Rabeneck - Claudia Rimkus - E-Book

Rabeneck E-Book

Claudia Rimkus

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Beschreibung

Nach lebensgefährlichen Ermittlungen ist Charlotte Stern, ehemalige Leiterin des Kriminalarchivs, probeweise in die Senioren-WG ihrer Freunde eingezogen. Kriminalfällen will sie künftig weiträumig aus dem Weg gehen. Dennoch lässt sie sich von Hauptkommissar Hannes Bremer zu einem Undercover-Einsatz im Internat Rabeneck überreden, in dem eine Lehrerin ermordet und ein Kind entführt wurden. Während Charlotte dort Informationen sammelt, wird sie Zeugin einer weiteren Entführung und dadurch selbst zur Zielscheibe der Verbrecher...

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Seitenzahl: 429

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Claudia Rimkus

Rabeneck

Kriminalroman

Zum Buch

Tödliche Gefahr Nach lebensgefährlichen Ermittlungen ist Charlotte Stern, ehemalige Leiterin des Kriminalarchivs, probeweise in die Senioren-WG ihrer Freunde eingezogen. Kriminalfällen will sie künftig aus dem Weg gehen. In der Zeitung liest sie vom Internat Rabeneck, in dem eine Lehrerin ermordet und ein Kind verschleppt wurden. Die Polizei steckt mit ihren Ermittlungen in einer Sackgasse. Hauptkommissar Bremer überredet Charlotte zu einem Undercover-Einsatz im Internat. Unter ihrem Mädchennamen soll sie nicht nur einen Fitnesskurs und eine Foto-AG leiten, sondern vor allem Informationen sammeln. Schnell freundet sie sich mit dem Kollegium und der Chefsekretärin Ingrid Brandt an. Nur mit dem Hausmeister wird sie nicht warm. Als nach wenigen Tagen ein Mädchen aus Charlottes Kurs vermisst wird, startet sofort eine groß angelegte Suchaktion. Man geht davon aus, dass die gleichen Entführer dahinterstecken – nur Charlotte zweifelt daran …

Claudia Rimkus wurde 1956 in Hannover geboren, wo sie noch heute lebt und in der Schulverwaltung arbeitet. Die Autorin ist mit ihrer Heimatstadt eng verbunden. Deshalb ist die Leinemetropole oft Schauplatz ihrer Geschichten. Diese sind trotz aller Dramatik immer mit Humor gewürzt. Ihre ersten Erzählungen wurden erfolgreich als Fortsetzungsromane in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und den angeschlossenen Lokalzeitungen veröffentlicht. Danach folgten mehrere Kurzgeschichten und Romane. Wenn sie nicht schreibt, ist sie gern mit der Kamera unterwegs. Ihre Fotos haben schon mehrere Preise gewonnen. Auch das genaue Beobachten ihrer Umwelt inspiriert sie zu ihren Geschichten.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Eichengrund (2018)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © blende11.photo / stock.adobe.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6298-6

Widmung

Für Lena und alle, die den Mut aufbringen, der Welt zu zeigen, dass sie anders sind.

Prolog

 

Nach einer kurzen Nacht war Hauptkommissar Hannes Bremer von seiner Wohnung im Hannoverschen Stadtteil Döhren auf der Hildesheimer unterwegs zum Präsidium, als ihn der Anruf seines jungen Kollegen erreichte.

»Wir haben einen Leichenfund an der Marktkirche.«

»Ist das Team unterrichtet?«

»Horst und die Spusi sind eben eingetroffen.«

»Okay, ich bin gleich da.«

Hannes beendete das Gespräch über die Lenkradtaste. Kurz vor Erreichen des Aegis setzte er den Blinker und ordnete sich auf der Linksabbiegerspur ein. Auf dem Friedrichswall ließ er das Neue Rathaus links liegen und stoppte an der nächsten roten Ampel. Sein Blick schweifte zur Bushaltestelle mit dem futuristischen grünen Schiff, das ein Vogelhäuschen an der Spitze zierte. Zeit, über das Kunstwerk nachzudenken, blieb ihm nicht, da die Ampel die Fahrt freigab und der Wagen vor ihm anfuhr. Bald erreichte er die Marktstraße und bog dann in die Schmiedestraße ein. Von dort aus konnte er die in Backsteingotik erbaute älteste Pfarrkirche der Stadt schon sehen. Der Hauptkommissar fuhr bis an das rot-weiße Plastikband, das den Hanns-Lilje-Platz großräumig rund um das Gotteshaus abriegelte. Nach dem Aussteigen verschaffte er sich einen raschen Überblick. Bislang standen nur vereinzelte Schaulustige herum. Am Portal der Kirche entdeckte er die massige Figur des Rechtsmediziners. Dort befand sich offenbar der Fundort der Leiche.

Hannes setzte sich in Bewegung, worauf eine junge Beamtin dienstbeflissen das Absperrband anhob, so dass der fast zwei Meter große Mann darunter hindurchtauchen konnte. Er nickte ihr knapp zu und überquerte mit langen Schritten das Pflaster. Dabei warf er einen Blick hinauf zum fast 100 Meter hohen Kirchturm. Die Uhr zeigte die siebte Morgenstunde an.

»Morgens um sieben sollte die Welt noch in Ordnung sein«, murmelte er und blieb bei Kommissar Martin Drews stehen.

»Männliche Leiche«, teilte der seinem Chef mit. »Fundort ist auch Tatort. Der Tote hat keine Papiere bei sich. Ein Türsteher aus einem Szene-Laden am Steintor hat ihn auf dem Heimweg gefunden. Ich habe seine Personalien aufgenommen und ihn erstmal zum Schlafen nach Hause geschickt. Er war hundemüde, kommt aber heute Mittag ins Präsidium, um seine Aussage aufnehmen zu lassen.«

Verstehend nickte Hannes. Er sehnte sich nach dem Kaffee, den seine jüngere Teamkollegin an so einem Morgen gewöhnlich für ihn bereithielt.

»Ist Pia noch nicht da?«

»Sie hat doch heute frei. Soll ich sie anrufen?«

»Ne, lass mal.«

Er wartete, bis Horst Fleischmann die erste Leichenschau durchgeführt hatte. Als sich der korpulente Rechtsmediziner herumdrehte und mit seinem Aluminiumkoffer die fünf Stufen vom Portal herunterstapfte, sprach Hannes ihn an.

»Moin, Horst. Was kannst du uns sagen?«

»Ein Messerstich ins Herz.« Er stellte den Koffer ab, zog ein Taschentuch unter dem Overall hervor und tupfte damit die Schweißperlen von seiner Stirn. Mit dem behandschuhten Daumen deutete er über seine Schulter. »Hoher Blutverlust. Ist eine ziemliche Schweinerei vor der Kirchentür.«

»Wie lange ist er schon tot?«

»Schwer zu sagen. Grob geschätzt: sechs bis acht Stunden.«

»Tatwaffe?«

»Wurde noch nicht gefunden.«

»Wann kann ich mit deinem Bericht rechnen?«

»Wenn er fertig ist«, brummte Horst, der es hasste, noch vor dem Frühstück mit dem Tod konfrontiert zu werden. Für einen Mann, der morgens nicht sehr gesprächig war, hatte er genug gesagt. Er streifte die dünnen Handschuhe ab und griff nach seinem Koffer. Grußlos verließ er den Platz. Auch für Hannes und Martin gab es nicht mehr viel zu tun. Sie überließen das Terrain rund um die bedeutendste Kirche der Stadt den Leuten von der Spurensicherung.

Am frühen Abend lag das Obduktionsergebnis vor. Der Rechtsmediziner erschien persönlich bei Hannes im Büro und übergab ihm den mit mehreren Seiten gefüllten Aktendeckel.

»Das lese ich später. Kannst du uns eine kurze Zusammenfassung geben?«

Durch die große Glasscheibe, die sein Arbeitszimmer von dem der Teamkollegen trennte, gab er Martin ein Zeichen, herüberzukommen.

Unterdessen ließ sich Horst schwer auf den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen.

