Todgeweiht im Odenwald - Werner Kellner - E-Book

Todgeweiht im Odenwald E-Book

Werner Kellner

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Beschreibung

Wie kam es dazu, dass eine mondän gekleidete Dame an einem sonnigen Ostersonntag in Wald-Michelbach eine rot geschaltete Fußgängerampel überquerte und von einem Auto erfasst und getötet wurde? Lange bevor es dazu kommt, beunruhigt Steffi Schwaiger aus dem Ermittlerteam von Willy Hamplmaier zu Beginn der Geschichte das Schicksal einer jungen Drogenabhängigen, die das Team vor einiger Zeit aus einem Edel-Puff befreit hat. Und es ist nicht die einzige Frage, die Steffi umtreibt. Die Ermittler werden mit der Klärung einer simplen Bedrohung durch einen Stalker beauftragt, die in eine unvorhergesehene Richtung eskaliert. Wer steckt hinter der Erpressung der jungen Frau, die vor einiger Zeit vergewaltigt wurde? Je tiefer die Ermittler graben, umso schwieriger entwickelt sich die Aufklärung, denn das Vergewaltigungsopfer verschwindet genauso spurlos, wie die schwangere Drogenabhängige, die wegen eines Schlafplatzes in eine KITA eingebrochen ist. Ein Mann und eine Frau, werden auf einem Parkplatz nahe Michelstadt mit einer massiven Rauchgasvergiftung aus ihrem Auto gerettet. Handelt es sich dabei um einen Selbstmordversuch? Und wenn nicht, wer steckt dahinter? Die Ermittler stoßen bei ihren Recherchen auf eine Verbindung, deren Handlung weit zurückreicht ins Mittelalter und die Odenwälder Sagenwelt. Wirkt der Fluch heute noch nach, mit dem das im Mannesstamm ausgestorbene Geschlecht der Freien Herren von Crumpach-Rodenstein bedroht wurde? Steffi Schwaiger begibt sich in ihrer unkonventionellen Art auf die Suche nach den Tätern und gerät selbst in Lebensgefahr…

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Todgeweiht im Odenwald
Eine kurze Einführung ins Geschehen
Die handelnden Personen
Prolog: Eine traurige Osterbotschaft
EINS
Die Halloweenparty
Im Friedwald
Der Covid-19-Patient
Die Erpressung
Steffis Albtraum
Ein Anfangsverdacht
Umzugspläne
Ende einer Geschäftsreise
Der Umzug
Advent zu Corona-Zeiten
ZWEI
Ermittlungen
Verdächtiger Nummer 1
Verdächtiger Nummer 2
Die KITA
Verdächtiger Nummer 3
Abgelegt zum Sterben
Die Klinik
Tobias und Maria
Eine ‚neutrale‘ Beratung
Ein Selbstmordversuch
Die Abgängigkeitsanzeige
Spurlos verschwunden
DREI
Adoptionswünsche
Die geschlossene Abteilung
Erholung
Sorgerechtsanspruch
Die Bestattung
Die Erinnerung
Transportrouten
Ein später Verdacht
Django
VIER
Willys Albtraum
Die Mutter-Kind-Station
Sandra und Steffi
Ein Tatort
Die Isolation
Eine Festnahme
Flucht
Exhumierung Annas
Eine Geburtsurkunde
Eine gute Nachricht
Steffi und Maria
FÜNF
Ein Verdacht erhärtet sich
Ein Treppensturz
Ein Küchenunfall
Die Befreiung
Datenverlust
Die Kronzeugin
Befragungen
Fast am Ziel
Eine Osterbotschaft
Neue Aspekte
EPILOG
Bemerkung des Autors
Danksagung
Veröffentlichungen von Werner Kellner:
Kurzbeschreibung
In dieser Reihe sind bisher erschienen:
Impressum

Impressum neobooks

Werner Kellner

Todgeweiht im Odenwald

Ein neuer Fall für die Privatermittler um Willy Hamplmaier aus der Serie

‚Mordskrimigeschichten aus dem Odenwald (2)‘

Überarbeitete Auflage vom 19.7.2022.

Für Lucia.

Eine kurze Einführung ins Geschehen

Wie kam es dazu, dass eine mondän gekleidete Dame an einem sonnigen Ostersonntag in Wald-Michelbach eine rot geschaltete Fußgängerampel überquerte und von einem Auto erfasst und getötet wurde?

