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Seitenzahl: 194
Mit vier Vollbildern von Fritz Bergen
Dritte Auflage
Verlag von Levy & Müller in Stuttgart
Nachdruck verboten Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, vorbehalten Druck: Christl. Verlagshaus, G. m. b. H., Stuttgart
Erstes Kapitel
Vorbereitungen
1
Zweites Kapitel
Die Abreise der Weltensegler
16
Drittes Kapitel
Zwischen Himmel und Erde
28
Viertes Kapitel
Auf dem Mars
53
Fünftes Kapitel
Lumata und Angola
78
Sechstes Kapitel
Im Reiche der Vergessenen
101
Siebentes Kapitel
Der Abschied
113
Achtes Kapitel
Ein Abtrünniger
122
Neuntes Kapitel
Wieder auf der Erde
128
Zehntes Kapitel
In der Heimat
142
Der glänzende Abendstern, die Venus, war im Westen untergegangen. Über Groß-Stuttgart und das Neckartal begann sich eine durchsichtig klare, aber etwas kalte Winternacht zu breiten. Nach und nach flammten Tausende und Abertausende von hellen Sternen am Firmamente auf, und als weißlich schimmernder Gürtel hob sich aus der Menge jener fernen, selbstleuchtenden Weltkörper scharf und deutlich die Milchstraße ab. Aus ihr heraus blickte das funkelnde Sternbild der Kassiopeia herab auf die alte, immer noch mit so viel Torheit erfüllte Mutter Erde, und der Große Bär mit seinen sieben hellen Sternen, jener geheimnisvollen, im menschlichen Leben eine so merkwürdige Rolle spielenden Zahl, leistete ihr auf der andern Seite des gewaltigen Himmelsgewölbes die aus der Urzeit stammende, treubewährte Gesellschaft. Kunterbunt, in ungleichmäßiger Verteilung, in verschiedenartiger Helligkeit und Größe lagen die übrigen Sterne dazwischen, scheinbar noch an ihrem alten, gewohnten Platze.
Langsam schritt die Nacht vor. Im Süden stieg das prachtvolle Sternbild des Orion über dem Horizont empor, und bald darauf erschien auch der Sirius, der glänzendste unter den glänzenden Sternen des Himmels. Für all diese Schönheit der Nacht, für all diese Großartigkeit jener fernen, selbstleuchtenden Sonnen schien augenblicklich derjenige am wenigsten zugänglich zu sein, dessen berufliche Aufgabe gerade die Erforschung des Sternenhimmels war. Professor Stiller, der berühmte Astronom, Lehrer an der durch Alter wie Überlieferung gleich ehrwürdigen Universität Tübingen, ruhte in seinem Lehnstuhl, mit den Fingern der Rechten ärgerlich auf dessen Seitenlehne trommelnd. Er saß in einem großen, mit einer Kuppel bedeckten Raum, der auf den ersten Blick als Observatorium oder Sternwarte zu erkennen war. Ein mächtiges Fernrohr auf massiven Pfeilern ragte aus einer Öffnung der drehbaren Kuppel hinaus in die klare Winternacht.
Professor Stiller hatte sich vor Jahren schon auf der ruhigen Bopserhöhe bei Stuttgart eine Privatsternwarte erbaut, um sich in ihr, fern vom lauten studentischen Leben und Treiben der Universitätsstadt, um so ungestörter der Planetenforschung zu widmen. Ganz besonders hatte der Mars, jener geheimnisvolle Planet, dessen Bahn die der Erde zunächst umschließt, Professor Stillers Interesse geweckt. Dieses Interesse wurde mehr und mehr zu einem Privatstudium, und aus diesem heraus wuchs eine so große Liebe zu dem fernen Planeten, daß in Professor Stiller der Gedanke immer festere Wurzeln faßte, mit dem Mars in unmittelbare Verbindung zu treten, mit andern Worten — ihn zu besuchen.
Gerade gegenwärtig stand Mars wieder in Erdnähe, und seine augenblickliche Entfernung von der Erde betrug nur 59 Millionen Kilometer. In der jetzigen Zeit der großartigsten Erfindungen, der gewaltigen, geradezu fabelhaften Fortschritte auf technischem Gebiete, der tieferen Erkenntnis der elektromagnetischen Strömungen im Universum und ihrer Ausnützung, vor allem aber der so hoch entwickelten Luftschiffahrt hatte der Gedanke eines Besuches des Mars, einer Reise dahin, durchaus nichts Befremdendes mehr. Im Gegenteil, so wie die Dinge heute lagen, bestand tatsächlich die Möglichkeit, die kühne Reise mit Aussicht auf Erfolg ausführen zu können.
