Die Witwe und der Wolf im Odenwald - Werner Kellner - E-Book

Die Witwe und der Wolf im Odenwald E-Book

Werner Kellner

0,0

Beschreibung

Im Oktober 2009 platzt in Frankfurt ein spektakulärer Drogenprozess, nachdem die Kronzeugin unmittelbar vor der Urteilsverkündung ermordet wird. Die russische Drogenmafia, die 'Bratwa', bedroht und tötet alle, die ihre Kreise stört. Das gilt für einen neugierigen Investigativ-Reporter ebenso wie für den korrupten Staatsanwalt. Elf Jahre später hat die Drogenmafia im Odenwald ihre kriminellen Aktivitäten unter dem Deckmantel der Seniorenoase 'Jungbrunnen' weiter ausgebaut. Der Ehemann und die Tochter der ermordeten Kronzeugin geraten nach der Rückkehr in ihre Heimatregion erneut ins Fadenkreuz der Mafiabande. Währenddessen bemüht sich im Hintergrund ein afghanischer Clan, mit allen Mitteln seine Familienehre wieder herzustellen. Willy Hamplmaier, ein umtriebiger Bestatter und nebenberuflicher Privatermittler aus Michelstadt, ermittelt in seinem wichtigsten Fall die Serientäter von Raubüberfällen auf Geldautomaten. Er bereitet sich auf seinen Ruhestand vor, und ist dabei, seine Fälle an seinen Sohn und Juniorchef Hans Hämmerle abzugeben, der das kleine Team als Wirtschaftsdetektei weiterführen will. Der Junior nimmt im Auftrag der hessischen Heimaufsicht für Senioren-Pflegeheime und unter den schwierigen Bedingungen der Corona Pandemie die Ermittlungen wegen Sozialbetrug und Bandenkriminalität auf, ohne zu wissen, mit wem er sich dabei anlegt. Die Ereignisse überrollen das Ermittlerteam, als Hans zum ersten Mal nach der Tat eine konkrete Spur zum Mörder seiner Frau entdeckt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 590

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Witwe und der Wolf im Odenwald
Prolog: Im Namen der Ehre
Buch 1 Der geplatzte Prozess
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Buch 2 Das Heilbrünnlein
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Buch 3 Die Bratwa
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Buch 4 Das russische Kreuz
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Buch 5 Die Erzgrube
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Epilog: Der Geburtstag
Bemerkung des Autors
Danksagung
Wichtige Charaktere
Protagonisten
Antagonisten
Veröffentlichungen von Werner Kellner:
Band 2: „Todgeweiht im Odenwald“.
Chronologie einer Albtraumreise (Aufzeichnungen des Odenwälder Privatermittlers Willy Hamplmaier):erschienen am 11.4.2022 bei neobooks / epubli.
Impressum

Impressum neobooks

Werner Kellner

Die Witwe und der Wolf im Odenwald

Band 1 der Serie:

„Mordskrimigeschichten aus dem Odenwald(1)“

Revidierte Auflage vom 15. 03. 2022.

Mordsgeschichten aus dem Odenwald

Für Lucia.

Frauen werden nicht frei sein,

solange ihre Unterwerfung als sexy gilt.

Sheila Jeffreys, geboren.

1948 in Melbourne.

Die handelnden Personen und die Schauplätze des Romans sind, abgesehen von einzelnen an die Geschichte angepassten historischen oder realen Geschehnissen, Erklärungen und Chronikzitaten frei erfunden.

Prolog: Im Namen der Ehre

Morde im Namen der ‚Ehre‘ sind weit verbreitet in Afghanistan.

Amnesty International Report, 9.10.2014, und Tagespost im Februar 2020

Laut eines UN-Berichts werden jedes Jahr rund 5000 Mädchen und Frauen im Namen der "Ehre" in Afghanistan ermordet. Das afghanische Gesetz lässt für diese Morde mildernde Umstände gelten, das Strafmaß beträgt höchstens zwei Jahre. Die betroffenen Mädchen und Frauen befinden sich auch dann in größter Gefahr, wenn sie nach der Tat zu ihrer Familie zurückgebracht werden. Eine vergewaltigte Frau muss ihren einstigen Vergewaltiger heiraten. Ehrenmorde sind nicht prinzipiell islamisch ihrem Wesen nach, sie kommen in verschiedenen Kulturkreisen vor und sind älter als der Islam, in dessen Recht sie auch nicht vorgesehen oder gerechtfertigt sind. Sie kommen jedoch besonders häufig in islamischem Milieu vor, werden dort von sehr traditionalistischen Grundeinstellungen gefördert, finden im islamischen Gesellschafts- und Frauenbild und in einer archaischen Sexualmoral einen fruchtbaren Nährboden. So ist es kein Wunder, dass Ehrenmorde nach Schätzungen zu 90 Prozent in islamischem Umfeld geschehen. Schwerpunkt sind der Nahe Osten und Nordafrika. Nach einer UN-Studie geschehen jährlich 5 000 Ehrenmorde weltweit – von einer erheblichen Dunkelziffer ist auszugehen. Ehrenmorde haben in islamischen Gesellschaften eine hohe Akzeptanz. In Jordanien lehnte das Parlament ein Gesetzesvorhaben ab, das härtere Strafen für Ehrenmorde vorsah (2003). In vielen muslimischen Ländern werden Ehrenmörder von Gerichten mit Milde behandelt. Gerne wird behauptet, Ehrenmorde seien ein Unterschichtproblem, das besonders bildungsferne Schichten betreffe. Dem widerspricht eine Studie, nach der in der Türkei circa 30 Prozent der Studenten Ehrenmorde für akzeptabel halten.

Buch 1 Der geplatzte Prozess

(…vor 11 Jahren in Frankfurt/Main…)

‘Darmstädter Echo’, in memoriam Heiner Mummert, von G. Jährling am 5.9.2006.

Einer der renommiertesten Investigativreporter der deutschen Medienlandschaft, Heiner Mummert, starb gestern nach seiner Einlieferung in die Frankfurter Unfallklinik an den Folgen eines Mordanschlages. Die Polizei geht davon aus, dass der Mord im Zusammenhang mit einem aufwändigen Drogenprozess um einen der größten Heroinfunde in der Frankfurter Geschichte und der Enttarnung führender Mitglieder der Drogenmafia „Wory w Sakone“[Fußnote 1] durch die Enthüllungen einer Kronzeugin steht. Heiner Mummert trug eine Menge zur Aufklärung der Machenschaften der russischen Drogenmafia und deren Verbindung zu afghanischen Drogenhändlern bei. Wir werden Heiner Mummert ein ehrendes Andenken bewahren.

Kapitel 1

Maxim Mutsonow, geboren 27.2.1963 in Puschkin. Eltern 1990 eingewanderte Wolgadeutsche. Ledig, 1995 Jura Studium in Dresden, danach Wohnsitzwechsel nach Dieburg, agierte als Buchhalter und Sammler von Schutzgeldern, seine Rechtsanwaltskanzlei vertritt die ‚Bratwa‘, deren Syndikus er seit 2001 ist, Nummer 2 der ‚Gesellschaft‘[Fußnote 2], kaufmännischer Leiter der Seniorenoase ‚Jungbrunnen‘.

Landgericht Frankfurt, 4. Strafsenat, Mittwoch 14.10.2009, Sitzungssaal 203, 12:15 Uhr

In der Ferne verklang das Mittagsgeläut der Glocken des Frankfurter Doms, als der Vorsitzende Richter des 4. Strafsenats am Landgericht Frankfurt die vorletzte Sitzung vor der Urteilsverkündung im Namen des Volkes schloss.

Der Verteidiger der Angeklagten vertrat vor dem Landgericht Frankfurt sechs Mitglieder der zweiten und dritten Führungsebene des international agierenden Drogenkartells. Die Männer waren wegen bandenmäßigen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz angeklagt.

Er war mit seinem Schlussplädoyer rundum zufrieden und gleichzeitig gespannt, wie die Anklage ihren Strafantrag am letzten Sitzungstag begründen würde, angesichts des drohenden Verlustes der Kronzeugin.

Er hatte im gesamten Prozessverlauf und insbesondere heute am Tag seines Schlussplädoyers nochmals alle Register gezogen. Er hatte versucht, die Kronzeugin des Falles als Junkie, völlig unglaubwürdig und unausgeglichen darzustellen.

Er behauptete, die Zeugin wolle nur von ihrem eigenen Fehlverhalten ablenken und sämtliche ihrer Aussagen wären Lügen.

Sie wären von der Anklagebehörde durch keine belastbaren Beweise hinterlegt.

Die Angeklagten würden Zeugin nicht kennen, und es gäbe keinerlei Verbindung zwischen ihnen.

Der Verteidiger hatte seinerseits die gegenteiligen Äußerungen und Hinweise des Vorsitzenden Richters während der letzten Sitzungen verstanden.

Er war darauf eingestellt, dass das Gericht alle Einlassungen der Verteidigung abweisen würde, falls die Staatsanwaltschaft ihre Zeugin bei der Stange halten könnte.

Das Gericht ließ in seinen bisherigen Ausführungen keinen Zweifel daran, die Angeklagten des sehr schweren und mehrfachen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz für schuldig zu erkennen.

Ebenso neigte es dazu, dem revidierten Antrag der Staatsanwaltschaft zu folgen, der für das Strafmaß den maximalen Rahmen mit mindestens zehn Jahren vorsah.

Einfach um in der Drogenszene ein Exempel zu statuieren.

Der Verteidiger war darauf vorbereitet, um das Urteil vor dem BGH wegen unkorrekter Beweiswürdigung der Kronzeugin anzufechten.

Aber auch dort war die Aussicht auf eine Revision des Urteils zugunsten der Angeklagten unwahrscheinlich.

Alles hing von der Beweiskraft der Aussage der Kronzeugin und dem Schlussplädoyer der Anklage ab.

Das Hauptverfahren betraf einige alte Bekannte der Kripo aus der mittleren Führungsebene der lokalen Drogenszene. Sie waren in der Folge der Entdeckung eines Drogentransportes im Frühjahr 2003 aufgeflogen.