»Das Opfer wurde mit einem einzigen Stich erdolcht«, erklärte der Arzt, als Martin sich neben ihn setzte. »Vermutlich handelte es sich um einen Überraschungsangriff, da es keine Abwehrverletzungen gibt. Der Stich löste eine Herzbeuteltamponade aus, die in kürzester Zeit zum Tode führte.«

»Todeszeitpunkt?«

»Zwischen Mitternacht und ein Uhr.« Sein Blick wechselte von Hannes zu Martin. »Habt ihr das Opfer schon identifiziert?«

»Bislang nicht. Der Abgleich der Fingerabdrücke hat keine Übereinstimmung ergeben.«

»Vermisstenmeldungen, die auf ihn passen könnten, liegen auch nicht vor«, fügte sein Chef hinzu. »Jetzt werden wir einen Zeugenaufruf starten. Hoffentlich bringt uns das weiter.«

Kapitel 1

 

Unrasiert und mit leerem Magen jagte Hauptkommissar Bremer seinen Wagen frühmorgens um halb sechs über den Südschnellweg. Ein Anruf hatte ihn wieder einmal so zeitig aus dem Bett geholt. Lustlos folgte er bald der Bundesstraße in Richtung Westen. Sein Ziel, das Internat Rabeneck, lag in der Region Hannover auf einer Anhöhe und war schon von Weitem zu sehen. Es war auf dem Gelände einer alten Burg errichtet, deren gut erhaltene Gebäude nach der Sanierung von der Schule mitgenutzt wurden. Das alte Tor und die trutzigen mittelalterlichen Sandsteinbauten strahlten eine historische Atmosphäre aus, die jeden Besucher beeindruckte.

Die Tote lag hinter einem Sichtschutz bäuchlings auf dem Kopfsteinpflaster im Atrium des Internats. Hinter der weiträumigen Absperrung sah Hannes betroffene Gesichter der Schüler und Lehrer. Die in weiße Overalls gekleideten Beamten der Spurensicherung fotografierten den Fundort aus verschiedenen Blickwinkeln und stellten kleine Schilder mit Nummern auf. Neben der Toten kniete der schwergewichtige Rechtsmediziner und führte die erste Leichenschau durch. Als er sich schließlich ächzend erhob und zu seinem Wagen marschierte, trat Hannes zu ihm.

»Moin, Horst. – Was haben wir?«

»Weibliche Leiche …« Er rang nach Luft wie ein gestrandeter Wal. »Anfang bis Mitte 30, Gewalteinwirkung gegen den Hinterkopf, vermutlich Schädelbruch.«

»Todeszeitpunkt?«

Mit einem Taschentuch wischte sich der Mediziner über die Stirn.

»Ungefähr vor acht bis zehn Stunden. Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich sie auf dem Tisch habe.« Er deutete zum alten Burgturm hinüber, über dem ein Schwarm Raben mit lautem Geschrei kreiste. »Nur gut, dass die Viecher noch nicht an der Leiche waren. Das hätte mir die Arbeit erschwert.«

Hannes warf nur einen flüchtigen Blick hinauf zum grauen Morgenhimmel.

»Melde dich, wenn dein Bericht fertig ist.«

»Wie immer.«

Bedächtig stellte der Rechtsmediziner seinen Koffer ab und entledigte sich seiner Schutzkleidung.

Unterdessen sah Hannes, dass Kommissar Martin Drews nach ihm Ausschau hielt. Anscheinend war der jüngere Kollege schon länger vor Ort. Hannes winkte ihm zu und ging ihm müde entgegen. Er brauchte dringend einen Kaffee.

»Du bist aber früh hier.«

»Ich hatte einen kürzeren Anfahrtsweg, weil ich bei meiner Freundin übernachtet habe.« Rasch blätterte Martin in seinem kleinen Notizblock. »Die Tote heißt Susanne Schaller, 32. Sie gehörte zum Lehrerkollegium. Hat Biologie und Religion unterrichtet.«

»Wer hat sie gefunden?«

Mit dem Kopf deutete er zu einem Rettungswagen, an dem ein untersetzter Mann mit einer Wolldecke um die Schultern lehnte.

»Der Hausmeister. Sein Hund musste raus.«

»Okay. Ich will nachher mit ihm sprechen. – Was ist mit der Tatwaffe?«

Schulterzucken.

»Ist Pia schon da?«

»Sie befragt gerade …« Er unterbrach sich, als die Kollegin im Laufschritt um die Ecke des Torhauses bog und auf sie zuhastete. Sie war ein paar Jahre älter als Martin, aber so gut in Form, dass sie nicht außer Atem geriet.

»Wir haben ein Problem«, berichtete sie, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Eine Schülerin ist verschwunden.«

Irritiert schaute Hannes sie an.

»Wie – verschwunden?«

»Die Gruppenleiterin aus dem Haus, in dem sie wohnt, hat die Kinder im Aufenthaltsraum versammelt, um sie von unserem Einsatz fernzuhalten. Ein Mädchen fehlte. Leonie Fechner – zehn Jahre alt. Sie haben überall auf dem Gelände nach ihr gesucht, sie aber nicht gefunden.«

»Sch…«, murmelte Hannes. »Wir müssen sofort einen Suchtrupp zusammenstellen. Martin, fordere die Hundestaffel an. Möglicherweise hat die Kleine den Mörder gesehen und versteckt sich – oder er hat sie verschleppt, weil sie ihn beobachtet hat.«

Kapitel 2

 

Der Kollegenstammtisch traf sich wie gewohnt im vierwöchigen Rhythmus donnerstags in der Altstadtkneipe »Alibi«. Die Kommissare Hannes Bremer, Pia Wagner und Martin Drews kamen zuerst. Kurz danach gesellten sich der Rechtsmediziner Horst Fleischmann und Charlotte Stern dazu, die bis zu ihrer Pensionierung das Polizeiarchiv geleitet hatte. Die von Hannes bestellte Runde Bier stand schon auf dem Tisch.

»Du wirkst so entspannt«, sagte Pia, die Charlotte gegenübersaß. »Hast du den Professor inzwischen erhört?«

»Sei nicht so neugierig.«

»Berufskrankheit.« Gespannt beugte sie sich etwas vor. »Werdet ihr heiraten?«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Na ja, dann könntest du einen märchenhaften Doppelnamen tragen: Stern-Thaler. Das klingt doch super.«

»Mir genügt mein Name ohne Zusatz«, erwiderte Charlotte trocken. Dann schaute sie in die Runde. »Sonst noch Fragen?«

»Wie läuft es denn in der Wohngemeinschaft?«, fragte Horst prompt. Er empfand viel für Charlotte. Seit dem Tod ihres Mannes vor drei Jahren lebte sie allein. Er hatte sich damit abgefunden, dass sie in ihm nur den Freund sah. An der neuesten Entwicklung in ihrem Leben hatte er jedoch arg zu knabbern. »Gehen dir die Gruftis schon auf die Nerven?«

»Auch wenn sie mich als Nesthäkchen bezeichnen, sind die anderen nur ein paar Jahre älter als ich«, betonte sie. »Mir gefällt die Senioren-WG immer noch sehr gut. Deshalb werde ich dort bald endgültig einziehen.«

»Was wird dann aus deiner hübschen Eigentumswohnung?«

»Das habe ich noch nicht entschieden. Vielleicht vermiete ich sie.« Ihr Blick schweifte zu Hannes. »Wie sieht es denn bei euch aus? In den letzten Tagen stand gar nichts Neues in der Zeitung. Weder von dem Toten an der Marktkirche noch über die Vorkommnisse im Internat.«

»Den Mord in der City bearbeitet der Kollege Gerlach mit seinem Team.« Er trank einen Schluck und stellte das Glas sofort ab, als schmecke ihm das Bier nicht. »Wir haben die Soko Internat gebildet und kümmern uns nur noch um diesen Fall.«

»Habt ihr schon eine heiße Spur?«

Mit ernster Miene schüttelte der Hauptkommissar den Kopf.

»Wir sind keinen Schritt weiter. Es gibt nicht mal einen Verdächtigen.«

»Es liegt aber auf der Hand, dass der Tod der Lehrerin mit dem Verschwinden des Mädchens zusammenhängt.«

»Das glauben wir auch, aber selbst dafür gibt es keinen Beweis, solange das Mädchen wie vom Erdboden verschluckt ist.«

»Als ich in der HAZ über den Fall las, dachte ich zuerst, das Mädel wurde Zeugin am Mord der Lehrerin, und der Täter hat die Kleine deshalb aus dem Weg geräumt.«

»Denkst du das jetzt nicht mehr?«

»Nein. Er hätte sie an Ort und Stelle getötet und liegengelassen, anstatt sich die Mühe zu machen, sie zu verschleppen und die Leiche irgendwo zu verstecken.«

»Gut kombiniert, Charly.«

»Wahrscheinlich ist die Kleine trotzdem längst tot«, vermutete Martin. Ihm war anzusehen, dass ihm das zu schaffen machte. »Wir suchen schon seit vier Tagen nach ihr. Da sind die Chancen sehr gering, sie noch lebend zu finden. – Es gibt auch keine Lösegeldforderung.«

Verstehend nickte Charlotte.

