hätte man angeblich einen spektakulären Blick über die Stadt. Ob das zutraf, würde er bald herausfinden. Allerdings vermutete er, dass der einfältige Buchverkäufer maßlos übertrieben hatte.
Bis dato war er stets nur stundenweise wegen einer Lesung oder auf der Durchreise in Hannover gewesen. Seit zwei Tagen hielt er sich nun ununterbrochen in der Leinemetropole auf, die mancherorts immer noch als langweilig und provinziell betitelt wurde. Das, was er bislang gesehen hatte, bestätigte die Vorurteile nicht. Diese moderne Großstadt erfüllte alle Voraussetzungen für das jährliche Krimifestival. In einer knappen Woche würden Hunderte deutschsprachige Krimischreiber zum Austausch mit Kollegen, Verlagen und Lesern anreisen. Der Thrillerautor kannte diese Veranstaltungen bereits von anderen interessanten Orten. In diesem Jahr zählte er das erste Mal zum Organisationsteam. Das hatte ihm mehrere positive Presseberichte eingebracht.
Er verließ den Lift und wandte sich nach rechts. Der burgunderrote Teppichboden dämpfte seine Schritte. Vor dem Raum mit der Nummer 522 blieb er stehen, öffnete mit der Schlüsselkarte und steckte sie nach dem Eintreten in den Slot neben der Tür, sodass sich die Beleuchtung einschalten ließ. Warmes Licht einer Tischlampe vermittelte eine gemütliche Atmosphäre. Während er seine Jacke abstreifte und auf einen Sessel warf, bemerkte er die weiß gekleidete, maskierte Gestalt, die sich aus dem Schatten des Badezimmers löste.
»Endlich! Du kommst spät, mein Freund. Wo warst du so lange? Ich warte schon eine Ewigkeit auf dich. Heute ist es soweit. Bist du bereit?«
Diese dumpfen, gespenstisch klingenden Worte versetzten den Autor in eine Art Schockstarre. Sie waren in sein Gehirn eingebrannt, entstammten seiner eigenen Fantasie. Vor seinem geistigen Auge tauchten die dazugehörigen Bilder auf: grauenhafte Szenen, die einen schrecklichen Verdacht heraufbeschworen, der viel zu absurd war, um der Wirklichkeit zu entsprechen. Dennoch wusste er genau, was gleich passieren würde. Alle Überheblichkeit fiel von ihm ab. Die Panik lähmte ihn. Mit letzter Kraft zwang er sich zu einem Blick auf die Hände des Mannes. Entsetzt starrte er auf die todbringende Waffe und taumelte zurück. Sein Mund war völlig ausgetrocknet. Er wollte um sein Leben flehen, aber aus seiner Kehle drang nur ein heiseres Krächzen.
Das serbische Zimmermädchen schob den Servicewagen über den langen Hotelflur und summte leise die Melodie mit, die aus den kleinen Ohrstöpseln erklang. Zwar war es verboten, während der Dienstzeit Musik zu hören, aber damit ging Branka die Arbeit leichter von der Hand. Vor Nummer 522 blieb sie stehen und bückte sich nach dem in acht Sprachen verfassten »Bitte-nicht-stören«-Schild, das anscheinend von der Klinke gerutscht war. Sollte sie es zurückhängen? Das würde ihr die Reinigung ersparen. Oder war es heruntergefallen, als der Gast das Zimmer verlassen hatte? Dann gäbe es Ärger, wenn sie das Putzen ausfallen lassen würde.
Behutsam klopfte sie. Keine Reaktion. Daher versuchte sie es kräftiger.
»Housekeeping!«
Drinnen rührte sich nichts. Entschlossen nahm sie die Schlüsselkarte aus der weißen Schürze, die sie über dem hellgrauen Kleid trug, und öffnete die Tür. Beim Eintreten machte sie sich abermals bemerkbar.
»Housekeeping!«
Scheinbar war der Gast bereits gegangen. Sie hängte das Schild an seinen Platz und durchquerte das Zimmer, um die geschlossenen Vorhänge aufzuziehen. Helles Sonnenlicht flutete den Raum.
Sobald sich Branka herumdrehte, bemerkte sie den halb nackten seltsam tätowierten Körper auf dem Bett. Ihre Augen weiteten sich erschrocken. Sie schlug die Hand vor den Mund, um den Schrei im Keim zu ersticken. Es war Jahre her, seit sie der Anblick einer Leiche um ihre Fassung gebracht hatte. Unkontrolliert begann sie zu zittern, konnte sich kaum auf den Beinen halten. Dass der Mann tot war, verrieten sein leerer Blick und das blutgetränkte Laken. Jemand hatte ihm offenbar die Kehle durchgeschnitten. Auch das sah sie nicht zum ersten Mal.
Sie war zwölf, als der Krieg in ihrer Heimat tobte. Fast überall im ehemaligen Jugoslawien wurde damals gekämpft. Sie hatte miterlebt, dass ihre Eltern erschossen und ihre kleinen Geschwister brutal abgeschlachtet wurden. Einer der Soldaten hatte sie in ihrem Versteck in der Scheune entdeckt und ins Stroh geworfen. Unbarmherzig hatte er ihr die Kleider vom Leib gerissen und sich auf sie gestürzt, um sie zu vergewaltigen. Im letzten Moment war ihr Onkel dazugekommen und hatte den Kerl mit einer Heugabel aufgespießt. Danach waren sie ständig auf der Flucht gewesen. Im Frühsommer 1995 flohen über 150.000 Serben aus der Krajina in Richtung Bosnien und Serbien, wobei es von kroatischer Seite zu massiven Racheakten und Kriegsverbrechen kam. Branka und ihrem Onkel gelang es jedoch, sich bis ans Adriatische Meer durchzuschlagen, von wo aus sie ein Freund in seinem Fischerboot nach Italien übersetzte. Bald gelangten sie über Österreich nach Deutschland und fanden schließlich in Hannover eine neue Heimat. Die Erinnerung an die schrecklichen Bilder aus ihrer Jugendzeit war nach und nach verblasst. Nun kehrten sie mit einer solchen Intensität aus den Tiefen des Bewusstseins zurück, dass Branka einige Minuten brauchte, um sich zu beruhigen. Schließlich verließ sie den Raum, fuhr mit dem Lift hinunter zum Empfang und meldete den Leichenfund.
Beim Durchqueren der Lobby sah sich Hauptkommissar Hannes Bremer interessiert um. Die Sitzgruppen aus weinrotem Leder harmonierten mit dem glänzenden Marmorfußboden und der modernen Rezeption. Gäste waren nicht zu sehen. Die Kollegen hatten sie bereits im Frühstücksraum versammelt, um sie zu befragen und die Personalien aufzunehmen. Deshalb war in der Hotelhalle kaum etwas davon zu bemerken, dass in diesem Haus ein Verbrechen geschehen war.
Mit dem Öffnen der Fahrstuhltür in der fünften Etage empfing Hannes emsiges Treiben. Kriminaltechniker in weißen Overalls sicherten im gesamten Flur Spuren. Der Chef der Kriminaltechnik begrüßte ihn und reichte ihm Schutzkleidung, die er protestlos überzog. Von früheren Fällen wusste der erfahrene Kriminalbeamte, wie komplex die Spurenlage in einem Hotel war. Er durfte sie nicht zusätzlich verschärfen, indem er den Tatort kontaminierte. An der weit geöffneten Zimmertür blieb er stehen und schaute hinein. Mehrere Scheinwerfer warfen ihr grelles, kaltes Licht gnadenlos auf die Szenerie.
Der wohlbeleibte Rechtsmediziner bemerkte den Freund und winkte ihn heran.
»Moin, Hannes.« Horst Fleischmann deutete auf den Toten. »Sieh dir das an. So was ist mir in all den Jahren noch nicht untergekommen.«
Der Hauptkommissar trat näher ans Bett. Nur mit einer Unterhose bekleidet, lag die männliche Leiche bäuchlings auf der Matratze. Die fahle Haut des Rückens zierte unverkennbar ein Schachbrett.
»Was ist das? Ein Tattoo?«
Nachdrücklich schüttelte der Mediziner den Kopf.
»Aufgemalt oder gesprayt – post mortem. Vielleicht wurde dazu eine Schablone benutzt. Das müssen die weiteren Untersuchungen ergeben.« Er reichte ihm einen kleinen Asservatenbeutel. »Diese Figur lag auf dem Schachbrett.«
Hannes drehte die Klarsichttüte in der Hand und betrachtete den Inhalt von allen Seiten.