Ein Transporter war damals kurz nach Mitternacht mit mehr als 700 kg Heroin und reinem Opium aus afghanischen Beständen an einem Autohof an der B 43a in Klein-Auheim nach einem wochenlangen Überwachungsprogramm gestellt worden.

Der Fahrer des Drogentransporters, der eine ungeplante Pinkelpause für seine nach der langen Fahrt müde Beifahrerin eingelegt hatte, war ahnungslos ins Tankstellencafé marschiert.

Er kam mit zwei Kaffeebechern in der Hand zurück und war dabei, wieder in den Transporter einzusteigen, als auch seine Kollegin ihre innere Harmonie in der Tankstellentoilette wieder hergestellt hatte und ebenfalls auf ihren Sitz kletterte.

In dem Moment, als er ihr den dampfenden Becher des schwarzen Gebräues weiterreichte, schaltete die Polizei die Scheinwerfer ein, und das SEK forderte ihn per Lautsprecher auf, mit erhobenen Händen auszusteigen und aufzugeben. Er ließ den Kaffeebecher fallen und hob eine Hand, während er mit der anderen die Fahrertür öffnete. Dann griff er unter den Sitz und versuchte aus der Deckung der offenen Fahrertür, mit einer Kalaschnikow die Scheinwerfer der Polizei auszulöschen. Er wurde bei dem folgenden Schusswechsel erschossen. Seine Beifahrerin wurde durch einen Treffer aus der Waffe eines Polizisten leicht verletzt, dessen Kugel die rechte Seitentür durchschlug und in ihrem rechten Oberarm stecken blieb.

Die auf den ersten Blick nur leichtverletzte Drogenkurierin wurde in die Universitätsklinik Frankfurt gebracht.

Sie lag nach ihrer Schussverletzung jedoch länger als erwartet auf der Intensivstation der Uniklinik, und ein Oberarzt der Unfallchirurgie rettete ihr das Leben, nachdem Komplikationen aufgetreten waren.

Die Kugel hatte die rechte Oberarmarterie in der inneren Bizepsfurche leicht angekratzt, und nur durch Zufall war das im Verlauf von nur wenigen Tagen entstandene Aneurysma entdeckt und chirurgisch entfernt worden. In den Wochen ihres Klinikaufenthaltes wurde sie rund um die Uhr bewacht.

Das Verfahren gegen die Hauptangeklagten zog sich unverhältnismäßig in die Länge.

Die ermittelnden Behörden hatten es dank des aufopferungsvollen Einsatzes insbesondere eines einzelnen Personenschützers zwar relativ schnell geschafft, die Drogenkurierin mit umfangreichen Zusagen bezüglich Straffreiheit zu einer Aussage gegen die ‘Gesellschaft’zu bewegen.

Dabei hatte sich die Staatsanwaltschaft zu Beginn des Verfahrens lange gegen eine Kronzeugenregelung gesträubt. Sie stimmte nur oder erst auf nachdrückliches Ersuchen der Ermittler zu, da sie nach offizieller Lesart bezweifelte, dass ihre Enthüllungen den Aufwand wert waren.

Die junge Frau war schon seit längerer Zeit wegen des Verdachtes der Zugehörigkeit zur russischen Drogenmafia observiert worden. Sie war ebenso wie die geschmuggelten Drogen afghanischer Abstammung und laut Ermittlungsakte und aufgrund von Recherchen eines bekannten Investigativjournalisten vermutlich ein hochrangiges Mitglied einer kriminellen Mafiaorganisation, die vorwiegend illegale Drogen in den europäischen Markt schmuggelte.

Bis sich aus den Angaben der Zeugin gerichtsfeste Beweise für die Machenschaften der Bande finden ließen, vergingen mehrere Monate. Dazwischen und danach gab es von der Verteidigung jeden denkbar möglichen Einspruch zu den einzelnen Prozessschritten bis zum wiederholten Antrag auf Befangenheit des 4. Strafsenats.

Sechs Monate nachdem der Senat bestätigt worden war, wurde das Verfahren für die Kronzeugin vom Hauptverfahren abgekoppelt. Der Verteidigung und den Hintermännern der ‘Gesellschaft’, die sich als russische Bruderschaft der ‚Diebe im Gesetz‘ auch ‚Bratwa‘ nannte, wäre der Zugang zur Kronzeugin zu erschweren.

Die Hoffnung der Verteidigung, dass der Vorsitzende Richter, der zum Prozessauftakt kurz vor der Pensionierung stand, vor Prozessende aus dem Verfahren ausscheiden und seinen wohlverdienten Ruhestand antreten möge, erfüllte sich. Damit feierte der Prozess wegen Überlänge seinen dritten Geburtstag. Nach einjähriger Einarbeitungszeit eines neuen Vorsitzenden wurde das Verfahren fortgesetzt.

Als Zeugin konnte oder wollte die kaum deutschsprechende Drogenkurierin keine weiteren Angaben zur Führungsstruktur des deutschen Ablegers der russischen Bruderschaft machen, und der eigentliche Anführer der Bande blieb während der gesamten Prozessdauer im Dunkeln.

Während der langen Zeit auf der Isolierstation der Uniklinik und danach eingesperrt in eine sichere Wohnung, hatte die Zeugin trotz der Sprachbarriere zu einem der Personenschützer der Polizei ein immer stärker werdendes Vertrauens- und später sogar ein Liebesverhältnis entwickelt. Die Liebe überwand damit gleichzeitig ihren Wunsch nach Sicherheit durch Isolation und Aussageverweigerung.

Die Kommunikation der beiden war schwierig aber nicht unmöglich, denn der junge Personenschützer sprach weder Russisch noch Paschto, und die junge Frau, war kaum der deutschen Sprache mächtig. Aber ihre Körpersprache und ihre Neugier auf eine Beziehung, die durch Respekt und Anerkennung gekennzeichnet war, förderten ihre Gefühle füreinander und überwanden kulturelle Gegensätze.

Alles, was die junge Frau bisher erfahren und erlebt hatte, musste sie in einer Vormundschaft oder unter dem Zwang eines Mannes über sich ergehen lassen, der sie in ihrem Wesen nicht respektierte, sondern benutzte. Und mit diesem jungen Personenschützer war es zum ersten Mal in ihrem Leben ganz anders. Sie fühlte sich wie ein gleichwertiger Mensch behandelt und anerkannt. Ihr wurde zugehört, und sie wurde mit und ohne Worte verstanden. Sie fühlte sich wohl und war es leid, sich ständig behaupten zu müssen. Es fiel ihr einfach leicht, sich in diese neue Beziehung fallen zu lassen und einzufügen.

Nach der Entlassung der Zeugin aus dem Krankenhaus bezog der Bodyguard mit der jungen Frau mit den unergründlichen nachtschwarzen Augen, den weichen Gesichtszügen unter einem dichten, schwarzen Lockenkopf und einer knabenhaften und trotzdem durchtrainierten Figur eine sichere Wohnung. Kurz nach der Hochzeit am 1. September 2003 wurde die Zeugin einige Wochen später von einer Tochter entbunden, und ab sofort wurde der Personenschutz auf die kleine Familie ausgedehnt. Die Mutter sprach mit ihrer Tochter Paschto aus dem Wunsch heraus, ihre Wurzeln nicht verkümmern zu lassen, und Deutsch lernte sie von ihrem Vater.

Die Angeklagten im Hauptverfahren waren schon mehrfach ins Visier der Ermittler geraten. In der Vergangenheit mussten die Gerichte sie aber immer mangels Beweisen freisprechen. Dies war auch der Vorwand, weshalb sich der öffentliche Ankläger zu Beginn des Prozesses extrem zurückgehalten hatte, und gegen die Hintermänner, insbesondere wegen deren bislang unauffälligen und vorstrafenfreien Verhaltens, auf ein minder schweres Vergehen plädierte. Der Ankläger hatte, ganz im Sinne der ‘Gesellschaft’, das niedrigstmögliche Strafmaß in Höhe von zwei Jahren auf Bewährung für angemessen gehalten und beantragt.

Keiner der Ermittler, die den erfolgreichen Zugriff so mühsam vorbereitet hatten, verstand die Beweggründe der Staatsanwaltschaft, die den Anschein erweckte, dass es sich um eine geringfügige Straftat handelte, und die den Ermittlern eine mangelhafte Beweislage vorwarf.

Die Hintergründe dafür kannten allerdings nur der Verteidiger und natürlich der Anführer in Kaliningrad umso besser. Wie sich erst nach dem Tod des Oberstaatsanwaltes herausstellen sollte, stand der schon lange auf der Gehaltsliste der ‘Gesellschaft’. Er war in einer Vielzahl von Verfahren nicht nur als ‚Maulwurf‘ aktiv, sondern auch als ‚Knipser‘ bekannt, der Strafverfahren gerne wegen Geringfügigkeit oder Mangel an Beweisen einstellen ließ.

Unmittelbar nach ihrer Verhaftung, hatte es auf Drängen des Bosses den ersten von verschiedenen erfolglosen Versuchen gegeben, die unliebsame Zeugin, durch einen ‚Wolf‘[Fußnote 3] der ‘Gesellschaft’ aus dem Verkehr zu ziehen. Denn für die ‘Gesellschaft’ stand viel mehr auf dem Spiel, als nur die Verurteilung von sechs Männern aus dem Mittelmanagement zu verhindern. Die sechs waren zwar nicht einfach zu ersetzen, aber ihr Wissen und dasjenige von weiteren untergetauchten Mitgliedern der Bande stellte ein erhebliches Risiko für das gesamte Geschäft der Mafiosidar, und außerdem drohte die Enttarnung des verdeckt arbeitenden Maulwurfs.

Der ‘Gesellschaft’ hatte es bisher wenig genutzt, dass sie ein Leck in die Reihen der Staatsanwaltschaft eingeschleust hatte. Der Maulwurf hatte während des gesamten Verfahrens die Bandenführung über den Umweg der Verteidigung direkt und mehr schlecht als recht mit Informationen zu Aufenthaltsort und Personenschutz der Zeugin versorgt. Leider waren die Koordinaten fehlerhaft, besser gesagt bewusst falsch, wie sich später herausstellte. Der Verteidiger, der jetzt im Gerichtssaal saß, lächelte bitter, und er gestand sich ein, dass alle bisherigen Versuche der ‘Gesellschaft’, die Kronzeugin zu eliminieren, gescheitert waren.