Und Reisegedanken waren es auch, die des Professors Geist augenblicklich beschäftigten. Aber zu ihnen waren auch ärgerliche Vorkommnisse getreten und hatten den Gelehrten in eine gewisse zornige Unruhe versetzt. Vor dem Stuhle des Professors warf eine zierliche elektrische Lampe ihr Licht auf einen Stoß von Papieren, die, mit Zahlen und Zeichnungen bedeckt, bunt durcheinander geworfen, auf einem kleinen Tische seitwärts lagen. Aufseufzend strich sich Professor Stiller mit der Linken über die hohe, gedankenschwere Stirn.
„Diese lächerlichen Menschen, diese Blieder und Schnabel, die da in eigensinniger Weise meinen Anordnungen nicht Folge leisteten und mir dadurch schon oft den Bau meines Luftschiffes erschwerten, sind wahrlich nicht wert, daß ich mich noch länger über sie ärgere! Dem Himmel Dank, daß ich die folgenschwersten Dummheiten dieser beiden Erbauer meines Luftschiffes immer noch rechtzeitig ausgleichen konnte! Weg also mit allem Kleinlichen, Ärgerlichen! Diese Stunde soll Mars allein gewidmet sein!“ Der Gelehrte stand auf. „Ja, ja,“ fuhr er nach kurzer Pause zu sprechen fort, „ja, jetzt ist er in der Erdnähe, mein alter, rötlich strahlender Freund. Für meine Ungeduld, ihn heute abend noch zu sprechen, stille Zwiesprache mit ihm zu halten, erscheint er ziemlich spät. Und doch ist er der Pünktliche, nie Fehlende!“
Professor Stiller sah auf seine Uhr. „11 Uhr 42 Minuten! Noch 55 Sekunden, und Mars taucht im Osten auf. Rasch hinauf auf die Galerie und an das Instrument!“ Bald stand letzteres gerichtet. Einer kleinen Feuerkugel gleich zeigte sich dem Auge des Beobachters der über dem östlichen Horizonte langsam emporkommende Mars. Voll Entzücken betrachtete Professor Stiller die ihm zugewandte Fläche des Planeten, auf der sich scharf und deutlich schmale, schnurgerade Linien zeigten.
„Gerade diese schnurgeraden, vielfach in gemeinsamen Punkten sich schneidenden Kanäle sind es, die in ihrer Künstlichkeit am deutlichsten und unzweideutigsten für das Vorhandensein vernunftbegabter Wesen dort oben sprechen,“ kam es laut über die Lippen des Gelehrten. „Der Mars besitzt trotz seiner Atmosphäre verhältnismäßig geringe Wassermengen. Daher sind die Marsbewohner gezwungen, diesem Mangel durch künstliche Veranstaltungen nach Möglichkeit abzuhelfen, die geringen Wassermengen derartig auszunützen, daß, wenn ein Distrikt bewässert ist, die kostbare Flüssigkeit einem andern zugeführt wird. Wie oft habe ich nicht schon diese Tatsachen als Erklärung des zeitweisen Auftauchens und Verschwindens der Marskanäle in Tübingen vom Katheder herunter verkündigt!“ rief Professor Stiller voll Begeisterung. „Ja, ein Volk mit hoher Kultur muß auf dem Mars wohnen, denn nur ein solches vermag so wunderbar geniale, dem allgemeinen Wohl dienende Bauten auszuführen,“ fuhr der Professor in seinem lauten Monologe fort. „Die Jahreszeiten auf dem Mars scheinen mir in erster Linie von dem Schmelzen der Eismassen an seinem Süd- und Nordpole beeinflußt. Und dieses aus den polaren Eiszonen abschmelzende Wasser leiten jene Wesen dort oben zum Zweck der Befruchtung in die uns sogar von hier aus sichtbaren Kanäle. Welch herrlicher, üppiger Pflanzenwuchs muß sich da längs der Kanäle, an ihren Ufern entwickeln! Welch starke Vegetationsprozesse mögen sich dort oben abspielen, wo das Wasser in richtiger Verteilung überallhin geführt wird! Und was das wohl für ein Menschenschlag sein mag, der den Mars bewohnt? Uns vielleicht um Jahrtausende an allgemeiner Bildung voraus! Unmöglich wäre dies nicht. Ich muß sie kennenlernen wie den Boden selbst, auf dem sich das Leben dieser Wesen abspielt.“
Voll Erregung trat Professor Stiller vom Teleskop zurück. Aber das lebhafte Interesse an dem Gegenstande seiner Beobachtung trieb den Gelehrten rasch wieder an das Instrument. So verfloß Stunde auf Stunde mit astronomischen Forschungen und Berechnungen. Die funkelnden Sterne am Himmel verblaßten allmählich, und der Wintermorgen begann langsam heraufzudämmern, als der Professor endlich seinen Posten verließ und sich in sein warmes Heim zurückzog, das sich in unmittelbarer Nähe der Sternwarte befand.