»Ein König. Ob das Zufall ist?«
»Das musst du mit deinem Team rausfinden. Ich kann bislang nur sagen, dass der Mann etwa seit Mitternacht tot ist – plus/minus zwei Stunden. Todesursächlich war offenbar der Schnitt durch die Halsschlagader. Alles Weitere …«
»Nach der Obduktion.« Diesen Satz kannte der Hauptkommissar zur Genüge. Geduld war nicht gerade seine Stärke, aber er hatte sich an das Warten auf die Berichte gewöhnt. Er nickte dem Schwergewichtigen zu und verließ den Raum. Auf dem Flur stieß er auf seine jüngere Kollegin Pia Wagner.
»Wie sieht es aus? Wissen wir, wer der Tote ist?«
Sie blätterte in ihrem kleinen Notizblock.
»Erpo Tennstedt, 59 Jahre. Wohnhaft in Hildesheim. Ist laut Rezeption am frühen Sonntagabend angereist.«
»Handy?«
»Haben wir nicht gefunden. Aber einen Laptop. Die Techniker haben ihn eingepackt.« Sie zeigte ihm eine Beweismitteltüte, in der ein Stück Papier steckte. »Dieser Zettel lag auf dem Nachttisch.«
Hannes beugte sich zu ihr hinüber und las die handgeschriebenen Worte durch die Kunststoffhülle: »Tod dem König«.
Die Buchstaben sahen aus wie sorgfältig gemalt.
»Merkwürdige Botschaft. Wir müssen so schnell wie möglich rausfinden, wer das geschrieben hat. Täter oder Opfer?« Er dachte kurz nach. »Wer hat ihn überhaupt gefunden?«
»Das Zimmermädchen.« Die Oberkommissarin berichtete, was deren Befragung ergeben hatte.
»Okay. Ich spreche nachher noch mit ihr.« Suchend sah er sich nach dem zweiten Teamkollegen um. »Wo steckt Martin?«
»Unten am Empfang. Er besorgt die Adresse des Nachtportiers.«
»Außerdem müssen wir dringend mehr über den Toten erfahren. Hatte er Familie? Warum war er in der Stadt? Das Übliche. Danach sehen wir weiter.«
Im Morgengrauen kam er nach Hause. Dabei vermied er jedes Geräusch. Auf dem Weg zu seinem Zimmer knarrte, trotz aller Vorsicht, eine Diele im Flur.
»Wer ist da?«, erklang es aus dem Wohnzimmer. »Bist du das, Sohn?«
Wer sollte es sonst sein? Sie wohnten allein hier, hatten weder Freunde noch Verwandte.
Notgedrungen ging er auf die Tür zu und drückte sie auf.
»Wo kommst du um diese Zeit her? Böser Junge! Weißt du nicht, wie spät es ist? Wo hast du dich die ganze Nacht rumgetrieben?«
Böser Junge, wiederholte er im Stillen. Das war er immer gewesen. Sogar mit knapp 40 musste er sich das noch anhören. Er hasste es, wenn sie ihn so nannte. Obwohl sie mit dieser Bezeichnung ins Schwarze getroffen hatte. Das wusste sie aber nicht. Er war wirklich ein böser Junge, ein sehr böser Junge. Seine Entwicklung in diese Richtung war fast vorprogrammiert gewesen. Die Alte war daran nicht unschuldig. Aber das war dieser verbitterten Hexe genauso wenig klar.
»Ich hatte wen zu erledigen.«
»Was zu erledigen«, korrigierte seine Mutter ihn. »Wie willst du ein berühmter Autor werden, wenn du unsere Sprache nicht richtig beherrschst?«
Müde winkte er ab. Sie hatte ihm nie etwas zugetraut.
»Eines Tages wirst du erkennen, was in mir steckt.«
»Was sollte das sein?« Der Hohn in ihrer Stimme traf ihn zutiefst. »Ein einfältiger Taugenichts, der ein großer Schriftsteller sein will. Sie wollten deinen Roman nicht. Keiner wollte ihn. Weil er nicht gut genug ist. Du bist ein Versager!«
Unbändige Wut ergriff ihn. Gleich würde das Rauschen beginnen. Das passierte immer, wenn er unter Stress stand. Er konnte es nicht verhindern. Adrenalin verengte seine Gefäße, der Blutdruck stieg, sein eigener Herzschlag dröhnte in seinen Gehörgängen. Stöhnend presste er die Hände auf die Ohren, obwohl er wusste, dass er die aufkommenden Schmerzen in seinem Kopf nicht abwehren konnte. Sein linkes Augenlid begann zu zucken. Er schwankte und lief ins Bad. Dort riss er eine Tablettenpackung von der Ablage und fummelte einen Blister heraus. Die Pappschachtel ließ er achtlos ins Waschbecken fallen. Mit zitternden Fingern drückte er zwei Kapseln durch die Aluminiumfolie und steckte sie in den Mund. Rasch drehte er den Wasserhahn auf, füllte ein oft benutztes milchiges Glas und spülte die Pillen hinunter.
In seinem Zimmer ließ er sich aufs Bett fallen. Kaum hatte er die Augen geschlossen, stürmten die blutigen Bilder seiner Tat auf ihn ein. Schweiß lief ihm über den Rücken, während sein Körper wie unter einem Stromschlag zuckte. Er rollte sich zusammen, als wolle er sich in sich verkriechen.
Es war still im Haus. Nur das gleichmäßige Dröhnen in seinen Ohren war zu hören … Böser Junge … Böser Junge …
Wie gewöhnlich traf sich der Kollegenstammtisch im vierwöchigen Rhythmus donnertagabends in der Altstadtkneipe Alibi.
Die Kommissare Pia Wagner und Martin Drews saßen beim Hereinkommen ihres Chefs schon am Tisch. Charlotte Stern und Horst Fleischmann erschienen aus verschiedenen Richtungen und trafen vor dem Lokal aufeinander. In dieser Runde kannten sie sich am längsten. Im Näherkommen musterte sie den Freund. Sie war die Einzige, der er seine Diätpläne Anfang des Jahres anvertraut hatte. Der Mediziner wusste, dass ihn sein starkes Übergewicht ins Grab bringen würde, wenn er nicht endlich dagegen ankämpfte. Neben Kurzatmigkeit machten ihm Schweißausbrüche und Gelenkschmerzen zu schaffen. Deshalb war er von seiner ungesunden Fast-Food-Ernährung zu Low-Cab gewechselt, was ihm erstaunlicherweise nicht besonders schwergefallen war. Anders sah es mit der Fitness aus. Er hatte sich selbst mehr Bewegung verordnet und vorläufig damit begonnen, wann immer es möglich war, die Treppe statt eines Fahrstuhls zu benutzen oder für kurze Wege auf das Auto zu verzichten. Zu einem effektiven Training in einem Studio konnte er sich noch nicht entschließen. Immerhin musste man es ja nicht gleich übertreiben. Eines Tages würde er Charlotte vielleicht in ihr Fitnessstudio begleiten.
»Gut siehst du aus«, sagte sie lächelnd und wechselte den Tragegurt ihrer Sporttasche von der rechten auf die linke Schulter. »Fühlst du dich auch so?«
»Viel besser, als ich zunächst befürchtet hatte. Die ersten 13 Kilo sind runter.«
»Gratuliere. Das ist eine tolle Leistung.«
»Danke. Aber das ist erst der Anfang. Du weißt ja, was ich mir vorgenommen habe.«
»Du schaffst das. Und wenn du mal einen Motivationsschub brauchst, sag mir einfach Bescheid.«
Er strahlte sie an. Sie war nach wie vor seine große Liebe, die er immer tief in sich bewahren würde.
»Verlass dich drauf.«
Zusammen betraten sie den Schankraum. Wie stets war die Begrüßung herzlich. Unaufgefordert brachte der Kellner bald alkoholfreies Bier, für Horst diesmal Mineralwasser. Nachdem sie angestoßen hatten, schaute Pia lächelnd zu Charlotte hinüber.
»Wird es dir nicht allmählich zu langweilig in deiner Alten-WG – so ganz ohne Mord und Totschlag?«
Charlotte ahnte den Grund dieser Frage. Bis zu ihrer Pensionierung hatte sie das Kriminalarchiv geleitet. Anstatt ihren Lebensabend nur mit angenehmen Dingen zu gestalten, ließ sie sich immer wieder auf Ermittlungen ein. Seit Mitte Dezember pausierte ihre Spürnase allerdings.
