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Nach ihrer Pensionierung möchte Charlotte Stern eigentlich nur noch ihren Ruhestand genießen. Als sie jedoch durch die Presse von zwei Todesfällen in der Seniorenresidenz Eichengrund erfährt, erwacht ihr Interesse. Von ehemaligen Kollegen hört sie, dass es sich um Unfälle handelte - doch ihre Intuition sagt etwas anderes. Kurzerhand meldet sie sich in der Residenz zum Probewohnen an und beginnt zu ermitteln. Plötzlich ist eine weitere Bewohnerin tot …
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Seitenzahl: 415
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Claudia Rimkus
Eichengrund
Kriminalroman
Letzte Konsequenz In der hannoverschen Seniorenresidenz Eichengrund ereignen sich innerhalb kürzester Zeit zwei Todesfälle. Als Charlotte Stern, ehemalige Leiterin des Kriminalarchivs, davon erfährt, spricht sie beim Stammtisch ihre ehemaligen Kollegen darauf an. Diese behaupten jedoch, dass es sich um Unfälle handelte. Ihre Spürnase sagt ihr allerdings etwas anderes. Deshalb meldet sich Charlotte kurz entschlossen zum Probewohnen in der Residenz an. Um unauffällig Informationen zu sammeln, freundet sie sich mit einer munteren Gruppe Oldies an, die sich nachmittags im Wintergarten der Residenz trifft. Sie erfährt einiges über die Verstorbenen und beginnt Zusammenhänge zu erahnen. Nur wenige Tage später wird die Leiche einer weiteren Bewohnerin gefunden. Wieder gibt es keine Hinweise auf einen unnatürlichen Tod. Allerdings hat die Verstorbene Charlotte eine Warnung hinterlassen. Nun weiß sie, dass sie auf der richtigen Spur ist. Sie recherchiert weiter und gerät dadurch in Todesgefahr …
Claudia Rimkus wurde 1956 in Hannover geboren, wo sie noch heute lebt und (arbeitend) ihren Ruhestand genießt. Die Autorin ist mit ihrer Heimatstadt eng verbunden, deshalb ist die Leinemetropole oft Schauplatz ihrer Geschichten. Diese sind trotz aller Dramatik immer mit Humor gewürzt. Ihre ersten Erzählungen wurden erfolgreich als Fortsetzungsromane in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und den angeschlossenen Lokalzeitungen veröffentlicht. Danach folgten mehrere Kurzgeschichten und Romane. Wenn sie nicht schreibt, ist sie gern mit der Kamera unterwegs. Ihre Fotos haben mehrere Preise gewonnen. Auch das genaue Beobachten ihrer Umwelt inspiriert sie zu ihren Geschichten.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Christian Müller/fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5600-8
Für meine wunderbaren Enkel Noah und Josuah
Am Fuße der breiten Treppe lag ein Mann – die Glieder seltsam verrenkt. Rote Sprenkel auf dem grau-blau gestreiften Schlafanzug stammten von einer klaffenden Kopfwunde. Auch auf dem Treppenabsatz waren Blutspuren. Ein Filzpantoffel lag ein paar Stufen tiefer, der zweite neben der rechten Hand des Toten.
Der Fundort der Leiche in der Lobby der Seniorenresidenz Eichengrund war weiträumig abgesperrt. Hinter dem rot-weißen Trassierband versammelten sich immer mehr Bewohner. Der 60-Plus-Generation stand die Betroffenheit ins Gesicht geschrieben. Einige waren wie versteinert, andere kämpften mit den Tränen; alle starrten entsetzt auf ihren toten Hausgenossen. Immerhin handelte es sich bei ihm um den zweiten Unfalltoten innerhalb von 14 Tagen.
Hauptkommissar Hannes Bremer trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Er war ein drahtiger, knapp zwei Meter großer Mann, der den korpulenten, glatzköpfigen Rechtsmediziner, der die erste Leichenschau durchführte, nicht aus den Augen ließ.
»Und?«, fragte der Kommissar, als der Arzt sich schwerfällig erhob. »Irgendwelche Hinweise auf Fremdverschulden?«
»Sieht ganz nach einem Unfall aus.« Schnaufend wischte sich Dr. Fleischmann mit einem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn. »Alles Weitere nach der Obduktion.«
»Wann kann ich mit deinem Bericht rechnen?«
»Ich melde mich.« Ohne eine Antwort abzuwarten, griff er nach seinem Aluminiumkoffer und marschierte auf seinen kurzen Beinen zum Ausgang. Umständlich zog er dort den grauen Overall aus, den er über seiner Kleidung trug, drückte ihn einem uniformierten Beamten in die Hand und verschwand aus dem Blickfeld des Kommissars.
»Wir haben nichts Verdächtiges gefunden, Hannes«, informierte ihn ein Kollege von der Spurensicherung. »Die vielen Fingerabdrücke am Treppengeländer stammen wahrscheinlich alle von Bewohnern. Das überprüfen wir noch. Es sieht aber so aus, als wäre der alte Mann einfach gestolpert und die Treppe runtergefallen.«
»Mitten in der Nacht?«
»Vielleicht war er verwirrt oder ist schlafgewandelt?«
»Warten wir das Obduktionsergebnis ab«, sagte Hannes und wandte sich an seine beiden Teamkollegen, die gerade eintrafen. Kurz informierte er sie über den Sachverhalt. »Pia, du fängst mit der Befragung der Bewohner an. – Und du, Martin, sprichst zuerst mit der Heimleitung.«
»Dabei kommt auch nicht mehr raus als beim letzten Mal«, mutmaßte der junge Kollege. »Wir haben mit dem Eilenriede-Killer schon genug am Hals.«
»Ich weiß«, sagte Hannes mit einem Seufzer. »Hoffentlich war das hier nur ein Unfall. Dann ist die Sache schnell erledigt.«
Der Kollegenstammtisch traf sich im vierwöchigen Rhythmus donnerstags in der hannoverschen Altstadtkneipe »Alibi«. Als Charlotte Stern eintraf, saßen die anderen schon beim ersten Bier.
»Entschuldigt meine Verspätung«, bat sie, stellte ihre Sporttasche ab und nahm neben Hannes Bremer Platz. »Als ich aus dem Fitnesscenter kam, hatte irgend so ein Idiot das Vorderrad von meinem Drahtesel geklaut. Deshalb musste ich die Strapazenbahn nehmen.«
»Kein Problem«, sagte Dr. Fleischmann, bevor er dem Kellner ein Zeichen gab, ihr ein Bier zu bringen. »Trainierst du immer noch regelmäßig?«
»Zweimal in der Woche. – Das könnte dir auch nicht schaden«, fügte sie mit einem Blick auf seinen Leibesumfang hinzu. »Du kannst mich ja mal begleiten.«
»Dir würde ich überallhin folgen, aber nicht ins Fitnessstudio. Wir könnten stattdessen …«
»Spar dir die Mühe«, fiel sie ihm lachend ins Wort und schaute in die Runde. »Erzählt mir lieber von euren Ermittlungen. Gibt es was Neues über den Eilenriede-Killer?«
»Wir suchen immer noch nach den fehlenden Leichenteilen«, berichtete Hannes. »Die bisherigen Fundstücke stammen von einer Frau und einem Mann, aber erst wenn wir die Köpfe gefunden haben, können die Opfer vielleicht identifiziert werden.«
Zustimmend nickte sie nur, da sie das schon aus der Presse erfahren hatte. Ihr war klar, dass die Kollegen sich bedeckt halten mussten. Trotzdem hätte sie gern mehr gewusst. Ihr Arbeitsplatz war bis zu ihrer Pensionierung mehr als 30 Jahre lang das Kriminalarchiv gewesen. Sie hatte nie direkt mit Ermittlungen zu tun gehabt, sich im Laufe der Jahre aber viel Wissen über Verbrechen und Täterprofile angeeignet.