Lange bevor es dazu kommt, beunruhigt Steffi Schwaiger aus dem Ermittlerteam von Willy Hamplmaier zu Beginn der Geschichte das Schicksal einer jungen Drogenabhängigen, die das Team vor einiger Zeit aus einem Edel-Puff befreit hat. Und es ist nicht die einzige Frage, die Steffi umtreibt. Die Ermittler werden mit der Klärung einer simplen Bedrohung durch einen Stalker beauftragt, die in eine unvorhergesehene Richtung eskaliert. Wer steckt hinter der Erpressung der jungen Frau, die vor einiger Zeit vergewaltigt wurde? Je tiefer die Ermittler graben, umso schwieriger entwickelt sich die Aufklärung, denn das Vergewaltigungsopfer verschwindet genauso spurlos wie die schwangere Drogenabhängige, die wegen eines Schlafplatzes in eine KITA eingebrochen ist. Ein Mann und eine Frau werden auf einem Parkplatz nahe Michelstadt mit einer massiven Rauchgasvergiftung aus ihrem Auto gerettet. Handelt es sich dabei um einen Selbstmordversuch? Und wenn nicht, wer steckt dahinter? Die Ermittler stoßen bei ihren Recherchen auf eine Verbindung, deren Handlung weit zurückreicht ins Mittelalter und die Odenwälder Sagenwelt. Wirkt der Fluch heute noch nach, mit dem das im Mannesstamm ausgestorbene Geschlecht der Freien Herren von Crumpach-Rodenstein bedroht wurde?

Steffi Schwaiger begibt sich in ihrer unkonventionellen Art auf die Suche nach den Tätern und gerät selbst in Lebensgefahr…

Die handelnden Personen

Die handelnden Personen sind zwar ebenso wie die Schauplätze des folgenden Romans frei erfunden, aber in die reale Landschaft des Odenwalds und seiner Ortschaften eingebettet. Einzelne Situationen der Geschichte wurden an historische oder reale Geschehnisse angepasst und verfremdet.

Die Protagonisten

Willy Hamplmaier, geboren 30.1.1955, in Erbach, verwitwet, er hat einen Sohn, Hans, und ist ein Ex-Drogenpolizist, der über gute Kontakte zur Kripo in Erbach verfügt. Er hat das Bestattungsunternehmen des Vaters übernommen, ist ein ruhiger Charakter, der gerne unterschätzt wird. Er ist ein gut vernetzter und umtriebiger Privatermittler in Michelstadt.

Steffi Schwaiger, geboren 20.6.1986 in Groß-Umstadt, ledig, flippig und selbstbewusst, Abitur in Beerfelden, Ausbildung zur kaufmännischen Angestellten im Gesundheitswesen, Sachbearbeiterin im Gesundheitsamt Michelstadt. Sie hat wenig Glück mit Männern, ist aber eine unverzagte Optimistin. Liiert und schwanger von Hans. Mutter-Theresa-Typ.

Hans Hämmerle, geboren 11.12.1979 in Michelstadt, Vater Willy Hamplmaier, Bestatter in Erbach im Odenwald, heiratet am 1.9.2003 Alina (†), Vater einer Tochter Emma (geboren am Sonntag 23.10.2003 in Frankfurt), kaufmännisches Abitur in Beerfelden, von 2001 bis 2006 im mittleren Polizeidienst. Im Rahmen eines Kronzeugenprogramms erhielt er eine neue Identität und unterstützt als Wirtschaftsermittler seinen Vater.

Emma Hämmerle, geboren als Emina am Sonntag, den 23.10.2003 in Frankfurt. Vater Hans alleinerziehend, Gutachter für Schadensmeldungen von Versicherungen. Eminas Mutter Alina wurde mit einer Überdosis Heroin am 16.10.2009 ermordet. Emina lebte danach elf Jahre mit ihrem Vater in der Schweiz unter neuer Identität. Seit dem Umzug in den Odenwald besucht sie das Gymnasium in Michelstadt.

Georg Jährling, geboren 30.6.1962 in Darmstadt, verwitwet, eine Tochter Mia (geboren am Sonntag 6.8.1995 in Erbach), Studium der Journalistik, freiberuflicher Investigativjournalist und Schulkamerad von Hans Hämmerle.

Die Antagonisten

Dr. Fornoff, Psychiater an der Hibiskusklinik und Sagenerzähler. Behandelnder Arzt der Anna Hamplmaier, die 2018 Selbstmord beging. Einweiser in die Klinik von Frauen, die dann entweder als Babyfabrik oder Organspenderinnen missbraucht wurde.

Dr. Kurnikov, geboren 4.2.1960 in Kiew, Chefarzt der Hibiskusklinik. Früher als Chirurg an einer ukrainischen Mutter-Kind-Klinik, das als Mutterhaus der Hibiskusklinik firmiert.

Dr. Kuttner, geboren 30.6.1990 in Frankfurt, Rechtsanwalt der ‚Bratwa‘, der den Wory Maxim Mutsonow vertritt, und die Erpressung für den kranken Frank Koch und geflohenen Maxim Mutsonow orchestriert.

Frank Koch, geboren 11.7.1960 in Michelstadt, ledig, Chemiker, Wory der ‚Bratwa‘. Vergewaltiger der Maria Bitsch. War vor seiner Covid-19-Erkrankung als Womanizer und dem Pseudonym ‚Herzbube‘ mit eigener Webseite tätig, hat sich zum Frauenhasser entwickelt.

Hans-Georg und Emilie von Rodenstein, geboren 1954 und 1980. Hans-Georg, geborener Memmert und Emilie, geborene Kusniezkova, haben mit der Namensänderung die Nachfolge in dem im Männerstamm ausgestorbenen Geschlecht der Rodensteiner angetreten. Sie bemühen sich verzweifelt um einen Nachfolger des Geschlechts.