»Wir haben die letzten drei Monate ohne Verbrechen sehr genossen und sind noch enger zusammengewachsen.« Seit einem Dreivierteljahr lebte sie in einer Villa mit fünf befreundeten Senioren unter einem Dach. Das funktionierte sehr gut. »Warum möchtest du das wissen? Braucht ihr etwa meine Unterstützung?«
Während Pia den Kopf schüttelte, schaltete sich Hannes ein.
»Du sollst deinen Ruhestand genießen. Um die bösen Buben kümmern wir uns.«
»Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.«
»Philipps Krimi ist zwar erst seit ein paar Tagen auf dem Markt, aber bald hast du sowieso keine Zeit mehr«, prophezeite der Rechtsmediziner. »Als Lebensgefährtin eines berühmten Autors wirst du ihn bestimmt auf seinen Lesereisen begleiten.«
»So weit ist es noch lange nicht. Erst mal findet die Premierenlesung auf dem Krimifestival statt.«
Interessiert beugte sich Pia etwas vor.
»Wie heißt der Roman des Professors eigentlich?«
»Kopperloch.«
»Was ist das denn? Davon habe ich noch nie gehört. Hat das irgendwas mit Forensik zu tun?«
Charlotte tauschte einen amüsierten Blick mit Horst. Außer ihr war nur er in diesem Kreis waschechter Hannoveraner. Zudem interessierte er sich für die Geschichte seiner Heimatstadt. Nicht nur deshalb wusste er, um was es sich handelte.
»Das Kopperloch oder für Zugezogene: Kupferloch ist eine historische Wasserstelle in der südlichen Eilenriede in der Nähe des Heiligers-Brunnens. Das war mal so was wie eine Badeanstalt, die aber im Laufe der Zeit zuwuchs und vergessen wurde.«
»Erst vor ungefähr 60 Jahren wurde sie zufällig wiederentdeckt und später originalgetreu restauriert«, fügte Charlotte hinzu. »Wegen des Schwefelgeruchs nannte man sie übrigens auch Teufelsbad. Am Morgen vor Philipps Lesung findet zur Einstimmung auf den Krimi eine Führung dorthin statt.«
Erwartungsvoll grinste Pia.
»Mit Leiche?«
»Das wollen wir nicht hoffen.«
»Aber dein Professor hat im Krimi eines seiner Opfer in dem Tümpel ersaufen lassen, oder?«
»Wenn du das wissen möchtest, solltest du das Buch lesen.«
»Das werde ich.«
»Es lohnt sich.« Horst hatte sich vor Jahren damit abgefunden, dass er sich auf seine langjährige Freundschaft mit Charlotte beschränken musste. Sogar ihre Beziehung zu Philipp Thaler, einem renommierten Forensischen Psychologen, akzeptierte er – zumal er mit ihm befreundet war. »Ich freue mich auf die Premierenlesung.«
»Bist du nicht auch ein Programmpunkt bei diesem Festival?«, fragte Martin, der Jüngste im Team. »Unter dem Motto: Der Geruch des Todes – Schnupperunterricht im Leichenkeller?«
Der Rechtsmediziner verzog keine Miene.
»Ich rangiere unter: ›Vorträge von Branchenexperten‹. Außer den Lesungen und Signierstunden finden noch Workshops für Autoren zu kriminalistischen Themen wie Leichenschau, Waffenkunde oder Profiling statt.«
Hannes Bremer konzentrierte sich auf die neben ihm sitzende Freundin. Da Charlotte mit Professor Thaler zusammenlebte, war sie bestimmt bestens informiert.
»Kommen zu diesem Event viele Leute nach Hannover?«
»Wie ich gehörte habe, sind etwa 200 deutschsprachige Krimiautoren angemeldet. Zu den Veranstaltungen werden circa 15.000 Gäste erwartet.«
»Die Schriftsteller werden vermutlich in verschiedenen Hotels, über das ganze Stadtgebiet verteilt, untergebracht.«
»Nicht alle. Die Autoren, die hier wohnen, wurden gefragt, ob sie einen Kollegen beherbergen möchten. Kurz nach dem Krimifestival findet die Hannover Messe statt. Da sind viele Hotelzimmer bereits Tage vorher durch Aussteller belegt. Wir nehmen Loretta Lamar bei uns auf.«
»Wow!«, entfuhr es Pia. »Die kenne ich. Erst neulich habe ich beim Frisör gelesen, was für Riesenauflagen die hat. Über zehn Millionen – allein in Deutschland.«
Charlotte nickte.
»Ihre Krimis sind sehr spannend. Ich habe einige davon verschlungen.«
Hannes wollte mehr über das Fest wissen.
»Wahrscheinlich gibt es bei so viel Prominenz in der Stadt besondere Sicherheitsvorkehrungen, oder?«
Bedauernd zuckte Charlotte die Schultern.
»Darüber ist mir nichts bekannt, aber Philipp hatte öfter Kontakt mit Holger Beski, dem Hauptorganisator. Der müsste das wissen.« Ein plötzlich aufkeimender Verdacht ließ sie stutzen. »Allmählich glaube ich, dass deine Fragen etwas mit eurem aktuellen Fall zu tun haben.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»In der Zeitung stand heute Morgen nur, dass es sich bei dem Toten aus dem Arena Park Hotel um einen 59-jährigen Mann aus Hildesheim handelt. Nichts weiter. Keine Information darüber, was ihn nach Hannover geführt hat, kein Wort zu den Todesumständen oder zur Todesursache. Das bedeutet, ihr habt eine Informationssperre verhängt. Nun willst du von mir alles Mögliche über das Festival wissen. Das ist doch kein Zufall.«
Hannes zwinkerte Pia vielsagend zu.
»So viel zu deiner Prophezeiung, dass Charly den Braten nicht riecht.«
Als die Kommissarin nur die Schultern zuckte, brannte Charlotte darauf, mehr zu erfahren.
»Was hatte der Tote mit dem Krimifestival zu tun? War er Autor? Lektor oder Verleger?«
Da sie am einzigen Tisch links von der Theke in einer Nische saßen, musste er keine Lauscher befürchten.
»Morgen steht es sowieso in der Zeitung. – Sagt dir der Name Erpo Tennstedt etwas?«
Mit einem so prominenten Schriftsteller hatte sie nicht gerechnet.
»Den kennt fast jeder, der gern Krimis liest.«
»Was weißt du über ihn?«
»Über ihn persönlich nicht viel. Ein paar Infos aus der Vita, die man unter dem Klappentext auf der ersten Buchseite findet. Soweit ich mich erinnere, war er Gerichtsreporter, bevor er seinen ersten Krimi veröffentlicht hat. Den Durchbruch hatte er später mit einer Trilogie.« Sie dachte kurz nach. »Royal Flash … Tödliches Roulette … und Schachmatt. Das waren Riesenerfolge. Danach hat er ein paar Thriller geschrieben, die mir aber zu brutal waren. Ich lese lieber welche, die mit möglichst wenig Blut und Gewalt auskommen, dafür aber psychologisch gut durchdacht sind und in die Abgründe der menschlichen Seele eintauchen.«
»Wie Kopperloch«, warf der Rechtsmediziner ein, der Philipp bei den rechtsmedizinischen Details beraten hatte. Als kleines Dankeschön hatte er ein Belegexemplar erhalten und es bereits gelesen. »Darin wird man mehrfach geschickt auf eine falsche Fährte gelockt.«
»Diese Trilogie …«, erwartungsvoll wandte sich Hannes an die langjährige Freundin, »weißt du noch, worum es darin ging?«
»So ungefähr. Warum fragst du?«
»Wir stehen erst ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Da wären ein paar Infos vorab nicht schlecht. Was ist mit dem Roman: Schachmatt?« Sein Blick wechselte abermals zu Pia. »Besorg den bitte gleich morgen früh.« Behutsam legte er die Hand auf Charlottes Arm. »An was erinnerst du dich?«
»In den drei Romanen ist immer das gleiche Polizeiteam auf Verbrecherjagd. Schachmatt handelt von einem Täter, der seinen Opfern die Kehle durchschneidet, bevor er ihnen ein Schachbrett auf den Rücken malt und darauf eine Schachfigur hinterlässt. Meistens einen Bauern, einmal eine Dame und bei dem für ihn wichtigsten Opfer den König.«
»Warum tut er das?