»Kann man die Identität der Opfer nicht anhand der Vermisstenanzeigen eingrenzen?«
»Das hat leider nichts gebracht. Zurzeit gehen wir sämtlichen Hinweisen aus der Bevölkerung nach. Es haben sich eine Menge Leute nach unserem Aufruf gemeldet.«
»Jetzt müssen wir erst mal die Wichtigtuer aussortieren«, sagte Kommissar Martin Drews mit wenig begeisterter Miene. Als Jüngster im Team war er mit seinen 31 Jahren noch voller Tatendrang. Er ermittelte am liebsten vor Ort und hasste den lästigen Papierkram. »Das ist Polizeiarbeit, wie ich sie mir immer gewünscht habe.«
»Würdest du lieber auf der Suche nach Leichenteilen jedes Blatt in der Eilenriede umdrehen?«, spottete seine etwas ältere Kollegin Pia Wagner. Mit dem langen blonden Haar und dem kindlichen Gesicht wirkte sie harmlos, konnte aber knallhart sein. »Die 640 Hektar Stadtwald schaffst du bei deinem Arbeitseifer sicher im Handumdrehen.«
Lässig winkte er ab.
»Die fehlenden Teile könnten auch ganz woanders entsorgt worden sein – vielleicht sogar im Maschsee.«
»Das wäre auch nicht das erste Mal«, bemerkte Charlotte und nickte dem Kellner dankend zu, der das gewünschte Bier vor ihr auf dem Tisch abstellte. »Es war schon gruselig, als die zerstückelte Leiche vor anderthalb Jahren im Maschsee gefunden wurde. Damals war ich noch im Dienst. Ich erinnere mich, dass Spaziergänger den blauen Müllsack entdeckt hatten – und das relativ bald nach der Tat. Der Eilenriede-Killer hat die Leichenteile besser versteckt, damit sie nicht so schnell zu finden sind.« Fragend blickte sie den Rechtsmediziner an. »Hatte die Verwesung nicht schon eingesetzt?«
»Du bist gut informiert.«
»Ich lese Zeitung.«
»Nach dem Grad der Verwesung zu urteilen, haben die Leichenteile mindestens vier Wochen im Wald gelegen«, fügte er lächelnd hinzu. »Soll ich ins Detail gehen?«
»Lieber nicht, sonst schmeckt mir das Bier nicht mehr.« Damit griff sie nach ihrem Glas und trank den anderen zu.
»Die Soko Rotlicht kommt auch nicht richtig voran«, sagte Hannes nach einer Weile. »Ich habe heute mit Pit Gerlach gesprochen. Inzwischen haben sie jede Menge Leute aus dem Milieu befragt, aber keiner macht den Mund auf.«
»Wenn jemand in einem Bordell am Steintor rumballert, kann es sich eigentlich nur um rivalisierende Banden oder Rache handeln«, meinte Charlotte. »Waren die fünf Toten nicht alle Ukrainer?«
»Das macht die Ermittlungen ja so schwer. Da redet keiner. Und den Täter hat angeblich auch niemand gesehen. Ich wette, die regeln das schon bald unter sich.«
»Und ich kriege dann wieder die ganze Schweinerei auf den Tisch«, sagte Horst Fleischmann mit grimmiger Miene. »Da ist mir einer, der im Seniorenheim die Treppe runtergepurzelt ist, tausendmal lieber.«
»Ist der wirklich gepurzelt oder gepurzelt worden?«
»Witterst du schon wieder ein Verbrechen, Charly?«, fragte Hannes, wobei er ein Schmunzeln unterdrückte. »Du kannst es wohl auch nicht lassen.«
»Die Umstände sind ja auch etwas seltsam«, erwiderte sie betont sachlich. »In der Zeitung stand, dass das der zweite tödliche Unfall innerhalb von 14 Tagen war. Seit der Eröffnung vor knapp zwei Jahren erfreuen sich die Bewohner bester Gesundheit. Es ist noch nicht mal einer an Altersschwäche oder an einer Krankheit gestorben – und plötzlich zwei Todesfälle innerhalb so kurzer Zeit. Das stinkt doch zum Himmel.«
»Die Obduktion hat bei beiden keinen Hinweis auf Fremdverschulden ergeben«, wagte Dr. Fleischmann anzumerken. »Der erste Mann ist im Bad ausgerutscht und mit dem Kopf gegen den Waschbeckenrand geknallt. Genickbruch – und Exitus. Der zweite hat sich bei einem Treppensturz schwere Kopfverletzungen zugezogen. Wäre er noch in der Nacht ins Krankenhaus eingeliefert worden, hätte man ihn vielleicht retten können. Da er aber erst am nächsten Morgen gefunden wurde, kam jede Hilfe zu spät.«
»Und ihr habt den Fall zu den Akten gelegt!«, vollendete Charlotte und leerte ihr Glas. »Dabei könnt ihr nicht hundertprozentig ausschließen, dass der Mann nicht doch gestoßen wurde.«
»Warum sollte das jemand tun? Der hatte nicht mal mehr nahe Verwandte, die ihn beerben könnten. Nur eine Großnichte, aber zu der hatte er schon lange keinen Kontakt mehr.«
»Ein Mord muss ja nicht immer finanzielle Gründe haben, Pia. Da genügen manchmal irgendwelche Streitigkeiten. Die kommen bestimmt auch unter wohlhabenden Senioren einer feinen Residenz vor.«
Hannes hob die Brauen, wobei er hintergründig lächelte.
»Sagt dir das deine Spürnase oder ist das Intuition?«
Vage zuckte sie die Schultern.
»Vielleicht beides – oder glaubst du, das alles habe ich an meinem letzten Arbeitstag mit dem Dienstausweis abgegeben?«
»Wie könnte ich das? Du hast uns in den vergangenen Jahren schon so manchen wertvollen Tipp gegeben. Und nachdem du nach deiner Pensionierung sogar eigenmächtig ermittelt hast und vor Weihnachten den Kindermörder überführen konntest, wundert mich nichts mehr. In diesem Fall bist du aber auf dem Holzweg.« Vielsagend zwinkerte er ihr zu. »Außerdem wolltest du nach Küppers Festnahme anfangen, Socken zu stricken.«
»Inzwischen habe ich meiner ganzen Sippe Strümpfe in allen Farben beschert. Meine Verwandtschaft wäre bestimmt froh, wenn ich mir eine andere Beschäftigung suchen würde.«
»Dann entscheide dich aber bitte für eine, die nicht mit Mord und Totschlag zu tun hat.«
»Ich werde darüber nachdenken, was ich am besten kann«, sagte sie mit schelmischem Lächeln. »Erst mal möchte ich aber noch ein Bier.«
Bevor Charlotte aus dem Wagen stieg, klappte sie die Sonnenblende herunter und warf einen prüfenden Blick in den daran befestigten Spiegel. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit hatte sie sich am Morgen sorgfältig geschminkt: Ein leichtes Makeup und etwas Rouge ließen ihr Gesicht frischer aussehen. Schwarze Mascara bewirkte, dass ihre Wimpern länger und dichter erschienen; ein mattroter Lippenstift betonte den Mund. Dem Friseurbesuch vom vergangenen Samstag verdankte ihr von grauen Strähnen dominiertes Haar den ursprünglichen Blondton und einen neuen Schnitt.
Zufrieden schob sie eine große Sonnenbrille auf die Nase und stieg aus dem Wagen. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick auf ihr Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe, bevor sie die Straße überquerte. Nun waren es nur noch wenige Schritte bis zum Präsidium. Kaum hatte sie den Eingangsbereich betreten, schaute ihr ein älterer uniformierter Beamter, der hinter dem Tresen stand, neugierig entgegen.
»Guten Tag«, sprach er sie freundlich an. »Kann ich etwas für Sie tun?«
»Ich möchte zu Hauptkommissar Bremer.«
»Werden Sie erwartet?«
»Nein, ich möchte ihn überraschen«, erwiderte sie und schob die Sonnenbrille nach oben in ihr Haar.
»Frau Stern!«, rief er erstaunt aus. »Ich habe Sie gar nicht erkannt. Sie sehen toll aus. Der Ruhestand scheint Ihnen gut zu bekommen.«
»Darauf können Sie wetten, Herr Welsch. Rufen Sie bitte oben an und sagen Herrn Bremer, dass hier jemand auf ihn wartet? – Aber nicht verraten, dass ich es bin.«
»Mit Vergnügen.«
Schon griff er zum Hörer. Während er telefonierte, schlenderte Charlotte die wenigen Schritte zum Wartebereich, trat ans Fenster und schob die Sonnenbrille wieder auf die Nase.
Die Besucherin musste nicht lange warten, bis sie Schritte in ihrem Rücken vernahm. Langsam drehte sie sich herum.
»Hauptkommissar Bremer«, stellte sich der ehemalige Kollege im Näherkommen vor.