Die Opfer

Maria Bitsch, geboren 30.7.1989 in Pfungstadt, verheiratet, eine Tochter Julia (geboren am Sonntag 6.7.2015). Abitur, Ausbildung zum Pflegemanagement, integere Gutachterin der Hessischen Heimaufsichtsbehörde in Darmstadt, Ermüdungserscheinung vom Ehealltag, weil ihr Ehemann beruflich ständig unterwegs. Sie wurde von drei Wory der Mafia vergewaltigt. An der Tat war ihr Ex Tobias Klein beteiligt, und er hat sie dabei geschwängert.

Karsten Bitsch, geboren 30.4.1985 in Darmstadt, verheiratet mit Maria, gemeinsame Tochter Julia. Abitur, Studium der Bergbau- und Geowissenschaften. Frequent Traveller. Arbeitet als Projektleiter für einen off-shore Ölfirma im persischen Golf.

Tobias Klein, geboren 15.1.1995 in Darmstadt, anhanglos, Mitarbeiter des medizinischen Dienstes, korrupt und charakterschwach. Vater von Julia, aus seiner Zeit als Marias jugendlicher Liebhaber, und von Marias ungeborenem Kind.

Sandra Ionesco, geboren 30.8.2004 in Rescita (Rumänien), wurde aus den Händen der Mafia befreit und der Obhut des Jugendamtes Michelstadt übergeben. Floh schwanger mit einem Zuhälter-Freund, der ihr Liebe versprach und sie erneut in die Drogenabhängigkeit trieb. Von der Polizei in eine Klinik zum Entzug / Geburt eingewiesen.

Prolog: Eine traurige Osterbotschaft

Der 4. April 2021 war ein warmer Frühlingstag, ein Ostersonntag wie er im Buche steht.

Ein lauer Frühling hatte die Kirschblütenzeit eröffnet.

Die Straßen waren menschenleer und auf Abstand bedachte Gemeindemitglieder hatten sich in den Kirchen versammelt. Die dritte Coronawelle war im Abklingen begriffen und die Menschen schöpften Hoffnung.

Für den Fahrer des nagelneuen Hybrid-SUV war es hingegen der schwärzeste Tag im Leben des bis zu diesem Zeitpunkt glücklichen Familienvaters. Er war fünfzehn Minuten vorher mit seiner Frau und den beiden Kindern aufgebrochen, um sich mit seinen Eltern zum Osteressen im Familienkreis zu treffen.

Eine halbe Stunde nach dem Unfall saß er im Bus der Polizeidirektion Erbach und schaute auf die leere Parkbank gegenüber.

Die Vorgeschichte der mondän gekleideten Dame, die er soeben überfahren hatte, kannte er nicht. Und er wusste ebenso wenig, dass sie sich auf dieser Bank von den Aufregungen der vergangenen Tage ausgeruht und einen Kinderwagen geschaukelt hatte. Dieselbe Dame, deren geschundene Leiche jetzt zugedeckt auf dem Fußgängerübergang der Ampelkreuzung ruhte.

Ein Seelsorger kümmerte sich um seine Frau und die beiden kleinen Kinder, die den Aufprall im Unfallwagen hautnah miterlebt hatten.

Das Auto des Familienvaters war mit nur geringfügig überhöhter Geschwindigkeit auf der L 3120 in Richtung Kreidacher Höhe unterwegs, aber die Wucht des Zusammenpralls war tödlich.

Wie die Dashcam des Unfallfahrers zeigte, hatte die Frau die Straße eindeutig bei Rot überquert. Ohne nach rechts oder links zu blicken, hielt sie Kopf und Hände im Lauf nach vorne auf die andere Straßenseite gestreckt.

Als ob sie etwas ergreifen wollte.

Sie bewegte sich im Laufschritt, aber sie war nicht schnell genug, um dem drohenden Zusammenstoß zu entkommen. Das Auto, das dank eines modernen Elektroantriebes nahezu lautlos die Landesstraße entlang fuhr, stieß sie an der Kreuzung Ludwigstraße und Adam-Karrillon-Straße zu Boden und tötete sie auf der Stelle.

Der Unfallfahrer wurde vor seiner Befragung durch die Polizei von demselben Seelsorger betreut, der sich jetzt um seine Familie kümmerte. Er hatte, aufgeschreckt durch das Sirenengeheul vor der Kirche, kurz entschlossen den Ostergottesdienst des nahe gelegenen Gotteshauses unterbrochen. Das schrille Geräusch der Sirenen hatte die Osterbotschaft von der Auferstehung von den Toten gestört, und der Klang der Martinshörner ließ den Ton der Orgelpfeifen ebenso wie den Gesang der Gemeinde verstummen.

Vor der Kirche herrschte ein aufgeregtes Durcheinander, was angesichts des tragischen Zwischenfalls nicht verwunderlich war, aber von den Rettungskräften eher als störend empfunden wurde.