»Aus Rache an irgendeiner Verbrecherorganisation, die er für den Tod seiner Frau und seines Kindes verantwortlich macht.«
»Hmm …«
Während sich Hannes ihre Worte durch den Kopf gehen ließ, war Martin weiter.
»Das Motiv passt nicht zu unserem Fall.«
»Aber der Rest?« Wie immer nahm Charlotte rasch Witterung auf. »Hat der Mörder seinem Opfer, wie im Buch, ein Schachbrett aufgemalt? Und eine Figur zurückgelassen?« Sie schaute in die Runde, erwartete im Grunde aber keine Antwort. Sie wusste, dass sich die Freunde bei laufenden Ermittlungen bedeckt halten mussten. »Dem Täter dienen anscheinend nicht nur die Morde im Roman als Vorlage für sein Verbrechen. Sein Opfer ist ausgerechnet die Person, die sich diese blutigen Szenen ausgedacht hat. Das ist ganz schön abgefahren.«
Wieder einmal bewunderte der Hauptkommissar ihre schnelle Kombinationsgabe. Obwohl er nicht viel mehr als den Namen des Opfers preisgegeben hatte, spann sie eine logische Verbindung zwischen dem Toten, dessen Roman und dem Vorgehen des Täters. Fehlte nur noch das Motiv.
Das plötzliche Schweigen am Tisch irritierte Charlotte.
»Was ist? Liege ich so falsch mit meiner Vermutung?«
»Nicht wirklich.« Sie hatte ihnen durch ihre unkonventionelle Denkweise öfter bei der Lösung eines Falles auf die Sprünge geholfen. Deshalb ermunterte Hannes sie weiterzusprechen.
»Was glaubst du, was dahintersteckt? Wir sind für jeden Denkanstoß dankbar.«
Sie zögerte einen Moment.
»Spontan würde ich sagen, dass ihr es hier mit einem Serienmörder zu tun habt.«
»Kannst du das begründen?«
»Der Täter hat sich viel Mühe gegeben, einen Mord aus dem Roman zu kopieren. Dazu war gründliche Planung und Vorbereitung erforderlich. Außerdem musste er sich länger als nötig in diesem Hotelzimmer aufhalten. Das wiederum vergrößerte das Risiko, entdeckt zu werden. Warum hat er das auf sich genommen? Weil es ihm wichtig war. Weil noch weitere solcher Nachahmungstaten folgen sollen.« Ein Blick in die erstaunten Gesichter der Freunde entlockte ihr ein kleines Lächeln. »Haltet ihr mich jetzt für völlig verrückt? Vielleicht bin ich das. Trotzdem ist es aus meiner Sicht sehr wahrscheinlich, dass der Täter erneut zuschlagen wird.«
Bei ihrer Heimkehr lag die Villa im Dunkeln. Offenbar hatten sich ihre Mitbewohner bereits zurückgezogen. Nur Kater Grönemeyer nahm von ihr Notiz. Er streckte sich auf der oberen Ebene seines Kratzbaumes, der neben der Treppe stand. Charlotte streichelte über sein weiches Fell und murmelte ein paar sanfte Worte, bevor sie die Stufen hinaufstieg. Auf der ersten Etage der rechten Hausseite bewohnte sie zwei Räume und verfügte, wie alle Bewohner, über ein eigenes Badezimmer. Sie stellte ihre Sporttasche neben der Tür ab und schaltete das Licht an. Dabei überlegte sie, ob sie sich in ihr eigenes Bett legen oder zu Philipp hinaufgehen sollte. Dagegen sprach, dass sie beim Nachhausekommen seine leere Garage bemerkt hatte. Demnach war er noch nicht zurück. So ging sie ins Bad, wusch sich die Hände und widmete sich der Zahnpflege. Geduscht hatte sie bereits im Fitnesscenter. Schließlich zog sie sich aus und ein knielanges Shirt mit einem Snoopy-Print an.
Auf dem Weg durch ihr Wohnzimmer schaute sie sich kritisch um. In der letzten Zeit war es ihr gelungen, halbwegs Ordnung zu halten, aber zufrieden war sie mit dem Ergebnis bislang nicht. Da war noch massenhaft Spielraum nach oben.
Im Schlafzimmer setzte sie sich auf die Matratze und verwöhnte Hände und Füße mit einer dezent duftenden Creme. Schließlich nahm sie ein Buch vom Nachttisch und machte es sich im Bett bequem.
Nach einer Weile hörte sie Motorengeräusche. Offenbar kam Philipp nach Hause. Es dauerte aber noch etwa 20 Minuten, bis er leise im Pyjama hereinkam.
»Hallo, Sternchen. Du schläfst noch nicht? Hast du auf mich gewartet?«
»Gut möglich.« Sie legte den spannenden Taubertal-Krimi aus der Hand und wartete, bis ihr Lebensgefährte neben ihr unter die Decke schlüpfte. »Wie war es?«
»Interessant.« Er kam von einer Veranstaltung, auf der sich hannoversche Autoren zu einem Austausch getroffen hatten. »Zuerst ging es um die Bewerbung Hannovers zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025.«
»Daraus ist ja leider nichts geworden. Soviel ich weiß, hat Chemnitz das Rennen gemacht.«
»Das wurde von den meisten Anwesenden bedauert. – So wie die Tatsache, dass hannoversche Autoren kaum am hiesigen Bewerbungsverfahren beteiligt waren. Umso mehr freuen sie sich darüber, dass wenigstens das Krimifestival in unserer Stadt veranstaltet wird.« Er stopfte sich ein Kopfkissen in den Rücken und lehnte sich dagegen. »Nach dem offiziellen Programm war ich noch mit einer Handvoll Autoren zusammen, die dem ›Neuling‹ gute Ratschläge geben wollten. Einige von ihnen haben sich darüber beklagt, dass ihnen zu wenig Aufmerksamkeit zuteilwird.«
»Inwiefern?«
»Anscheinend richten sich viele der großen Buchhandelsketten überwiegend nach den Bestsellerlisten. Die Werke, die es darauf geschafft haben, werden auf großen Tischen im Eingangsbereich und in den Schaufenstern präsentiert. Bücher von Regionalautoren stehen meist wie Ladenhüter in der hintersten Ecke. Ausnahme ist anscheinend das Literaturschaufenster, das es mal in einem großen Geschäft in der City gab. In der Bahnhofsbuchhandlung sind sie angeblich gar nicht vertreten. Dabei wäre es gerade für Reisende interessant, etwas von Autoren aus der Stadt zu lesen.«
»In den kleineren, inhabergeführten Buchläden, wo man noch gut beraten wird, ist das anders. Deshalb kaufe ich so gern bei Cruses in der Südstadt.« Fragend hob sie die Brauen. »Haben dich deine schreibenden Kollegen am Ende davon überzeugt, dass sich die ganze Mühe im Grunde nicht lohnt?«
Nachdenklich schüttelte er den Kopf.
»Zunächst habe ich die Problematik dahinter gar nicht richtig realisiert. Auf dem Heimweg wurde mir klar, dass ich mir vorschnell ein Urteil gebildet hatte. Es steckte nicht einfach Geltungsbedürfnis hinter den Klagen.«
»Sondern?«
»Selbst, wenn ich nicht Hausbesitzer und Anteilseigner von Thaler-Bau wäre, befände ich mich in der glücklichen Lage, mit meiner Pension nicht nur über ein regelmäßiges, sondern über ein ausreichendes Einkommen zu verfügen. Meine Schriftstellerei ist ein Hobby. Natürlich wünsche ich mir, dass sich mein Buch bestmöglich verkauft, aber es wäre keine Katastrophe für mich, wenn es sich als Flop entpuppt. Ich würde …«
»Kopperloch ist richtig gut«, fiel sie ihm ins Wort. »Der Roman wird ganz sicher ein Erfolg. Das sagt mir meine jahrzehntelange Erfahrung als Krimileserin. – Aber ich wollte dich nicht unterbrechen.«
Philipp lächelte dankbar. Charlotte machte aus ihrer Überzeugung nie ein Geheimnis. Und sie war dabei immer aufrichtig.