Sie bemerkte, dass er sie in Sekundenschnelle taxierte. Sein Blick glitt von ihrem Gesicht über das elegante, beigefarbene Kostüm und blieb etwas länger auf ihren Beinen haften, ehe er auf Augenhöhe zur Ruhe kam. Charlotte wusste jedoch, dass er die dunklen Gläser nicht durchdringen konnte.
»Sie wollten mich sprechen?«
Auf ihren hohen Pumps schritt sie ihm entgegen.
»Warum denn so förmlich, Hannes?«
Seine Brauen hoben sich überrascht.
»Charly? Bist du das wirklich?«
»Live und in Farbe«, erklärte sie lachend, wobei sie die Sonnenbrille von der Nase zog. »Überrascht?«
»Aber hallo! Du siehst umwerfend aus. Hast du einen neuen Verehrer? – Ich meine, außer unserem Schnippler?«
»Das erzähle ich dir später. Können wir in dein Büro gehen? Ich muss was mit dir besprechen.«
Der Lift brachte sie in die vierte Etage.
»Kannst du das Riesenteil noch mal aufsetzen?«, bat Hannes im Flur. »Ich möchte mal testen, wie die Kollegen reagieren, wenn ich mit so einer heißen Braut angerauscht komme.«
»Kindskopf«, tadelte sie ihn, kam seiner Bitte aber nach.
Hannes legte seinen Arm um ihre Schultern und führte sie in sein Arbeitszimmer. Er warf nur einen kurzen Blick durch die große Glasscheibe, die sein Büro von dem der beiden Teamkollegen trennte.
»Pia und Martin beobachten uns.«
»Dann sollten wir ihnen etwas bieten«, sagte Charlotte, setzte sich auf die Schreibtischkante und schlug die Beine dekorativ übereinander.
»Ich glaube, das genügt schon, Charly, sonst fallen ihnen noch die Augen aus dem Kopf. Ich hole uns mal einen Kaffee.«
Durch die Verbindungstür betrat er das Büro der Kollegen.
»Wer ist die Klassefrau?«, fragte Martin sofort. »Eine Zeugin?«
Mit stoischer Gelassenheit griff Hannes nach der Warmhaltekanne und schenkte zwei bunte Keramikbecher voll.
»Negativ«, sagte er dabei. »Die Dame ist aus privaten Gründen hier.«
»Kennst du sie schon länger? Ist sie deine neueste Flamme?«
»Wir sind alte Freunde.«
»Und warum trägt sie eine Sonnenbrille?«, wollte Pia wissen. »Möchte sie nicht erkannt werden?«
»Sie ist ein Promi!«, warf Martin ein, bevor Hannes antworten konnte. »Habe ich recht?«
»Im gewissen Sinne … ja.« Mit ernster Miene griff er nach den Kaffeebechern. »Kommt mit, ich stelle euch vor.«
Zusammen betraten sie sein Büro. Dort setzte er die Tassen auf dem Schreibtisch ab.
»Das sind meine Kollegen Pia Wagner und Martin Drews.«
Freundlich nickte Charlotte beiden zu, sagte aber kein Wort.
»Sie wollen wissen, mit wem sie es hier zu tun haben.«
»Als gute Kriminalisten sollten sie das eigentlich selbst rausfinden können.«
»Nee, oder?« Verblüfft blickte Martin sie an. »Charly! Deine dunkle Stimme würde ich unter Tausenden erkennen.«
»Wenigstens mal ein Ermittlungserfolg«, meinte Hannes trocken, während Charlotte die Brille abnahm. »Ich war genauso überrascht wie ihr. Allerdings kenne ich den Grund für ihre Veränderung auch noch nicht.«
Langsam rutschte Charlotte vom Schreibtisch und entfernte sich einige Schritte.
»Was seht ihr?«, fragte sie und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Wie würdet ihr mich beschreiben, wenn ich eine Fremde wäre?«
»Elegant«, sagte Pia. »Eine elegante Dame.«
»Schlank«, fügte Martin hinzu, wobei er sie musterte »Und gepflegt.« Sein Blick wanderte tiefer. »Seit wann hast du diese tollen Beine?«
»Lenk nicht ab«, tadelte sie ihn. »Was fällt euch sonst noch auf? Hannes?«
»Ich würde sagen: eine Frau aus besseren Kreisen, wohlhabend, geschmackvoll, aber nicht übertrieben auffällig gekleidet, legt Wert auf ein gepflegtes Äußeres, treibt Sport, um in Form zu bleiben.« Seine Augen glitten noch einmal über ihre Gestalt. »Warum trägst du eigentlich sonst immer Hosen?«
»Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund wie ich«, antwortete Pia an ihrer Stelle. »Um euch Machos nicht auf dumme Gedanken zu bringen.«
»Okay, okay«, winkte Hannes schmunzelnd ab, bevor er wieder Charlotte ansah. »Verrätst du uns jetzt dein Geheimnis?«
»Ich habe mich zum Probewohnen angemeldet – in der Seniorenresidenz Eichengrund. Da kann ich doch nicht in Jeans und T-Shirt auftauchen.«
Allmählich begriff er, was sie vorhatte.
»Das kommt überhaupt nicht infrage!«
»Wie willst du mich daran hindern?«
»Hast du vergessen, wie brandgefährlich deine eigenmächtigen Ermittlungen das letzte Mal waren? Du hast dein Leben riskiert, um das kleine Mädchen zu retten.«
»Mir kann doch gar nichts passieren. Ihr habt schließlich rausgefunden, dass die beiden alten Herren durch Unfälle zu Tode kamen.«
»Was willst du dann dort?«
»In meinem Alter sollte man darauf vorbereitet sein, dass man irgendwann ohne Hilfe nicht mehr zurechtkommt«, erwiderte sie prompt. »Da ist es gut, sich beizeiten zu informieren, welche Möglichkeiten es gibt.«
»Du bist besser in Form als die meisten von uns.« Dicht trat er vor sie hin. »Ich kenne dich, Charly. Du witterst ein Verbrechen und willst deine Nase unbedingt in Dinge stecken, die dich absolut nichts angehen. Aber so läuft das nicht.«
Natürlich hatte sie geahnt, wie er auf ihre Pläne reagieren würde. Sie hätte es ihm auch verheimlichen können und sich diese Diskussion dadurch erspart. – Aber sie waren seit fast 20 Jahren befreundet. Sie hätte es nicht fertiggebracht, hinter seinem Rücken zu ermitteln.
»Ich habe sogar das Okay der Staatsanwaltschaft«, spielte sie ihren letzten Trumpf aus. »Frau Dr. Pauli hat – wenn auch inoffiziell – nichts dagegen, dass ich mich ein bisschen umhöre. Immerhin sind eure Ermittlungen abgeschlossen. Sie haben keinen Hinweis auf Fremdverschulden ergeben.«
»Was mache ich nur mit dir?« Mit einem Seufzer ließ sich der Hauptkommissar in seinen Schreibtischsessel fallen. Er zog aus der Ablage eine Fallakte hervor und legte sie vor sich hin. »Wenn ich dich schon nicht umstimmen kann, solltest du wenigstens umfassend informiert sein. Zu dumm, dass ich dir keine Akteneinsicht gewähren darf.« Damit erhob er sich und blickte seine Teamkollegen an. »Wir verpassen unseren Termin.«
»Welchen …«, begann Martin, aber Hannes unterbrach ihn streng.
»Nun kommt schon! Wir haben schließlich noch einen Fall zu lösen.« Er scheuchte die beiden hinaus. »In einer halben Stunde sind wir zurück«, sagte er noch über seine Schulter, bevor er die Tür hinter sich schloss.
Sofort setzte sich Charlotte an den Schreibtisch und schlug die Akte auf. Zuerst betrachtete sie die Fotos des ersten Unfalltoten, die auch die Lage der Leiche dokumentierten. Danach las sie den Autopsiebericht, konnte aber zunächst nichts Ungewöhnliches entdecken. Nun nahm sie die Fotos des zweiten Unfallopfers zur Hand, betrachtete sie und las anschließend den Bericht des Rechtsmediziners. Auf einer Seite des Obduktionsprotokolls befanden sich auf der rechten Seite zwei gezeichnete menschliche Körper, die Vorder- und Rückansicht. Auf den Zeichnungen waren die Verletzungen des Toten durch Kreuze markiert. Ein faustgroßes Hämatom auf dem rechten Schulterblatt erregte Charlottes Interesse. Sie nahm noch einmal die Fotos zur Hand und sah sich den Bluterguss genauer an. Er könnte tatsächlich – wie die anderen zahlreichen Hämatome – durch den Treppensturz entstanden sein. Sie hielt es aber auch für möglich, dass ein harter Stoß den Mann getroffen und zu Fall gebracht hatte. Das ließ sich allerdings schwer beweisen. Trotzdem fühlte sie sich in ihren Plänen bestärkt.