Kapitel 2

Karl Miltner, geboren 4.7.1965 in Karl-Marx-Stadt. Verheiratet, ein Sohn, Jura Studium in Dresden. Seit 1990 Oberstaatsanwalt in Frankfurt am Main, verdeckter Informant der ‚Bratwa‘. Vertreter der Anklage im Drogenprozess von Frankfurt.

Staatsanwaltschaft Frankfurt, Mittwoch 14.10.2009, 12:30 Uhr

Müde, den Kopf in die Hände gestützt, saß ein leicht ergrauter Mann, die Brille hatte er abgesetzt, an seinem Schreibtisch im Büro der Frankfurter Staatsanwaltschaft, in der Konrad-Adenauer-Straße. Seine Gedanken kreisten ebenfalls um den größten Drogenprozess in Frankfurt, seit er im Amt war.

Er war unmittelbar, nachdem der Vorsitzende Richter die Sitzung im Anschluss an das Schlussplädoyer der Verteidigung geschlossen und den Termin für den Schlussvortrag der Anklage festgelegt hatte, in sein Büro gefahren.

Karl Miltner, seines Zeichens Oberstaatsanwalt und zuständig für Drogendelikte, hatte sein Mobiltelefon mit der anonymisierten prepaid Simkarte in der Hand, mit dem er ausschließlich mit seinem direkten Kontaktmann der ‘Gesellschaft’ kommunizierte. Er zögerte den Anruf hinaus, mit dem er seinen Ärger auszudrücken gedachte, aber dieses Mal wollte er seine Position und seine Forderung unmissverständlich übermitteln. Zu hohes Risiko hatte sich angesammelt und zu viel stand für ihn auf dem Spiel. Er hatte sich weit aus dem Fenster gelehnt, um dieses Risiko zu eliminieren, und war nicht länger bereit, unter dem Damoklesschwert der latenten Enttarnung zu leben.

Sein Alleingang, mit dem er sich selbst aus der Schusslinie bringen wollte, um die Kronzeugin im letzten Moment vor der Urteilsverkündung in einem nicht-dokumentierten Vieraugengespräch aus dem Verfahren zu entfernen, war fehlgeschlagen. Obwohl er die Sache äußerst diskret angepackt hatte.

Der Gedanke zu diesem Versuch, die Zeugin lautlos aus dem Verfahren zu entfernen, war die Folge eines Anrufs eines afghanischen Verwandten der Zeugin. Der junge Mann hatte sich bei ihm direkt gemeldet, weil er im Auftrag der Familie eine ‚informelle‘ und schnelle Auslieferung der Kronzeugin vor einer Verurteilung erreichen wollte. Er berief sich auf seinen Vater, der ein hochrangiger Berater der afghanischen Regierung wäre, wobei er selber als offizieller Übersetzer im Auftrag der Bundeswehr in Afghanistan tätig sei. Er bat den Oberstaatsanwalt, um eine Gelegenheit mit der Zeugin unter vier Augen zu reden, denn ihre Zustimmung für eine straffreie Rückkehr in ihre Heimat würde das Unterfangen erleichtern.

Der Oberstaatsanwalt hatte das Angebot spontan als Chance gedeutet, die sein Problem lösen könnte. Kurz entschlossen organisierte er das Gespräch mit der Zeugin und lud den Dolmetscher mit Diplomatenstatus dazu ein. Der Anklagevertreter wollte der Zeugin unter dem Vorwand, ihr eine unkomplizierte Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen, einen ‚besseren‘ Deal, als die ungeliebte Kronzeugenregelung anbieten. Für den Fall, dass sie im Kronzeugenstatus bliebe, wollte er die Drohung im Raum stehen lassen, dass er ihr die Aussetzung einer Gefängnisstrafe zur Bewährung leider nicht garantieren könne. Er bot ihr stattdessen eine geordnete Rückführung in ihre Heimat und einen ordentlichen Geldbetrag obendrauf an, wenn sie unverzüglich aus dem Kronzeugenprogramm aussteigen und alle ihre Aussagen zurückziehen würde. Er würde im Gegenzug die Anklage gegen sie aussetzen, um ihr so straffrei die Rückkehr in ihre Heimat und zu ihrer Familie zu ermöglichen.

Der junge Mann, der sich sosehr um eine Rückreise seiner Schwester nach Afghanistan bemühte, hatte während des Gesprächs intensiv auf die Kronzeugin eingeredet und nach Ansicht des Oberstaatsanwaltes nicht nur übersetzt, sondern das Ganze vermutlich noch drastisch ausgeschmückt. Karl Miltner hatte den jungen Mann, während der auf die Zeugin einredete, intensiv beobachtet. Menschen zu lesen war sein Metier. Nach dem Goldschmuck zu urteilen, den er trug, stammte er aus reichem Haus. Die unübersehbar arrogante und unfreundliche Haltung des Mannes der jungen Frau gegenüber ließ auf einen höheren Rang im Clan oder der Familie schließen. Er hatte feine, fast aristokratische Züge und wenn man genauer hinsah, konnte man sogar so etwas wie eine Ähnlichkeit zur Zeugin erkennen. Miltner wunderte sich, wieso der junge Mann mit Diplomatenstatus als Übersetzer tätig war, aber er hätte nie vermutet, dass die Zeugin und der Dolmetscher Geschwister waren.

Das lag zum Teil daran, weil er nicht alles mitbekam, was zwischen den beiden gesprochen wurde. Er konnte aber an der Reaktion der Zeugin ablesen, dass sie offensichtlich schwer unter Druck geriet. Er bat den Dolmetscher, nicht zu viele Drohungen in seine Übersetzung einzubauen, es wäre besser, die Vorteile einer straffreien Zukunft in ihrer Heimat zu betonen, und der Übersetzer nickte und fuhr fort.

Der Dolmetscher warf nach dem zweistündigen Gespräch bedauernd das Handtuch und teilte dem Oberstaatsanwalt mit, dass die Zeugin trotz seiner Anstrengungen das Angebot für eine Rückführung in den Schoß der Familie vorerst abgelehnt hatte. Er sagte, die Zeugin hätte darum gebeten, seinen Vorschlag zu überschlafen. Ein zweites Gespräch wäre notwendig, was der Oberstaatsanwalt akzeptierte.

Nachdem der junge Mann aus Afghanistan das Büro des Oberstaatsanwaltes verlassen hatte, verabredet er sich nachträglich mit der Zeugin für ein Vier-Augen-Gespräch.

Fünf Minuten später betrat der Staatsanwalt den Biergarten im gegenüberliegenden Restaurant zu einem kleinen Imbiss und sah die beiden dort abgeschirmt in einer Ecke bei einer Tasse Tee sitzen. Es kam ihm so vor, als ob der Dolmetscher mit der jungen Frau Telefonnummern austauschen würde.

Der Oberstaatsanwalt beendete seine Grübelei, vor allem versuchte er nicht mehr, an mögliche Konsequenzen von Seiten des Bosses zu denken. Der hätte ihm vermutlich diesen waghalsigen Versuch, die Kronzeugin auf seine Art zum Schweigen zu bringen, strikt verboten. Dem Anklagevertreter war bekannt, dass der Boss ‚Eigentümerrechte‘ auf die junge Frau beanspruchte.

Rückblickend gestand er sich ein, dass sich der Prozess für ihn zum Albtraum entwickelt hatte, denn der Boss ließ nicht locker und seine Anmahnungen zur Beseitigung der Kronzeugin wurden drängender, ohne dass er eine Chance hatte, diese Forderungen zu erfüllen. Der Anführer erklärte ihn zum Versager und drohte ihm und seiner Familie mit Konsequenzen. Er schüttelte den Kopf, wenn er daran dachte, dass ihn seine Frau schon seit Jahren zum Ausstieg aus der Bruderschaft zu bewegen versuchte. Er winkte jedes Mal ab, wenn sie wieder davon anfing, und erklärte, wie schwierig eine Abkehr aus der ‚Gesellschaft‘ wäre.

Schier unmöglich.

Hatte man einmal den Eid auf die ‚Gesellschaft‘ geschworen, so bedeutete das, für immer dabei zu sein. Seiner Frau schwebte ein neues Leben, ein Kaltstart im Ausland vor, und sie bettelte ihn an, er möge an den gemeinsamen Sohn denken. Eben darum erklärte er ihr, ginge es nicht. Die Drohung der Sippenhaft hinge über allen.

Und das gefiel Karl Miltner überhaupt nicht.

Er hatte die ganze Zeit darauf vertraut, dass der Boss die Kronzeugin des Prozesses unauffällig und sauber beseitigen würde. Er hatte jede Art von Anstrengung unternommen und persönlich die Daten ihres sicheren Aufenthalts, und das mehrfach, an seinen Kontakt durchgesteckt. Mit jedem gescheiterten Anschlag auf die Zeugin war es für ihn schwieriger geworden, die neuen Daten aus dem System zu fischen. Das zuständige Landeskriminalamt arbeitete nicht nur zuverlässig, sondern effizient, was die Geheimhaltung vertraulicher Daten aus dem Zeugenschutz anbelangte. Zähneknirschend sah er machtlos zu, dass sich die kleine Familie in sicheren Wohnungen bewegte.

Seine Angst von der ‘Gesellschaft’ wegen Obstruktion bestraft zu werden, wurde zusätzlich belastet von unangenehmen Signalen, die er aus seiner eigenen Behörde empfing.

Immer deutlicher wurde ihm signalisiert, dass man innerhalb der Staatsanwaltschaft und bei den zuständigen Ermittlern Verdacht schöpfte, denn einige der von ihm weitergeleiteten Daten waren nach dem ersten gescheiterten Entführungsversuch falsch und einmal wurde der Bande eine Falle gestellt.