Ein leichter Nebel zog über das Neckartal herauf und lagerte sich über Groß-Stuttgart. Vor der strahlenden Morgensonne aber zerfloß der dünne Schleier rasch und ließ die Stadt, die sich im Laufe ihrer Entwicklung aus dem Tale des Nesenbaches rechts und links am Ufer des Neckars vorgeschoben hatte, in vorteilhaftestem Lichte erscheinen. Der Winter hatte seinen Einzug noch nicht gehalten, und die bewaldeten Höhen des Neckartales trugen daher noch kein Schneegewand. In der reinen, frischen Luft des Dezembermorgens hoben sich klar und scharf die Türme und villenartigen Bauten ab, die da und dort von höher gelegenen Punkten auf die zu ihren Füßen liegende große Stadt herabschauten. Auch die alte Kapelle auf dem Rotenberge paßte prächtig zu dem gesamten Bilde voll landschaftlicher Anmut, durch das der Neckar, einem silbernen Bande ähnlich, seine Wasser strömen ließ.
Ein großer, freier und ebener Platz mit kurzer Grasnarbe, der durch die Abhaltung des schwäbischen Volksfestes von alters her weltberühmte Cannstatter Wasen, unterbrach in angenehmer Weise das Häusermeer und war von diesem nur auf einer Seite durch den Fluß scharf abgegrenzt. Am oberen Ende dieses mehrere Kilometer langen Geländes erhob sich ein gewaltiger Bretterbau.
„Luftschiff für die Mars-Expedition“
stand in Riesenbuchstaben an dem rotundenartigen Bau. Und darunter die üblichen Worte:
„Unberechtigten ist der Zutritt strengstens verboten!“
Aus dem Innern des Gebäudes ließ sich augenblicklich nichts vernehmen, ein Zeichen, daß die Arbeit an dem Werke entweder eingestellt oder vielleicht schon beendet war.
Der Bau des Luftschiffes, das zum ersten Male, seitdem es überhaupt eine Welt- und Völkergeschichte gibt, das schwierige Problem der Fahrt außerhalb der Erdatmosphäre durch den unendlichen Ätherraum hindurch nach einem ganz bestimmten Ziele hin lösen sollte, war den Herren Blieder und Schnabel übertragen. Ersterer war Architekt, dem, allerdings nur in Stuttgart, viel Erfahrung und Phantasie in der Ausführung kühner Projekte nachgerühmt wurde, letzterer Professor der Mathematik an einer höheren Schule. Als solcher war Herr Schnabel berufen, den Bau des Luftschiffes auf Grund mathematischer Berechnungen zu überwachen und im übrigen als wissenschaftlicher Beirat Herrn Blieder zur Seite zu stehen. Form und Schwere, die in sinnreichster Art gebundenen elektrischen Energiemengen, die zur Vorwärtsbewegung und Steuerung des Schiffes wie auch zur Beleuchtung und Heizung der geschlossenen Gondel dienen sollten, all die zahlreichen, äußerst wichtigen Bedingungen und Einzelheiten der Maschinerie waren von Professor Stiller zusammen mit andern bedeutenden Kollegen der Tübinger Universität bestimmt und genannten beiden Herren zur Ausführung übertragen worden.