Der Fahrer wurde von der Polizei, nachdem die Dash-Cam ausgewertet worden war, zum Unfallhergang befragt, aber er saß wie in Schockstarre da und wiederholte immer nur einen Satz.

„Wieso ist sie bloß bei Rot über die Straße gelaufen?“

Der junge Beamte, der die Aussage aufnahm, war nicht in der Lage, diese Frage präzise zu beantworten.

Der leere Kinderwagen an der Parkbank hätte, wenn er gefragt worden wäre, einen Beitrag zur Vorgeschichte leisten können.

Aber dazu kam es nicht.

EINS

Die Abstammung

Georg Memmert verzieh zeit seines gesamten Lebens seiner Mutter nicht, dass sie ihn als uneheliches Kind in die Welt gesetzt hatte.

An Tagen wie diesen, wenn jedermann seine Toten ehrte, war es für ihn extra bedrückend, seiner Mutter zu gedenken.

Dabei hatte sich Hilde Memmert zeit ihres gesamten Lebens liebevoll um ihn gekümmert, und alle ihre Bedürfnisse hintangestellt.

Leider sah er in ihr immer nur die Frau, die ihn geboren und großgezogen hatte, ohne ihn jemals über seinen Vater und seine Herkunft aufzuklären.

Dabei unterstellte er ihr enttäuscht ein Wissen, das nicht existierte. Sein unbekannter Vater hatte Georgs Mutter keinen Hinweis darauf zukommen lassen.

Seine Mutter war Köchin in einem adligen Haushalt gewesen. So viel war ihm aus ihren Erzählungen geläufig. Sein Glaube, dass sein Vater demselben Haus zuzuordnen war, basierte mehr auf einer instinktiven Ahnung als auf irgendeinem Beleg.

Das mag nicht zuletzt daran gelegen haben, dass sich seine kindlichen Erinnerungen an die Frau, die ihn vor fünfundsechzig Jahren in der Mutter-Kind-Klinik in Engenthal geboren hatte, relativ bruchstückhaft gestalteten.

Sie war die erste ledige Schwangere, die einen Sohn in der im Odenwald gegründeten Dependance des Stammhauses in Wiesbaden gebar. Die Klinik war während des Krieges gebaut worden, aber ihren Betrieb nahm sie erst Anfang der Fünfzigerjahre auf.

Nach der Geburt durfte Hilde Memmert in der Klinik bleiben, und er erinnerte sich dunkel an einige wenige Spielkameraden sowie an ein finsteres Haus mit geheimnisvollen Winkeln, die er in seiner Kindheit nicht zu betreten wagte. Seine Mutter erhielt eine Stelle als Köchin in der Anstalt, denn Kochen war ihr ein und alles.

Er wuchs in dem Heim auf und schloss dort seine Schulzeit mit der Mittleren Reife ab, kurz nachdem seine Mutter nach langer Krankheit gestorben war.

Seine wenigen Erinnerungen spülten von Zeit zu Zeit hoch, dass sie eine stolze Frau war, die seinem unbekannten Vater nicht nachtrug, dass er sie geschwängert hatte. Es war ein simpler ‚Verkehrsunfall‘, den sie in dem Haus erlitten hatte, in dem sie als Köchin arbeitete. Irgendjemand aus der Familie des Vaters hatte ihr die Geburt in der abgelegenen und neugegründeten Klinik in Engenthal ermöglicht.

Seine lebhaftesten Erinnerungen rankten sich um die Märchen und Sagen des Odenwaldes, mit denen sie ihn als Kind in den Schlaf begleitete.

Er kramte immer wieder in der alten Schuhschachtel mit den vergilbten Fotos, die sie ihm hinterlassen hatte. Rückblickend musste er zugeben, wie schön und groß gewachsen und blond mit wasserblauen Augen sie war, wie sie so dastand auf dem Foto und selbstbewusst in die Kamera des unbekannten Fotografen schaute.

Wie erfolgreich wäre seine Entwicklung verlaufen, wenn seine Eltern sich ordentlich verhalten und geheiratet hätten.

Die Briefe, die er beim Entrümpeln ihrer Habseligkeiten entdeckte und erst Jahre später las, stammten alle von einem einzigen Absender, und waren entweder kurz vor und nach dem Krieg geschrieben worden. Einige waren als Feldpostbriefe abgestempelt. Der letzte Brief datierte vom 20. Dezember 1954.

Ein Weihnachtsbrief.

Vier Monate vor seiner Geburt.

Die Affäre seiner Mutter mit seinem Vater hatte lange gedauert, und er war das unehrenhafte Produkt der Verbindung.

Er hatte nicht zuletzt deshalb die Briefe lange Zeit mit Missachtung gestraft, weil er im Stillen seinen Vater verfluchte, der seine Mutter schmählich mit ihm allein zurückgelassen hatte, ohne die Verantwortung für seine Samenspende zu übernehmen.

Zugleich war er traurig, dass seine Mutter ihm die Briefe vorenthalten hatte.