»Mir wurde bewusst, dass ein Autor, der vielleicht ein Jahr oder länger an einem Werk gearbeitet hat, auf das Einkommen aus den Buchverkäufen angewiesen ist. Für einen Soloselbstständigen, wie man das heutzutage nennt, geht es um die nackte Existenz. Wovon soll er leben und seine Miete bezahlen, wenn seine Bücher nichts einbringen? Lesehonorare decken die Ausgaben nicht ab. Allein aus diesem Grund ist er auf Unterstützung angewiesen. Ein Verlag kann nicht alle Bücher mit dem gleichen Aufwand bewerben. Wohl aber könnte der Buchhandel helfen, indem er die Aufmerksamkeit der Kunden auf die Bücher der lokalen Schriftsteller lenkt.«
»So habe ich das bislang noch nicht betrachtet«, gab sie zu. »Allerdings weiß ich im Moment nicht, was man tun könnte, um die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen.« Nach seiner Miene zu urteilen, hatte er sich darüber bereits Gedanken gemacht. »Was hast du vor?«
»Morgen habe ich das Interview mit der HAZ. Mir fällt bestimmt etwas ein, das Gespräch auf die Situation freier Autoren zu lenken.« Er rückte etwas näher. »Jetzt bist du dran. Wie war es beim Stammtisch?«
Ohne etwas auszulassen, berichtete sie, was sie über den Toten aus dem Hotel erfahren hatte und was sie befürchtete. Philipp schloss sich ihrer Meinung an.
»Die Umstände deuten tatsächlich auf einen Täter, der noch nicht fertig ist. Hoffentlich wird er bis zum Krimifestival gefasst.«
Für die Bewohner der Senioren-WG begann der Tag stets mit einem ausgedehnten Frühstück in der Küche der Villa. Dabei informierten sie sich gegenseitig über Termine, besprachen gemeinsame Vorhaben, den Speiseplan oder nötige Anschaffungen.
An diesem Morgen erschien Anneliese zuletzt.
Sie murmelte eine Entschuldigung für ihr Zuspätkommen und setzte sich neben ihren Lebensgefährten Conrad. Der reichte ihr den Brotkorb, während Charlotte der Freundin eine Tasse Kaffee einschenkte. Liesel griff nach einem Franzbrötchen mit Zimt und Zucker. Ihre Mitbewohnerin Elisabeth hatte den Teig dafür am Vorabend zubereitet und das Gebäck am frühen Morgen in den Ofen geschoben.
»In der Zeitung steht heute, wer der Tote aus dem Hotel ist.« Anneliese warf einen Blick hinüber zu Philipp. »Ein Kollege von dir.«
»Davon habe ich schon gestern Abend erfahren.«
Ihr war klar, woher sein Wissen stammte. Deshalb nahm sie Charlotte ins Visier.
»Wahrscheinlich habt ihr beim Stammtisch darüber gesprochen. Haben dir deine Freunde verraten, wie genau er gekillt wurde?«
»Was schreibt denn die HAZ?«
»Dass Tennstedt mutmaßlich durch einen Messerangriff zu Tode kam.« Sie teilte das Brötchen in der Mitte. Da Elli es mit Zimt und Zucker verfeinert und mit viel Butter gebacken hatte, war es verzehrfertig. »Hat man ihn erstochen oder ihm die Kehle durchgeschnitten?«
Gespräche über Mord und Totschlag konnte Elisabeth morgens noch nicht vertragen.
»Liesel! Muss das sein?«
»Sorry. Ich wollte dir nicht den Appetit verderben.«
Eine Weile war es still am Tisch. Der General, ältester Bewohner und Rollstuhlfahrer, hielt Charlotte seine leere Kaffeetasse hin, wobei er sie bittend anschaute.
»Wer ist denn dieser Tennstedt? Muss man den kennen?«
Sie griff nach der Kanne und schenkte ihrem Mitbewohner von dem aromatischen Gebräu ein.
»Das ist … war ein erfolgreicher Krimiautor.«
»Der war aber nicht aus Hannover, sondern aus Hildesheim«, fügte Anneliese hinzu. »Im Flyer vom Krimifestival wird er mit einer Lesung aus seinem neuesten Thriller angekündigt. Der Termin dafür ist allerdings erst in zwei Wochen. Stellt sich die Frage, weshalb er so zeitig angereist ist. – Um seinen Mörder zu treffen?«
Mit stoischer Gelassenheit rührte Charlotte je einen Löffel Honig und Nüsse in das Schälchen Skyr, das vor ihr stand. Von ihr war offenbar keine Auskunft zu erwarten. Deshalb wandte sich die Strick-Liesel, wie Anneliese gern wegen ihrer Freude am Handarbeiten genannt wurde, an Philipp.
»Loretta Lamar und Georg Sievers kommen erst kurz vor der Eröffnungsgala in die Stadt. Kann es sein, dass Tennstedt zur Planungsgruppe gehörte?«
»Möglicherweise.«
»Interessiert euch das gar nicht?« Frustriert blickte sie in die Runde. »Endlich passiert mal was Spannendes, und euch lässt das völlig kalt?«
»Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass wir uns nur noch mit Straftaten in Fernsehkrimis oder Romanen befassen? Die Polizei fängt die Ganoven bestimmt ohne unsere Hilfe.«
Ihr war klar, dass Philipp recht hatte. Seit Mitte des letzten Jahres waren sie von einem Kriminalfall in den nächsten gestolpert und dadurch in manch lebensbedrohliche Situation geraten. Auf eine Wiederholung tödlicher Gefahren legte keiner von ihnen Wert. Andererseits fühlte man sich so herrlich lebendig, wenn man mitten in verzwickten Mordermittlungen steckte. Dass es der Freundin ebenso erging, davon war Anneliese überzeugt. Erst durch Charlotte war sie mit echten Kriminalfällen in Berührung gekommen. Diese war durch ihre ehemaligen Kollegen meistens auf dem Laufenden, was aktuelle Verbrechen in der Stadt betraf.
Am Vormittag fuhr Charlotte mit der Strick-Liesel zur Seniorenwohnanlage Eichengrund, die zum Vermögen der Christa-Bernhardt-Stiftung zählte, die Anneliese seit dem Tod der Operndiva verwaltete.
»Ich finde es großartig, dass Sievers im Eichengrund nicht nur aus seinem Krimi liest«, sagte Charlotte unterwegs, »sondern außerdem dort wohnen kann.«
»Wenn man bedenkt, dass das eigentlich gar nicht so geplant war … Die Dame von seinem Verlag fragte mich bei ihrem Anruf, ob wir in der Residenz einen großen Saal für eine Lesung haben. Ich fand die Idee gut, beides miteinander zu verbinden. Die haben Eichengrund ja nur ausgewählt, weil der Schauplatz in Sievers’ Thriller ein Seniorenheim ist.«
»Für Eichengrund ist das außerdem Werbung. – Obwohl die im Grunde gar nicht nötig ist. Die Residenz genießt einen ausgezeichneten Ruf.«
»Und die Warteliste ist lang.« Eine Weile schwieg Anneliese, bevor sie damit herausrückte, was sie brennend interessierte. »Tennstedt sollte ja im Alten Schlachthof lesen. Ob sie inzwischen Ersatz für ihn haben?«
»Keine Ahnung.«
»Über den Mord bist du bestimmt besser informiert. Natürlich sollst du nicht darüber sprechen, allerdings weißt du, dass ich damit nicht hausieren gehe.«
Insgeheim fragte sich Charlotte bereits seit der Fahrt vom Grundstück, wie lange Anneliese das Informationsdefizit wohl aushalten würde.
»Du bist ganz schön hartnäckig.«
»Ach, komm schon. Dich interessiert der Fall genauso wie mich. Philipp und Conrad müssen das ja nicht erfahren. Außerdem ermitteln wir nicht, wir reden nur darüber.«
»Das macht es nicht besser.« Nach kurzem Zögern erzählte Charlotte, was sie über den Mord an Erpo Tennstedt wusste.
Anneliese schien schockiert und fasziniert zugleich.
»Warum dieser ganze Aufwand? Der Täter hätte sein Opfer einfach abstechen und danach verschwinden können.«
»Um das zu beantworten, müssten wir sein Motiv kennen. Auf alle Fälle war sich unsere Stammtischrunde darüber einig, dass der Täter noch nicht fertig ist. Er wird weitermorden.«
Während sie den Wagen vor der Residenz ausrollen ließ, begründete sie diesen Verdacht, worauf sich Anneliese schüttelte.