Nur zögernd, fast widerwillig hatte Professor Stiller sich zu dieser Übergabe verstehen können. Blieder und Schnabel waren alte Bekannte von ihm. Aus der Vorstadt Cannstatt stammend, waren sie mit ihm aufgewachsen, doch hatten die späteren Jahre und die so ganz verschiedenen Interessen und Bestrebungen Professor Stiller mehr und mehr von den beiden Jugendgenossen getrennt. Die entstandene Kluft wurde in dem Maße größer, als Professor Stiller auf dem steilen Wege der Forschung immer höher emporstieg. Als es aber bekannt wurde, daß ein Professorenkollegium der Tübinger Universität auf Grund eines lichtvollen Vortrages von Professor Stiller beschlossen habe, auf Kosten des staatlichen Universitätsvermögens ein eigenartiges Luftschiff zur Expedition nach dem Mars bauen zu lassen, da waren die beiden Genossen ehemaliger Jugendstreiche schleunigst zu Herrn Stiller geeilt.
Beide kitzelte der Ehrgeiz, ihre Namen weltberühmt zu machen, sie für ewig mit dem „Weltensegler“, so sollte das Luftschiff heißen, verbunden zu sehen. Ihren unermüdlichen Bitten um besondere Berücksichtigung unter Anrufung der alten Jugendfreundschaft gab Professor Stiller endlich nach. Er tröstete sich damit, daß von den übrigen für den Bau des Weltenseglers in Frage kommenden Wettbewerbern schließlich keiner eine bessere Gewähr für das Gelingen der Arbeit hätte bieten können als Blieder und Schnabel. Und am Ende, ja, am Ende waren es doch auch Söhne des lieben Schwabenlandes wie er selbst.
So war der anfängliche Widerwille des Gelehrten gegen die zwei „engeren Stuttgarter“ zurückgedämmt worden, um jedoch gegen das Ende des Baues desto lebhafter wieder zu erwachen. Die Herren Blieder und Schnabel waren zwei richtige Dickköpfe. Jeder glaubte für sich allein den Stein der Weisen gefunden zu haben und hielt sich daher für berechtigt, den Plan des Schiffes nach eigenem Gutdünken zu ändern. Nur der Wachsamkeit und der rücksichtslosen Tatkraft Professor Stillers war es zuzuschreiben, daß sich nach endlosen Kämpfen, schwerstem Ärger und Verdruß mit Blieder und Schnabel der Bau des Weltenseglers im großen und ganzen in den Formen hielt, die ihm der Gelehrte selbst gegeben.
Aber gestern mittag, als Professor Stiller die Baustätte besuchte, um sich von der endlichen richtigen Fertigstellung des Ganzen zu überzeugen, an dem seit vielen Monaten eifrig gearbeitet, und dessen Vollendung bereits in die Welt hinausposaunt worden war (Blieder und Schnabel waren die Trompeter), da hatte Professor Stiller in hellem Zorne wahrnehmen müssen, wie gerade einige seiner wichtigsten Anordnungen von den Erbauern übersehen worden waren. Die Arbeit, die bereits ruhte, mußte wieder von neuem aufgenommen werden, und von neuem flickte man am Weltensegler herum. Dadurch verzögerte sich natürlich der Aufstieg, unter Umständen stand sogar das Gelingen der Expedition in Frage. Es war einfach, um aus der Haut und nicht nach dem Mars zu fahren!
Wütend kam Professor Stiller nach Hause. Er brauchte mehrere Stunden, um seinen Grimm zu meistern und sein gestörtes seelisches Gleichgewicht wiederzuerlangen. Unmittelbar am Ziele seiner schon so lange gehegten Wünsche, und nun von neuem auf die Geduldsprobe gestellt, das ertrage, wer vermag! Professor Stiller konnte es nicht, und so kam es, daß er, unfähig zu ernster Arbeit, mehrere Stunden in seinem Observatorium damit zubrachte, sein etwas rasches, feuriges Blut zu beruhigen und den Ärger zu überwinden.