Im Gegensatz zu ihm war seine alleinerziehende Lebensspenderin niemals unglücklich oder haderte mit ihrem Schicksal. Jedenfalls zeigte sie das nie.

Ihr genügte es, zu wissen, dass ihr Sohn gesunde Gene geerbt hatte. Sie hatte nicht vor, halb gare Gerüchte weiterzugeben, denn eine solide Stammbaumanalyse erforderte angesichts der Vermutungen, die sich in ihrem Kopf um die Herkunft des Vaters rankten, einen Aufwand, den sie nicht zu leisten imstande war.

Für sie reichte es aus, sein Interesse zu wecken.

Um die Nachverfolgung der verästelten Familiengeschichte sollte er sich im Laufe seines Lebens selber kümmern.

Und so war es auch.

Er bemühte sich ab dem Zeitpunkt, an dem er konkrete Hinweise auf die Möglichkeit einer herausragenden Herkunft besaß, Licht ins Dunkel der verzweigten Linien seines Stammbaumes zu bringen.

Es sollte für ihn ein steiniger Weg werden, den zu bewältigen er einen langen Atem brauchte.

Den einzigen Hinweis, den sie ihm quasi als Appetithappen mitgab, wiederholte sie ständig mit der Erzählung ihrer Lieblingssage. Und obwohl sie ihm die Sage immer wieder wie ein Nachtgebet erzählte, dauerte es Jahre, bis ihn die Neugier übermannte, die Briefe zu lesen und die Informationen zusammenzufügen.

Die Sage vom Rodensteiner[Fußnote 1]:

Der Letzte der Herren zu Crumpach-Rodenstein lernte seine Frau Maria auf einem Turnier in Heidelberg kennen und lieben. Lange Jahre lebten sie auf ihrer Burg im Frieden. Eines Tages geriet der kampflustige Freie Herr Hans zu Crumpach mit einem Nachbarn in Streit, den er glaubte, in einem Krieg ausfechten zu müssen. Seine schwangere Frau flehte ihn an, sie nicht zu verlassen, denn sie fürchtete um sein Leben. Als sie ihn festhielt, stieß er sie von sich. Sie fiel unglücklich und starb zusammen mit ihrem ungeborenen Kind. Tags darauf erschien sie ihm als weiße Frau im Traum und verfluchte ihn dazu, mit dem wilden Heer umherzuziehen und Krieg und Frieden anzukündigen.

Seither führte Hans III. von Crumpach-Rodenstein der sogenannte Schnellertsherr, bei bevorstehenden Kriegsereignissen ein Geisterheer an. Das Heer zog lärmend von der Ruine Schnellerts durch einen Bauernhof, dann entlang der Gersprenz und durch Fränkisch-Crumbach zur Burgruine Rodenstein durch die Lüfte, um beim Ende des Krieges von dort wieder zum Schnellerts zurückzukehren.

Nach dem Tod seiner Mutter erfuhr er erst durch die Testamentseröffnung, was sie ihm hinterlassen hatte. Neben der Schuhschachtel voller Fotos (sowie der Briefe, die er zur Seite legte und mit Missachtung strafte) handelte es sich um eine herrschaftliche Villa in Wald-Michelbach, die aus dem väterlichen Besitz stammte, was ein Einblick ins Grundbuch bestätigte.

Die Halloweenparty

Burg Frankenfels, Freitag, 31.10.2020

Seit seiner Artikelserie über die Missstände im Pflegeheim Jungbrunnen am Marbachstausee hatte sich Georg Jährling, der als freier Journalist Odenwälder Zeitungen mit aktuellen Themen bediente, thematisch anderen Schattenseiten der Wohlstandsgesellschaft zugewandt. Die Problematik der Drogenabhängigkeit beschäftigte ihn vor allem deshalb so, weil sie schon zu lange vom großen Publikum kommentarlos hingenommen beziehungsweise vollkommen totgeschwiegen wurden.

Er verfolgte die Diskussion zur Freigabe von Cannabis mit Unverständnis und hoffte, mit seiner Aufklärungsarbeit dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Ein erhöhtes Steueraufkommen zulasten der Gesundheit sozial benachteiligter Menschen zu forcieren, entsprach nicht seiner Vorstellung einer nachhaltigen Politik.

Das Problem des Drogenkonsums weitete sich nach seinen Erkenntnissen auf jüngere Konsumenten bis hinunter ins Schulalter aus.

Nicht immer mit gutem Ausgang.

Seine Tochter Mia hatte ihn darauf gestoßen, die in Fürth das Hardenberg-Gymnasium besuchte.

Sie hatte ihm neulich aufgeregt erzählt, dass es an ihrer Schule eine Polizeiaktion gab, bei der zwei Dealer vor dem Schulgebäude mit Rauschgift verhaftet wurden, die angeblich an einige Mitschüler kleine Mengen Dope verhökert hätten.

„Das waren Jungs aus der Abschlussklasse, die dann damit geprahlt haben und uns überreden wollten, gemeinsam mit ihnen an dem Joint zu ziehen! Das war eklig“, sie verzog angewidert den Mund und hatte keine Hemmungen, mit ihrem Papa darüber zu reden.