Er argwöhnte zudem, dass eine interne Ermittlung gegen ihn im Gange war. Seit ihm der Fall zwar nicht direkt entzogen worden war, man hatte ihn zum Supervisor ernannt, war sein Zugriff in die Steuerung des Prozesses massiv eingeschränkt.

Verzweifelt arbeitete er daran, um sich der Verdachtsmomente wegen Amtsmissbrauchs zu entledigen und seine Spuren zu verwischen.

Das Schlussplädoyer der Anklage, in dem es massiv auf die Aussagen der Kronzeugin ankam, lag nunmehr in den Händen seines Mitarbeiters, der den Antrag für das Strafmaß deutlich gegenüber seinen Anträgen zu Beginn des Verfahrens erhöht hatte. Zwei Wochen standen ihm noch zur Verfügung, um das zu ändern.

Eine ungewohnte Angst hatte von ihm Besitz ergriffen, und von Woche zu Woche steigerte sich seine innere Unruhe. Echte Ruhe würde erst einkehren, wenn die Zeugin außer Landes oder besser noch tot wäre.

Er seufzte. Seine Geduld war erschöpft.

Aus Angst aufzufliegen, wollte er jetzt und sofort von seinem Kontaktmann die klare Zusage, dass dieses Risiko ein Ende haben sollte. Dass die Zeugin endgültig zum Schweigen gebracht würde. Der Boss hatte zwar während des ganzen Prozesses gedroht, er würde hart durchgreifen, aber tatsächlich schreckte er vor dem harten und finalen Schritt der Tötung der Kronzeugin zurück und versuchte es mehrmals mit Entführungen, die allesamt kläglich scheiterten. So brutal er sonst gegen Gefährder der ‘Gesellschaft’ vorging, so zurückhaltend handelte er, wenn es um die Frau ging, die seine Geliebte war, und die dennoch den Laden verpfiffen hatte.

Die Beweggründe der Zeugin, warum sie sich mit diesem Windhund von Ermittler einließ und sich von ihm ein Kind machen ließ, waren ihm völlig egal. Nicht egal war ihm das Risiko, dass für einen Maulwurf sein Schicksal als Staatsanwalt in ihren Händen lag.

Wenn er seinem Bauchgefühl gefolgt wäre, hätte er sie längst töten lassen, so wie er es mit diesem Heiner Mummert arrangiert hatte. Damals hatte er den Boss so lange mit Informationen gefüttert, bis der beschloss, diesen Dreckskerl von einem Investigativ-Journalisten abzuknallen, der ihnen allen zu nahe gekommen war.

Er hatte seinen Teil der Aufgabe, den der Boss jetzt von ihm konkret erwartete, nach seiner Ansicht mehr als nur erledigt. Er hatte sämtliche geforderten Daten zum aktuellen sicheren Wohnort gestern beschafft, obwohl er das Risiko kannte, wenn er im Datenbereich des LKA unberechtigterweise recherchieren würde. Und er hatte überdies die Information geliefert, wann der Übertritt in das offizielle Kronzeugenprogramm angesetzt war.

Glücklicherweise konnte er sich diesen Zutritt in einem letzten verzweifelten Ansatz einfacher verschaffen, als er hoffte, und er musste noch nicht einmal seine immer noch gültigen Administratorenrechte einsetzen, was eventuell nachvollziehbar gewesen wäre. Netterweise hatte sich die Kronzeugenbeauftragte des LKA morgens eingeloggt und danach aus reiner Bequemlichkeit das Zugangskonto offengelassen, sodass sich jeder von ihrem PC aus in der Datenbank frei bewegen konnte. Diese Art von Dateneinsicht wurde vom System weder als Vorgang noch als Verstoß registriert, und die Daten waren zu diesem Zeitpunkt im IT-System der Staatsanwaltschaft auch nicht mit einem separaten Passwort gesichert. Er war unbehelligt in der Mittagspause in ihr Büro in Frankfurt spaziert und hatte sich die Daten, die er brauchte, aus dem System geholt. Dann war er wieder verschwunden.

Vor wenigen Minuten hatte er seinem Kontakt die gewünschten Angaben zum aktuellen Zufluchtsort der Kronzeugen per SMS durchgegeben und zusätzlich den Zeitpunkt, zu dem der Übertritt der Familie in die neue Identität stattfinden sollte. Der für den Boss wichtige Teil der Aufgabe war erledigt, der für ihn kritische Teil stand ihm noch bevor.

Er atmete durch, drückte entschlossen die Kurzwahl, und sein Kontakt nahm seinen Anruf sofort entgegen.

Anders als erhofft, ließ sich sein Gesprächspartner trotz seiner Gefährdungslage und seines persönlichen Risikos nicht in seiner Haltung beirren. Er lehnte seine Forderung glatt ab, die Zeugin final zu beseitigen. Er teilte ihm stattdessen lakonisch mit, der Boss hätte unbeirrt seinen Plan bekräftigt, die junge Frau mit Tochter so unauffällig und schnell wie möglich außer Landes zu bringen. Seine Rache galt ausschließlich dem Dieb seiner Geliebten und nicht der Geliebten selbst. Er wollte gegenüber dem Personenschützer und Dieb seines Eigentums ein Exempel statuieren, und ihn mit der Geiselnahme seiner Familie bestrafen. Er sollte unter dem Eindruck leiden, dass man den beiden unvorstellbare Schmerzen zufügen würde.

Der Oberstaatsanwalt kapierte, dass seine Hoffnungen zu hoch gegriffen waren. Es war sein Fehler, dies zu erwarten. Karl Miltner war enttäuscht und beendete das Gespräch. Danach zögerte er keine Sekunde, bevor er eine zweite SMS losschickte.

Von Rechts wegen handelte es sich bei dem, was er vorhatte, um eine lupenreine Erpressung, die er jedoch als Deal bezeichnen würde mit jemandem, der ihm noch einen Gefallen aus einem früheren Strafprozess schuldig war. Dieser Jemand war ein hochrangiges Bandenmitglied derselben ehrenwerten ‘Gesellschaft’, welches vor längerer Zeit von einem Opfer wegen Vergewaltigung angezeigt wurde. Als das Opfer einige Tage nach der Anzeige durch einen merkwürdigen Haushaltsunfall zu Tode kam, hatte der damalige Staatsanwalt Miltner, auf Druck der ‚Gesellschaft‘, das Verfahren gegen den Verdächtigen wegen Mangels an Beweisen und Selbstmord des Opfers eingestellt. An diesen Jemand leitete Karl Miltner in diesem Moment ebenfalls die Anschrift der Zeugin weiter, allerdings mit einer kleinen Korrektur. Er datierte das geplante Fluchtdatum der Familie um einen Tag vor und bat ihn, pünktlich zu sein.

In der SMS an seinen Killer fügte er neben den Angaben zum Aufenthaltsort die schlichte Bitte hinzu, die Kronzeugin zuverlässig auszuschalten, damit sie nie mehr gegen ihn und die ‚Gesellschaft‘ aussagen könnte. Seiner Einschätzung nach hatte der Empfänger der SMS ebenfalls ein natürliches Interesse daran, der Zeugin den Mund zu stopfen. Er wusste, dass er sie indirekt für den Tod seines Sohnes verantwortlich machte, der durch die Kugeln der Polizei bei der gewaltsamen Beendigung des Drogentransportes starb.

Als Back-up blieb ihm immer noch die Chance, dass der Spezialist, den der Boss schicken würde, die Zeugin zuverlässig entführen würde. Das wäre dann nach seiner Einschätzung nicht die sichere Variante, die er sich wünschte, aber immerhin wäre die junge Frau dann für absehbare Zeit keine Belastungszeugin mehr sowohl gegen die ‚Gesellschaft‘ wie gegen ihn.

Er war sicher das Richtige getan zu haben, um wieder angstfrei leben zu können.

Und er dachte auch an eine Zukunft, in welcher dieser Jemand im künftigen Machtkampf um die Führung der ‚Gesellschaft‘ bessere Karten haben würde als der aktuelle Anführer. Dann säße er endlich am längeren Hebel.

Kapitel 3

Symbole haben für die Mitglieder der ‚Bratwa‘ immer eine tiefere Bedeutung. So kennzeichnet ein umrahmter Diamant je nach Verzierung einen Offiziersgrad. Die Bratwa ist straff hierarchisch gegliedert, wobei dem Boss oder Anführer, ein Unterboss oder stellvertretende Anführer zur Seite steht. Sie führen die "Kapitäne", und die wiederum die „Soldaten“. Alle „Mitglieder“ der ‚Bratwa‘ bilden die ‘Gesellschaft’ und sie wählen ihren Anführer.

Landgericht Frankfurt, Mittwoch 14.10.2009, 13:30 Uhr

Der Verteidiger im großen Drogenprozess hatte mittlerweile den Gerichtssaal verlassen und saß nachdenklich in seinem dunklen Mercedes der S-Klasse auf dem Parkplatz vor dem Landgericht.

Der Boss wusste seit kurzem, dass die Kronzeugin eine Tochter geboren hatte. Deren Vater vermochte ebenso gut er wie dieser verdammte ‚Ehebrecher‘ sein, der sich so schamlos an seinem Eigentum vergriffen hatte. Ab jetzt dürstete er weniger seine Geliebte, deren Vergehen er immer noch für eine Notlüge und entschuldbar hielt, dafür aber umso strenger den Ehemann mit seiner Rache überziehen.

Er rief den Boss an, um ihm den versprochenen Bericht zu erstatten und seine Befehle entgegen zu nehmen.

Der Boss informierte ihn knapp und prägnant, dass er die Sache jetzt selbst in die Hand nehmen würde. Er hatte verstanden, dass in der kurzen Übergangsphase zwischen dem 24/7–Personenschutz-Programm, und dem Übergang in das eigentliche Kronzeugenprogramm mit neuen Identitäten, einem neuen Umfeld und Wohnort, die Zeugin relativ ungeschützt war. Diese Zeitspanne wollte der Boss jetzt nutzen, um die Kronzeugin zwar spät, aber noch immer rechtzeitig und endgültig aus dem Verfahren zu entfernen, um damit der Staatsanwaltschaft die Basis für die Verurteilung zu entziehen. Jedem war klar, dass ohne ihre Aussage, die Anklage auf extrem wackligen Beinen stand.