Jetzt saß der Gelehrte, eingehüllt in einen bequemen, molligen Schlafrock, in seinem von der Sonne durchfluteten, geräumigen Studierzimmer, die Beobachtungen der Nacht verarbeitend. Das Ergebnis war sehr günstig. Jetzt, oder für lange Zeit, vielleicht für viele Jahre nicht mehr, war es möglich, von der Erde aus den Mars zu erreichen. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Gestirn von der Erde nur 59 oder 400 Millionen Kilometer entfernt ist. Der Mars hatte augenblicklich das Maximum seiner Erdnähe erreicht und befand sich genau 59 Millionen Kilometer von seinem Nachbar entfernt. Die langen Berechnungen des Professors hatten dies ergeben. Mit der Expedition durfte daher nicht mehr lange gesäumt werden; jeder beträchtliche Zeitverlust mußte auf das peinlichste vermieden werden. Wollte man den sich rasch von der Erde wieder entfernenden Planeten unter vollster Ausnützung der gerade bestehenden günstigen Gravitationsverhältnisse, der natürlichen, gesteigerten Anziehungskraft überhaupt erreichen, so mußte mit jeder Stunde gerechnet werden.
„Und da müssen gerade in diesem so überaus günstigen Augenblick die beiden Langohre da unten“ — Professor Stiller schaute bei diesen Worten von seinem Studierzimmer hinab gen Cannstatt — „einen kleinen Strich durch meine Rechnung machen!“ Eine Blutwelle neu sich regenden Zornes stieg dem Professor gegen den Kopf.
Da wurde an die Tür des Zimmers geklopft. Auf das laute Herein des Gelehrten erschien dessen Diener und meldete die Herren Blieder und Schnabel. „Lupus in fabula!“ lächelte Professor Stiller vor sich hin, erinnerte sich aber plötzlich, daß er gestern auf dem Wasen die beiden Herren zu sich bestellt hatte und zwar für heute auf zwölf Uhr mittags. Ein Blick auf die Uhr bewies die Pünktlichkeit der Besucher. Der Professor erhob sich von seinem Stuhle und gab den Befehl, die Herren hereinzuführen.
„Pünktlichkeit ist Höflichkeit!“ Mit diesen Worten begrüßte Professor Stiller die Eintretenden. „Nehmt Platz,“ fuhr er fort, „und sagt mir sofort, ob binnen vier Tagen die von mir gestern gerügten Ausstände am Weltensegler in Ordnung gebracht werden können; denn nächste Woche müssen wir unbedingt hinauf, koste es, was es wolle.“
„Ich wüßte wirklich von keinem nennenswerten Fehler meinerseits, der den Aufstieg des Luftschiffes hindern könnte,“ meckerte Blieder mit seiner blechernen Stimme.
„Was?“ schrie der Professor erbost, „muß ich dir altem Baumeister, dem vor lauter Genialität allerdings nichts einfällt, nochmals das wiederholen, was ich dir gestern tadelnd sagte?“
An Stelle der Antwort begnügte sich Blieder, mit den Achseln zu zucken.
„In der geschlossenen Gondel kann ich keine Glasfenster brauchen, das könntest du wissen, um so mehr, als ich dieses wichtigen Umstandes bereits am Anfange, beim Entwurf des Planes gedachte,“ entgegnete der Gelehrte.
„Ja, aber warum? Ich sehe wirklich nicht ein . . .“
„Mein lieber Blieder, du siehst allerdings weder ein noch aus. Deine in die Gondel eingesetzten Spiegelgläser sind hart und spröde, den gewaltigen niederen Temperaturen im Ätherraum gegenüber völlig widerstandslos. Also hinaus mit den Gläsern, weg mit ihnen und ersetze sie durch elastischen, widerstandsfähigen Glimmer. Der hält alle Temperaturen über und unter Null gleich gut aus. Zwei Tage Zeit hast du dazu, und in diesen muß die Änderung gemacht sein.“
„Aber wenn . . .“ begann Blieder, wurde aber heftig durch den Professor unterbrochen.