Nachdenklich klappte sie die Akte zu und griff nach einem der Kaffeebecher. Als sie Stimmen auf dem Flur vernahm, erhob sie sich. Durch die Glasscheibe sah sie die ehemaligen Kollegen nebenan das Büro betreten. Gleich darauf kam Hannes durch die Verbindungstür.
»Und?«, fragte er. »Alles klar?«
Sie nickte und griff nach ihrer Umhängetasche.
»Ich möchte euch nicht länger von der Arbeit abhalten.« Lächelnd blieb sie vor ihm stehen. »Danke, Hannes.«
»Versprich mir, dass du auf dich aufpasst.«
»Mach dir keine Sorgen um mich.« Gerührt umarmte sie ihn. »Ich werde vorsichtig sein.«
»Wenn dir irgendwas Ungewöhnliches auffällt, dann melde dich – aber nicht erst wieder in letzter Minute.«
»Versprochen.« Durch die Scheibe winkte sie den anderen beiden Kollegen zu, bevor sie sich zur Tür wandte. »Bis bald, Hannes.«
Kaum hatte sie den Flur betreten, sah sie Dr. Fleischmann um die Ecke biegen. Mit einem schnellen Griff schob sie die Sonnenbrille auf die Nase.
Mitten im Flur blieb der Rechtsmediziner stehen. In der einen Hand hielt er einen großformatigen Umschlag, in der anderen ein weißes Taschentuch, mit dem er sich über die glänzende Glatze fuhr.
Charlotte nickte ihm im Vorbeigehen zu, worauf er den Gruß auf die gleiche Weise erwiderte.
Interessiert drehte er sich zu ihr herum und schaute ihr versonnen nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwand.
Schnaufend betrat er das Büro des Hauptkommissars, der am Fenster stand.
»Moin, Hannes. Du hast ja neuerdings sehr attraktiven Besuch.«
»Man tut, was man kann«, erwiderte er vollkommen ernst. »Hast du ihre Beine gesehen?«
»Ich bin zwar ein alter Sack, aber nicht blind.«
»Das war Charly.«
Mit einer wenig respektvollen Geste tippte sich der Arzt an die Stirn, bevor er sich ächzend auf einen Besucherstuhl fallen ließ.
»Du glaubst mir nicht?« Mit dem Daumen deutete er zum Fenster. »Überzeug dich selbst.«
Mit einem Stöhnen wuchtete Dr. Fleischmann sein Gewicht wieder hoch und trat zu ihm. Vom Fenster aus sah er die Frau unten die Straße überqueren und auf einen am Bordstein geparkten schwarzen Golf zugehen.
»Das ist Charlottes Wagen«, murmelte er verblüfft. Sie schaute noch einmal hoch und stieg ins Auto. Fragend blickte der Rechtsmediziner den Kommissar an. »Warum hat sie sich so rausgeputzt? Steckt da etwa ein Mann dahinter?«
»Würde dich das stören?«
»Und ob.«
»Dann hättest du ihr vielleicht mal sagen sollen, dass sie dir nicht gleichgültig ist.«
»Das weiß sie doch längst.« Mit einem Seufzer nahm er wieder Platz. »Ich bin nicht ihr Typ. Mehr als Freundschaft ist nicht drin.«
Nachdenklich setzte sich Hannes an seinen Schreibtisch. Dann erzählte er, aus welchem Grund Charlotte ihr Äußeres verändert hatte.
»Nach ihren Spekulationen am Stammtisch habe ich noch mal die Obduktionsprotokolle durchgesehen«, sagte der Rechtsmediziner. »Beim zweiten Toten ist mir ein Hämatom aufgefallen, das eventuell nicht vom Sturz herrühren könnte.«
»Aber das ist …«
»Könnte, Hannes, könnte! Es gibt keinen Beweis.« Er zog ein Foto aus dem Umschlag und legte es auf den Schreibtisch. »Das ist eine Vergrößerung. Aber auch sie gibt keinen Aufschluss darüber, ob der Bluterguss vom Sturz oder von einem Schlag stammt.«
»Das reicht wahrscheinlich nicht für eine Wiederaufnahme der Ermittlungen. Wir haben nichts in der Hand. Aber wie ich Charly kenne, ist sie auch über das Hämatom gestolpert. Das gefällt mir gar nicht.«
In der Seniorenresidenz Eichengrund saß Charlotte im Büro der Leiterin Marion Fischer, einer schlanken Frau mit dunklen Locken. Nachdem die Formalitäten erledigt waren, überreichte sie dem neuen Gast den Hausprospekt.
»Hier drin finden Sie alles Wissenswerte, Frau Stern. Sie genießen bei uns Komfort und Service wie in einem Hotel, gestalten Ihren Tagesrhythmus aber selbst. Die Benutzung aller Einrichtungen des Hauses ist im Preis inbegriffen: Fitnessraum, Sauna, Schwimmbad …«
Diese Informationen hatte Charlotte schon auf der Homepage der Residenz gelesen. Dennoch hörte sie geduldig zu, während sie sich unauffällig umschaute: cremefarbene Sitzecke, Sideboards und Schreibtisch aus hellem Eichenholz. Zwei weiße Orchideen in Glasgefäßen standen auf der Fensterbank, eine Bonsaischale mit einem Miniatur-Eichenbaum auf einem der niedrigen Schränke. An der Wand hinter dem Schreibtisch der Leiterin hing das einzige Gemälde. Halb verdeckt von hohen Bäumen erkannte Charlotte darauf ein Gebäude, das Ähnlichkeit mit der heutigen Residenz hatte.
»Wir haben eine Bibliothek, ein Kaminzimmer und einen Wintergarten. Das alles ist barrierefrei zu erreichen. In jedem Gebäudeteil gibt es zwei Fahrstühle.«
»Noch bin ich gut zu Fuß – aber ein Internetanschluss wäre schön.«
»Sie können im ganzen Haus WLAN nutzen. Der Zugangscode steht in Ihrem Vertrag.«
Charlotte nickte.
»Sie sagten vorhin, dass es in der Residenz über 100 Apartments gibt. Sind die alle bewohnt? Dann haben Sie wahrscheinlich eine lange Warteliste.«
»Außer den Gästeapartments haben wir zurzeit nur eine freie Wohnung. Zwei kommen demnächst hinzu.«
»Bei denen sind die Bewohner aber nicht ganz freiwillig ausgezogen.«
»Ja, das war tragisch«, sagte die Residenzleiterin mit bekümmerter Miene. »Und dann waren die Zeitungen auch noch voll davon – obwohl es sich um Unfälle handelte. Das ist gar nicht gut für unser Image.« Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. »Das ist auch der Grund, warum wir das Probewohnen vorübergehend fast zum Selbstkostenpreis ermöglichen. Davon profitieren nun auch Sie.« Damit erhob sie sich. »Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Apartment.«
Die 30 Quadratmeter große Gästewohnung befand sich in der ersten Etage. Frau Fischer öffnete die Tür zu Charlottes neuem Reich und übergab ihr den Schlüssel. Durch eine schmale Diele ging es nach rechts in den hellen Wohnraum, der zweckmäßig, aber gemütlich möbliert war: graue Sitzpolster mit einem Couchtisch davor, eine Anrichte, ein zierlicher Schreibtisch, eine kleine Essecke. Gegenüber im winzigen Schlafzimmer standen nur ein Bett, ein Kleiderschrank und eine Nachtkonsole. Die Fußböden waren mit Parkett ausgelegt. Kitchenette und Bad waren klein, aber funktionell ausgestattet.
Die Leiterin sagte noch, dass sie bei Fragen jederzeit zur Verfügung stünde – dann ließ sie Charlotte allein.