»Einen Mord aus einem Krimi nachzustellen, ist echt spooky.«
»Ja, das ist wirklich ziemlich gruselig.« Charlotte löste ihren Sicherheitsgurt, stieg aber noch nicht aus. »Gestern Abend habe ich noch mit Philipp darüber gesprochen. Wir glauben wie die Polizei, dass der Mord mit dem Krimifestival zusammenhängen könnte. Warum sonst hätte der Täter Tennstedt ausgerechnet in Hannover umbringen sollen? Das ist garantiert kein Zufall.«
»Vielleicht sind nun alle Krimiautoren, die in die Stadt kommen, in Gefahr«, spann die Strick-Liesel den Faden weiter. »Die kann man unmöglich alle schützen. Am Ende wird das ganze Festival abgesagt.«
»Das fehlte noch. In den Vorbereitungen steckt jede Menge Arbeit.«
»Erst die Niederlage bei der Bewerbung zur Kulturhauptstadt und dazu das Aus fürs Krimifest wäre für alle Beteiligten ein harter Schlag.«
»Für die ganze Stadt ist es wichtig, dass das Krimifestival in Hannover stattfindet. Der Veranstaltungsort wechselt jedes Jahr. So bald werden wir hier nicht noch mal dran sein.«
»Zumal neben Deutschland auch die Schweiz und Österreich dazugehören.«
»Warten wir erst mal ab und hoffen, dass nichts mehr passiert.«
Auch Anneliese befreite sich von ihrem Gurt.
»Am meisten würde ich bedauern, wenn Philipps Premierenlesung ausfallen müsste. – Übrigens habe ich einen Ordner angelegt.«
»Wofür?«
»Erinnerst du dich an Christas Pressemappe? Ich werde alle Artikel sammeln und abheften, die über Philipp und seinen Krimi erscheinen. Irgendwann schenke ich sie ihm.«
»Darüber wird er sich bestimmt freuen.«
Seite an Seite betraten sie die Seniorenresidenz und durchquerten die Lobby, die durch die Sitzgruppen aus schwarzem Leder und vereinzelte große Grünpflanzen an ein modernes Hotel erinnerte.
Vor der Rezeption stand jemand, den die Freundinnen nur zu gut kannten.
»Grüß Gott, meine Damen.«
Amüsiert musterte Anneliese den alten Mann, der in diesem Haus für seinen Testosteronüberschuss bekannt war.
»Na, Herr Pippich, funktioniert noch alles, oder machen sich die ersten Ladehemmungen bemerkbar?«
»Keine Sorge, ich krieg ihn immer noch hoch.« Sein Blick wechselte zu Charlotte. »Darf ich Sie noch mal um Rat fragen, liebe Frau Stern? Sie sind die Einzige, mit der ich über alles reden kann.«
Vermutlich betraf das, wie so oft, sein Liebesleben. Dennoch mochte sie ihn nicht abweisen. Deshalb stimmte sie zu, worauf Anneliese ihr ein Zeichen gab und sich Richtung Verwaltung in Bewegung setzte. Charlotte würde sie später schon finden.
»Wollen wir uns in den Wintergarten setzen?«, schlug Josef Pippich vor und führte sie dorthin.
In diesem von Sonnenlicht durchfluteten Raum nahm Charlotte in einem der weißen Rattansessel Platz und schlug die Beine übereinander.
Aufmerksam schaute sie den alten Mann an, der sich ihr gegenüber in einen Sessel sinken ließ.
»Mich wundert, dass Sie noch hier sind. Wollten Sie nicht zu Ihrer Freundin ziehen?«
»Dort war ich. Es hat aber nicht so gut geklappt, wie ich mir das vorgestellt habe. – Was nicht am Sex lag.«
»Möchten Sie mir erzählen, woran es gescheitert ist?«
»In den ersten Tagen war alles sehr harmonisch zwischen uns. Aber dann hat Gerlinde ihren gewohnten Rhythmus wieder aufgenommen. Wahrscheinlich hat sie sich mit mir gelangweilt. Sie sagte, sie könne meinetwegen nicht ihr ganzes Leben umkrempeln.«
»Was genau bedeutete das?«
Leise seufzend strich er sich mit der Hand über den fast kahlen Schädel.
»Montags Gymnastik, dienstags Bridge, mittwochs Frauenkulturverein, donnerstags Kirchenkreis, freitags Bingo … Sie war jeden Nachmittag unterwegs.«
»Sind Sie nicht auf die Idee gekommen, sie zu begleiten?«
»Das waren fast alles so Frauendinger. Außerdem beansprucht Gerlinde diesen Freiraum für sich, um sich nicht eingeengt zu fühlen.«
»Tja …«
»Nach einigen Diskussionen blieb mir nur der Auszug. Ich bin sehr froh, dass Sie mir geraten haben, mein Apartment im Eichengrund nicht vorschnell aufzugeben. Wo hätte ich sonst hinsollen? Hier habe ich wenigstens so ziemlich alles, was nötig ist.«
»Bis auf ein bisschen menschliche Wärme, die jeder von uns braucht.«
Ein wehmütiges Lächeln breitete sich auf dem faltigen Gesicht aus.
»Ich wusste, Sie verstehen mich. Zwar sind hier in der Residenz immer Leute um mich herum, aber niemand, der mir nahesteht, mit dem ich so offen reden kann wie mit Ihnen. Von meiner Familie ist keiner mehr übrig. Einsamkeit ist in meinem Alter schwer zu ertragen.«
Obwohl sie in der glücklichen Lage war, eine wundervolle Familie und enge Freunde zu haben, konnte sie nachempfinden, was ihn quälte. Ihr war es nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes vor fast vier Jahren ähnlich ergangen. Nie zuvor hatte sie sich so einsam und verlassen gefühlt, aber ihre Nächsten hatten sie aufgefangen. Das hatte ihr sehr geholfen. Damals musste sie lernen, den Verlust zu akzeptieren, und versuchen, ihrem Leben positive Seiten abzugewinnen. Sie war dankbar dafür, dass ihr das mit der Zeit gelungen war.
»Wahrscheinlich erwarten Sie nun ein Patentrezept von mir, was Sie tun könnten, um der Einsamkeit zu entfliehen.«
»Das wäre schön.« In seine Augen trat ein schelmisches Funkeln. »Aus uns beiden kann ja nun leider nichts mehr werden, weil der Professor Sie mir weggeschnappt hat. Oder läuft es zwischen Ihnen nicht gut? Dann könnten wir …«
»Herr Pippich!«, unterbrach sie ihn amüsiert. »Selbst, wenn ich nicht vergeben wäre, sind Sie mir viel zu temperamentvoll.« Sie dachte kurz nach. »Warum schauen Sie sich nicht in der Residenz nach einer geeigneten Partnerin um? Wie ich hörte, sind die Bewohnerinnen immer noch in der Überzahl. Glauben Sie nicht, es könnte eine darunter sein, die auf einen so netten Mann wartet? Die sich wie Sie nach Nähe und Geborgenheit sehnt?«
»Meinen Sie wirklich?«
»Sie müssen sich nur trauen. Setzen Sie sich hier im Wintergarten oder im Restaurant einfach mal zu den Damen. Wenn Sie nicht gleich Ihre fantastische Libido preisen, sondern es bei unbefangenen Gesprächen belassen, wecken Sie bestimmt Interesse.«
»Das klingt gut.« Er war sichtlich beeindruckt. »Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?«
Charlotte zuckte die Schultern, erhob sich und streckte ihm die Hand entgegen.
»Frau Grothe wartet auf mich.«
Flugs war er auf den Beinen, ergriff ihre Hand und beugte sich formvollendet darüber.
»Danke, Frau Stern.«
»Viel Glück!«
Sie verließ den Wintergarten und durchquerte kurz darauf das Foyer. Einige Senioren saßen dort plaudernd beisammen. Sie kannten Charlotte und nickten ihr freundlich zu. Am Empfang vorbei wandte sie sich zur breiten Treppe und stieg in die erste Etage hinauf. Hier lagen die beiden Gästewohnungen. Die Tür zum Apartment neben dem Fahrstuhl stand weit offen. Mit gemischten Gefühlen verharrte Charlotte auf der Schwelle. Diese Unterkunft hatte sie vor einem knappen Jahr zum Probewohnen bezogen, um herauszufinden, ob zwei Senioren tatsächlich durch Unfälle zu Tode kamen. Die damaligen Ermittlungen wären ihr fast zum Verhängnis geworden.