»Und die Lehrerin war wahrscheinlich bei allen beliebt.«

»So ist es«, bestätigte Hannes. »Sie hatte noch nicht mal Punkte in Flensburg. Auch ihre Biografie gibt nichts her – kein eifersüchtiger Exfreund oder dergleichen.«

»Daraus könnte man schließen, dass der Täter es nur auf das Mädchen abgesehen hatte, und die Lehrerin dazwischenfunkte. Vielleicht hat sie die Entführung beobachtet, wollte dem Kind helfen und wurde dadurch zum Opfer.«

»Soweit waren wir auch schon.«

»Wenn er den Tod der Frau in Kauf genommen hat, müsste ihm sehr viel an der Entführung des Mädchens gelegen haben«, überlegte Charlotte weiter. »Leben die Eltern getrennt?«

»Nein, in der Familie ist alles in Ordnung.«

»Was bleibt dann noch? Menschenhandel? Oder ein Pädophiler?«

Niedergeschlagen zuckte Hannes die Schultern.

»Alles ist möglich, aber es gibt keinen Anhaltspunkt in irgendeine Richtung.«

»Wenn ich mir das Mädchen in der Gewalt eines Perversen vorstelle, wird mir ganz übel«, sagte sie erschauernd. »Das wäre die Hölle für die Kleine.«

Behutsam legte der Rechtsmediziner die Hand auf ihren Arm.

»Da fragt man sich, was für das Kind besser wäre – tot oder eine zerstörte kleine Seele, die ein Leben lang unter dem Missbrauch leidet.«

»Kinder verdrängen traumatische Erlebnisse meistens«, warf Pia ein. »Aber irgendwann kehrt die Erinnerung zurück. Mit einer entsprechenden Therapie könnte ihr dann hoffentlich geholfen werden.«

»Auf alle Fälle bräuchte sie ganz viel Liebe und Verständnis ihrer Familie«, meinte Charlotte. »Noch ist aber völlig unklar, was mit ihr passiert ist.« Fragend schaute sie Hannes an. »Was habt ihr vor?«

»Wir haben inzwischen auf unserer Facebook-Fahndungsseite ein Foto des Mädchens veröffentlicht, aber noch keine brauchbaren Hinweise erhalten. Jetzt hoffen wir, dass es uns weiterbringt, wenn nächste Woche über den Fall im Fernsehen vor einer breiteren Öffentlichkeit berichtet wird.«

»Wenn ich euch irgendwie helfen kann …«

»Keine Chance, Charly. Deine Ermittlungen in der Seniorenresidenz Eichengrund waren eine absolute Ausnahme.« Er machte sich immer noch Vorwürfe, dass er sie nicht daran gehindert hatte. »Du sollst deinen Ruhestand genießen.« Vielsagend zwinkerte er ihr zu. »Und meinetwegen den Professor heiraten.«

»Ich will aber nicht heiraten.«

»Eine wilde Ehe gefällt dir wohl besser.«

»Woher willst ausgerechnet du wissen, ob ich wild bin?«

»Intuition?«

»Die solltest du lieber bei deinen Ermittlungen einsetzen. Sonst muss ich euch doch wieder auf die Sprünge helfen.«

»Never.«

»Warten wir es ab«, meinte sie mit einem Lächeln und bestellte die nächste Runde.

Kapitel 3

 

Charlotte saß in der nächsten Woche am frühen Nachmittag auf der Terrasse unter der aufgespannten Markise und las die Tageszeitung. Neben ihr hatte es sich ihre Mitbewohnerin Anneliese Grothe mit ihrer Handarbeit bequem gemacht. Seit sie im Ruhestand war, strickte sie in fast jeder freien Minute, was ihr den Spitznamen Strick-Liesel eingebracht hatte.

»Gibt es was Neues über die vermissten Mädchen?«

Charlotte blickte auf und schüttelte den Kopf.

»Die kleine Alina ist genauso spurlos verschwunden wie ihre Mitschülerin. Seit Freitagnachmittag hat sie keiner mehr gesehen.«

»Was denkst du, steckt dahinter?«

»Ich tippe auf den gleichen Täter. Leonie ist Internatsschülerin. Sie wurde spätabends entführt, wobei die Lehrerin wohl Zeugin wurde und deshalb sterben musste. Alina besucht zwar auch die Internatsschule, wohnt aber in einem Dorf in der Nähe bei ihren Eltern. Sie ist nach der Schule auf dem Heimweg verschwunden. Wahrscheinlich war es dem Täter zu gefährlich, sich noch ein Opfer auf dem Internatsgelände zu suchen.«

»Die passen jetzt bestimmt doppelt so gut auf.«

»Davon kann man ausgehen.« Sie deutete auf die HAZ. »Hier steht, dass ein 17-köpfiges Ermittlerteam den Fall bearbeitet, aber noch keine heiße Spur hat. Einige Eltern haben ihre Mädchen schon aus dem Internat abgeholt – aus Angst, dass der Täter erneut zuschlägt.«

»Verständlich«, meinte Anneliese und nahm ein neues Knäuel Wolle aus ihrem Korb. Dabei fiel ihr Blick in den Garten. »Schau mal – ein Eichhörnchen.«

Das putzige kleine Tier saß mitten auf dem Rasen.

»Schade, dass ich meine Kamera nicht mit runtergebracht habe«, sagte Charlotte bedauernd.

»Warum hattest du die eigentlich im Eichengrund nicht dabei?«

»Weil ich so unauffällig wie möglich bleiben wollte. Mit der Kamera um den Hals hätte ich nur unnötig Aufsehen erregt.«

»Dafür hast du, seit du hier wohnst, schon alles geknipst, was im Garten kreucht und fleucht.«

»Das ist eben mein Hobby.«

»Und viel harmloser als deine Mörderjagd«, meinte Anneliese, die ihre gefährlichen Ermittlungen in der Seniorenresidenz Eichengrund erst kürzlich hautnah miterlebt hatte. Bei dieser Gelegenheit hatten sie sich angefreundet. »Geh doch mal mit Philipp auf Fototour. Er hat vor ein paar Tagen erzählt, dass er auch gern mit der Kamera unterwegs ist.« Sie warf Charlotte einen bedeutungsvollen Seitenblick zu. »Vielleicht hilft das ja.«

»Wobei?«

»Du weißt genau, was ich meine.« Sie wandte sich halb um, als Elisabeth Seegers – die dritte Dame im Bunde – ins Freie trat. In der Hand hielt sie ein weißes Smartphone.

»Charlotte, du hast dein Telefon in der Küche liegengelassen. Es hat schon zweimal geklingelt, aber ich steckte bis zum Hals im Kuchenteig.«

Amüsiert nahm sie das Gerät entgegen und legte es auf den Tisch.

»Danke, Elli. Ich muss nicht immer erreichbar sein.« Gespannt schaute sie die zierliche Mitbewohnerin an, die sie fast täglich mit ihren Backkünsten verwöhnte. »Was für einen Kuchen hast du denn heute im Ofen?«

»Eine Käsetorte – nach einem neuen Rezept.«

»Klingt gut. Einer von uns wird sich besonders darüber freuen.«

»Conrad«, sagte Anneliese, die seit Kurzem mit dem Meteorologen verbandelt war. »Wo steckt er eigentlich?«

»Er spielt mit Albert Schach – und Philipp ist mit der Recherche für sein Buch beschäftigt. Ich hatte die Küche ganz für mich allein.«

»Langsam habe ich den Verdacht, dass Elli uns mästen will«, sagte Charlotte, während die Melodie ihres Telefons erklang. »Entschuldigt.« Sie nahm es vom Tisch, stand auf und ging ein paar Schritte in den Garten. Auf dem Display las sie den Namen des Anrufers.

»Hallo, Hannes.«

»Endlich! Warum gehst du nicht ans Telefon? Ich habe schon ein paarmal versucht, dich zu erreichen.«

»Jetzt hast du es doch geschafft. – Was gibt es denn?«

»Ich muss dringend was mit dir besprechen. Kannst du ins Präsidium kommen?«

»Wann?«

»Möglichst sofort.«

»Warum?«

»Das erkläre ich dir, wenn du hier bist.«

»Du machst es aber spannend. Okay, in einer halben Stunde bin ich bei dir.«

»Danke, Charly.«

Nachdenklich schlenderte sie auf die Terrasse zurück. Dort saßen inzwischen die Schachspieler – der Wetterfrosch Conrad Lenz am Tisch, der General a.D. Albert Scheuermann in seinem Rollstuhl.