Georg war erleichtert und hoffte, dass seine Tochter ihm gegenüber auch künftig so offen über Probleme sprechen würde. Die meisten Kids, da war er sicher, sträubten sich, das zu Hause zu erzählen.

Seit ihrer Entführung hatte Mia ein anderes, vertrauteres Verhältnis zu ihm entwickelt, er war fast geneigt, es vertrauensvolle Zusammenarbeit zu nennen.

Insgeheim nicht unfroh darüber, lächelte er in sich hinein.

Das Thema drogenabhängige Jugendliche ließ ihn dann nicht mehr los, und er hatte sich auf die Fahne geschrieben, das Leben und die Hintergründe der in Anhängigkeit geratenen Personen durch direkten Kontakt und Befragung zu ermitteln.

Ein Telefonanruf bei der Kripo in Erbach hatte die unerfreuliche Situation bestätigt, dass Marihuana-Anbau in gewerbsmäßigem Umfang im Odenwald nichts Ungewöhnliches war.

Es ging ihm nicht nur darum, eine reißerische Überschrift in der Lokalpresse zu produzieren. Er dachte voll Mitleid an die Drogenopfer, seit er das Elend der Betroffenen im Zuge seiner Recherchen vollumfänglich erlebte.

Vielleicht könnte er dem einen oder anderen Opfer helfen, aus dieser hinterhältigen Falle zu entkommen.

Seine Hintergrundrecherchen zum Drogenmissbrauch kamen an den bekannten Hotspots ins Rollen, wobei er auf Mias Hilfe zurückgriff, um diese Treffpunkte zu lokalisieren. Es gab nicht viele davon, wo sich die jugendlichen Schüler orientierungslos sammelten und abhingen.

Einmal geortet, war es im nächsten Schritt einiges schwieriger, als er eingeschätzt hatte, um mit dieser Art von Klientel ins Gespräch zu kommen. Er versuchte, sich in seiner Erscheinung und seinem Auftreten an die Zielgruppe anzupassen, und merkte schnell, sobald er in den Fragemodus kam, mauerten die Jugendlichen.

Nicht zuletzt deshalb wich er von seiner starren Haltung zur Ablehnung von Drogen ab und benutzte Haschisch, das unbedenklichste Mittel, das halbwegs legal aufzutreiben war, um den Betroffenen quasi eine Sprechhilfe anzubieten. Und siehe da, auf diese Art gelang es ihm, langsam aber sicher ihre Gesprächsbereitschaft zu erhöhen.

Schritt für Schritt bekam er so Einblick in alle Arten familiärer Krisenherde und problembehafteter Hintergründe, die teilweise etwas Beängstigendes an sich hatten. Es war ein weites Spektrum an Sorgen, Konflikten und persönlichen Schicksalen, das er so kennenlernte. Es reichte vom simplen und unbedarften Anfangskonsum aus Neugier oder Langeweile, wobei verwöhnte Söhne aus wohlbehüteten Familien gleichgesinnte Mädchen abschleppten und sich die Langweile aus der Birne rauchten. Bis hin zu richtigen Sozialfällen, von Jungs oder Mädels, die von zu Hause, aus welchen schwer zu erklärenden Gründen auch immer, ausgerissen waren und jetzt auf der Straße lebten. Die meisten von ihnen waren überdies psychisch angeschlagen bis hin zu bleischweren Depressionen, aus denen sie allein nicht mehr herausfanden.

Er mischte sich ein und unter die Süchtigen, und er bevorzugte Plätze, an denen sie ungehemmt abfeierten. Auch wenn das nicht der Hauptzweck war, so standen aktuell Halloweenpartys hoch im Kurs, um sich zuzudröhnen.

Damit war klar, wo er das ganze Wochenende über verbringen würde. Mit Schlafsack und einigen Gramm Hasch unterwegs, um sich auf Burg Frankenfels einzumischen. Um ehrlich zu sein, musste er sich ordentlich abstrampeln, um das Vertrauen der Junkies zu erringen.

Zu fortgeschrittener Stunde, als sich Müdigkeit über die Schar der Drogenkonsumenten ausbreitete, platzierte er seinen Schlafsack neben einer jungen Frau.

Die nicht nur drogenabhängig, sondern zudem schwanger war, worüber sie sich jedoch nicht groß den Kopf zerbrach.

Es bedurfte einiger Geduld seinerseits, um mit ihr ins Gespräch zu kommen, denn ihr Freund, der mehr wie ein Drogenhändler und Zuhälter zugleich aussah, schirmte sie auf eine unangenehme Art und Weise ab.

Sie taute auf, nachdem Georg ihr einen Joint offeriert und sie bemerkt hatte, dass ihr Freund vollgekifft weggenickt war.

Sandra.

Nach einigen gemeinsamen Zügen am selbstgedrehten Joint gab sie ihre Zurückhaltung mehr und mehr auf und erzählte bruchstückweise, dass sie mit ihrem Zuhälterfreund von ihren Pflegeeltern abgehauen war.