»Komm rein«, rief Anneliese ihr von drinnen zu. »Du hast hier drei Wochen gewohnt. Fällt dir irgendwas ein, was dir in dieser Zeit gefehlt hat?«
Nach kurzem Nachdenken schüttelte Charlotte den Kopf.
»Nein. – Allenfalls eine große Vase, nachdem Onno mir die Fliederzweige gebracht hat. Der Eimer unter der Spüle hat es aber auch getan.«
»Dann lassen wir erst mal alles so, wie es ist. Am Tag der Anreise stellen wir noch eine Obstschale und ein paar Blumen auf den Tisch.«
»Weißt du, wie lange Sievers deine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen will?«
»Noch nicht. Aber ich habe mit seinem Verlag abgesprochen, dass ich ihm das Gästeapartment für die gesamte Festivaldauer reserviere. Sollte der Mörder noch mal zuschlagen, hoffentlich nicht hier.«
Im Besprechungsraum des Polizeipräsidiums versammelten sich nach und nach alle, die an den Ermittlungen beteiligt waren. Außer Hauptkommissar Hannes Bremer und seinen beiden engsten Mitarbeitern Pia Wagner und Martin Drews, zählten vorläufig zehn weitere Kollegen zum Team der SOKO Plagiator. Dieser Name stammte von Frau Dr. Benita Pauli, der zuständigen Oberstaatsanwältin für Kapitaldelikte. Sie erschien kurz nach Rechtsmediziner Horst Fleischmann und setzte sich neben ihn. Im Hinblick auf die Befürchtung, dass es weitere Morde geben könnte, hatte sie persönlich das Ermittlungsverfahren eingeleitet, anstatt das einem ihrer Staatsanwälte zu überlassen. Dadurch würde sie über neue Erkenntnisse stets sofort informiert und könnte unverzüglich handeln. Außerdem sollte dieser Fall möglichst vor Beginn des Krimifestivals abgeschlossen sein. Die Berichterstattung in den Medien würde sonst womöglich darauf abzielen, die Sicherheit der vielen zu erwartenden Gäste in Hannover anzuzweifeln. Negative Presse für die Stadt sollte unbedingt vermieden werden.
Durch einen Blick verständigte sich Pauli mit dem Hauptkommissar.
»Lassen Sie uns anfangen, Herr Bremer. Was haben wir?«
Hannes erhob sich und trat an die Stellwand, an der zahlreiche Aufnahmen hingen.
»Fassen wir noch mal zusammen: Vorgestern hat eine Hotelangestellte den Toten morgens in seinem Zimmer entdeckt.« Er zeigte auf ein Porträtfoto. »Das Opfer heißt Erpo Tennstedt, 59 Jahre alt, Autor aus Hildesheim. Die Auffindesituation der Leiche ist uns allen bekannt.« Erwartungsvoll schaute er den Rechtsmediziner an, der den endgültigen Obduktionsbericht mitbringen wollte. »Was haben deine Untersuchungen ergeben?«
Horst Fleischmann schlug den vor ihm liegenden Aktendeckel auf.
»Todesursächlich war die Durchtrennung von Halsschlagader und Halsvene bei einer Stichlänge von etwa acht Zentimetern. Dabei wurde die Kehlkopfregion verletzt. Die Folge des Schnittes war ein massiver Blutverlust nach außen und innen. Innerhalb weniger Sekunden wurde das Gehirn nicht mehr durchblutet, was zu Bewusstlosigkeit führte. Nach allenfalls drei Minuten ist der Mann gleichzeitig verblutet und erstickt. Durch die Verletzung in den Rachenraum hinein hat er Blut eingeatmet, das in der Lunge nachgewiesen wurde.«
»Was ist mit dem Schachbrett auf dem Rücken des Toten? Gibt es dazu neue Erkenntnisse?«
»Es wurden definitiv eine Schablone und ein Farbspray benutzt, das laut Kriminaltechnik in jedem Baumarkt erhältlich ist.«
»Okay, danke.« Der Hauptkommissar hatte nichts anderes erwartet. »Aus dem vorläufigen Bericht der Kriminaltechnik geht hervor, dass es die komplexe Spurenlage in einem Hotelzimmer fast unmöglich macht, gesichertes Material einem Täter zuzuordnen. Außerdem müssen wir davon ausgehen, dass er Handschuhe trug. Trotzdem werden sämtliche Abdrücke und DNA-Spuren mit allem verglichen, was wir in unserem System gespeichert haben. Das dauert. An dieser Stelle kommen wir also vorläufig nicht weiter.« Sein Blick schweifte über die Anwesenden. »Wie sich herausgestellt hat, war Tennstedt tatsächlich wegen des Krimifestivals in der Stadt. Der zuständige Organisator hier in Hannover heißt Holger Beski. Der Mann ist nicht nur Buchhändler, sondern betreibt nebenbei ein Kulturbüro. Er hat sich gestern bei uns gemeldet, nachdem in der Presse stand, was passiert ist. In zwei Stunden kommt er ins Präsidium, um uns nähere Auskünfte zu geben.«
Die Oberstaatsanwältin schaute von ihren Notizen auf.
»Was ist mit dem Handy des Opfers? Wurde es mittlerweile gefunden?«
»Leider nicht. Inzwischen haben wir die Verbindungsdaten beim Provider angefordert.«
»Wie sieht es mit dem sichergestellten Laptop aus?«
»Unsere IT-Leute konnten das Passwort bislang nicht knacken, sind aber dran.«
»Wie wollen Sie weiter vorgehen?«
»Zunächst werden wir versuchen, ein lückenloses Bewegungsprofil von Tennstedt zu erstellen – seit seiner Ankunft in Hannover bis zu seinem Tod. Wo war er, mit wem hat er sich getroffen?« Er wandte sich an seinen Kollegen: »Martin, kümmere dich bitte darum, dass die Bevölkerung auf unseren Seiten in den sozialen Netzwerken zur Mithilfe aufgerufen wird. Wenn wir Glück haben, wurde der Autor von einigen Leuten auf seinem Weg durch die Stadt erkannt oder sogar angesprochen.«
»Hoffentlich bringt das mehr als die Befragung des Hotelpersonals und die Auswertung der Kameraaufzeichnungen.« Martin wirkte nicht sehr optimistisch. »Der Täter muss auf jeden Fall Ortskenntnisse haben. Sonst wäre er nicht wie ein Phantom ungesehen rein und raus gelangt. Der wusste, wo die Kameras hängen und wie er ihnen und dem Personal aus dem Weg gehen kann.«
»Was ist mit dieser Botschaft, die am Tatort gefunden wurde?« Benita Pauli blätterte in ihren Unterlagen. »Tod dem König. – Gibt es dazu etwas Brauchbares?«
»Zuerst dachten wir, es könnte sich um eine Notiz für seinen nächsten Roman handeln. Inzwischen wissen wir, dass diese Worte in Schachmatt vorkommen. Um ganz sicher zu sein, warten wir noch auf eine Schriftprobe des Opfers, gehen aber davon aus, dass die Nachricht vom Täter stammt. Was er uns damit sagen will …« Ratlos zuckte er die Schultern.
»Das hat vielleicht was mit dem Mordmotiv zu tun«, schlug Pia vor. »Aber solange wir nichts über den Täter wissen, können wir nur spekulieren.«
»Auf jeden Fall ist der Autor auf die gleiche Weise zu Tode gekommen wie einige seiner Romanfiguren«, übernahm Hannes. »Wir haben die Stellen in seinem Thriller nachgelesen.«
»Sie haben mir immer noch nicht verraten, wie Sie darauf gekommen sind, dass die Tat mit den Morden im Roman übereinstimmt.«
Die Frage der Oberstaatsanwältin veranlasste ihn, noch einmal die Schultern zu heben.
»Das hat sich zufällig beim Stammtisch ergeben.«
»Ach …« Verstehend lächelte sie. Ihr waren sämtliche Stammtischmitglieder bekannt. Sie wusste zu schätzen, wie oft Charlotte Stern durch ihre Intuition zu Ermittlungserfolgen beigetragen hatte. Anscheinend war der Hinweis ihr zu verdanken.
Holger Beski war ein drahtiger Mann mit wachen braunen Augen. Hannes erinnerte sich, mehrmals ein Foto von ihm in der Zeitung gesehen zu haben, und bot ihm Platz an. Er selbst setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
»Danke, dass Sie gekommen sind.«
»Das ist selbstverständlich. Es fällt mir immer noch schwer zu glauben, dass Herr Tennstedt ermordet wurde.«
»Kannten Sie ihn schon länger?«
»Seit einer Lesung in unserer Buchhandlung vor etwa zwei Jahren.«
»Was für ein Mensch war er?«
Entspannt lehnte sich der Mann zurück.