Er forderte diesmal mit Nachdruck, einschließlich der Androhung von Konsequenzen an seine Führungsmannschaft vor Ort, die aktuellen Koordinaten ihres Wohnortes an. Er ließ verlauten, dass er die Kronzeugin und deren Tochter jetzt und sofort, das hieß noch vor dem Urteil, zu entführen und nach Russland zu bringen gedachte.

Dann würde er sich mit seinen Rachefantasien um den Personenschützer kümmern, der ihm das alles eingebrockt hatte, und ihn fertig machen.

Damit wäre ein Schlussstrich unter dieses unerfreuliche Verfahren gezogen, und die einträglichen Geschäfte und vor allem der künftige Umbau der Organisation in einen quasi-legalen Wirtschaftsbereich konnten ungestört weiter vorangetrieben werden.

Der Verteidiger glaubte an dieser Stelle dem Boss dieses zahnlose Vorgehen einer Verräterin gegenüber nicht. Er sah die Todesstrafe für sie als Konsequenz der brutalen Regeln der ‚Gesellschaft‘ schon als verhängt an. Der Boss würde die Zeugin zur Strafe so lange benutzen, bis er ihrer endgültig überdrüssig war. Nach den ungeschriebenen Regeln dieser ‚Gesellschaft‘ gehörte sie ihm bis an ihr Lebensende, und ihr Leben lag in seiner Macht.

Außer ihr verzeihen, das gaben die Regeln der Bratwa nicht her. Und das Verhalten ihres Anführers beobachteten die Mitglieder dieses Unterweltsyndikats sehr sorgfältig.

Dem Verteidiger war in diesem Moment nur wichtig, dass dieser Entführungsauftrag nicht bei ihm landete, denn er wollte nicht noch mehr Minuspunkte beim Boss sammeln. Disziplin war das A und O in der ‚Gesellschaft‘. Und das war dem Boss wichtiger als die Höhe des Profits, wenn man von Ausnahmen absah.

Danach drehte sich das Telefongespräch hauptsächlich um seine Rolle als Syndikus, konkret um den Abschluss der Markteinführung von Opioiden in der rezeptfreien Anwendung sowie der Gründung einer Stiftung zur Verwaltung von Immobilien und der Vermögenssicherung für die Unternehmensnachfolge. Als Wirtschaftsanwalt hatte der Syndikus gemeinsam mit dem Statthalter die notwendigen legalen Strukturen aufgebaut.

Es hatte harter Überzeugungsarbeit bedurft, um das risikoreiche und gewalttätige Drogengeschäft in ein quasi-legales Geschäftsmodell umzubauen. Allerdings war die ‘Gesellschaft’ immer noch dabei, die Vermarktung, um weitere Kundensegmente zu erweitern, um sich auf dem entwickelnden europäischen Opioid Markt eine Monopolstellung zu sichern. Mithilfe der Opioide für den rezeptpflichtigen und den rezeptfreien Schmerzmittelsektor sollte Europa massiv überflutet werden.

Der Boss, dessen Erfahrung aus den Anfängen des Unterweltsyndikats stammten, war „Mafia“ Old School und weder vertraut mit pharmazeutischen Absatzmärkten noch mit Online Marketing, dafür sicherte er das bestehende Drogennetz mit einem perfekt arbeitenden Sicherheitsdienst ab, der alles, was sich dem Netzwerk in den Weg stellte, brutal und gezielt beseitigte.

Die größte Sorge des Bosses war deshalb nicht, dass seine Geliebte, die er sowieso schon abgeschrieben hatte, ein paar der führenden Köpfe der lokalen Szene für ein paar Jährchen hinter Gitter bringen würde. Das würden die auf einer Arschbacke absitzen. Hingegen musste der Betrieb seines Geschäftsmodells leise und unauffällig weiterlaufen. Er akzeptierte kein zusätzliches Risiko mehr.

Der Mann hinter dem Lenkrad seines S-Klasse-Wagens atmete tief durch. Er war erleichtert, dass der Versuch die Kronzeugin zu beseitigen, der in all den Jahren des Prozesses gegen die Frankfurter Zelle des russischen Drogenkartells kläglich gescheitert war, kurz vor Prozessende wieder Fahrt aufnahm.

Er akzeptiert, dass der Boss damit drohenden Schaden von der ‘Gesellschaft’ abwenden wollte. Diese Organisation, in die er hineingeboren worden war, hatte ihn zur Ausbildung und Studium nach Deutschland geschickt und langsam aufgebaut. Er war dankbar und loyal über seine Karriere und die erreichte Position in der ‚Bratwa‘. Künftig würde er auch in der Stiftung eine wichtige Rolle spielen, die er sich mühsam erkämpft hatte.

Er war der Kontaktmann zum Maulwurf und hatte genug Druck auf ihren Mann in der Justiz ausgeübt, damit er diesmal die richtigen Koordinaten rechtzeitig herausrückte. Nach dem Empfang einer kurzen SMS, die er an den Boss weiterleiten musste, würde der ‚Wolf‘ seinen Job abschließen. Keine Zeugin, kein Urteil.

Das war das Ziel.

Auf dem Weg zurück ins Büro kündigte der kurze Piepton seines Handys den Eingang der erwarteten SMS des Maulwurfs an, die er direkt weiterleitete. Minuten später erhielt er die Bestätigungsantwort vom Boss. Aktion ‚Rückführung‘ war angelaufen.

Kapitel 4

Morde im Namen der "Ehre" sind weit verbreitet in Afghanistan. Die eigenen Verwandten werfen vergewaltigten Mädchen und Frauen vor, Schande über die Familie gebracht zu haben - so werden sie von Opfern zu Täterinnen gebrandmarkt. Dabei gilt auch einvernehmlicher Geschlechtsverkehr der unverheirateten Frau mit einem Mann als Vergewaltigung.

Wiesbaden, Donnerstag 15.10.2009, 19:00 Uhr

Die eindrucksvollen braunen Augen und der Dreitagebart des sportlichen jungen Mannes, ließen die Schmetterlinge im Bauch der Kronzeugenbeauftragten flattern wie jedes Mal, wenn sie ihn traf. Auch dieses Mal fühlte sie, wie ihre Knie weich wurden. Am liebsten wäre sie selbst mit ihm ins Kronzeugenprogramm geflüchtet, aber der Zug war abgefahren. Sie blieb cool und ließ sich, so gut sie es vermochte, nichts anmerken und wickelte die Dokumentenübergabe für sein neues Leben so kühl wie möglich ab.

Der junge Mann, dem eine gewisse Leichtigkeit im Leben, insbesondere dem weiblichen Geschlecht gegenüber, nicht fremd war, empfing sehr wohl die Signale der niedlichen Kronzeugenbeauftragten, die sich jetzt schon jahrelang um die Zeugin und ihre Tochter gekümmert hatte. Er war ehrlich genug sich einzugestehen, dass ein Versprechen trotzdem ein Versprechen war und dass Treue mindestens genauso wichtig war wie sexuelle Freiheit, und weil er dasselbe von seiner Partnerin erwartete, zwang er sich, aufkeimende Triebe jeder Art zu unterdrücken. Außerdem rüttelte ihn sein Gewissen seit seinem letzten Bruch eines Treueversprechens gegenüber seiner Sandkastenliebe ständig wach, sich ordentlich zu verhalten. Obwohl diese letzte gebrochene Versprechen gar kein richtiges Versprechen war. Nach seinem Empfinden war es eine mehr als angenehme Gewohnheit.

Als frischgebackener Ehemann kümmerte er sich liebevoll und vorrangig um die Sicherheit seiner kleinen Familie. Mit einem entschuldigenden Blick grinste er die Versuchung weg und nahm genauso cool, wie sie sich gab, die Dokumente und das Briefing entgegen. Er drückte sie zum Abschied ohne den erwarteten Kuss auf die Wange. Er würde sie in diesem Leben nicht mehr wiedersehen.

Wegen seiner schlaksigen und manchmal unbeholfenen Art wurde er leicht unterschätzt. Aber er konnte, wenn er wollte, seine Ziele sehr hartnäckig verfolgen. Als geborener Optimist gab es für ihn nichts Unmögliches. Das wiederum hatte ihm die ganze Mühsal ihrer ständigen Flucht zu ertragen geholfen, denn er sah immer das Licht am Ende des Tunnels. Hier und heute sah er das strahlende Licht des Tunnelendes vor sich und den Anfang einer lebenswerten Zukunft mit einer schönen und intelligenten Frau an seiner Seite, die dennoch seine Hilfe brauchte, um ihre Vergangenheit abzuschütteln.

Er gab sich keiner Illusion hin, dass dies ein Prozess war, der Jahre dauern konnte, aber Geduld war nicht nur eine leere Worthülse für ihn. Er lebte danach.

Der Übergabetermin war wie eine geheime Staatsaktion abgelaufen, um nur ja keine Spur zu hinterlassen. Er hatte auch darauf bestanden, den ursprünglichen Termin um zwei Wochen vorzuziehen, damit nicht durch eine Leckstelle, die er seit längerem bei der Staatsanwaltschaft vermutete, das Programm scheitern könnte. Es gab zu viele Vorfälle in der Vergangenheit, seine Frau aus dem Verfahren zu entfernen, die glücklicherweise alle gescheitert waren.

Das kleine Mädchen mit den samtschwarzen Locken und den großen, wasserblauen Augen, das seiner Mutter bis auf die Augenfarbe so sehr ähnelte, saß die ganze Zeit, während er beschäftigt war, auf der Besucher Couch und spielte mit einer Puppe. Er verließ das Haus mit dem Kind auf dem Arm direkt über die Tiefgarage und lief, den Kopf gesenkt, zu seinem, auf dem Besucherparkplatz abgestellten Minivan, packte die Kleine in den Kindersitz und klemmte sich hinter das Lenkrad.

Bevor er auf die A3 in Richtung Wiesbaden einbog, sah er im Rückspiegel, dass die Kleine immer noch mit der Puppe beschäftigt war, atmete tief durch und schloss die Augen.

