Die Welt mit anderen Augen sehen - Markolf H. Niemz - E-Book

Die Welt mit anderen Augen sehen E-Book

Markolf H. Niemz

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Beschreibung

Eine neue Sicht auf die Welt

Markolf Niemz, international ausgewiesener Biophysiker und Bestsellerautor, stellt in diesem Buch unser Weltbild auf den Kopf. Wir sind es gewohnt, den Erkenntnissen der Naturwissenschaften zu trauen. Diese lehren uns, dualistisch und in Abgrenzungen zu denken: Entweder es gibt das eine, oder das andere. Entweder es gilt dieses, oder jenes – doch auf keinen Fall beides zugleich. Was aber, wenn Naturwissenschaften und Philosophie auch noch andere Möglichkeiten bieten? An sechs spannenden Beispielen zeigt der Autor, was passiert, wenn man den Blickwinkel ein wenig ändert und das Wissen der Naturwissenschaften neu sortiert. Die Belohnung: Eine moderne Sicht auf das Leben und den Kosmos. Religiös offen, spirituell tief und wahrhaft beglückend.

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Seitenzahl: 170

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Markolf H. Niemz

DIE WELT MIT

ANDEREN

AUGEN SEHEN

Ein Physiker ermutigt

zu mehr Spiritualität

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Alle Abbildungen, Fotos, soweit nicht anders angegeben:

© Markolf H. Niemz

Sie erreichen den Autor unter:

[email protected]

Copyright © 2020 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © Guten Tag Vector – shutterstock.com

ISBN 978-3-641-26342-3V001

www.gtvh.de

FÜR UNS ALLE

INHALT

Lösungen finden

Erste Challenge: Raum und Zeit

Was kommt zuerst – Raum oder Zeit?

Newtons Schiffe

Clarkes Eimer

Kants Vorstellungen

Raum und Zeit sind nicht zwei

Zweite Challenge: Sein und Werden

Was kommt zuerst – Sein oder Werden?

Parmenides’ Kugel

Heraklits Feuer

Der Lichtspeicher

Sein und Werden sind nicht zwei

Dritte Challenge: Gut und Böse

Was kommt zuerst – Gut oder Böse?

Leibniz’ Theodizee

Laplacescher Dämon

Das Libet-Experiment

Gut und Böse sind nicht zwei

Vierte Challenge: Huhn und Ei

Was kommt zuerst – das Huhn oder das Ei?

Cuviers Fossilien

Lamarcks Giraffen

Darwins Lebensbaum

Huhn und Ei sind nicht zwei

Fünfte Challenge: Schöpfer und Schöpfung

Was kommt zuerst – Schöpfer oder Schöpfung?

Moses Genesis

Hawkings Universum

Whiteheads Organismus

Schöpfer und Schöpfung sind nicht zwei

Sechste Challenge: Liebe und Verständnis

Was kommt zuerst – Liebe oder Verständnis?

Wahre Liebe

Wahres Verständnis

Wahres Glück

Liebe und Verständnis sind nicht zwei

Bonuskapitel

Einsteins Relativität und Nahtoderfahrungen

Talk mit dem Autor

Definitionen in diesem Buch

Stiftung Lucys Kinder

Anmerkungen

EIN KOSMOS,

IN DEM LEBEN

EINFACH GESCHIEHT,

IST EBENSO KREATIV

WIE IRGENDEIN GOTT.

LÖSUNGEN FINDEN

Wenn du nach Lösungen suchst,

verändere deine Perspektive!

Was kam zuerst – das Huhn oder das Ei? Vermutlich haben auch Sie sich schon an diesem kniffligen Rätsel versucht. Ich war noch ein Teenager, als ich mich zum ersten Mal mit ihm konfrontiert sah. Damals dachte ich wie fast alle Menschen, dass das Rätsel keine vernünftige Lösung haben kann. Falls das Huhn zuerst da war, woraus soll dieses allererste Huhn geschlüpft sein? Falls das Ei zuerst da war, wer soll dieses allererste Ei gelegt haben? Rein logisch betrachtet, scheint es keinen Ausweg aus dem Teufelskreis zu geben.