„Es gibt weder ein Wenn noch ein Aber. Sei froh, daß ich dir in Anbetracht der Kürze der Zeit die mancherlei andern Unebenheiten hingehen lasse, deren du dich bei der Konstruktion schuldig gemacht hast. Aber eine wichtige Sache muß noch verbessert werden. Du dachtest nämlich nicht mehr daran, obgleich du auch darauf aufmerksam gemacht wurdest, daß eine Gondel, die während einer bestimmten Zeit der Aufenthaltsraum für eine mehrköpfige Gesellschaft sein soll, auch eine Klappe für allerlei Abfallstoffe haben muß. Wir benötigen ein paar solcher doppelten, auf das dichteste schließenden Klappen, und zwar rechts- und linksseitig, beileibe nicht am Boden.“
„Dort wären sie aber am einfachsten anzubringen.“
„Glaube ich,“ erwiderte spöttisch lächelnd Professor Stiller, „wir wünschen aber nicht unterwegs aus der Gondel zu fallen, sondern wollen womöglich heil und gesund den Mars erreichen.“
„Aber im Innern längs der Gondelwand sind die Provianträume, unter diesen die Akkumulatoren und . . .“
„So teile sie entsprechend ein, und die Sache ist geordnet. Sela! Nun zu dir, Schnabel! Wovon meinst du, daß unsere Expedition unterwegs leben soll?“
„Natürlich von den mitzuführenden Nahrungsmitteln, von Konserven und andern guten Sachen, auch besten Neckarwein nicht zu vergessen,“ antwortete schmunzelnd der mit einem hübschen Bäuchlein ausgestattete, eß- und trinkfeste Mathematiker.
„Den Wein vergessen wir auch nicht, sei unbesorgt, Schnabel. Aber von was lebt denn sonst noch der Mensch außer von Speise und Trank?“
„Nun, von Luft!“ entgegnete Schnabel etwas gereizt über diese Frage.
„Gewiß! Nur sage mir, woher wir denn die Luft auf unserer Reise beziehen sollen. Im Ätherraume gibt es bekanntlich keine, und die vom Cannstatter Wasen in der Gondel mitgenommene Heimatluft hält leider auch nicht lange vor.“
„O zum Kuckuck! Es ist die Anlage für die feste Luft, die ich vergaß anbringen zu lassen.“
„So ist es! Mache deinen Fehler so rasch als möglich gut. Blieder soll dir dabei helfen. Ob die Anlage feste Luft enthält, werde ich dann selbst noch prüfen; denn du wärest imstande, sogar die Füllung zu vergessen. Wie ich dir gestern mittag schon sagte, ist auch die ganze Steuerungsanlage fehlerhaft. An Stelle der Vermittlung durch die Welle hast du unbegreiflicherweise die lebendige Kraft des elektrischen Stromes unmittelbar auf die Aluminiumschraube übertragen.“
„Laut mathematischer Berechnung das einzig Richtige!“ brummte Schnabel.
„Bleib mir hier mit deiner Mathematik vom Leibe, wenn sie solch offenkundigen Unsinn zeitigt!“ entgegnete zornig Professor Stiller. „Ich trage die Verantwortung für die gewagte Expedition. Alles, was ihre Gefahr irgendwie vermehren kann, muß ich nachdrücklich zurückweisen, alles dagegen willkommen heißen, was zu ihrer Sicherheit und zum möglichen Gelingen beizutragen vermag.“
„Als ob wir, Blieder und ich, nicht alles getan hätten, was du von uns verlangtest! Aber natürlich, euch Allerhöchsten von der Universität ist selten etwas recht zu machen.“
„So scheint es wirklich zu sein,“ bestätigte seufzend Blieder.
„Darüber will ich mich mit euch nicht streiten, denn dies wäre eine höchst zwecklose Sache. Sorgt lieber dafür, daß der Weltensegler nächste Woche segelfertig ist. Höchste Zeit dafür ist es, soll die Reise überhaupt gelingen. Seit Tagen schon drängen mich deshalb meine Kollegen in Tübingen, denen ich als Zeit des Aufstieges die ersten Tage des Dezembers angegeben hatte, und zwar als äußersten Zeitpunkt. Nun entsteht wieder eine Verzögerung. Die Sache muß rasch zu Ende gebracht werden. Abgesehen von der allgemeinen Lächerlichkeit, der wir uns aussetzen würden, wenn die Abreise immer von neuem wieder verschoben wird, laufen wir überhaupt Gefahr, die uns gebotenen günstigen Konjunkturen nicht voll und ganz ausnützen zu können. Also sputet euch! Ich bitte dringend darum.“
„Wie lange wird die Reise dauern?“ fragte Schnabel neugierig und bestrebt, der ihm unangenehmen Unterhaltung eine freundlichere Wendung zu geben.