»Ich muss noch mal weg. Hannes erwartet mich im Präsidium.«

»Braucht er deinen Rat?«, fragte Conrad, worauf sie die Schultern zuckte.

»Keine Ahnung. – Ich muss mich umziehen.«

Seine Augen schweiften über ihre Gestalt, die an diesem warmen Septembertag in weißen Bermuda-Shorts und einem roten Shirt steckte.

»Bleib doch, wie du bist. Oder fürchtest du, dass deine Kollegen bei den hochsommerlichen Temperaturen sonst noch mehr ins Schwitzen geraten?«

Sie schnitt ihm eine Grimasse und verschwand im Haus.

Kaum hatte sie den Wagen vom Grundstück am südlichen Stadtrand von Hannover gelenkt, als die Musik aus dem Autoradio vom Verkehrsfunk unterbrochen wurde. Nach einem Unfall war der Messeschnellweg in Fahrtrichtung Norden gesperrt. Lange Wartezeiten müssten in Kauf genommen werden. Da das häufiger passierte, wählte Charlotte die Route durch die Stadt und traf mit wenigen Minuten Verspätung im Präsidium ein. Sie trat an den Tresen, hinter dem ein älterer Beamter Dienst tat.

»Hallo, Herr Welsch. Da bin ich wieder.«

»Schön, Sie zu sehen, Frau Stern. Hauptkommissar Bremer hat Sie bereits angekündigt.« Im nächsten Moment trat Hannes aus dem Lift. »Da ist er schon.«

Sie nickte dem Wachtmeister lächelnd zu und ging dem Kommissar entgegen.

»Danke, dass du so schnell gekommen bist«, begrüßte er sie, legte den Arm um ihre Schultern und führte sie zum Fahrstuhl zurück. In der vierten Etage wandte er sich nach rechts, was Charlotte wunderte.

»Gehen wir nicht in dein Arbeitszimmer?«

»In den Besprechungsraum«, erwiderte er knapp und öffnete gleich darauf die Tür. Angesichts der anwesenden Personen wuchs Charlottes Erstaunen. Nicht nur Pia und Martin saßen am Tisch, sondern auch die Staatsanwältin Frau Dr. Pauli, die sich bei Charlottes Eintreten erhob und ihr die Hand entgegenstreckte.

»Danke, dass Sie es einrichten konnten, Frau Stern.«

»Hannes hat meine Neugierde geweckt.« Sie gab auch Pia und Martin die Hand, bevor sie sich setzte und die Staatsanwältin anschaute. »Worum geht es?«

»Das erkläre ich Ihnen gleich. Darf ich Ihnen vorher ein paar Fragen stellen?«

»Schießen Sie los.«

»Stimmt es, dass Sie schon jahrelang zweimal in der Woche zum Fitnesstraining gehen?«

»Ja.«

»Ist es richtig, dass Sie dort mal einen Kurs geleitet haben?«

»Unsere Trainerin hat mich im letzten Sommer gebeten, sie zu vertreten, als sie krank war. – Und später noch mal während ihres Winterurlaubs.«

»Treiben Sie auch anderen Sport?«

»Laufen, Schwimmen, Fahrradfahren.«

»Auch Tennis?«

»Seit dem Tod meines Mannes nicht mehr.«

Der Blick der Staatsanwältin wechselte zu Hannes.

»Das könnte klappen.«

»Sag ich doch.«

»Charly schafft das«, fügte Martin überzeugt hinzu, und auch Pia nickte.

»Wir können keine Bessere für diesen Job finden.«

»Was wird das hier?«, fragte Charlotte mit leiser Ungeduld. »Ein Bewerbungsgespräch?«

Hannes, der bis dahin an der Fensterbank gelehnt hatte, setzte sich Charlotte gegenüber und schaute sie aus ernsten Augen an.

»Wir brauchen dich für einen Undercover-Einsatz.«

»Vergiss es.«

»Hör dir bitte erst an, worum es geht. Du hast sicher in der Zeitung gelesen, dass inzwischen ein zweites Mädchen verschwunden ist. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, die Kinder zu finden, aber es gibt nicht den kleinsten Hinweis. Die Leute im Internat sind leider keine Hilfe. Die leben relativ abgeschottet wie … wie auf einer Insel. Die sind es gewohnt, ihre Probleme selbst zu lösen. Da redet keiner schlecht über den anderen. Wahrscheinlich haben sie sich abgesprochen, der Polizei nur so viel Internes preiszugeben, wie unbedingt nötig ist. Außerdem fürchten sie wohl um ihren guten Ruf. Deshalb brauchen wir jemanden vor Ort, um Infos zu sammeln.«

»Und wie kommt ihr ausgerechnet auf mich? Du hast doch erst beim letzten Stammtisch gesagt, dass meine Ermittlungen im Eichengrund eine absolute Ausnahme waren.«

»Die du beinah mit deinem Leben bezahlt hättest«, vollendete er. »Ich habe mir deswegen große Vorwürfe gemacht. Du weißt, wie viel mir unsere Freundschaft bedeutet. Schon deshalb fällt es mir schwer, dich darum zu bitten, aber wir sind mit unserem Latein am Ende.«

»Warum nehmt ihr für diesen Einsatz keine junge Polizistin?«

»Davon abgesehen, dass wir chronisch unterbesetzt sind, brauchen wir jemanden mit Lebenserfahrung – und sicherem Instinkt.«

»Außerdem haben Sie Einfühlungsvermögen und eine besondere Ausstrahlung«, fügte die Staatsanwältin hinzu. »Die Menschen fassen schnell Vertrauen zu Ihnen, weil Sie echt sind.«

»Das ist ja alles sehr schmeichelhaft, aber ich bin zu alt für einen Job in einer Schule. In die Seniorenresidenz habe ich mit Mitte 60 reingepasst, aber …«

»Du siehst doch mindestens zehn Jahre jünger aus«, warf Pia ein. »Und du bist besser in Form als manche, die noch weniger auf dem Buckel hat.«

»Das funktioniert trotzdem nicht. Anneliese hatte bei meinem letzten Einsatz bereits nach ein paar Tagen rausgefunden, dass ich schon mal ermittelt habe. Das Internet ist eine gute Informationsquelle, die bestimmt auch Lehrer und Schüler eines Internats nutzen.«

»Deshalb bekommst du eine neue Identität und einen astreinen Lebenslauf.«

Erstaunt schaute sie Martin an.

»Ihr habt anscheinend an alles gedacht. Als was wollt ihr mich denn da einschleusen?«

»Ich kenne den Schulvorstandsvorsitzenden des Internats«, übernahm wieder die Staatsanwältin. »Herr Bodenstein ist der Bruder eines guten Freundes. Ihm liegt viel daran, dass der Fall so schnell wie möglich aufgeklärt wird. Zurzeit ist dort eine Stelle als Sportlehrerin vakant. Bis die besetzt ist, brauchen sie eine Vertretungslehrkraft – für etwa vier bis sechs Wochen. Die ausgeschiedene Lehrerin hat unter anderem den Fitnesskurs gegeben. Außerdem ist es dort üblich, auch eine AG zu übernehmen. Herr Bremer meinte, dass Sie bestimmt kein Problem damit hätten, einen Fotoworkshop anzubieten.«

»So, so …«

»Man muss sich doch nur deine tollen Fotos ansehen, die bei dir zu Hause an den Wänden hängen«, fügte Hannes hinzu. »Du bist eine talentierte Fotografin.«

Charlotte schwieg einen Moment, dann schaute sie in die Runde.

»Ihr habt viel Nettes über mich gesagt – und sicher übertrieben. Lob und Komplimente sind wahrscheinlich bei den meisten Menschen gute Türöffner, aber ihr bringt mich in einen ziemlichen Konflikt. Ich möchte nicht noch mal in eine lebensgefährliche Situation geraten. Meinen Kindern habe ich versprochen, dass ich mich nie wieder in Gefahr begebe. Andererseits würde ich alles tun, was ich kann, um die armen Mädchen zu finden.«

»Du musst dich nicht sofort entscheiden«, sagte Hannes rasch. »Überschlaf die ganze Sache und sag mir morgen Bescheid.«

»Sie sollen noch wissen, dass wir alles tun, um Sie im Ernstfall zu schützen«, sagte die Staatsanwältin. »Immerhin können wir nicht ausschließen, dass der Entführer im Umfeld des Internats zu finden ist. Aber darüber sprechen wir, wenn Sie sich entschieden haben.«

Bei Charlottes Rückkehr saßen ihre Mitbewohner bei Kaffee und Kuchen auf der Terrasse. Sie streifte die Sandaletten von den Füßen und setzte sich neben Conrad.