Tatsächlich gibt es aber eine Lösung, und ich lade Sie in diesem Buch herzlich ein, sich mit ihr vertraut zu machen. Die Lösung ist verblüffend einfach, wenn Sie mal den Dreh herausgefunden haben; und sie kann uns zeigen, wer wir wirklich sind. Ja, sie weist uns sogar (und das ist kein Witz) einen Weg zu Gott! Denn wir können das Rätsel auch umformulieren: Was kam zuerst – Schöpfer oder Schöpfung? Für Gläubige ist die Antwort klar: »Natürlich der Schöpfer!« Ungläubige werden kontern: »Es gibt keinen Schöpfer, also auch keine Schöpfung!« Schon bald werden wir lernen, dass es neben diesen zwei Antworten eine noch viel umfassendere Lösung gibt. Konnte ich Ihr Interesse wecken? Wollen Sie wissen, wie einfach die Lösung ist? Dann hätte das Vorwort bereits auf der ersten Seite sein Ziel erreicht.

Wie lassen sich Lösungen finden? Gleich zu Beginn will ich diesen Trick mit Ihnen teilen. Angenommen, Sie sind ein paar Tage in der Natur, um die atemberaubende Landschaft zu fotografieren. Plötzlich sehen Sie, wie hinter großen Felsen die Schwanzfeder eines Vogels herauslugt (Abbildung 1 links). Doch um welchen Vogel handelt es sich? Dieses eine Foto verrät Ihnen die Lösung nicht. Wenn Sie nun aber Ihre Perspektive im Raum verändern und ein paar Schritte weiter links noch ein zweites Foto machen, entpuppt sich der Vogel als ein Diademhäher (Abbildung 1 rechts).

Abb. 1: Welcher Vogel verbirgt sich hinter den Felsen?

Lassen Sie uns nun annehmen, dass Sie zu einer Küste fahren, um das Meer zu fotografieren. Sie sind so begeistert, dass Sie total vergessen, wie spät es ist. Sie nehmen nur den Moment wahr (Abbildung 2 links). Nun fragen Sie sich: Ist das ein Sonnenaufgang oder ein Sonnenuntergang? Dieses eine Foto verrät Ihnen die Lösung nicht. Wenn Sie nun aber Ihre Perspektive in der Zeit verändern und ein paar Augenblicke später noch ein zweites Foto machen, entpuppt sich die Szene als ein Sonnenaufgang (Abbildung 2 rechts).

Abb. 2: Geht die Sonne auf oder unter?

Sie könnten einwenden, dass uns diese Beispiele nichts Neues verraten, weil wir alle intuitiv wissen, wie sich diese Probleme lösen lassen. Natürlich haben Sie recht, und doch lässt sich hieraus eine allgemeine Strategie ableiten: Wenn du nach Lösungen suchst, verändere deine Perspektive! Das heißt, wir müssen Zusammenhänge aus mehreren Perspektiven betrachten, um zu verstehen. In den folgenden sechs Challenges werden wir diese Strategie nicht nur auf Raum und Zeit anwenden, sondern auch auf unsere Mitmenschen und die Natur. Wir werden erkennen, dass kein Mensch von sich aus schlecht ist und dass es eine Gerechtigkeit gibt, die all unsere Vorstellungskraft übersteigt.

Unsere philosophische Reise beginnt mit einem Rätsel, das sich mit den beiden fundamentalen Strukturen unserer Welt befasst: Was kommt zuerst – Raum oder Zeit? Seien Sie mit dabei, wenn zwei Gelehrte – Sir Isaac Newton und Immanuel Kant – über Raum und Zeit philosophieren. Beide haben unsere heutige Denkweise stark geprägt, aber erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelang es einem damals erst 26 Jahre alten Physiker, das Rätsel um Raum und Zeit mit zwei ungewöhnlichen Annahmen zu lösen: Albert Einstein.