Die letzten Monate waren alles andere als stressfrei, wenn er an die Vielzahl der Hürden dachte, die es bis zur Entgegennahme der Papiere vor fünfzehn Minuten zu überwinden galt. Obwohl alles akribisch dazu vorbereitet war, fühlte er sich immer noch wie ein Fallschirmspringer, der vor der offenen Flugzeugluke stand und vor einem nächtlichen Absprung über unbekanntem Terrain ins Dunkle starrte.

Nein, widersprach er sich selbst, er wollte in eine sonnendurchflutete Zukunft springen, und die dunklen Schatten hinter sich lassen.

Er hatte unter dem Zeugenschutzprogramm, welches das hessische Landeskriminalamt für ihn organisiert hatte, gemeinsam mit den beiden eine neue Identität mit erfundenem Lebenslauf erhalten.

Für ihren künftigen Lebensmittelpunkt empfahl sich Hamburg. Einen Arbeitsvertrag als Angestellter eines bekannten Haftpflichtversicherers hatte er unterschrieben. Für seine Frau, die mit einem Informatikstudium glänzte, welches sie an einer russischen Hochschule erworben hatte, wäre es ein leichtes, an ihrem neuen Wohnort einen Job zu finden. Er strahlte beim Gedanken an seine Frau, die sich so unvorhersehbar nach der gewaltsamen Festnahme und Verletzung in seine Fürsorge und mehr begeben hatte.

Sie hatte spontan seine Liebe erwidert, obwohl es für beide echt schwierig war, sich wegen ihrer gegenseitigen Sprachdefizite zu unterhalten.

Eine Liebe, die keine Worte brauchte, war bei beiden so rasch aufgeblüht, dass er selbst nicht verstand, was da ablief. Er löste seine Verlobung mit seiner ewigen Sandkastenfreundin und wollte sich nicht eingestehen, dass er ziemlich unfair ihr gegenüber war.

Kurze Zeit, nachdem die Zeugin aus dem Krankenhaus entlassen worden war, in dem sie mit ihrer schweren Schussverletzung behandelt worden war, heirateten die beiden. Bei der Geburt ihrer Tochter durfte er dabei sein, und seine neue Verantwortung für seine kleine Familie verschaffte ihm ein starkes Glücksgefühl. Die Tochter war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Von da an durfte er sich um zwei schöne Frauen kümmern, die ab sofort sein Leben bestimmen würden, wie er es scherzend nannte.

Aber es sollte alles anders kommen.

Als er kurz nach 14:00 Uhr die sichere Wohnung in Wiesbaden verlassen hatte, wollte er für maximal zwei Stunden wegbleiben, um mit Emina seine Dokumente vom Amt abzuholen. Ursprünglich sollten sie zu dritt die Unterlagen abholen, aber seiner Frau ging es die letzten Tage nicht so gut.

Die komplette Lebensumstellung, ein diffuses Heimweh nach ihrem fernen Zuhause und die Gewissheit, ihre Familie in Afghanistan nie mehr zu sehen, hatten ihr offensichtlich schwerer zugesetzt, als er dachte. Sie hatte während des ganzen Prozesses nur sehr zurückhaltend mit der Staatsanwaltschaft kooperiert und keine Details über ihre Familie und die eigentliche Führungsmannschaft der ‚Bratwa‘ kundgetan. All das hatte sie nur getan, um zu überleben.

Sie war so bedrückt, wie er sie lange nicht gesehen hatte, und er fühlte sehr wohl, dass sie ihm irgendetwas verheimlichte. Etwas, womit sie versuchte, alleine klar zu kommen. Und er wollte nicht zu sehr in sie dringen in dieser Zeit so kurz vor der neuen Identität und Zukunft. Es musste sich um etwas tief in ihrem Inneren verborgenes und weit zurückliegendes handeln, vielleicht sogar aus ihrer Jugendzeit, von der er so gut wie gar nichts wusste. Andererseits hatte sie zu niemandem Kontakt, sie verließ kaum mehr die Wohnung und wenn sie telefoniert hätte, wüsste er das.

Und hier irrte der Personenschützer.

Von der Befürchtung, dass ihr patriarchalischer, afghanischer Vater auch hinter ihr her war, um die Schande zu tilgen, die sie über die Familie gebracht hatte, erzählte sie ihrem Ehemann nichts. Dass der junge Mann, den sie beim Staatsanwalt getroffen hatte, ihr Bruder war, erzählte sie ihm auch nicht. Sie erklärte das Treffen damit, dass der Staatsanwalt einen Dolmetscher für ein unsittliches Angebot an sie engagiert hatte, das sie aber abgelehnt hatte. Sie redete sich ein, dass sie ihn damit nicht beunruhigen wollte.

Um sie zu schonen, hatte er deshalb auch nur ihre fünfjährige Tochter auf den Behördengang mitgenommen, um die Dokumente persönlich zu übernehmen. Der gesamte Prozess auf dem Amt hatte dann, wegen eines unvorhergesehenen Staus auf der Friedberger Landstraße sowie der strengen Geheimhaltungsanforderungen deutlich länger gedauert als geplant.

Es war schon so gegen 19:30 Uhr, als er den Minivan zurück in die Tiefgarage der Wiesbadener Wohnanlage steuerte.

Er hatte mit seiner Frau besprochen, dass sie unmittelbar nach seiner Rückkehr ihr Gepäck ins Fahrzeug laden würden, um direkt loszufahren. Er wollte kein Risiko eingehen. Mit neuem Namen, neuen Papieren und einem Konto mit einem Grundstock, das sie in dieses neue Leben starten ließ. All die Tage zuvor hatte er versucht, sie aufzuheitern, was nicht so recht gelingen wollte. Wenn sie schwermütig war, wollte sie in Ruhe gelassen werden. Aber das war so schwer.

Als Erstes fiel ihm der dunkle Van am Eingang der Tiefgarage auf, den er hier noch nie gesehen hatte, und der ein Kennzeichen des Odenwaldkreises trug. Sein Misstrauen war geweckt, und er schwankte einen Moment, was er mit seiner auf dem Rücksitz eingekuschelten Tochter tun sollte.

Sie war auf der Rückbank eingeschlafen, und so ließ er sie wie üblich im Auto, wenn er nach Hause kam, um als Erstes zu prüfen, ob der Weg in die Wohnung sicher wäre. Schon beim Betreten des Apartments beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Alles war dunkel und niemand reagierte auf sein, „hallo Schatz, wir sind wieder zurück”, als er sich in Richtung Schlafzimmer bewegte, in der Annahme, dass seine Frau sich hingelegt hatte. Das Zimmer war ebenfalls dunkel. Er fand sie im Schlafzimmer im Bett seltsam ausgestreckt unter der Decke und in völlig ungewohnter Weise auf seiner Bettseite liegend vor. Ihr Gesicht war ihm abgewandt und sie blickte auf ihre Bettseite.

Er schüttelte sie zärtlich, aber sie reagierte immer noch nicht und fühlte sich kalt und steif an. Er knipste die Nachttischlampe an und konnte keinen Puls fühlen. Dafür sah er ein Einmal-Injektionsbesteck auf dem Nachttisch, und als er die Decke zurückschlug, sah er den abgebundenen Arm und die Einstichstelle in der Armbeuge.

Sie war tot und in der Wohnung war es totenstill.

Er betrachtete sie lange und eine unsagbare Trauer ergriff ihn. Ihr wunderschönes Gesicht war entstellt von dem starr geöffneten Mund, ihren schreckhaft geweiteten Augen und die Pupillen groß und schwarz starrten durch seinen Blick hindurch ins Leere. Als er versuchte, den Kopf zu sich drehen, merkte er, dass die Totenstarre schon eingesetzt hatte.

Es dauerte eine Weile bis er bemerkte, dass ihre Halskette abgerissen war und der Anhänger fehlte. Aus den Kratzspuren am Hals schloss er, dass ihr das russische Kreuz mit Gewalt entrissen worden war. Beim genaueren Hinsehen sah er minimal ausgeprägte Druckspuren eines Daumenpaares an ihrem Hals. Der Mörder musste den Anhänger mitgenommen haben, denn dass es sich um keinen Selbstmord handelte, war ihm als Ex-Ermittler der Polizei sofort klar.

Die Totenstarre hatte bis auf die äußeren Extremitäten fast vollständig eingesetzt, was bei der herrschenden Raumtemperatur auf einen frühesten Todeszeitpunkt von etwa 15:00 Uhr schließen ließ. Der Täter musste unmittelbar nach seinem Verlassen der Wohnung erschienen sein. Vermutlich hatte der sogar gewartet, bis er ging, weil er wusste, was er vorhatte. Und wenn er wegen des Unwohlseins seiner Frau nicht seine Tochter ins Büro der Staatsanwaltschaft zur Dokumentenübergabe mitgenommen hätte, dann wäre sie jetzt auch tot.

Es tat ihm so weh, dass er seine Frau untersuchen musste, wo er ihr am liebsten nur die Augen geschlossen hätte, um zu trauern. Er fühlte den Schmerz über den Verlust fast körperlich und nicht nur das. Die Angst vor dem langen Arm der Mafia kam dazu. Diese Angst war verbunden mit dem Drang seine Tochter zu retten und vor einer permanenten Bedrohung zu fliehen, die nicht enden wollte. Der Zwiespalt, sich entscheiden zu müssen, zwischen der sofortigen Flucht und der Notwendigkeit kühl zu bleiben und die Situation zu analysieren, zerriss ihn fast. Als Ex-Polizist war er es gewohnt, Tatorte zu untersuchen, und sein Schlafzimmer war ein Tatort, da gab es keine Zweifel. Er erstarrte, als er die Decke vollständig zurückschlug und die Vergewaltigungsspuren sah. Er zwang sich dazu, mehrere Fotos von seiner toten Frau auf dem Bett zu schießen und die Tat zu dokumentieren.