»Tut mir leid, dass ich zu spät bin.«

Anneliese griff zur Kaffeekanne und schenkte eine Tasse für sie ein. Unterdessen legte Elisabeth ein Stück Käsetorte auf Charlottes Teller.

»Was wollte die Polizei denn von dir?«

»Sie brauchen mich für einen Spezialeinsatz.«

»Im Internat Rabeneck?«, vermutete Anneliese, worauf Charlotte nickte. Philipp Thaler schüttelte jedoch den Kopf.

»Das kommt überhaupt nicht infrage.«

»Triffst du neuerdings meine Entscheidungen?«

»Hast du schon vergessen, wie gefährlich deine Ermittlungen beim letzten Mal waren?«, erregte er sich. »Die hätten dich beinah das Leben gekostet!«

»Daran erinnere ich mich nur zu gut. Eichengrund ist aber nicht mit Rabeneck vergleichbar. Hier liegt der Fall völlig anders. Außerdem kann ich tun und lassen, was ich will.«

»Ich fasse es nicht!« Aufgebracht warf er seine Serviette auf den Teller und stand auf. Ohne ein weiteres Wort stürmte er ins Haus. Wenige Augenblicke später hörten sie das Aufheulen eines Automotors.

Vorwurfsvoll schaute Anneliese die Freundin an.

»Sehr geschickt war das nicht.«

»Ich lasse mir doch von Philipp keine Vorschriften machen.«

»Er hat Angst um dich – und du weißt nur zu gut, warum.«

»Ich habe doch noch gar nicht zugesagt. Bis morgen habe ich Bedenkzeit.«

Am frühen Abend beschloss Charlotte, in ihrer Wohnung zu übernachten. Sie brauchte Abstand und wollte in Ruhe darüber nachdenken, ob sie sich noch einmal auf Ermittlungen einlassen sollte.

So fuhr sie in die Südstadt. Wie gewöhnlich war es fast unmöglich, dort einen Parkplatz zu finden. Deshalb lenkte sie ihren Golf durch die Toreinfahrt des Nachbarhauses. Der Besitzer, der im Erdgeschoss eine kleine Weinhandlung betrieb, hatte ihr schon bald nach ihrem Einzug angeboten, ihr Auto bei Bedarf in seinem Hof abzustellen.

Da sie nichts zum Abendessen im Haus hatte, ging sie die wenigen Schritte zum »Wienerwald«am Stephansplatz hinüber und bestellte einen Salat mit gegrillter Hähnchenbrust zum Mitnehmen.

In ihrer Wohnung öffnete sie zuerst alle Fenster und ließ sich ein Entspannungsbad ein.

In der Wohngemeinschaft saßen die Bewohner bei einem Glas Wein zusammen. Schließlich kamen sie auf das Thema zu sprechen, das sie alle seit dem Nachmittag beschäftigte.

»Was meint ihr?«, fragte Conrad mit Blick in die Runde, »wird Charlotte den Job übernehmen?«

»Hoffentlich nicht«, sagte Elisabeth mit sorgenvoller Miene. »Solche Ermittlungen sind doch immer gefährlich. Ich darf gar nicht daran denken, dass sie beim letzten Mal fast ums Leben gekommen wäre.«

»Ihre Freunde bei der Polizei haben ihr bestimmt klargemacht, dass sie ihre ganze Hoffnung auf sie setzen.« Das war der General. »Wahrscheinlich ist sie ihr bester Mann für diese Mission.« Seine buschigen Brauen hoben sich, während er Anneliese anschaute. »Was denkst du?«

»Wie ich Charlotte kenne, wird sie zustimmen. Sie kann gar nicht anders. Oder habt ihr schon mal erlebt, dass sie Nein gesagt hat, wenn jemand ihre Hilfe brauchte? Außerdem geht es um Kinder. Sollte den Mädchen was passieren, würde sie sich immer Vorwürfe machen, wenn sie abgelehnt hätte.«

»Das befürchte ich auch«, sagte Conrad und erhob sich. »Es ist spät geworden. Lasst uns schlafen gehen. Charlotte wird uns ihre Entscheidung morgen mitteilen.«

Nach dem Essen recherchierte Charlotte in ihrer Wohnung im Internet über das Internat Rabeneck. Auf der Homepage der Schule gab es eine Fülle an Informationen über das Internatsleben, das Kollegium, aber auch Historisches über die ehemalige Burg. Sie druckte alles aus und legte die Seiten in einen Aktendeckel.

Damit setzte sie sich bei leiser Musik in eine Sofaecke und vertiefte sich in die Unterlagen.

Sie blickte erst auf, als Nachrichten gesendet wurden. In den Regional-News wurde über den Toten berichtet, der vor der Marktkirche ermordet wurde. Inzwischen war es gelungen, ihn zu identifizieren. Es handelte sich um einen 24-jährigen Mann aus Aserbaidschan mit dem Namen Farid Bey. Wer ihn kannte oder sachdienliche Hinweise über ihn geben konnte, wurde gebeten, sich bei der Polizei zu melden.

Während im Wetterbericht schöne Aussichten angekündigt wurden, widmete sich Charlotte den Infos über das Internat.

Das Läuten an der Tür unterbrach sie irgendwann bei ihrer Lektüre. Wer mochte das so spät noch sein? Die grünen Leuchtziffern der Stereoanlage zeigten 23.26 Uhr an.

Charlotte legte die Mappe auf den Tisch, stand auf und ging in die Diele. Sie nahm den Hörer von der Gegensprechanlage, wodurch sich der kleine Bildschirm automatisch einschaltete. Draußen stand ein Mann.

Kapitel 4

 

Charlottes Blick hing am Monitor der Gegensprechanlage.

»Ja!?«

»Ich habe Licht bei dir gesehen«, sagte Philipp. »Darf ich raufkommen?«

»Es ist schon spät.«

»Bitte, Charlotte, wir müssen reden.«

»Heute nicht mehr.«

Sie erkannte die Enttäuschung in seinem Gesicht, bevor er sich abwandte. Mit einem leisen Seufzer drückte sie auf den Summer, sah, dass Philipp herumwirbelte und das Haus betrat. Rasch hängte sie den Hörer ein und öffnete die Wohnungstür einen Spalt breit.

In ihrem Wohnzimmer schaute sie sich frustriert um. Immer, wenn etwas sie stark beschäftigte, verbreitete sie Chaos um sich herum. Rasch sammelte sie einige Kleidungsstücke und das große Frotteetuch auf und legte alles auf einen Stuhl.

Als Philipp hereinkam, saß sie mit angezogenen Beinen auf dem Sofa.

»Tut mir leid, dass ich so spät noch …, aber als Albert sagte, dass du hier übernachtest … Entschuldige, dass ich vorhin überreagiert habe. Ich wollte dich nicht vertreiben.«

»Ich bin hier, weil ich ungestört nachdenken wollte.« Sie deutete auf einen Sessel, worauf er sich auf der Kante niederließ. »Das Schicksal der beiden Mädchen lässt mir keine Ruhe. Wenn meine Freunde im Präsidium davon überzeugt sind, und sogar die Staatsanwältin glaubt, dass ich dazu beitragen kann, die Kinder zu finden, kann ich doch nicht einfach Nein sagen.«

»Die meisten Menschen würden wohl gern helfen, die Mädchen zu retten. Andererseits habe ich erst vor Kurzem miterlebt, wie gefährlich solche Ermittlungen werden können. Ich habe Angst, dass dir noch mal was passiert.«

»Beim letzten Mal war ich mehr oder weniger auf mich allein gestellt. Wenn ich für die Polizei arbeite, werden sie alles tun, um mich zu schützen.« Ausführlich erzählte sie, was am Nachmittag im Präsidium zur Sprache gekommen war. »Ich habe inzwischen über das Internat recherchiert«, schloss sie und schob die Unterlagen über den Tisch zu ihm hinüber. »Das war ein bisschen wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Von den ursprünglichen Wehranlagen der Burg sind auch Teile der Ringmauer, Flankentor und Wallgräben erhalten –aber auch ein kleinerer Treppenturm und ein großer Wehrturm. Hinter der historischen Hülle verbergen sich moderne Einrichtungen: Schülerzimmer mit Bädern und Wohnungen für das Kollegium. Und auch das Internatsleben ist interessant. Für mich ist das absolutes Neuland.«

Philipp nahm den Blätterstapel und überflog die ersten Seiten.