In unserer zweiten Challenge werden wir den gleichen Fragetyp auf zwei andere Begriffe anwenden: Was kommt zuerst – Sein oder Werden? Geht es im Universum darum, etwas zu sein oder etwas zu werden? Dieses Rätsel faszinierte schon die alten Griechen. Wir werden lernen, dass es neben unzählig vielen Wirklichkeiten etwas ganz Besonderes gibt, das sogar den Namen »Ewigkeit« verdient.

Nachdem Sie nun wissen, wie dieses Buch funktioniert, geht es gleich weiter: Was kommt zuerst – Gut oder Böse? Gottfried Wilhelm Leibniz hatte einst behauptet, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben. Doch Pierre-Simon Laplace hielt ihm entgegen, dass eine vorherbestimmte Welt gar nicht besser werden kann. Gibt es Freiheit in der Natur? Und was hat es mit »gut« und »böse« auf sich?

Haben Sie jemals von Cuviers Fossilien oder Lamarcks Giraffen gehört? Lassen Sie sich auf keinen Fall Challenge Nr. 4 entgehen! Cuvier und Lamarck ebneten den Weg für Charles Darwins Evolutionstheorie, die uns hilft, die Mutter allerRätsel zu lösen: Was kommt zuerst – das Huhn oder das Ei? Dabei zeigt sich eine große Ungereimtheit: Die meisten von uns stimmen Darwin zu, dass keine Art individuell erschaffen wurde – weshalb glauben wir dann immer noch an die Individualität jedes Menschen?

Und dann sind Sie an der Reihe: Was kommt zuerst – Schöpfer oder Schöpfung? Unter allen vorgestellten Rätseln ist dieses vermutlich das bedeutsamste. Wenden Sie alles an, was Sie bis jetzt gelernt haben! Das Rätsel hat vieles gemeinsam mit »Huhn oder Ei«. Wir werden in Moses Genesis und in Stephen Hawkings Universum eintauchen. Und ich darf Sie mit einem ganz besonderen Philosophen bekannt machen: Alfred North Whitehead. Viele kennen nicht einmal seinen Namen, und doch ist er es, der die wertvollste Erkenntnis für uns bereithält. Whitehead lehrt uns, einen Gott lieben zu lernen, der wirklich Gott ist für alles, was lebt.

Das Schlusskapitel beleuchtet das Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft – unserer beiden Hauptquellen von Wahrheit. Es ist bemerkenswert, wie die Menschheit in den vergangenen Jahrhunderten von beiden gleichermaßen profitieren konnte. In der Symmetrie einer Bienenwabe oder Schneeflocke lassen sich religiöse Gefühle ebenso entzünden wie in einem Gebet. Wir werden dem auf den Grund gehen: Was kommt zuerst – Liebe oder Verständnis?

Im Bonuskapitel werde ich Ihnen vier Erkenntnisse verraten, die mein Leben grundlegend verändert haben. Sie alle verknüpfen spirituelle Erfahrungen mit Einsteins berühmter Relativitätstheorie. Wenn ich mir bewusst mache, was diese Erkenntnisse zusammen bedeuten, bekomme ich auch heute noch eine Gänsehaut: Es gibt »etwas« um uns herum und überall dort draußen im Kosmos, was die Naturgesetze garantiert und alles aufzeichnet, was wir tun.

Ich freue mich sehr, dass Sie auf mein Buch aufmerksam wurden. Nun liegt es an Ihnen, wie Sie damit umgehen werden. Ich will Sie nicht von meiner Weltsicht überzeugen. Im Gegenteil: Ich erwarte, dass Sie alles gründlich hinterfragen werden, was Sie in den nachfolgenden Challenges lesen. Nur so kann eine Weltsicht heranreifen, die in sich schlüssig und mit allem im Einklang ist, was wir über das Leben und den Kosmos wissen.