Da fleißige Helfer ihr Gepäck schon heraufgebracht hatten, packte sie zuerst ihre Sachen aus, bevor sie die Balkontür öffnete und hinaustrat. Ihr Blick schweifte über den weitläufigen Park. Schatten spendende Eichen standen vereinzelt oder in Gruppen auf dem gesamten Gelände. Weiße Bänke luden zum Verweilen ein. Zwischen den von Blumenbeeten umsäumten Grünflächen waren zahlreiche Spazierwege angelegt. Sogar einen im Sonnenlicht glitzernden Teich konnte Charlotte erkennen. Jetzt um die Mittagszeit war der Park menschenleer. Wahrscheinlich ruhten die meisten Bewohner nach dem Essen. Das erinnerte Charlotte daran, dass ihre letzte Mahlzeit das Frühstücksbrötchen gewesen war. Sie brauchte dringend etwas in den Magen. Sollte sie sich im Restaurant der Residenz etwas Leckeres bestellen – oder besser gleich einkaufen gehen? Aus Kostengründen hatte sie sich für Selbstverpflegung entschieden und die Vollpension nicht mitgebucht. Deshalb musste sie sich einige Vorräte anlegen. Kurz entschlossen griff sie nach ihrer Handtasche, steckte den Wohnungsschlüssel ein und verließ ihr Apartment. Obwohl der von Frau Fischer empfohlene Supermarkt nicht weit entfernt lag, fuhr Charlotte mit dem Auto dorthin.
Der Einkaufswagen füllte sich rasch mit Brot, Butter, Käse und Marmelade. Frisches Obst, Tomaten und Radieschen, Eier, Kaffee und Milch kamen dazu. Ihre bevorzugte Teesorte für den Abend hatte sie von zu Hause mitgebracht. Zuletzt entschied sie sich für drei Fertiggerichte – zu denen sie manchmal griff, wenn es schnell gehen musste – und für eine Flasche Rotwein.
Als sie die Einkäufe im Kofferraum verstaute, stieg ein verlockender Duft in ihre Nase. Suchend schaute sie sich um und entdeckte einen Imbissstand am Ende des Supermarktparkplatzes. Wenige Minuten später ließ sie sich an einem der Stehtische eine gegrillte Bratwurst mit Pommes schmecken.
Gestärkt fuhr Charlotte zur Residenz zurück. Nachdem ihre Einkäufe in Kühl- und Küchenschrank eingeräumt waren, verließ sie ihr Apartment wieder, um sich in der neuen Umgebung umzuschauen.
Auf dem Flur begegnete ihr eine elegante alte Dame, die einen Rollator vor sich herschob.
»Entschuldigen Sie, haben Sie meinen Mann gesehen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Charlotte freundlich. »Wie sieht er denn aus?«
Ein verträumter Ausdruck erschien auf dem zerfurchten Gesicht.
»Mein Hugo ist ein schöner Mann: groß und schlank mit schwarzen Locken.«
»Ich glaube, ich bin ihm noch nicht begegnet, aber wenn er mir über den Weg läuft, sage ich ihm, dass Sie ihn suchen.«
»Danke, junge Frau …«
Statt eines Fahrstuhls nahm Charlotte diesmal die Treppe. Bedächtig schritt sie die Stufen hinab, während sie sich den Sturz des zweiten Unfallopfers vorstellte. Die Treppe war breit, hatte einen Absatz und nur auf der linken Seite ein Geländer. Im Fallen war es wahrscheinlich nicht einfach, danach zu greifen, um Halt zu finden. Schon gar nicht für einen fast 80-Jährigen. Tödliche Kopfverletzungen waren die Folgen für den alten Mann gewesen.
Langsam durchquerte Charlotte an der Rezeption vorbei die Lobby. Mehrere Sitzgruppen aus schwarzem Leder, niedrige Tische und große Grünpflanzen pflegeleicht in Hydrokulturgefäßen erinnerten an eine moderne Hotelhalle. Einige Residenzbewohner saßen allein oder zu zweit im Eingangsbereich. Manche steckten die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander, als Charlotte vorbeiging. Anscheinend wurde sie als Neue erkannt und weckte deshalb Interesse.
Unbeirrt schlenderte sie weiter. Vor den Flügeltüren des Wintergartens blieb sie stehen und schaute hinein. Durch die verglasten Wände flutete das Sonnenlicht den Raum. Weiße Rattanmöbel schufen zusätzlich eine helle Atmosphäre. Vier Bewohner saßen in der Nähe der Verandatür, die ins Freie führte. Ein hagerer Mann im Rollstuhl, der Charlotte an einen Aristokraten aus einem Edgar-Wallace-Film erinnerte, musterte sie mit unbewegter Miene.
»Reinkommen und hinsetzen!«
Das war keine Bitte, sondern ein aus dem Mundwinkel geknurrter Befehl. Teils amüsiert, teils erstaunt kam sie seiner Aufforderung nach und nahm neben einer Frau mit modischer grauer Kurzhaarfrisur Platz, die etwas nicht Identifizierbares strickte.
»Herrscht hier immer ein Ton wie auf einem Kasernenhof?«
»Volltreffer!«, erwiderte die Strickerin trocken. »Einmal Offizier, immer Offizier.«
»Papperlapapp!« Unter fragend erhobenen Brauen schaute der Rollstuhlfahrer Charlotte an. »Sie sind neu hier. Wie heißen Sie?«
»Seit wann stellt sich die Dame dem Herrn vor? Wo ich herkomme, macht man das umgekehrt.«
Verdutzt zogen sich seine buschigen Brauen zusammen. Er feuerte einen vernichtenden Blick auf die leise lachende Handarbeiterin ab, bevor er sich kerzengerade in seinem Rolli aufsetzte und die Augen auf die neue Bewohnerin richtete.
»General a. D. Albert Scheuermann.«
»Freut mich«, sagte sie mit unverbindlichem Lächeln. »Ich bin Charlotte Stern.«
»Conrad Lenz, Diplom-Meteorologe«, stellte sich ein rundlicher Mann mit Schnurrbart und weißem Haarkranz vor. »Sind Sie vom Himmel gefallen, Frau Stern?«
»Auf diesen Spruch habe ich schon gewartet.«
»Das hören Sie wohl öfter. Tut mir leid, das war nicht sehr originell.«
»Kein Problem.«
»Dafür ist er ein brauchbarer Wetterfrosch«, sagte die Frau, die neben Charlotte saß. »Willkommen in unserer Runde. Ich bin Anneliese Grothe. Man nennt mich auch Strick-Liesel.« Ohne ihre Handarbeit zu unterbrechen, erzählte sie, dass sie viele Jahre eine Einrichtung für schwererziehbare Kinder geleitet hatte. Unbefangen gab sie zu, dass der tägliche Umgang mit den Jugendlichen auch auf ihren Wortschatz abgefärbt hatte. »Und jetzt bin ich wieder in einem Heim gelandet – und vertreibe mir die Zeit mit ›Urban Knitting‹.«
»Liesel ist eine Guerilla-Strickerin«, erläuterte der Wettermann auf Charlottes fragenden Blick. »Vielleicht haben Sie die bunten Poller, Fahrradbügel oder Papierkörbe schon mal bemerkt, die seit einiger Zeit in allen Stadtteilen zu bewundern sind.«
»In der Südstadt stehen mehrere davon am Stephansplatz«, erinnerte sie sich. »Einer davon ist so ein lustiger rosa umstrickter Betonpfosten mit Gesicht und Bommelmütze.«
»Kinderkram«, warf der General ein. »Völlig nutzlos.«
»Sie sind ein alter Miesmacher«, tadelte ihn Anneliese. »Wir machen das graue Stadtbild bunter. Die Menschen freuen sich darüber. Das ist doch cool.«
Während sich die beiden ein Wortgefecht lieferten, schaute Charlotte zu einer Frau hinüber, die etwas abseits in einem Korbsessel neben einer großen Palme saß: eine zierliche, ganz in Grau gekleidete Gestalt. Ihre Hände ruhten in ihrem Schoß; die Augen waren teilnahmslos auf den gefliesten Boden gerichtet. Sie wirkte so verloren, dass sich Charlottes Mitgefühl regte.
»Das ist Frau Seegers«, erklärte Anneliese mit gedämpfter Stimme, bevor sie mit der Stricknadel zur weit offen stehenden Verandatür deutete. »Und da kommt unser Sonnyboy.«
Interessiert blickte Charlotte dem Mann entgegen, der mit langen Schritten aus dem Park kam.