»Zu meiner Zeit war das noch anders.«

»Hast du auch ein Internat besucht?«

»Ab der zehnten Klasse. Vorher war ich auf dem Gymnasium immer gut durchgekommen – ohne viel dafür zu tun. Im Grunde war ich eine faule Socke. Andere Dinge waren mir immer wichtiger als die Schule. Nachdem ich dann nur mit Ach und Krach versetzt wurde, haben mich meine Eltern auf ein Schweizer Internat geschickt. Dort gab es sogar einen deutschen Schulzweig.«

»Und? Wie war es da für dich?«

»Zuerst habe ich rebelliert, aber dann haben sie mir dort zur Einsicht verholfen, dass ich nicht für andere, sondern für mich lerne. Auch sonst war das Internat gut für meine Entwicklung.« In seine Augen trat ein warmer Ausdruck. »Meine Mutter wäre vor Stolz fast geplatzt, als ich mit einem Einser-Abitur abschloss. Als ich Psychologie studieren wollte, anstatt in die Firma einzusteigen, hat es allerdings lange Diskussionen gegeben, bis meine Eltern meinen Berufswunsch akzeptiert haben.«

»Hast du deine Familie nicht vermisst?«

»Nur in der ersten Zeit. Ich habe schnell Freunde gefunden. Zu einigen davon habe ich noch heute Kontakt. Außerdem kamen meine Eltern und meine Schwester hin und wieder zu Besuch – und in den Ferien war ich immer zu Hause.«

Da die Radiomusik, die leise im Hintergrund gespielt hatte, nun von den Mitternachts-Nachrichten abgelöst wurde, erhob sich Charlotte und schaltete die Stereoanlage aus. Als sie sich herumdrehte, fing sie Philipps Blick auf, der sie amüsiert musterte. Sie trug nur ein knappes graues Sleepshirt, auf dem quer über der Brust in großen Buchstaben »Oma ist cool« stand – und selbstgestrickte rote Socken an den Füßen.

»Was?«

»Du siehst … bemerkenswert aus.«

»Hast du gedacht, dass ich so spät noch perfekt gestylt rumlaufe? Ich habe vorhin ein Bad genommen und dann meine Wohlfühlklamotten angezogen. Eigentlich wollte ich schon längst im Bett liegen. – Und da werde ich jetzt auch hingehen.«

»Dann muss ich wohl verschwinden«, sagte er und legte die Unterlagen auf den Tisch zurück. »Rufst du mir bitte ein Taxi?«

»Was ist mit deinem Wagen?«

»Den habe ich vorm Musikladen stehenlassen, weil ich zwei Bier getrunken hatte. Als ich zu Hause von Albert hörte, dass du hier bist, wollte ich mich so schnell wie möglich entschuldigen. Deshalb bin ich im Taxi gekommen.« Er tastete seine Hosentaschen ab. »Blöderweise habe ich in der Eile meine Jacke mit meinem Handy zu Hause gelassen – und meinen Hausschlüssel anscheinend auch.«

»Dann musst du hier übernachten. – Oder willst du die anderen aus dem Schlaf klingeln?« Absichtlich bot sie ihm nicht ihren Schlüssel an, sondern schaute zur Sitzecke und schüttelte den Kopf. Die zwei kleinen über Eck stehenden Sofas waren als Schlafplatz für einen Mann seiner Größe ungeeignet. »Da passt du nicht drauf, aber du kannst in meinem Bett schlafen.«

»Das halte ich für keine gute Idee.«

»Warum nicht? Wir haben schon zweimal im gleichen Bett genächtigt, ohne dass wir uns in die Quere gekommen sind.«

»Das waren Ausnahmesituationen.«

»Das ist doch auch eine. Aber wenn du nicht willst … Du kannst es dir ja überlegen.« Sie ging zur Tür, drehte sich dort noch einmal herum. »Der letzte macht das Licht aus.«

Nach einem Abstecher ins Bad betrat Charlotte das Schlafzimmer. Als Orientierungshilfe schaltete sie die große weiße LED-Laterne auf der Fensterbank ein, die warmes, gedämpftes Licht ausstrahlte.

Wenige Minuten später hörte sie die Badezimmertür. Kurz darauf kam Philipp fast geräuschlos herein und legte sich vorsichtig, aber weit weg von Charlotte auf die Matratze. Glaubte er, dass sie schon schlief?

»Du musst nicht auf der äußersten Bettkante liegen«, sagte sie und drehte sich auf den Rücken. »Das ist viel zu unbequem.«

»Es geht schon.«

»Nun sei nicht albern. Ich beiße nicht.«

»Deine Zähne sind mein geringstes Problem«, murmelte er und rückte etwas näher. Auch er lag nun auf dem Rücken und starrte an die Zimmerdecke.

Charlotte ahnte, was in ihm vorging, tastete nach seiner Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen.

»Warum tust du das?«

»Weil ich dich liebe.«

Er zuckte leicht zusammen und zog seine Hand zurück – vor Überraschung oder vor Schreck?

»Warum sagst du das ausgerechnet jetzt?«

»Weil es mir erst heute richtig bewusst wurde. Ich hatte Angst, dass ich nach dem Tod meines Mannes nicht noch mal so umfassend lieben kann. Vorhin in meiner Badewanne wurde mir klar, dass ich es längst tue.«

Da er nichts auf ihr Geständnis erwiderte, wandte sie den Kopf und schaute zu ihm hinüber.

»Philipp?«

Immer noch keine Reaktion. Irritiert rutschte sie näher und beugte sich über ihn. Seine Augen waren geschlossen.

»Bist du etwa eingeschlafen? Das ist ja perfektes Timing.« Ehe sie sich jedoch abwenden konnte, legte er die Arme um sie.

»Bleib hier, sonst glaube ich doch noch, dass ich träume.«

»Du bist mir ja einer. Ich sollte dich aus meinem Bett werfen und …«

Ihre restlichen Worte gingen in seinem Kuss unter.

Kapitel 5

 

In der Morgendämmerung erwachte Charlotte. Wohlig streckte sie sich unter der Decke. Sie fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Nach drei Jahren Witwendasein hatte sie das erste Mal wieder mit einem Mann geschlafen. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie solche Nähe vermisst hatte. Philipp hatte sie zuerst sanft und behutsam, dann leidenschaftlich und fordernd auf den Höhepunkt der Lust geführt. Schließlich hatte er sie zärtlich in den Schlaf gestreichelt.

Gedankenverloren streckte Charlotte die Hand nach ihm aus, doch das Bett neben ihr war leer. Verwirrt schlug sie die Augen auf. Sie hörte ein Geräusch vom Flur her – im nächsten Moment schlenderte Philipp nur mit schwarzen Boxershorts bekleidet herein.

»Guten Morgen, Sternchen. Wie hast du geschlafen?«

Sie richtete sich etwas auf und lehnte sich gegen das Kissen.

»Wunderbar. – Und du?«

»Ich habe noch eine Weile wachgelegen und über uns nachgedacht.«

Lächelnd schüttelte sie den Kopf.

»Meine Antwort lautet: Nein.«

Erstaunt setzte er sich auf die Bettkante.

»Was meinst du damit?«

»Ich will nicht geheiratet werden – falls du darüber nachgedacht hast.«

»Warum nicht?«

»Weil es gut ist, wie es ist.«

»Aber …«

»Kein Aber«, unterbrach sie ihn. »Erzähl mir lieber, warum du schon aufgestanden bist.«

»Ich wollte uns Frühstück machen, aber in deinem Kühlschrank steht nur ein Glas Gewürzgurken.«

»Was hast du erwartet? Immerhin wohne ich seit drei Wochen in eurer WG.«

»Dann muss ich dich wohl zum Frühstück einladen.« Sekundenlang dachte er nach. »Hast du zufällig eine Ersatzzahnbürste für mich im Haus?«

»Ja.«

»Als moderne Frau besitzt du sicher auch ein Gerät, um lästige Härchen zu entfernen.«

»Im Badezimmerschrank«, bestätigte sie und strich mit den Fingerspitzen über seine Wange. »Damit kannst du deinen Bartstoppeln zu Leibe rücken.«

»Okay, dann schlage ich vor, dass wir zusammen duschen und uns ausgehfertig machen.«

Sie frühstückten nicht weit von Charlottes Wohnung im »Café LaSall«. Von dort aus fuhren sie zu Philipps Haus, in dem er erst im Frühsommer die Seniorenwohngemeinschaft gegründet hatte. Die ursprünglich zwei Doppelhaushälften hatte noch sein Vater, der ein Bauunternehmen besaß, zusammengelegt, so dass nun jeder Mitbewohner über zwei Zimmer und ein Bad verfügte. Die linke Haushälfte bewohnten der Rollstuhlfahrer Albert im Parterre und Elisabeth die Etage darüber. Anneliese und Conrad hatten sich im Obergeschoss eingerichtet. Später war Charlotte in Philipps rechter Haushälfte in die ehemaligen Räume seiner Tochter zum Probewohnen eingezogen. Vor einem endgültigen Umzug wollte sie testen, ob ihr das WG-Leben zusagte. Jetzt plante sie ihren endgültigen Einzug in die Wohngemeinschaft.