Markolf H. Niemz

ERSTECHALLENGE:RAUM UNDZEIT

WAS KOMMT ZUERST – RAUM ODER ZEIT?

Es ist wahr, dies ist kein Traum:

Raum wird Zeit, und Zeit wird Raum.

Es gibt zwei »Grundstrukturen« in unserer Welt, die wir alle kennen, aber offensichtlich weiß niemand so richtig, was sie sind: Raum und Zeit. Haben Sie sich jemals gefragt: Was ist dieses immaterielle Skelett, das wir Raum nennen? Und was ist dieser irreversible Beat, den wir Zeit nennen? Ich habe bei unseren smartesten Philosophen gelesen, wie sie Raum und Zeit begreifen, doch nur eine Definition ist im Einklang mit moderner Naturwissenschaft. Albert Einstein sprach sie aus, als er nach dem Wesen von Zeit gefragt wurde: »Zeit« ist, was ich auf meiner Uhr ablese.1 (Bitte beachten Sie, dass alle wichtigen Definitionen fett gedruckt sind.) Lassen Sie mich Einsteins Definition vervollständigen: ... und »Raum« ist, was ich auf meinem Lineal ablese. Beide Definitionen mögen trivial klingen, aber sie beinhalten eine der berühmtesten Theorien der Physik: die Relativitätstheorie. Sie können die Relativität spüren, sobald Sie die Worte »ich« und »meiner/meinem« in den Antworten betonen.

Was kommt zuerst – Raum oder Zeit? Um darauf antworten zu können, müssen wir wissen, in welcher Beziehung Raum und Zeit zueinander stehen. Kann es Raum ohne Zeit geben? Oder Zeit ohne Raum? Viele kluge Köpfe haben sich daran schon die Zähne ausgebissen, und die Antworten fielen unterschiedlich aus. Bis 1905 galten Raum und Zeit als zwei fundamentale und voneinander unabhängige Strukturen des Universums. Es gab also gute Gründe anzunehmen, dass Raum auch ohne Zeit existieren könne – und Zeit ohne Raum. Doch wenn wir in Raum und Zeit eintauchen, sollten wir uns auf so manche Überraschung gefasst machen. Unsere Weltsicht könnte auf den Kopf gestellt werden.

NEWTONS SCHIFFE

Wenn wir über Raum und Zeit sprechen wollen, müssen wir irgendwo anfangen. Beginnen wir bei jemandem, der heute immer noch großen Einfluss auf unser Denken hat: Sir Isaac Newton, englischer Mathematiker, Physiker und Theologe. Zu seiner Zeit, als Naturwissenschaft und Theologie noch in einen Topf geworfen wurden, war er »Naturphilosoph«.

Sir Isaac Newton, englisches Universalgenie

(1642 – 1726/27)

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:GodfreyKneller-IsaacNewton-1689.jpg [31.10.2019]

Im Alter von 44 Jahren veröffentlichte Newton sein berühmtes Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. In diesem Buch betrachtet er Raum und Zeit als absolut. Etwas ist »absolut«, wenn es nicht von der Perspektive eines Beobachters abhängt. Newton schreibt: »Absolute, wahre und mathematische Zeit, an sich und ihrem eigenen Wesen nach, fließt gleichmäßig und ohne Bezug zu etwas anderem.«2 In Bezug auf den Raum berichtet er: »Absoluter Raum, seinem eigenen Wesen nach und ohne Bezug zu etwas außerhalb, bleibt immer gleich und unbeweglich.«3

Doch wie gelangt Newton zu diesen Aussagen? Bezüglich Zeit erläutert er: »In der Astronomie wird absolute Zeit von relativer Zeit durch einen Ausgleich oder eine Korrektur des gebräuchlichen Zeitbegriffs unterschieden. Tatsächlich sind die natürlichen Tage ungleich, obwohl sie gerne als gleich angesehen und zur Zeitmessung verwendet werden; Astronomen korrigieren die Ungleichheit, um Bewegungen am Himmel genauer herleiten zu können.«4 Das ist Naturwissenschaft pur: Newton beobachtet, dass die Astronomie genauer ist, wenn Zeit als absolut angenommen wird. Aber was ist, wenn Zeit gar kein beobachtbares Objekt ist?