Der Hinweis mit dem fehlenden Anhänger und die offensichtliche Vergewaltigung war ein zu eindeutiges Zeichen eines Auftragsmörders der Mafia. Von jemandem, dessen Ehre so tief verletzt war, dass er einen Mordauftrag der schlimmsten Art befahl. Dabei wurden absichtlich keine Spuren verwischt, um einen Rachemord an einer Verräterin zu demonstrieren.

Der Auftrag war eindeutig, um seiner Frau den Status einer ‚Wory‘ abzuerkennen, den sie sowieso abgelegt hatte. Und der Mörder war noch nicht fertig, warum hätte er sonst das Familien-Foto vom Nachttisch mitgehen lassen. Das Familienfoto, das sein Töchterchen auf dem Schoß der Mutter und ihn dahinter stehend zeigte, und das eingerahmt am Nachttisch stand, war verschwunden.

Er musste ausschließen, dass der Täter noch in der Wohnung war, und durchsuchte sie sorgfältig. Die Glock entsichert, schlich er von Zimmer zu Zimmer.

Fehlanzeige. Es fanden sich keinerlei Spuren eines Kampfes oder der Anwesenheit eines Fremden.

Dann fiel ihm siedend heiß der Van mit den abgedunkelten Scheiben und dem Kfz-Kennzeichen des Odenwaldkreises ein, der an der Ausfahrt der Tiefgarage parkte, und den er hier noch nie gesehen hatte.

Verstört lief er in die Garage, um nach seiner Tochter zu schauen. Der Van stand noch immer an der Ausfahrt, und er meinte auf der Fahrerseite einen Schatten zu sehen. Die Glock mit Schalldämpfer im Anschlag schlich er von hinten an den Van und versuchte, außerhalb des Sichtwinkels der Rückspiegel zu bleiben.

Er war nur noch wenige Meter vom Heck des Wagens entfernt, als der Motor aufheulte, und der Van mit quietschenden Reifen und ohne die Scheinwerfer einzuschalten, die Ausfahrt hoch raste. Ohne groß zu überlegen, schoss er eine Serie durch die Heckscheibe, die zersplitterte, aber die Schüsse brachten den Wagen nicht zum Stehen. Der schwere Wagen schlingerte leicht und verschwand um die Ecke.

Er speicherte das Kennzeichen ab und lief zu seinem Minivan, in dem die fest schlafende Tochter lag. Er nahm sie vorsichtig aus dem Auto, brachte sie direkt ins Kinderzimmer und machte ihr etwas zu essen. Als er das Zimmer verließ, war sie schon eingeschlafen. Er war hellwach und in einem Zustand der Hypersensibilität.

Er setzte sich vor seinen Laptop und scannte die Videos, welche die Kamera mit Bewegungsmelder in der Tiefgarage aufgezeichnet hatte. Im fraglichen Zeitraum ab 14:00 Uhr bis jetzt sah er einige bekannte Gesichter von Nachbarn, die er nur vom Sehen kannte, kommen und gehen und nur eine Handvoll Personen waren unbekannt. Auf zwei junge Kerle mit Hoody und schlecht erkennbaren Gesichtszügen folgte ein eng umschlungenes Pärchen, aber beide Gesichter waren abgewandt und nicht zu erkennen. Ein paar Teenager trabten an der Kamera vorbei, die mit einem Fußball unterwegs waren, und dann kam ein Jogginganzug-Träger mit Kapuze, der zu einem schlecht auszumachenden jungen Mann mit dunklem Teint und ein paar dunklen Locken gehörte. Dann entstand eine längere Pause, bis eine junge Frau mit einem Kinderwagen durch das Bild rollte. Darauf folgte ein Anzugträger mit Krawatte, der Figur nach ein Bodybuilder mit Kinnbart und einem Tattoo am Hals. Zum Schluss sah er noch einen Jogginganzug-Träger mit Kapuze und bis zur Nase hochgezogenem Kragen, der wieder umdrehte, weil er etwas in seinem Auto vergessen hatte. Er konnte niemanden identifizieren, sicherte die Datei und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Der Typ mit den Tätowierungen passte zu seiner Vorstellung eines Auftragsmörders, aber da er ihn nicht kannte, nützte ihm die Erkenntnis wenig.

Das Loch, das sich jetzt vor ihm auftat, es hätte schwärzer nicht sein können. Alles, was er so mühsam vorbereitet hatte, war mit einem Schlag wie weggewischt.

Dumpf vor sich hinbrütend saß er eine Stunde lang auf der Couch und versuchte den Zorn, der in ihm hochkochte, zu unterdrücken. Um 20:30 Uhr hatte er sich zu einem Entschluss durchgerungen.

Zuerst müsste die Leiche verschwinden, um die Auftraggeber des Auftragsmordes zu irritieren, und danach würde er eine Vermisstenmeldung an die Polizei abgeben und sich mit Emina endgültig absetzen. Danach würde er weitersehen, wieweit eine Zusammenarbeit mit den Ermittlern noch zweckmäßig und sinnvoll war. Der Prozess war erstmal geplatzt, und er und Emina waren als Zeugen eine Fehlanzeige. Er würde die neuen Identitäten dennoch benutzen, aber anders als vom Programm vorhergeplant.

Er rief mit heiserer Stimme seinen Vater an, den er getreu seinem Auftrag aus dem Zeugenschutz bisher vollkommen aus der Sache herausgehalten hatte, und fragte ihn, ob er Alina würdig aber ohne Aufsehen und am besten klammheimlich begraben könnte. Er sagte weder, was passiert war, noch gab er Einzelheiten preis, nur so viel, dass er seine Frau verschwinden lassen und ihren Tod verheimlichen wollte.

Was für eine Frage an den eigenen Vater, noch dazu wenn es um die Ehefrau ging, die er nur so kurz lieben gelernt hatte, und wegen der sein Leben jetzt kopfstand. Er war ziemlich sicher, dass er das Zeugenschutzprogramm für seine Tochter und sich selbst angesichts der Umstände vergessen könnte. Sie waren, was ihre Sicherheit anbelangte, ab jetzt auf sich allein gestellt. Immerhin hatten sie alles, was zum Aufbau einer neuen Identität notwendig war.

Es war unglaublich, und so hatte er ihn noch nie erlebt, wie einfühlsam sein Vater mit dem Thema umging. Der junge Mann hatte in seiner Bemühung, den Tod seiner Frau zu vertuschen, seine Mutter komplett außer Acht gelassen. Dass sie heute nicht zu Hause war, wusste er vorher nicht, aber es half ihm, seine geplante Aktion mit seinem Vater ohne große Aufregung durchzuziehen.

Und obwohl sein Vater vermutlich ahnte, worum es ging, fragte er nicht groß nach, und so wie es sein erster Gedanke war, hielt auch sein Vater den Ruheforst im südlichen Odenwald für den bestmöglichen Begräbnisort. Er musste es einfach riskieren, sie noch heute nach Erbach ins Beerdigungsinstitut seines Vaters zu bringen, wenn er den Zug morgen früh erreichen wollte.

Seine Tochter schlief immer noch tief und fest. Er trug zuerst seine auch im Tod noch so wunderschöne junge Frau in die Tiefgarage, setzte sie auf den Beifahrersitz und schnallte sie fest. Dann holte er die Kleine, die nicht wach wurde, als er sie auf dem Rücksitz zum Weiterschlafen hinlegte.

Fünfzig Minuten später fuhr er bei seinem Vater in den Hof, und gemeinsam brachten sie die Tote in den Vorbereitungsraum, legten Sie in einen Sarg, den sein Vater bereits für eine Feuerbestattung vorbereitet hatte. Morgen würde er sie, ausgestattet mit einem Totenschein seines Hausarztes, verbrennen lassen. Beim Begräbnis könnte er natürlich nicht dabei sein, aber klammheimlicher ging es einfach nicht.

Kurz nach Mitternacht, wieder zurück in Wiesbaden, begann er wahllos Klamotten zusammenzusuchen, seinen Laptop, seine Fotoausrüstung, aber auf jeden Fall nichts, was ihn sonst noch in der neu gewählten Wirklichkeit an die Vergangenheit erinnern könnte. Er stopfte alles in einen großen Koffer und bestellte das Taxi für 04:45 Uhr. Nach zwei Stunden Schlaf stand er mit einer schlaftrunkenen Fünfjährigen im Arm am Straßenrand, um auf das Taxi zu warten.

Im Taxi begann sie zu weinen, weil ihre Mama nicht da war, und er ihr keinen Trost spenden konnte und keine Erklärung, warum sie ohne Mama fortlaufen mussten.

Er schluckte schwer, denn die Fragen würden nicht aufhören und er wollte und konnte seiner kleinen Tochter nicht die Wahrheit erzählen.

Nicht jetzt und vermutlich noch lange nicht.

Im Auto schickte er eine offizielle SMS an die Notrufnummer der Polizei, wobei er sich als Personenschützer der Kronzeugin auswies, um einen Überfall und die Vergewaltigung seiner Frau zu melden, offensichtlich eine Racheaktion der Mafia an der Kronzeugin.

Er fügte ein Foto seiner Frau auf dem zerwühlten Bett bei, so wie er sie schwerverletzt nach seiner Rückkehr vorgefunden hätte. Der Vollständigkeit halber beschrieb er das vermutete Fluchtfahrzeug des Täters mit dem Kennzeichen des Odenwaldkreises und gab an, dass er die Heckscheibe zerschossen hatte. Ob er den Fahrer getroffen hatte, konnte er nicht sagen. Der Wagen hatte geschleudert, aber seine Fahrt fortgesetzt.

Er bat die Kollegen abschließend, alle verfügbaren DNA Spuren auf dem zerwühlten Laken zu sichern und mit dem Register in der Kriminaldatei zu vergleichen.

Als Letztes fügte er an, er wäre auf dem Weg in eine Privatklinik, um seine Frau unter voller Geheimhaltung ihres Aufenthaltsortes behandeln und hoffentlich retten zu lassen.

Er wollte für die Organisation gezielt falsche Spuren hinterlassen, und den Tod seiner Frau ebenso verheimlichen wie seinen künftigen Wohnort, der von ihm sorgfältig geplant und deutlich vom Zeugenschutzprogramm abwich.