Als sie das Haus betraten, war alles still. Während Philipp in sein Arbeitszimmer ging, trat Charlotte auf die Terrasse, da sie dort die Freunde vermutete. Sie traf aber nur Anneliese an, die sofort aufsprang.

»Gut, dass du da bist. Ich mache mir Sorgen um Philipp. Er war die ganze Nacht nicht zu Hause.«

»Kein Grund zur Beunruhigung«, sagte Philipp, der von seinem Wohnzimmer aus ins Freie trat. »Ich gehe nicht verloren. Aber ich muss gleich noch mal weg, wenn ich mich umgezogen habe.«

Schon war er wieder verschwunden.

Erstaunt wechselte Annelieses Blick zu Charlotte.

»Seid ihr eben etwa zusammen gekommen?«

»Wir sind schon letzte Nacht … zusammengekommen.«

»Aber … Keiner von euch war heute Morgen zu Hause. Wir haben nachgesehen, als …« Verdutzt brach sie ab, als sie Charlottes bedeutungsvolles Lächeln bemerkte. Dann ging ihr ein Licht auf. »Ach, auf diese Weise seid ihr zusammengekommen. Jetzt verstehe ich. Hast du dir endlich eingestanden, dass du ihn auch liebst?«

»Besser spät als nie – oder?«

Spontan umarmte Anneliese sie.

»Ich freue mich für euch.« Sie löste sich von ihr und schaute ihr ernst in die Augen. »Hat Philipp dich überredet, den Undercover-Einsatz abzublasen?«

»Bisher nicht.« Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass er seit ihrem Gespräch am Abend nicht versucht hatte, sie davon abzuhalten. »Ich fahre nachher wie geplant ins Präsidium.«

Gegen Mittag betrat Charlotte an der Seite des Hauptkommissars den Besprechungsraum. Er bat sie, sich zu setzen, und rief nach seinen Kollegen. Pia und Martin ließen nicht lange auf sich warten. Nun fehlte nur noch die Staatsanwältin. Frau Dr. Pauli traf nicht nur mit einigen Minuten Verspätung ein, sondern noch dazu in Philipps Begleitung. Charlotte war darüber genauso verwundert wie die Kommissare. Sie fing Hannes’ Blick auf, der zu fragen schien, ob sie davon gewusst hatte, und schüttelte den Kopf.

Die Staatsanwältin reichte ihr die Hand, begrüßte die anderen durch ein Nicken und nahm ihr gegenüber Platz. Philipp setzte sich neben Charlotte, sagte aber nichts.

»Sie alle kennen Herrn Professor Thaler«, ergriff Frau Pauli das Wort. »Er ist heute Vormittag zu mir gekommen, weil er besorgt um Frau Sterns Sicherheit ist.«

Abrupt stand Hannes auf. Er ahnte, was das bedeutete.

»Das war es dann wohl. Wir hätten keine Zeit darauf verschwenden sollen, den Undercover-Einsatz vorzuberei …«

»Setzen Sie sich«, schnitt die Staatsanwältin ihm das Wort ab. »Ich bin noch nicht fertig.« Während sich der Hauptkommissar wieder auf den Stuhl fallen ließ, schaute sie kurz in die Runde. »Professor Thaler hat recherchiert, dass die meisten Lehrer des Kollegiums im Internat Rabeneck wohnen – allein oder mit ihren Familien. Warum sollte das nicht auch für Vertretungslehrer gelten? Deshalb hat er mir vorgeschlagen, mit Frau Stern als ihr Ehemann dort einzuziehen.«

Die Kommissare reagierten überrascht und erleichtert; Charlotte war gerührt, dass Philipp sie anscheinend nicht aus den Augen lassen wollte.

»Das Problem bei der Sache ist, dass eine alleinstehende Dame höchstwahrscheinlich eher vom Kollegium einbezogen wird – auch bei privaten Aktivitäten. Man wird sie nach Unterrichtsschluss nicht sich selbst überlassen. Wenn aber ein Ehemann auf sie wartet, wird man erfahrungsgemäß zurückhaltender sein. Da uns die Zeit unter den Nägeln brennt, musste ich den Vorschlag von Herrn Professor Thaler leider ablehnen.«

Ihre Miene drückte kein Bedauern aus, und auch Philipp schien sich damit abgefunden zu haben, dass er keine Gelegenheit haben würde, auf Charlotte aufzupassen.

»Trotzdem danke ich Ihnen, dass Sie Charly zur Seite stehen wollten«, wandte sich Hannes ihm zu. »Wir werden alles tun, um sie bestmöglich zu schützen.«

»Moment«, übernahm wieder die Staatsanwältin. »Das war noch nicht alles. Der Herr Professor hatte noch einen Plan B.« Sie lehnte sich zurück und ließ den Blick über die gespannten Gesichter schweifen. »Ein Mord und zwei Entführungen könnte man durchaus als traumatische Ereignisse bezeichnen. Nicht nur bei Kindern löst so was Ängste aus – und Alpträume. Wäre da nicht psychologische Betreuung vonnöten?«

»Da müsste die Internatsleitung aber zustimmen«, meinte Pia, worauf die Staatsanwältin triumphierend lächelte.

»Ich habe mit dem Schulvorstandsvorsitzenden telefoniert. Wie hätte er eine Kapazität wie Herrn Professor Thaler ablehnen können – einen renommierten Psychologen, der sich noch dazu bereiterklärt hat, kostenlos zu helfen? – Herr Bodenstein ist übrigens der Einzige, der Bescheid weiß – und er veranlasst, dass beide im Gästehaus auf der gleichen Etage untergebracht werden. Im Internat wird niemand etwas von der Undercover-Aktion erfahren – auch der Direktor nicht.«

Während die Kommissare gleich darüber diskutierten, welche neuen Möglichkeiten sich dadurch auftaten, tastete Charlotte nach Philipps Arm. Wortlos legte er die Hand über ihre Finger und schenkte ihr einen innigen Blick.

»Okay«, sagte Hannes schließlich, stand auf und holte eine Kunststoffbox von der Fensterbank, die er auf dem Tisch abstellte. Zuerst nahm er einen Aktendeckel heraus. »Wir haben schon vor ein paar Tagen alles für deine neue Identität vorbereitet: Personalausweis, Führerschein, Fahrzeugpapiere, Lebenslauf, Zeugnisse.« Er schob die Papiere zu Charlotte hinüber. »Was sagst du zu deinem neuen Namen?«

Sie warf einen Blick auf den Personalausweis, der genauso aussah, wie der in ihrer Brieftasche. Sogar die Unterschrift passte, obwohl der Nachname ausgetauscht war. Überrascht schaute sie Hannes an.

»Ihr habt meinen Mädchennamen genommen?«

»Daran kannst du dich am einfachsten gewöhnen.«

»Es gibt im Internet nichts über eine Charlotte Arndt in deinem Alter«, fügte Martin hinzu. »Wir haben bei deinem Geburtsdatum auch nur die Jahreszahl geändert. Du bist jetzt zehn Jahre jünger. Das wirst du dir leicht merken können.«

Nachdenklich nickte sie und sah sich die anderen Unterlagen an. Bei den Fahrzeugpapieren stutzte sie.

»Anscheinend bekomme ich sogar ein neues Auto.«

»Wir bringen dir den Wagen morgen – auch ein Golf, aber rot und auf Charlotte Arndt zugelassen«, sagte Martin. »Außerdem hat er GPS. Dadurch können wir dich jederzeit orten.«

»Ist das nicht ein bisschen viel Aufwand?«

»Wir werden nichts dem Zufall überlassen«, betonte Hannes und nahm ein Smartphone samt Ladekabel aus der Box. »Unsere Nummern sind schon eingespeichert. Wir haben einen GPS-Tracker installiert und aktiviert, so dass wir dich jederzeit orten können.« Noch einmal griff er in die Kiste. »Und das hier, das aussieht wie ein kleines Taschendeo, ist in Wirklichkeit Pfefferspray.«

Mit dem Kopf deutete Charlotte in Richtung der Kiste.