In Bezug auf den Raum beobachtete Newton segelnde Schiffe:5 Er definiert die relative Position eines Körpers als den Teil eines Schiffes, den der Körper innehat; dieser Teil bewegt sich zusammen mit dem Schiff. Er definiert relative Bewegung eines Körpers als seine Bewegung von einer Position im Schiff zu einer anderen. Und dann definiert er absolute Ruhe als »das Beharren des Körpers an einer Position in dem unbeweglichen Raum, in dem sich Schiff, Schiffsbauch und alles darin bewegen.«6 Newton leitet also nicht wirklich den absoluten Raum her. Er spricht von »relativer Position« und »relativer Bewegung«, und plötzlich taucht der Begriff »unbeweglicher Raum« auf.

Wir werden gleich sehen, dass Newton bezüglich eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit falsch lag; aber das schmälert nicht seine großen Beiträge zur Mechanik. Die Newtonschen Gesetze bilden das Fundament der klassischen Mechanik, und wir lernen sie immer noch in der Schule. Sie beschreiben die Beziehung zwischen einem Körper, den auf ihn wirkenden Kräften und seiner Bewegung.

CLARKES EIMER

Newtons Gedanken weckten zu jener Zeit viel akademisches Interesse. Einer seiner stärksten Kontrahenten war das deutsche Universalgenie Gottfried Wilhelm Leibniz. Newton hat sich aber nie persönlich mit Leibniz angelegt. Vielmehr war es Samuel Clarke, Newtons Sprecher, der Newtons Auffassung verteidigt hat, dass Raum und Zeit absolut seien.

Samuel Clarke, englischer Philosoph

(1675 – 1729)

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Samuel_Clarke_NPG_extract.jpg [31.10.2019]

Leibniz argumentierte, Raum könne nicht absolut sein, weil er sonst den »Satz vom zureichenden Grund« verletzen würde.7 Gäbe es absoluten Raum, dann wäre das Universum an einer ganz bestimmten Position in diesem absoluten Raum entstanden; aber es gibt keinen zureichenden Grund, weshalb es genau diese Position haben sollte. Leibniz beruft sich also auf ein Symmetrie-Argument: Weil keine Position im Raum ausgezeichnet ist, kann er nicht absolut sein.

Clarke konterte mit dem Eimer-Argument:8 Wasser in einem Eimer, der an einem Seil hängt und in Drehung versetzt wird, hat zunächst eine ebene Oberfläche (Abbildung 3 links). Sobald sich auch das Wasser zu drehen beginnt, wird es beschleunigt und seine Oberfläche wird konkav (Abbildung 3 Mitte). Wenn der Eimer angehalten wird, dreht sich das Wasser noch etwas weiter, und seine Oberfläche bleibt solange konkav (Abbildung 3 rechts). Weil also die Oberfläche konkav ist, ob sich der Eimer dreht oder nicht, folgerte Clarke: Außerhalb des Eimers müsse noch etwas anderes sein – ein absoluter Raum, in dem das Wasser beschleunigt werde; es könne nicht in Bezug auf nichts beschleunigt werden.

Abb. 3: Clarkes Eimer-Argument

Clarke beruft sich also darauf, dass Bewegung immer nur in Bezug zu etwas beobachtet werden kann. Er vergisst jedoch, dass es immer ein anderes Objekt im Raum gibt, das als Bezugspunkt dienen kann; somit vernachlässigt er auch die Gravitation. Das Einzige, was sich nicht gegenüber allem anderen bewegen könnte, wäre der Raum an sich.