Groß und schlank, helle Hose, weißes Hemd; ein gelber Pullover hing lässig um seine Schultern. Als er den Wintergarten erreichte, zog er die Sonnenbrille von der Nase. Sein leicht gebräuntes Gesicht verriet einen häufigen Aufenthalt im Freien. Das schneeweiße Haar war zerzaust und etwas zu lang. Wahrscheinlich der Residenz-Playboy.
»Da bin ich wieder«, sagte er und ließ sich in einen Sessel fallen. Sein Blick streifte die Anwesenden, blieb an Charlotte haften. »Ein neues Gesicht?«
»Nicht wirklich. Damit laufe ich schon seit Jahrzehnten rum.«
»Es passt zu Ihnen«, sagte er lächelnd, erhob sich und reichte ihr die Hand. »Verzeihen Sie, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe: Philipp Thaler.«
»Charlotte Stern.«
»Sind Sie …«
»Nein, ich bin nicht vom Himmel gefallen«, unterbrach sie ihn und entzog ihm ihre Hand.
»Das habe ich auch nicht angenommen«, sagte er und setzte sich wieder. »Ich wollte fragen, ob Sie zum Probewohnen hier sind.«
»Gut geraten.«
»So viele Möglichkeiten gibt es ja nicht. Haben Sie schon alles gesehen, was dieses feudale Haus zu bieten hat?«
»Weiter als bis hierher bin ich noch nicht gekommen. Ich konnte der freundlichen Aufforderung des Generals nicht widerstehen, mich zu dieser netten Runde zu setzen.«
Sein tiefes Lachen erklang.
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Mir ist es auch mal so ergangen. Inzwischen fühle ich mich in diesem kleinen Kreis richtig wohl. Wir sind eine eingeschworene Truppe geworden und unternehmen auch mal was zusammen.« Er sprach nicht weiter, als eine junge Frau aus dem Restaurant einen Servierwagen hereinschob. »Ich habe Kaffee und Kuchen geordert. Sie trinken doch eine Tasse mit, Frau Stern?«
»Danke, gern.«
Gleich darauf beobachtete sie, wie er den Kaffee einschenkte und jeden mit einer Tasse und einem Stück Torte versorgte. Auch die abwesend wirkende Frau Seegers vergaß er nicht. Mit leisen Worten sprach er auf sie ein, stellte Kaffee und Kuchen neben sie auf ein Tischchen und legte behutsam eine Serviette auf ihre Knie. Bevor er sich abwandte, nickte er der alten Dame aufmunternd zu und strich mit den Fingerspitzen über ihre faltige Wange.
Diese Geste bewirkte, dass Charlotte insgeheim den »Residenz-Playboy« zurücknahm.
In der nächsten Stunde hörte sie viel über das Leben in der Wohnanlage. Sie erfuhr auch, dass man sich in der Gruppe mit dem Vornamen anredete. Das kam ihr sehr entgegen und sie bat darum, Charlotte genannt zu werden. Sie wollte das Vertrauen ihrer Mitbewohner gewinnen, sonst würde sie kaum etwas in Erfahrung bringen. Dabei empfand sie es als angenehm, dass sie sich kaum verstellen musste. Dieser kleine Kreis war ihr sympathisch.
Auch die abwechslungsreichen Freizeitangebote kamen zur Sprache: Schwimmen, Ausflüge, Gymnastik- und Literaturgruppen, Theater-, Musik- oder Vortragsveranstaltungen.
»Langweilen werden Sie sich hier selten, Charlotte«, sagte die Strick-Liesel. »Immerhin wohnen hier ein paar tausend Jahre Lebenserfahrung. Da ist immer irgendwas los. Manch einer liegt sogar morgens tot in der Lobby.«
»Davon habe ich in der Zeitung gelesen. Tragisch, so ein Unfall.«
»Das stimmt schon, aber für mich wäre es keine Überraschung, wenn jemand den Mann abgemurkst hätte.«
»Anneliese!«
»Was?« Herausfordernd blickte sie Philipp an. »Das war ein alter Stinkstiefel – und ein Querulant. Der hat sich doch mit jedem angelegt.«
»Auch wenn er ein schwieriger Zeitgenosse war, ist das noch kein Grund, ihn umzubringen. Ich glaube kaum, dass einer von uns die Nerven für einen Mord hätte.«
»Wer weiß das schon?« Sie griff nach dem Korb zu ihren Füßen und legte das Strickzeug hinein. »Jeder Mensch ist dazu fähig – egal, wie alt er ist. Es kommt nur auf die Umstände an. Vielleicht haben wir einen ganz raffinierten Killer unter uns, der tagsüber den harmlosen Grufti gibt und nachts seine dunkle Seite auslebt. Am nächsten Morgen finden wir dann wieder ein ›Unfallopfer‹.« Triumphierend schaute sie in die Runde. »Dann wäre auch Herrn Kleibers Rutschpartie im Bad ein Mord gewesen.«
»Sie haben zu viel Fantasie«, schaltete sich der General in die Diskussion ein. »Ein Mörder im Eichengrund – lächerlich! Hier wohnen anständige Leute.«
Nach dem Frühstück saß Charlotte noch bei einer Tasse Kaffee auf dem kleinen Balkon. Im Hausprospekt las sie, dass sich die Bewohner an einen Empfangsmitarbeiter wenden sollten, falls sie Hilfe benötigten. Ein freundlicher Angestellter sei rund um die Uhr für sie da. – Wie passte das mit dem unbemerkten Treppensturz von Herrn Uhland zusammen? Da man den Toten erst am nächsten Morgen gefunden hatte, konnte die Rezeption nicht die ganze Nacht besetzt gewesen sein.
Rasch trank Charlotte ihren Kaffee aus, nahm die Tasse mit hinein und stellte sie in die Spüle. Sie warf im Schlafzimmer noch einen kritischen Blick in den Spiegel, bevor sie das Apartment verließ. Auf dem Flur kam ihr die hochgewachsene Dame mit dem Rollator entgegen, die ihr schon an ihrem Einzugstag begegnet war.
»Entschuldigung, haben Sie meinen Mann gesehen?«
Irritiert blieb Charlotte stehen. Anscheinend ließ Hugo seine Frau öfter allein.
»Nein, ich glaube nicht.«
»Er ist ein schöner Mann: groß und schlank mit schwarzen Locken.«
»Das sagten Sie gestern schon. Haben Sie ihn seitdem nicht gefunden?«
»Hugo hat immer so viel zu tun«, murmelte sie und schob ihre Gehhilfe weiter.
Nachdenklich betrat Charlotte den Lift, der sich neben ihrer Unterkunft befand, und fuhr ins Foyer. Zielstrebig ging sie zur Rezeption hinüber. Dahinter beschäftigte sich ein junger Mann mit dem Sortieren der Post. Auf einem kleinen Schild an seiner Weste stand der Name: Michael Riedel.
»Guten Tag«, sagte er freundlich. »Kann ich etwas für Sie tun, Frau …?«
»Charlotte Stern – ich bin seit gestern zum Probewohnen hier und habe eine Frage: Angeblich kann man hier Tag und Nacht jemanden erreichen. Ist die Rezeption rund um die Uhr besetzt?«
»Von 6 Uhr morgens bis 23 Uhr abends ist jemand hier. Danach wird der Haupteingang geschlossen, und das Telefon wird ins Büro der Nachtwache umgestellt. Wenn Sie später nach Hause kommen, können Sie durch den Nebeneingang ins Haus. Ihr Apartmentschlüssel passt auch für diese Tür.«
»Gut zu wissen«, erwiderte Charlotte, wobei sie den zweiten Monitor bemerkte, der auf seinem Arbeitsplatz stand. Sie beugte sich etwas vor, um auf den Bildschirm sehen zu können. Er war in vier Bereiche unterteilt. »Sie haben Videoüberwachung?« Davon hatte nichts im Polizeibericht gestanden. Vielleicht gab es eine Aufzeichnung von Herrn Uhlands Treppensturz? »Dann steht man hier wohl unter ständiger Beobachtung?«
»Die Kameras sind für die Sicherheit der Bewohner wichtig, Frau Stern«, betonte der Rezeptionist. »Außer dem Eingangsbereich werden nur das Schwimmbad, der Fitnessraum und der Park überwacht. Falls es dort zu einem Unfall kommt, können wir schnellstmöglich Hilfe holen.«
»Das klingt einleuchtend«, erwiderte sie lächelnd, um nicht sein Misstrauen zu wecken. »Dann müssten Sie meine Ankunft gestern auch aufgezeichnet haben. Ich vermisse seitdem … meinen Terminkalender. Kann man anhand der Videoaufnahmen prüfen, ob ich ihn hier vergessen habe?«
»Tut mir leid, aber wir speichern die Aufnahmen nicht. Das wäre zu viel Aufwand. Ich schaue aber gern bei den Fundsachen nach Ihrem Kalender. Wie sieht er denn aus?«
»Er ist nicht sehr groß, aus dunkelrotem Leder«, beschrieb sie den Kalender, der oben in ihrem Apartment lag. Sie ließ sich ihre Enttäuschung darüber, keinen Schritt weitergekommen zu sein, nicht anmerken. »Falls sie ihn finden, legen Sie ihn bitte in mein Postfach.«
»Gern, Frau Stern.«
»Danke.«
Sie nahm sich einen Veranstaltungsplan aus dem Prospektständer und schlenderte einige Schritte weiter, während sie darin blätterte. Als sie aufblickte, sah sie den General, der mit seinem Elektrorollstuhl zielsicher auf die Residenzleiterin zusteuerte. Frau Fischer hatte das Haus gerade betreten und schaute sich nach einem Fluchtweg um. Sie wollte sich nach rechts wenden, aber der Rollstuhlfahrer schnitt ihr den Weg ab.