»Du hast nicht zufällig eine Kalaschnikow da drin?«

»Das ist alles nur zu deiner Sicherheit. Für den Fall, dass sich der Entführer der Mädchen noch im Umfeld des Internats aufhält – und er sich von dir bedroht fühlt, weil du ihm zu nahe kommst.«

»Oder der Mörder der Lehrerin«, fügte sie hinzu. »Es muss sich ja nicht zwangsläufig um ein und dieselbe Person handeln.«

»Auszuschließen ist das nicht.« Nun legte er ein handliches Netbook samt Zubehör auf den Tisch. »Martin hat für dich eine Datei mit der Ermittlungsakte angelegt. Das ist sicherer als in Papierform. Das Gerät ist passwortgeschützt. Das Passwort lautet: Stern – Bindestrich – Thaler.«

Amüsiert blickte sie zu Pia hinüber.

»Das war sicher deine Idee.«

»Auf deine Spürnase ist wirklich immer Verlass«, erwiderte die Kommissarin verschmitzt lächelnd. »Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.«

Als Charlotte und Philipp nach Hause kamen, saßen ihre Mitbewohner in der Küche um den großen Tisch herum. Seit Gründung der WG stand mittags meistens Conrad am Herd. Er hatte das Kochen von seiner italienischen Mama gelernt, die sein Vater nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Toskana in den kühlen Norden mitgebracht hatte. Schon als Junge hatte Conrad sich gern bei seiner Mutter in der Küche aufgehalten und ihr beim Zubereiten der Speisen zugesehen – und ihr später dabei geholfen. Nach dem Abitur hatte er sich aber seiner zweiten Leidenschaft, der Klimaforschung zugewandt und bis zu seiner Pensionierung ein meteorologisches Institut geleitet. Seine Begeisterung fürs Kochen war ihm dabei nicht abhandengekommen.

»Auf die Minute pünktlich«, sagte Conrad, als Charlotte und Philipp eintraten. »Setzt euch. Wir können sofort essen.«

»Das duftet herrlich«, erwiderte Charlotte, während sie Platz nahm. »Was gibt es denn Leckeres?«

»Pesto Calabrese mit Lachs.« Er stellte mehrere Schüsseln auf den Tisch. »Greift zu!«

Nachdem sich alle bedient hatten, schaute Anneliese zu Charlotte hinüber, die ihr gegenübersaß.

»Jetzt erzähl schon: Hast du den Job übernommen?«

»Am Montag fange ich im Internat Rabeneck an. Dafür wurde ich fast wie eine Geheimagentin ausgestattet.« Sie erzählte, was sie im Präsidium bekommen hatte. »Ich heiße wieder wie vor meiner Hochzeit Charlotte Arndt, bin Mitte 50 und Fitnesslehrerin mit sehr guten Zeugnissen.«

»Eine Anti-Age-Kur, bei der man in wenigen Stunden zehn Jahre jünger wird, könnte ich auch gebrauchen«, meinte die Strick-Liesel trocken. Dann blickte sie Philipp an. »Hast du gar nichts mehr gegen Charlottes Sondereinsatz?«

Er aß mit Appetit weiter und schüttelte nur den Kopf. Verwundert wartete sie auf eine Erklärung, aber Philipp widmete sich mit stoischer Gelassenheit dem leckeren Essen.

Daraufhin erzählte Charlotte, was er sich ausgedacht hatte, damit sie im Internat nicht allein auf sich gestellt sein würde.

»Das nenn’ ich Liebe«, sagte Anneliese beeindruckt. »Fahrt ihr am Montag zusammen?«

»Damit niemand Verdacht schöpft, fängt Philipp schon morgen an. Im Internat muss man nicht wissen, dass wir uns kennen.«

»Dann haben wir in den nächsten Wochen sturmfrei«, sagte Elisabeth augenzwinkernd. »Aber bevor wir hier jeden Tag Party machen, könnten wir heute noch mal einen gemütlichen Abend zusammen verbringen.«

»Auf mich müsst ihr dabei leider verzichten«, sagte Charlotte. »Ihr wisst doch, dass ich donnerstags immer ins Fitnessstudio gehe.«

»Kannst du das nicht ausnahmsweise ausfallen lassen?«

Bedauernd erwiderte sie Philipps bittenden Blick.

»Es ist die letzte Gelegenheit, mir ein paar Tipps von meiner Trainerin zu holen. Aber heute ist hinterher kein Stammtisch. Da wird es nicht so spät.«

Am frühen Abend fuhr Charlotte zum Fitnessstudio. Nach dem Training duschten die Teilnehmerinnen zusammen. Während sie sich in ein großes Handtuch hüllte, wandte sich Charlotte an ihre Trainerin.

»Kann ich dich kurz sprechen, Laura?«

»Sicher«, erwiderte die junge Frau. »Treffen wir uns gleich an der Bar?«

»Okay.«

Laura hatte schon einen Vitamindrink vor sich stehen, als Charlotte sich zu ihr gesellte. Sie bestellte das Gleiche, bevor sie ihre Trainerin mit gedämpfter Stimme ansprach.

»Ich brauche deinen Rat.«

»Wofür?«

»Ich soll ab Montag für ein paar Wochen einen Fitnesskurs in einer Schule leiten.«

»Machst du mir neuerdings Konkurrenz?« Forschend schaute sie Charlotte in die Augen. »Oder haben dich deine Polizeifreunde wieder mal eingespannt?«

»Darüber darf ich nicht reden.«

Verstehend nickte Laura.

»Schon klar. – Wie kann ich dir helfen?«

»Dein Zumba-Kurs macht so viel Spaß, dass bestimmt auch junge Leute davon begeistert wären. Aber wo bekomme ich in der kurzen Zeit die passende Musik her? Wahrscheinlich gibt es auch DVDs mit Übungsanleitungen. Findet man so was nur im Internet oder …«

»Das kannst du alles von mir bekommen.« Sekundenlang überlegte sie. »Hast du heute Abend noch was vor?«

Einen Moment dachte Charlotte an ihre Freunde, die gemütlich zusammensaßen. Obwohl sie sich noch nicht lange kannten, waren sie ihr ans Herz gewachsen. Sie wäre nun gern bei ihnen, aber das Schicksal der verschwundenen Mädchen hatte Vorrang. Sie musste so gut wie möglich auf ihren Einsatz im Internat vorbereitet sein.

»Nein – warum fragst du?«

»Für heute bin ich hier fertig. Wir könnten zu mir fahren – und ich mache dir ein paar Kopien.«

»Das wäre toll«, sagte Charlotte dankbar. »Glaubst du, dass ich so einen Kurs leiten kann, ohne gleich als Amateur entlarvt zu werden?«

»Du schaffst das. Immerhin bist du lange dabei.« Schelmisch zwinkerte sie der Älteren zu. »Außerdem hast du mich zweimal so gut vertreten, dass unsere Kursteilnehmerinnen schon nach meinem nächsten Urlaub gefragt haben. Wahrscheinlich wären sie froh, wenn ich eine Weltreise buchen würde – und du für mich einspringst.«

Lachend schüttelte Charlotte den Kopf.

»Ich erinnere mich genau an das erleichterte Aufatmen, als du wieder da warst.«

Viel später als geplant kam Charlotte zurück. Da im Haus alles still war, ging sie gleich hinauf in ihre Räume. Sie stellte die Sporttasche ab, nahm die DVDs und das Übungsbuch von Laura heraus und legte alles auf den Tisch. Die verschwitzen Sportklamotten landeten auf dem Fußboden; das feuchte Handtuch hängte sie auf dem Balkon über eine Stuhllehne.

Im Schlafzimmer war Charlotte gerade aus dem leichten Leinenkleid geschlüpft, als sie das leise Klopfen an der Tür hörte. Sie vermutete, dass es Philipp war, und machte sich nicht die Mühe, sich etwas überzuziehen. In BH und Slip öffnete sie die Tür.

»Ich habe auf dich gewartet«, sagte Philipp, der eine knielange dunkle Pyjamahose und ein weißes Shirt trug. Sein Haar war noch feucht vom Duschen. »Konnte dir deine Trainerin helfen?«

»Jetzt habe ich alles, was ich für den Job brauche. Dafür musste ich mit zu ihr fahren. Deshalb ist es so spät geworden.«

»Bist du sehr müde?«

»Nun komm schon rein.«

Erfreut trat er näher und schloss die Tür von innen. Dann musterte er Charlotte mit einem bewundernden Blick.

»Du siehst sehr sexy aus.«

»Frauen in meinem Alter sind nicht mehr sexy.«

»Normalerweise nicht – aber du schon.«

»Nimm mal die rosarote Brille ab.«