„Das hängt von jedem Tage, ja von jeder Stunde ab, die wir früher fahren können,“ entgegnete Professor Stiller. „Die für die Verbesserung der gerügten Fehler eingeräumten weiteren vier Tage bedeuten für uns eine höchst unliebsame Verlängerung der Reise. Mars hat jetzt das Maximum seiner Annäherung an die Erde erreicht und entfernt sich nun von ihr wieder mit jeder Minute. Wie lange unter diesen Umständen die Reise im Ätherraume dauern wird, läßt sich nur ahnen, genau aber nicht sagen. Sobald wir glücklich aus dem Anziehungskreise der Erde und des Mondes herausgekommen und in den des Mars gelangt sind, wird die Reise außerordentlich rasch vonstatten gehen trotz der gewaltigen Entfernungen, die wir zurückzulegen haben. Dank der mächtigen, vom Mars ausgehenden elektromagnetischen Strömungen der Anziehung werden wir diesem Planeten mit ganz fabelhafter Schnelligkeit zufliegen, mit einer Schnelligkeit, die mindestens täglich auf zwei Millionen Kilometer einzuschätzen ist. Immerhin rechne ich auch im günstigsten Falle auf eine Reisedauer von mehreren Wochen. Der Vorsicht halber nehmen wir aber für drei Monate Proviant mit uns.“
„Und wenn ihr den Mars nicht erreicht, wenn die ganze Reise mißlingt, was dann?“ forschte Schnabel.
„Dann, mein Lieber, geht es uns, wie es schon so manchem Forscher vor uns gegangen ist und nach uns noch gehen wird: wir sind die Opfer, die Märtyrer der Wissenschaft. Mit diesem Fall haben wir aber auch schon gerechnet, als wir beschlossen, die kühne Fahrt zu unternehmen. Glücklicherweise sind sämtliche übrigen Teilnehmer gleich mir keine Familienväter, sondern der Mehrzahl nach jüngere Männer, die diesen Schritt in das Ungewisse, Geheimnisvolle wagen und vor ihrem Gewissen verantworten können. Ich persönlich rechne mit aller Sicherheit auf das Gelingen der Reise, auf den Triumph der Wissenschaft.“
„Mit staunender Bewunderung sieht heute die ganze Kulturwelt auf uns und unser Neckartal, wo so kühne Pläne vor ihrer Verwirklichung stehen, und kommt ihr einst mit dem Weltensegler glücklich wieder zurück, so werdet ihr in einer Weise empfangen und gefeiert werden, wie es noch niemals Menschen vor euch geschah,“ warf Blieder ein.
„Zuerst müssen wir nach dem Mars gekommen sein, bevor wir überhaupt an eine Rückkehr denken können,“ entgegnete Professor Stiller lächelnd. „Einige Jahre dürfte unsere Abwesenheit von hier schon dauern; denn eine solche ungeheure Reise erfordert begreiflicherweise auch außergewöhnliche Zeitdauer. Und das interessanteste Studienobjekt ist der Mensch selbst, der auf jenem fernen Weltkörper haust. Wie ihr wißt, beweisen uns unsere teleskopischen Beobachtungen, daß es ganz besonders hochstehende Wesen sein müssen, die dort wohnen. Wer weiß, ob sie uns nicht geistig wie körperlich weit überragen.“
„Oder uns gegenüber noch sehr minderwertig sind, was auch nicht unmöglich wäre,“ bemerkte Schnabel hochmütig. „Auf keinen Fall möchte ich mit.“
„Du bleibst auch besser unten auf der Erde,“ entgegnete Professor Stiller. „Und nun haben wir genug geschwatzt. Eilt an eure Arbeit! In vier Tagen werde ich auf den Wasen kommen und mich überzeugen, ob die gerügten Anstände in Ordnung gebracht sind. Nächste Woche muß die Abreise des Weltenseglers unbedingt stattfinden; ich betone dies nochmals mit allem Nachdruck. Jeder weitere Tag des Wartens bedeutet für mich und mein an sich schon aufgeregtes Nervensystem eine fürchterliche Qual. Sie zu vermindern, liegt in eurer Hand. Ihr habt mir oft und viel Verdruß bereitet, macht also, daß ich ohne allzu großen Groll von euch und dieser Erde scheiden kann.“ Mit diesen Worten entließ der Professor seine Besucher.
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