Er sah eine schwere Zeit auf sich zukommen, und er sollte Recht behalten.

Im Taxi zum Hauptbahnhof passte der Song von Sia

‚Never Give Up‘ wie eine Faust aufs Auge:

I've battled demons that won't let me sleep Called to the sea but she abandoned me

But I won't never give up, no, never give up, no, no No, I won't never give up, no, never give up, no, no

And I won't let you get me down I'll keep gettin' up when I hit the ground Oh, never give up, no, never give up no, no, oh

Am Bahnhof kaufte er zwei erste Klasse Tickets nach Genf und erwischte den ICE 991 über Mannheim und Basel nach Genf um 05:26 Uhr gerade noch, denn der war diesmal ausnahmsweise pünktlich.

Er war sicher, mit diesem Schritt die Vergangenheit und seine Verfolger solange abschütteln zu können, bis die Angelegenheit aus den Schlagzeilen verschwunden wäre. Und er mit seiner Tochter ein Leben führen könnte, das frei war von ständiger Bedrohung, wo er sich nicht ständig umsehen und Rücksicht auf irgendwelche Ehrenkodices nehmen müsste.

Ab sofort hatte die Sicherheit seiner Tochter vor ihren Verfolgern oberste Priorität. Er schwor sich, alles zu tun, dass sie künftig auf sich allein aufpassen konnte. Sie sollte als Frau und wegen ihrer afghanischen Gene nicht ständig gezwungen sein, die zweite Geige zu spielen. In der Schweiz hatten die Frauen auch erst seit den 90er Jahren volles Wahlrecht und in den Köpfen der Menschen seiner Heimatgemeinde im Odenwald war das Meinungsbild nur geringfügig anders. Eine spätere Rückkehr in seine Heimat nach einem Jahrzehnt im Untergrund, um seine Verfolger abzuschütteln, wollte er a priori jedenfalls nicht ausschließen.

Er wollte außerdem die Suche nach dem Mörder seiner Frau nicht komplett aber zumindest für die nächste Zeit einstellen. Er kannte das Spiel, und jede Suche seinerseits nach dem Mörder würde unübersehbare Spuren hinterlassen und eine Gegenreaktion auslösen, die er definitiv nicht wollte.

Sein Wunsch nach einem unbeschwerten Leben, wäre schwierig genug zu realisieren. Aber der Wunsch war da, und es war ihm wichtig, seine Tochter behutsam und in erträglichen Dosen über das Geschehene aufzuklären. Ganz allmählich wollte er ihr ermöglichen, Lebensfreude und Stärke als Schutz gegen eine nicht immer freundliche Welt aufzubauen. In der Toleranz und gegenseitiger Respekt ein hohes, aber seltenes Gut waren.

Er hatte sich eine Geschichte zurechtgelegt, in der ihre Mama ganz plötzlich verschwunden war und niemand wusste, was geschah. Sie war einfach nicht mehr da, aber er würde sie suchen und finden. Er hatte nicht den Mut, ihr zu sagen, dass ihre Mama tot war, und hoffte, die Erklärung, dass sie spurlos verschwand, wäre leichter zu ertragen.

Kapitel 5

Odenwald Journal, dpa vom 16.10.2009.

Gestern wurden der ehemalige Oberstaatsanwalt, Karl Miltner, der zu Beginn des Prozesses gegen die Drogenmafia der Frankfurter Szene die Anklage vertreten hatte, sowie seine Ehefrau tot in ihrem Haus aufgefunden. Die Polizei prüft, ob die Todesfälle durch Fremdeinwirken zustande kamen. Gestern überraschte die Polizei im Rahmen einer Pressekonferenz mit der Meldung, dass die Kronzeugin desselben Drogenprozesses, in dem der Oberstaatsanwalt Karl Miltner die Anklage leitete, offenbar vor Überführung in das Zeugenschutzprogramm spurlos verschwunden ist. Zu den am Tatort gefundenen Spuren, welche auf eine Entführung hinweisen, wollte sich die Polizei nicht weiter äußern. Die Möglichkeit, dass es zwischen den beiden Ereignissen einen direkten Zusammenhang gibt, wurde nicht ausgeschlossen.

Wiesbaden, Freitag, 16.10.2009, 18:30 Uhr

Der Mann, den sie Andrei riefen, landete um 17:45 Uhr nach pünktlicher Ankunft seines Fluges mit Aeroflot aus Moskau. Er wartete am Ausgang am Gate B 21 des Frankfurter Flughafens in der Schlange der Passkontrolle, hatte kurzgeschorene Haare, eisblaue Augen und einen harten Mund in einem Durchschnittsgesicht. Keiner der ihn ansah, war hinterher in der Lage seine Visage im Detail zu beschreiben. Sein muskulöser Körper steckte in einem zu engen dunkelgrauen Anzug, und er hatte nur einen schlanken Aktenkoffer dabei, der ihn als Business Traveller auswies.

Der Bundespolizist, der seinen Ausweis prüfte, sah ihm nur kurz ins Gesicht und winkte ihn durch. Er war ein ‚Wolf‘ oder Spezialist für Entführungen und Auftragsmorde im Auftrag der Bruderschaft, und sein heutiger Auftrag lautete auf eine perfekte Entführung einer jungen Frau und ihrer Tochter. Wenn notwendig durfte er Gewalt anwenden, hatte der Boss ihm mit auf den Weg gegeben, aber er wollte die Opfer lebend in Empfang nehmen.

Er ging in die Ankunftshalle an den Schalter einer Mietwagenfirma und holte sich die Schlüssel für einen Transporter, mit dunklen Fensterscheiben, denn der Rückweg würde nicht per Flugzeug, sondern mit dem Auto erfolgen. Der ‚Wolf‘ ging entspannt zu den Gepäckschließfächern, entnahm den Rucksack mit seiner Standardausrüstung für solche Fälle, warf ihn über die Schulter und ging zum Mietauto Parkplatz am Ende der Halle mit den Serviceschaltern. Bevor er losfuhr, zog er sich auf einer Toilette um, und trug ab sofort die Uniform eines Hauptwachtmeisters der Frankfurter Stadtpolizei.

Der Boss hatte angeordnet, diesmal kein Fahrzeug aus dem Fuhrpark der ‘Gesellschaft’ zu benutzen, sondern einen Mietwagen zu nehmen.

Dann verließ der Mann den Flughafen in Richtung Kelsterbach und fuhr auf die A3 nach Wiesbaden. Er war frühzeitig vor Ort und drehte ein paar Runden um das Zielobjekt, um den Fluchtweg abzusichern.

Er versorgte sich an einem Kiosk mit einer Ration Energy Drinks, Proviant und Getränken für zwei Tage und besorgte sich an einer Tankstelle zwei 20-Liter-Kanister, die er mit Benzin volltankte.

Um 19:00 Uhr stellte er den Transporter nahe der Einfahrt zur Tiefgarage des Zielobjektes ab, um das Gebäude durch die Tiefgarage und über die Brandschutztür zu betreten, welche zum Keller und den Aufzügen führte. Von der Straße aus sah er in der Tiefgarage die blauen Blinklichter der Polizei leuchten.

Der Entführer entschloss sich, den Haupteingang zu benutzen, wo er mit einem Tippen des Zeigefingers an den Mützenschirm den Kollegen grüßte, der den Eingang bewachte. Der Polizist erwiderte lässig seinen Gruß, und der Entführer stieg die Treppe hoch. Im Flur des dritten Stocks sah er schon, dass das Interesse der Polizei der Wohnung der Zeugin galt. Die Eingangstür zur Wohnung stand weit offen und bei den Personen, die die Szene bevölkerten, dominierte die weiße Schutzkleidung der Kriminaltechnik.

Er baute sich neben dem Aufzug auf und aus den Gesprächen, die er belauschte, ging klar hervor, dass eine Frau vergewaltigt und schwerverletzt worden sei. Ein KTU-Mitarbeiter tütet ein Einmalbesteck ein, und die Rede ist von einem goldenen Schuss, den man der Frau zusätzlich verpasst hat. Die Frau sei von ihrem Mann, sofort nachdem er sie gefunden hatte, in eine Privatklinik gefahren worden. Über den Verbleib der Tochter bekam er nichts mit.

Trotz seiner Überraschung reagierte er professionell und ruhig. Etwas an dem Gedanken störte ihn, dass ihm jemand aus der Organisation zuvorgekommen sein könnte. Dass jemand auf eigene Faust operierte, hielt er für extrem unwahrscheinlich, und der Boss hätte niemals eine Vergewaltigung seiner verräterischen Frau angeordnet, das hätte er sich höchstens selber vorbehalten. Auch die Summe der Gewalteinwirkung überrascht ihn, da hat sich jemand ausgetobt, denkt er, das war keine professionelle Tat, wie sie von einem Auftragskiller der ‚Bratwa‘ ausgeführt worden wäre.

Er wartete noch eine Weile, bis er sicher war, dass es sich tatsächlich um die Frau handelte, die er hätte entführen sollen. Als er sicher war, verschwand er so, wie er gekommen war. Seit seiner Ankunft waren höchstens zwanzig Minuten vergangen.

Um 19:15 Uhr rief er den Boss an und erstattete Bericht. Der Boss, der einen tief betroffenen Eindruck auf ihn machte und energisch verneinte, jemand anderes mit der Erledigung beauftragt zu haben, wies ihn schroff an, sofort nach S. Petersburg zurückzufliegen.

Vorher sollte er aber noch beim Maulwurf vorbeischauen, und ihm Gelegenheit zu einer Beichte zu geben. Denn der war der Einzige, der außer ihrem Beschützer die Wohnung und den Aufenthaltsort kannte.

Die Stimme vom Boss klang jetzt nicht mehr betroffen, sondern war kalt. Der ‚Wolf‘ war natürlich mit den Feinheiten moderner Foltermethoden vertraut, um selbst hartgesottene Typen zum Singen zu bringen. Er benötigte nur die Zugangsdaten zum Domizil des Oberstaatsanwaltes. Er bestätigte den Auftrag und würde mit einem kleinen Umweg über Frankfurt zum Flughafen zurückfahren.