Wir könnten uns noch mehr mit Clarke und Leibniz befassen, aber es würde uns in eine Sackgasse führen. Lassen Sie uns lieber dabei sein, wie Kant versuchte und wie es Einstein schließlich gelang, Clarkes Eimer auszukippen.

KANTS VORSTELLUNGEN

Es ist das Jahr 1770, als der deutsche Philosoph Immanuel Kant seine Doktorarbeit mit dem Titel Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen einreicht: »Raum ist weder objektiv und real, noch eine Substanz, noch eine Störung, noch eine Beziehung; vielmehr ist er subjektiv und ideal, und er entspringt der Natur des Geistes nach einem festen Gesetz als Plan.«9

Immanuel Kant, deutscher Philosoph

(1724 – 1804)

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kant_foto.jpg [31.10.2019]

Kants Schriften sind nicht einfach zu lesen. Deshalb will ich seine Gedanken in unsere moderne Sprache übertragen: Kant behauptet, dass Raum nicht real sei; er existiere nur in unseren Köpfen (Abbildung 4 links). Damit hat er natürlich die meisten Wissenschaftler seiner Zeit vor den Kopf gestoßen – vor allem diejenigen, die wie Newton glaubten, Raum sei das Bezugssystem der Natur (Abbildung 5 links).

Abb. 4: Raum und Zeit nach Kant

Abb. 5: Raum und Zeit nach Newton

Doch Immanuel Kant gab nicht auf. Im Jahr 1789 legte er sogar mit seiner bekannten Kritik der reinen Vernunft nach: Darin bezeichnete er Raum als »Vorstellunga priori«,10 was für ein angenommenes Prinzip steht und nicht für beobachtbare Fakten. Wir erinnern uns, dass Newton und Clarke versucht hatten, Raum vom Beobachten abzuleiten! Kants Argument ist kurz: »Man kann sich keine Vorstellung davon machen, dass kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, dass keine Gegenstände darin angetroffen werden.«11 Mit anderen Worten: Raum müsse ein Produkt des Gehirns sein, weil wir ihn als gefüllt oder leer denken können; aber wir können uns nicht »keinen Raum« vorstellen.

In Bezug auf die Zeit kommt Kant zu ähnlichen Ergebnissen: Auch Zeit sei eine »Vorstellunga priori«,12 weil wir uns nicht die Abwesenheit von Zeit vorstellen können, wohl aber eine Zeit, in der nichts geschieht.13 Somit existiere auch Zeit nur in unseren Köpfen (Abbildung 4 rechts) und nicht außerhalb, wie Newton geglaubt hatte (Abbildung 5 rechts). Doch das Gehirn zeigt, dass Kant hier einem Irrtum aufsitzt: Es wird älter, und Altern ist eine beobachtbare Tatsache – die zeitliche Abnahme der Zellaktivität ist messbar.

Wir müssen uns also auf Stolperfallen in Kants Philosophie einstellen. Wenn er recht hätte, würden unsere Gehirne uns Raum und Zeit zur Verfügung stellen. Das heißt: Raum und Zeit wären nur vom Gehirn aufgestellte Bezugssysteme. Dessen ungeachtet ist es Kants Verdienst, erkannt zu haben, dass wir Raum und Zeit auf uns beziehen müssen.

Im Jahr 1905 griff Albert Einstein, ein in der Schweiz lebender Physiker und Patentanwalt, Kants Vorstellungen eines subjektiven Raums und einer subjektiven Zeit auf. Einstein befreite beide vom Käfig »Gehirn« und veröffentlichte eine neue Theorie, die unsere Auffassung von Raum und Zeit in einem noch nie dagewesenen Maße revolutionierte.