Gegen ihren Willen hatte der sie aus einer Azubistelle in Michelstadt in ein Frankfurter Bordell gezwungen. Sie kannte ein Leben im Puff aus ihrer Zeit in der Wellnessoase im Haus ‚Jungbrunnen‘, aus der sie die Polizei und das Gesundheitsamt am Ende eines heißen Sommers befreit hatte.

Das Leben in der Pflegefamilie danach hatte sie ungewohnt in einem festen Ordnungsrahmen eingeengt. Sie fühlte sich so beengt, dass ihr das Leben außerhalb strenger Regeln lebenswerter vorgekommen war.

Dass sie im Puff der Wohlfühl-Oase von einem Freier geschwängert worden war, hatte sie erst gemerkt, nachdem sie erneut in einem Bordell gelandet war. Und sie bemerkte zu spät, dass die Freiheit, die sie gewann, indem sie mit ihrem Freund aus einer intakten Familie geflohen war, sie vom Regen in die Traufe zwang.

Im Frankfurter Rotlicht Milieu ließ ihr Zuhälterfreund sie erneut anschaffen, solange ihre Schwangerschaft eine körpernahe Dienstleistung zuließ. Seither waren sie im südhessischen Raum unterwegs.

Mal hierhin und dann dorthin.

Nach einer längeren Gesprächspause, in der Georg fast eingeschlafen war, erzählte sie, wie zu sich selbst sprechend weiter. Sie schaute in den kalten Himmel und sinnierte über ein angenehmes Leben, das man ihr gestohlen hatte.

„Manchmal denke ich, dass Gott mich vergessen hat. Alle haben mich nur ausgenutzt und wie eine Puppe an langen Fäden tanzen lassen“.

Georg schwieg.

Es fiel ihm keine passende Antwort dazu ein.

Das erwartete sie auch nicht.

Er würde den richtigen Moment finden, um ihr den Glauben an ein besseres Leben abseits der Drogen zu vermitteln. Vielleicht würde ihr Kind helfen, sie auf einen sinnvollen Lebensinhalt zu fokussieren.

*

Steffi Schwaiger, die Assistentin aus dem Ermittlerteam um Willy Hamplmaier, hatte von den Sozialstudien des Georg Jährling keine Ahnung, obwohl sie sich zeitgleich mit Emina dieselbe Partyszene ausgesucht hatte. Sie hielt sich nur wenige Meter von ihm entfernt auf, an einer Lokalität und vor einer Kulisse, an der die heile mit der verkorksten Welt aufeinandertrafen.

Sie hatte die Halloweenparty nicht besucht, um Junkies zu helfen. Sie hatte Emina, der Tochter ihres Partners Hans, den Besuch zu deren sechzehntem Geburtstag versprochen. Seit Wochen hatte sie sich mit den Vorbereitungen für eine Party abgemüht, die man im Nachhinein guten Gewissens eine vermurkste Covid-Partymutante bezeichnen würde.

In den Jahren vor Corona boten die Veranstalter der Halloweenparty auf Burg Frankenfels ihren Fans eine heiß geliebte, schaurige Nacht.

Diesmal war alles ungleich schrecklicher.

Obwohl sich Steffi und Emina die größte Mühe gegeben hatten, um andere Partygäste durch gruselige Virenbilder auf ihren langen weißen Kostümkleidern zu erschrecken, hielt sich ihr Spaß in Grenzen. Die Kostümwahl der meisten Besucher beschränkte sich auf den vorgeschriebenen Mund- und Nasenschutz und war einfallslos und weinig originell.

Steffi hatte sich ausgiebig mit Halloween und dessen eigentlichem Ursprung, dem Samhain-Fest, beschäftigt. Samhain bildete bei den Kelten den dunklen Pol des Jahres. Im Zentrum des Feierns stand die Thematik des Todes und dessen Verbindung zu den Lebenden.

Der mit dem Halloweenfest verbundene offene Umgang mit dem Tod strapazierte nach ihrem Empfinden nicht den persönlichen Bezug zu den Verstorbenen, sondern gestaltete ihn lebendig.

Das klang vermutlich seltsam, erklärte sich aber durch Steffis komplexe Psyche.

Zusammenfassend ließ sich feststellen, dass wegen der zweiten Welle der Coronapandemie Halloween jedoch ein glatter Reinfall war.

Und nicht nur deshalb.

Der ausschlaggebende und schockierendste Eindruck, den die Party hinterlassen hatte, betraf die allzu jungen Junkies.

Diese Bilder schmerzten Steffi und Emina in der Seele, und sie bekamen sie selbst Tage später nicht aus dem Kopf.

Emina taufte die Drogenkids in ihrer unnachahmlichen Art die Todgeweihten, und sie ahnte nicht, wie Recht sie mit dem Vergleich haben sollte.