»Autoren sind ein besonderes Völkchen. Die einen sind bescheiden und zurückhaltend. Andere wiederum sind regelrechte Diven.«
»Zu welcher Sorte zählte Tennstedt?«
Einen Moment lang zögerte Beski.
»Man soll ja nicht negativ über Tote sprechen, aber dieser Mann war ein arrogantes A… – furchtbar arrogant. Er hielt sich für den besten Thrillerautor aller Zeiten.«
»Sie scheinen ihn nicht besonders gemocht zu haben.«
»Überhebliche Menschen, die von ihrem hohen Ross auf andere herabsehen, sind nicht mein Fall.«
»Trotzdem haben Sie für das Krimifestival mit ihm zusammengearbeitet?«
»Davon kann bislang keine Rede sein. Er hatte sich zwar dem Organisationsteam angeschlossen, aber außer ein paar kritischen Bemerkungen keine brauchbaren Vorschläge geliefert.«
Nachdenklich nickte Hannes.
»Sehr beliebt war er offenbar nicht. Glauben Sie, dass er Feinde hatte?«
Beski hob die Schultern.
»Möglich …«
»Fällt Ihnen jemand ein, mit dem er Streit hatte? Ein Autorenkollege, Ärger im Verlag …?«
Bedauernd schüttelte der Buchhändler den Kopf.
»Davon weiß ich nichts.«
»Was ist mit seiner Familie? Von seinem Verlag haben wir die Auskunft bekommen, dass Herr Tennstedt nicht verheiratet war. Wissen Sie etwas über eine Freundin oder Lebensgefährtin?«
»Darüber ist mir nichts bekannt. Er hat sein Privatleben stets vor der Öffentlichkeit abgeschottet.«
Etwas Ähnliches hatte sein Lektor gesagt. Die Autorenvita gab in dieser Hinsicht ebenfalls nichts her.
»Wann haben Sie Tennstedt zuletzt gesehen?«
»Am Abend vor seinem Tod haben wir uns zum Essen getroffen.«
»Wo genau?«
»Beim Italiener in der Marienstraße. Später habe ich ihn vor seinem Hotel abgesetzt.«
»Ist Ihnen dabei etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Nein.«
Sie sprachen noch über eventuelle Auswirkungen auf das geplante Krimifestival. Dabei wurde deutlich, dass es äußerst schwierig werden würde, diesen von langer Hand vorbereiteten Event zu verschieben, falls es weitere Todesfälle geben sollte. Vom Vorstand des Vereins, der diese Veranstaltung jährlich ausrichtete, hatte er klare Anweisungen.
Schließlich wurde Hannes klar, dass er von Beski nichts erfahren würde, was für die Ermittlungen relevant sein könnte. Er nahm eine Visitenkarte aus einer kleinen Ablage und reichte sie über den Schreibtisch.
»Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an.«
Etwas enttäuscht begleitete er den Buchhändler hinaus. Im Flur wurde der Mann von einem Beamten in Empfang genommen, der ihn zum Ausgang brachte.
Unterdessen betrat der Hauptkommissar das Dienstzimmer seiner beiden Teamkollegen.
»Und?«, fragte Pia gespannt. »Was hat er gesagt?«
»Nichts, was uns helfen würde. Tennstedt war angeblich ein arroganter Zeitgenosse. Dadurch könnte er einigen Leuten auf die Füße getreten sein. Mehr wusste Beski nicht.« Fragend schaute er seine Kollegin an. »Hast du Lust auf eine Spritztour?«
Sofort stand Pia auf.
»Wohin fahren wir?«
»Nach Hildesheim. Frau Dr. Pauli hat den Durchsuchungsbeschluss mitgebracht. Ich will mir ansehen, wie Tennstedt gelebt hat. Vielleicht bringt uns das weiter.«
Er ging nach nebenan, nahm seine Waffe aus der Schreibtischschublade und steckte die Heckler & Koch ins Holster an seinem Gürtel. Aus der Kunststoffbox mit den Asservaten fischte er eine Tüte. Darin steckte ein Schlüsselbund mit einem silbernen Anhänger in Form eines Revolvers.
Minuten später waren sie im Dienstwagen der Oberkommissarin in der Stadt unterwegs. Über die B3 erreichten sie bald die A7. An der Ausfahrt Hildesheim-Drispenstedt verließ Pia die Autobahn und folgte den Anweisungen des Navigationsgerätes in südliche Richtung. In einer offensichtlich feudalen Wohngegend ließ sie den Wagen am Straßenrand neben einem schmalen Grünstreifen mit altem Baumbestand ausrollen.
Das Grundstück des Autors war von einer etwa zwei Meter hohen weißen Backsteinmauer umgeben, die das Gelände gegen neugierige Blicke abschirmte. Ein breites Tor sowie eine Eingangspforte waren in die Umzäunung integriert.
Um etwaige Hausbewohner durch ihr Eindringen nicht zu erschrecken, drückte Pia auf den Klingelknopf unterhalb der Gegensprechanlage.
Die Kommissarin läutete zweimal, ohne dass sich etwas tat. Daraufhin schloss Hannes die Pforte auf. Über das gepflegte Grundstück erreichten sie die Haustür. Einer der Schlüssel passte hier ebenfalls. Sie betraten das Gebäude und durchquerten die Diele, die in einen großen Wohnraum mündete. Die Unordnung war nicht zu übersehen. Überall lag etwas herum: auf dem Tisch, den beiden Sofas, auf einigen Stufen der Treppe, die ins obere Stockwerk führte. Ein offener Koffer voller Kleidungsstücke befand sich mitten auf dem Parkettfußboden. Pia entdeckte die spaltbreit geöffnete Terrassentür und machte ihren Chef durch ein Zeichen darauf aufmerksam. Im nächsten Moment vernahmen sie ein Geräusch von oben. Automatisch glitten ihre Hände zum Holster, zogen die Pistolen hervor. Die Kommissare verständigten sich durch einen Blick und schlichen zur Treppe. Mit den Waffen im Anschlag stiegen sie hintereinander lautlos Stufe für Stufe hinauf. Abermals war ein Rascheln zu hören, dem ein leiser Fluch folgte.
Pia erreichte den Treppenabsatz als Erste. Sie riskierte einen Blick durch das Holzgeländer auf die nächste Wohnebene, sah aber nur noch einen Schatten durch die Tür auf der gegenüberliegenden Seite verschwinden. Der sichtbare geflieste Wandstreifen dahinter ließ auf ein Badezimmer schließen.
»Polizei! Bleiben Sie stehen!«
Charlotte machte es sich mit ihrem Smartphone auf dem Sofa bequem und startete einen WhatsApp-Videoanruf. Nach wenigen Augenblicken meldete sich ihr elfjähriger Pflegesohn, der das Internat Rabeneck besuchte. Der Junge strahlte übers ganze Gesicht.
»Hallo, Charly. Ich wusste, dass du noch anrufst.«
»Kannst du neuerdings hellsehen?«
»Ne, aber du bist immer noch eine Glucke.«
Sie unterdrückte ein Lächeln.
»Findest du das schlimm?«
Seine Miene wurde ernst, während er den Kopf schüttelte.
»Du machst das ja, weil ich dir nicht egal bin.«
»Genau – freust du dich auf das Wochenende?«
»Ja, aber es ist das erste Mal, dass ich am Heimfahrtwochenende nicht bei euch bin. Das ist irgendwie komisch. Ihr seid doch meine Familie.«
»Trotzdem muss man nicht alles zusammen tun, sondern sich Freiräume zugestehen.«
»So wie du, wenn du ins Fitnessstudio oder laufen gehst?«
»Das ist ein gutes Beispiel. Ich brauche mehr Bewegung als die anderen. Deshalb ist es für sie okay, wenn ich mich zum Sport ausklinke. Genauso ist es in Ordnung, wenn du etwas mit Luca unternimmst. Wir freuen uns darüber, dass du im Internat einen Freund gefunden hast. Das werden bestimmt schöne Tage für dich. Gestern habe ich noch mal mit Lucas Vater telefoniert. Er hat ein tolles Programm für euch zusammengestellt.«
»Cool! Ich mache Fotos und schicke sie dir.«