RAUM UND ZEIT SIND NICHT ZWEI

Albert Einstein ist für seine Relativitätstheorie berühmt – ein Formelwerk. Aber keine Sorge: Der Grundgedanke lässt sich auch mit subtilen Bildern kommunizieren. Dazu lade ich Sie jetzt herzlich ein. Willkommen zu Einsteins Raumzeit!

Einstein ging von lediglich zwei Grundannahmen aus:14 Die Lichtgeschwindigkeit ist eine Naturkonstante, und die Naturgesetze haben für alle nicht beschleunigten15 Beobachter die gleiche mathematische Form. Allein aus diesen zwei Annahmen folgerte er, dass Zeit und Raum relativ sein müssen. Etwas ist »relativ«, wenn es von der Perspektive eines Beobachters abhängt. Unter anderem hängen zeitliche und räumliche Distanzen davon ab, wie schnell sich ein Objekt oder Vorgang relativ zu mir bewegt. Eine Uhr, die sich relativ zu mir bewegt, geht aus meiner Perspektive langsamer als eine Uhr an meinem Arm – auch dann, wenn die beiden Uhren völlig baugleich sind!

Weshalb sich Zeit so seltsam verhalten muss, lässt sich mit einem Gedankenexperiment klären. Abbildung 6 zeigt einen ruhenden Wagen, in dem sich eine sogenannte Lichtuhr befindet. Sie besteht aus zwei Spiegeln und einem Lichtteilchen, das hin und her reflektiert wird. Das Lichtteilchen ist gelb gefärbt, sein Weg grün. Jedes Mal, wenn es auf den unteren Spiegel trifft, macht die Uhr »tick«, und eine Zeiteinheit (zum Beispiel eine Sekunde) ist vergangen.

Abb. 6: Lichtuhr im ruhenden Wagen

Wenn sich der Wagen wie in Abbildung 7 bewegt, legt das Licht zwischen zwei Ticks den gestrichelten (längeren!) Weg zurück. Mit Einsteins Annahme der konstanten Lichtgeschwindigkeit folgt, dass zwischen zwei Ticks in Abbildung 7 mehr Zeit verstreicht als zwischen zwei Ticks in Abbildung 6. Folglich geht eine Uhr langsamer, sobald sie sich relativ zu mir bewegt. Der Effekt wird »Zeitdilatation« (auf Deutsch: Zeitdehnung) genannt; er ist nur bei Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit beobachtbar.

Abb. 7: Lichtuhr im bewegten Wagen

Zeit verstreicht also nicht für alle Beobachter gleich, das heißt, sie ist relativ und nicht absolut. Die universelle Zeit ist eine Illusion. Selbst die Atomuhr in Braunschweig geht aus meiner Perspektive langsamer, sobald ich mich relativ dazu bewege! Real sind nur zeitliche Distanzen, aber ihre Zahlenwerte variieren von Beobachter zu Beobachter. Folglich sind wir gut beraten, »Zeit« nicht als ein Substantiv zu begreifen, sondern immer als ein Adjektiv: »zeitlich«. Zeit ist nicht in Stein gemeißelt.

Vieles von dem, was wir eben über zeitliche Distanzen erfahren haben, lässt sich 1:1 auf räumliche Distanzen übertragen. Beide sind in Einsteins Theorie so eng miteinander verknüpft, dass wir sie eigentlich gar nicht separat betrachten dürfen. Die gleiche Distanz, die dem einen Beobachter zeitlich erscheint, kann nämlich für einen anderen Beobachter räumlich sein, wenn sie sich mit hoher Geschwindigkeit relativ zueinander bewegen. Es liegt der Gedanke nahe, dass nicht allein die absolute Zeit eine Illusion ist, sondern auch der absolute (für alle Beobachter gleiche) Raum. Ein Lineal, das sich relativ zu mir bewegt, ist aus meiner Perspektive kürzer als ein Lineal in meinen Händen – auch dann, wenn die beiden Lineale völlig baugleich sind!