»Ich muss Sie sprechen, Frau Fischer.«
»Was gibt es denn, Herr Scheuermann?«, fragte sie und warf einen ungeduldigen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich habe wenig Zeit.«
»Ich muss mich bei Ihnen beschweren.«
»Schon wieder?«
»Ich will endlich anständigen Kaffee zum Frühstück.«
»Sie wissen doch, dass Ihr Hausarzt …«
»Das ist mir egal. Diese dünne Brühe ist unter aller Kanone. Und das Mittagessen ist fade, weich und widerlich. Da wurde sogar in unserer Feldküche besser gekocht.«
»Wir halten uns bei Ihrem Speiseplan an die Ernährungsvorgaben von Dr. Wilke. Ihrer Gesundheit zuliebe sollten Sie …«
»Will ich aber nicht! Noch kann ich selbst entscheiden.«
»Wie Sie meinen. Ich gebe Ihre Wünsche an die Küche weiter – auf Ihre Verantwortung.« Damit ließ sie ihn stehen und eilte auf die Rezeption zu.
»Sie haben es auch nicht immer leicht«, sprach Charlotte sie an, die jedes Wort mitgehört hatte.
»Da sagen Sie was. – Haben Sie sich inzwischen schon umgeschaut und erste Kontakte geknüpft?«
»Was ich bisher gesehen habe, gefällt mir sehr gut.«
»Das freut mich.« Abermals warf sie einen Blick zur Uhr. »Entschuldigen Sie, die Arbeit ruft.«
Am Nachmittag zog es Charlotte wieder zum Wintergarten. Ihr war klar, dass sie nur durch Gespräche mit den Bewohnern etwas Brauchbares herausfinden würde – wenn überhaupt.
»Kommen Sie, Charlotte«, sagte Anneliese, die ausnahmsweise mal nicht strickte, sondern Kaffee einschenkte. »Heute bin ich mit der Bewirtung dran. Es gibt Erdbeertorte mit Schlagsahne.«
»Aber ich kann doch nicht immer …«
»Nun setzen Sie sich schon. Irgendwann sind Sie auch mal an der Reihe.«
Damit konnte sie leben. Sie nahm auf dem einzigen freien Platz in der Runde neben Philipp Thaler Platz. Auch jetzt waren alle anwesend, die sie schon gestern kennengelernt hatte. Frau Seegers saß wieder etwas abseits und starrte vor sich hin.
»Eigentlich müsste ich ja auf meine Linie achten«, sagte der Wetterfrosch Conrad Lenz und klopfte mit der Hand auf seinen Bauchansatz. »Aber das ist verdammt schwer.«
»Wie man sich füttert, so wiegt man«, bemerkte Charlotte. »Fünf Sekunden im Mund – fünf Jahre auf den Hüften. Vielleicht sollten Sie sich mehr bewegen.«
»Leider bin ich in sportlicher Hinsicht Legastheniker.«
»Treiben Sie Sport?«, wandte sich Philipp an Charlotte, wobei er eine Tasse Kaffee an sie weiterreichte. »Sie wirken ziemlich fit.«
»Ich gehe zweimal in der Woche ins Fitnessstudio. Dienstags trainiere ich an den Geräten und donnerstags wird getanzt. Früher war ich in der Jazzdance-Gruppe. Vor einiger Zeit habe ich in den Zumba-Kurs gewechselt. Das macht Spaß und hält jung.«
»Das sieht man Ihnen an«, brummte der General, den die Aussicht auf frischen Bohnenkaffee milde stimmte. »Ich bin früher oft mit meinen Soldaten gelaufen, aber das hat sich mit dem Rollstuhl erledigt.«
»Ein Bewegungsmuffel war ich eigentlich schon immer«, gab Conrad zu und häufte sich einen Berg Schlagsahne auf sein Tortenstück. »Sportler leben sowieso nicht länger. Sie sterben nur gesünder.«
»Das halte ich für ein Gerücht«, sagte Charlotte und schaute interessiert durch die große Glastür nach draußen. Auf einer Bank in der Nähe saß eine rauchende Frau in einem langen violetten Kleid; das silbergraue Haar sorgsam hochgesteckt. In der Hand hielt sie eine Zigarettenspitze, die sie mit einer eleganten Geste an die Lippen führte. »Merkwürdig«, murmelte Charlotte. »Die Dame da draußen hat eine frappierende Ähnlichkeit mit Christa Bernhardt, der Opernsängerin.«
»Vielleicht ist sie es ja«, meinte Anneliese lächelnd, worauf Charlotte den Kopf schüttelte.
»Unmöglich. Die müsste jetzt mindestens 70 sein. Es ist bestimmt 20 Jahre her, als ich sie zuletzt in der Oper erlebt habe. Damals sah sie genauso aus wie die Frau auf der Bank.«
»Genau diesen Effekt wollte sie erzielen«, erwiderte Anneliese und griff nach ihrem Strickzeug. »Für die Entfaltung hat sie sich zweimal unters Messer gelegt.«
Nachdenklich nickte Charlotte. »Deshalb hat sie sich nicht verändert. Fragt sich nur, ob sie ohne die Patina des Lebens glücklicher ist. Ich würde mich jedenfalls nicht liften lassen.«
»Sie haben das auch nicht nötig«, sagte Philipp, wobei er sie aus ernsten Augen betrachtete. »So jung und frisch, wie Sie aussehen.«
»Die Trickkiste der Kosmetikindustrie unterstützt mich dabei nach Kräften.«
»Das glaube ich nicht.«
»Dann sollten Sie mich mal morgens nach dem Aufstehen sehen.«
»Das würde ich gern.«
Sie warf ihm einen spöttischen Blick zu.
»Ich möchte Sie nicht überfordern.«
»So schlimm kann das gar nicht sein. Außerdem haben Menschen, die morgens zerknittert aufwachen, tagsüber viele Entfaltungsmöglichkeiten.«
»Das muss ich mir merken«, sagte Conrad lachend, bevor er zum Servierwagen schielte. »Darf ich noch ein Stück Torte, Liesel?«
»Kommt gleich.«
»Und ich möchte noch eine Tasse Kaffee«, meldete sich der General zu Wort. »Ich habe ein Koffeindefizit.«
»Denken Sie an Ihren Blutdruck, Albert.«
Streng blickte er die Strick-Liesel an.
»Ich bin hier, um zu genießen – nicht, um länger zu leben.«
»Sie müssen es ja wissen«, meinte sie, legte ihre Handarbeit in den Korb und erhob sich, um den Herren das Gewünschte zu bringen.
Unterdessen sah Charlotte, dass die Opernsängerin draußen aufstand und auf ihren Stock gestützt langsam an der Fensterfront vorbeiging.
»Sie können es immer noch nicht so recht fassen«, kommentierte Anneliese. »Wir haben hier in der Residenz sogar eine echte Gräfin, aber die lebt im Gegensatz zu der Bernhardt sehr zurückgezogen. Unsere Starsopranistin ist eine exzentrische alte Diva, die immer Sonderwünsche hat. Die hält die Mitarbeiter ganz schön auf Trapp – aber die Bewohner lieben sie.« Sie setzte sich wieder und holte ihre Strickkunst hervor. »Übrigens wohnt sie auf Ihrer Etage. Wenn Sie sich schnell entscheiden, können Sie in die Wohnung neben ihr einziehen. Ihr Nachbar war nämlich der bedauernswerte Herr Uhland.«
Sie tat, als höre sie diesen Namen zum ersten Mal.
»Wer ist das?«
»Der war unser zweiter Todesfall in der Residenz«, erklärte Conrad. »Der arme Mann ist nachts die Treppe runtergefallen. Man soll ja nichts Schlechtes über Tote sagen, aber sehr beliebt war er nicht.«
»Ein ehemaliger Geschichtslehrer«, fügte Anneliese hinzu. »Und ein furchtbarer Besserwisser. Der musste überall seinen Senf dazugeben. Das hat manchmal ganz schön genervt.«
»Es fiel ihm schwer, die Rolle des Oberlehrers abzulegen«, vermutete Philipp, wobei er dem General einen bedeutungsvollen Blick zuwarf. »Manche Menschen sind eben sehr mit ihrem Beruf verwachsen.«
»Und andere sind froh, wenn sie das Hamsterrad endlich verlassen dürfen«, meinte Conrad. »Sie verschwenden keinen Gedanken mehr an den Job, freuen sich auf den Ruhestand – und sterben, bevor sie ihn genießen können.«
»Oder sie wissen nicht, was sie mit der vielen freien Zeit anfangen sollen«, ergänzte Philipp. »Alt zu sein, ist gar nicht so leicht. – Goethe hat mal gesagt …«
»Goethe?«, warf Charlotte ein. »Wohnt der etwa auch hier?«
Die Strick-Liesel prustete los, die anderen stimmten in ihr Lachen ein. Sogar die Mundwinkel von Frau Seegers zuckten verdächtig.
»Sie sind echt ’ne coole Nummer«, brachte Anneliese immer noch glucksend hervor. »Ihren Humor können wir in unserer Rheumadeckenliga gut gebrauchen.«
»Ich werde daran denken, bevor ich mich entscheide, ob ich für immer hier einziehe«, erwiderte Charlotte, ehe sie Philipp anschaute. »Was hat der Geheimrat denn nun gesagt?«
»Keine Kunst ist’s, alt zu werden. Es ist Kunst, es zu ertragen.«
»Da ist was Wahres dran«, sagte sie und erhob sich. »Ich brauche Bewegung, deshalb werde ich jetzt das Gelände erkunden. Danke für den Kaffee und den leckeren Kuchen.«
Sofort stand auch Philipp auf.
»Darf ich Sie in den Park begleiten? Ich brauche auch ein bisschen Auslauf.«
»Das klingt nach Gassi gehen.«
»Von Ihnen würde ich mich gern mal an die Leine legen lassen.«
»Flirten Sie etwa mit mir?«
»Ich?«, tat er entrüstet. »Nie und nimmer.«
»Okay, dann dürfen Sie mitkommen.«
Über die Veranda verließen sie den Wintergarten und traten ins helle Sonnenlicht. Das milde Frühlingswetter lud geradezu zu einem Spaziergang ein. Eine Weile schlenderten sie schweigend durch den weitläufigen Park. Bis auf den Gesang der Vögel und das leise Rauschen der Blätter in den alten Eichen war es still.
Plötzlich waren eilige Schritte zu hören. Auf einem Nebenweg lief eine junge Frau in Schwesterntracht vorbei. Ein kleiner, gebeugt gehender Mann folgte ihr auf einen Stock gestützt, so schnell er konnte.
»Warten Sie, Schwester!«, rief er ihr nach. »Wir machen es uns schön. Ich krieg ihn noch hoch.«
Amüsiert blickte Charlotte den beiden nach.
»Was war das denn?«
»Das war Josef Pippich«, erklärte Philipp schmunzelnd. »Trotz seiner 81 Jahre ist er hinter jeder jungen Frau her. Besonders die Schwestern drüben aus dem Pflegeheim haben es ihm angetan. Er würde so gern noch mal bei einer von ihnen seine Manneskraft beweisen.«
»Was für ein Teufelskerl«, sagte Charlotte mit gutmütigem Spott. »Wie Casanova sieht er ja nicht gerade aus. Er erinnert mich eher an …«
»Rumpelstilzchen?«
Lachend nickte sie.
»Woher wissen Sie das?«
»Daran habe ich auch gedacht, als ich ihn das erste Mal eine Schwester verfolgen sah.«
»Wo bin ich hier nur hingeraten?«
Er betrachtete sie von der Seite, während sie weitergingen, sagte aber nichts. Sie spürte seinen intensiven Blick. Das verunsicherte sie etwas.
»Was?«, fragte sie schließlich, als sie den großen Teich erreichten, und schaute ihm in die Augen. »Nun fragen Sie schon. Sie wollen doch irgendwas wissen.«
»Stimmt«, gab er zu. »Ich frage mich die ganze Zeit, was Sie hier tun, Charlotte. Sie gehören doch gar nicht hierher.«
»Warum nicht?«
»Sie sind nicht der Typ für eine Seniorenresidenz. Dafür sind Sie zu jung und zu fit. Sie sind geistig voll auf der Höhe, treiben Sport und haben sicher viele Interessen und einen großen Freundeskreis.«
»Und was ist mit Ihnen? Sie wirken auch nicht gerade wie ein gebrechlicher Greis, der allein nicht mehr zurechtkommt.«
»Gut beobachtet.« Er deutete einladend auf eine Bank am Ufer. Als Charlotte Platz genommen hatte, setzte er sich neben sie.
»Ich wohne hier nur vorübergehend im Apartment meiner Tante. Sie sollte hier vor drei Wochen einziehen; es war schon alles vorbereitet: Die Miete war bezahlt, die Möbel waren aufgestellt – und dann erlitt die alte Dame einen Schwächeanfall. Drei Tage später ist sie in der Klinik friedlich eingeschlafen.«
»Das tut mir leid.«
»Nun ja, sie war 93 und hatte ein schönes Leben.«
»Und warum haben Sie ihr Apartment übernommen?«
»Als Tante Lenchen im Krankenhaus lag, bin ich fast rund um die Uhr bei ihr geblieben. Deshalb habe ich den Wasserrohrbruch in meinem Haus erst bemerkt, als es dort schon aussah wie Klein-Venedig. Jetzt muss erst mal alles trocknen, dann müssen die Handwerker ran. Marion … Frau Fischer hatte mir freundlicherweise angeboten, dass ich erst mal hier unterkommen kann. Sonst hätte ich in ein Hotel ziehen müssen.« Erwartungsvoll schaute er sie an. »Jetzt sind Sie dran.«
»Ich bin hier, um mich zu informieren, welche Möglichkeiten ich habe, wenn ich eines Tages nicht mehr in der Lage bin, alles allein zu bewältigen. Manchmal passiert etwas so plötzlich, dass man gar keine Zeit mehr hat, verschiedene Einrichtungen zu vergleichen.«
»Haben Sie denn niemanden, bei dem Sie wohnen könnten?«
Charlotte entschied sich, so weit wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben.
»Mein Sohn lebt in München und meine Tochter wohnt mit ihrer Familie in Hamburg. Sie haben mich schon öfter gebeten, zu ihnen zu ziehen, aber das möchte ich nicht. Ich will ihnen nicht irgendwann zur Last fallen.«
»Das können sie aber nur schwer akzeptieren.«
»Anscheinend haben Sie die gleiche Erfahrung gemacht.«
»Meine Tochter möchte mich auch näher bei sich haben. Sie lebt mit Mann und Kindern in der Nähe von Stockholm. Aber was soll ich in Schweden? Meine Wurzeln sind hier. Ich habe schon erwogen, irgendwann eine Senioren-WG zu gründen. Könnten Sie sich vorstellen …« Er unterbrach sich, als er Herrn Pippich aus einem Seitenweg auf sie zukommen sah. »Jetzt wird es interessant.«
Mit raschen Tippelschritten kam der alte Mann heran. Dabei wechselte sein Blick flink zwischen Charlotte und Philipp.