Steffi meinte einen Augenblick lang eines der jungen Mädchen, die teilnahmslos an der Burgmauer lehnten oder im Gras fläzten, wieder zu erkennen. Es ähnelte frappierend einer der vier Minderjährigen, die sie mit ihren beiden Ermittler-Chefs erst vor Kurzem im Pflegeheim ‚Jungbrunnen‘ dem Zugriff ausländischer Menschenhändler entzogen hatte.

Sie fixierte das Mädchen lange, in welchem sie meinte, Sandra aus dem Pflegeheim zu erkennen. In deren Augen und unter halbgeschlossenen Lidern blitzte kein Zeichen des Wiedererkennens auf.

Steffi hatte sich erst kürzlich mit Maria Bitsch von der Heimaufsicht für Pflegeheime in Darmstadt über das Thema der minderjährigen Prostituierten unterhalten. Maria Bitsch hatte nach dem Verschwinden der früheren Pflegedienstleitung, Nastasia Korolja, temporär für ein Vierteljahr die Leitung des Seniorenheims ‚Jungbrunnen‘ übernommen. Sie hatte sich spontan dazu bereit erklärt, den Mädchen eine Ausbildung an ihrer alten Wirkungsstätte mit einer alternativen Zukunftsaussicht zu ermöglichen.

Eine von den vieren, Katra, hatte das Angebot angenommen.

„Wie macht sich denn Katra? Ihr habt sie doch als Pflege-Azubi übernommen?“, hatte sich Steffi bei ihrem letzten Besuch im Heim erkundigt.

„Die macht sich gut. Sie hat es selbst geschafft, von der Nadel zu kommen, und stellt sich gut an“, erklärte eine zufriedene Maria Bitsch, „dafür habe ich von den anderen Junkiemädels eher desaströse Nachrichten“.

Und auf Steffis fragenden Blick war sie fortgefahren.

„Katra erzählt mir ab und zu etwas. Zwei der Mädels hängen leider immer noch an der Nadel. Sie kommen zwar nicht mehr so leicht an Drogen, vor allem seit die Polizei härter gegen Drogenhändler in der Region vorgeht. Leider ist eine der beiden, Sandra, komplett abgedriftet und untergetaucht. Stell dir vor, sie soll aus der Zeit in diesem Jungbrunnen-Puff schwanger sein.“

„Ich werde versuchen, mir die Mädels mal vorzunehmen“, hatte Steffi versprochen, bevor sie sich verabschiedet hatte. Sie war in den Arbeitsmodus des Gesundheitsamtes geglitten und liebte ihre Mutter Theresa Rolle.

Das zugekokste Mädchen vor der Burgmauer hatte einen extrem verwahrlosten Eindruck bei Steffi hinterlassen. Bevor sie es ansprechen konnte, wurde sie von Emina, die mit Todgeweihten nichts im Sinn hatte, schon weitergezogen. Den in der Gruppe anwesenden Georg Jährling hatte sie wegen seiner Verkleidung erst gar nicht wahrgenommen.

Im Friedwald

Erbach, Montag 2. November 2020

Steffi Schwaiger war übel.

Der bessere Ausdruck und dem Zustand angemessener wäre ‚kotzübel‘ gewesen.

Der normalerweise immer gut gelaunten Steffi Schwaiger merkte man schon den ganzen Morgen einen leicht angeschlagenen Zustand oder richtigerweise Umstand an.

Ihrem Partner, Hans Hämmerle, entging ihr Unwohlsein genauso wie ihrem Seniorchef und Vater von Hans, Willy Hamplmaier.

Zu erkennen, dass ihr speiübel war, hätte eine gewisse Aufmerksamkeit vorausgesetzt, die ihre Männer ab und zu vermissen ließen. Nicht nur heute, an einem Tag, an dem jeder der drei in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen war.

Steffi war schon extrem blass um die Nase beim Frühstück gesessen, und dass sie außer einem ungezuckerten Kamillentee einige Löffel Müsli zu sich nahm, lag daran, dass sie seit ein paar Tagen besorgt in ihren Körper hineinhorchte. Rund sechs Wochen war ihre Periode mittlerweile überfällig. Zwar blieb die Regel bei ihr manchmal wochenlang aus, aber so lange hatte es zuvor nie gedauert.

Das hatte ihr beim Sex mit Hans gelegentlich Kopfschmerzen verursacht, denn ihr lieber Partner, war davon überzeugt, seinen Erguss unter Kontrolle zu haben, weshalb er ein Kondom immer abgelehnt hatte.

Er behauptete, die Gummis verhinderten die richtige Gefühlsexplosion, aber stattdessen war er mindestens einmal in ihr explodiert, wie der Schwangerschaftstest vor ein paar Tagen zeigte.

Ungläubig hatte sie einen Termin bei ihrem Frauenarzt wahrgenommen, der ihr freudestrahlend eine Schwangerschaft in der siebenten Woche attestierte.

Sie war zuerst entsetzt, dann euphorisch und allmählich pegelte sich ihr Gemütszustand bei zufriedenem Muttersein ein.

Ihre Stimmungsschwankungen, die ihre Beziehung zu Hans monatelang begleitet hatten, waren getrieben von einem Blitzkrieg. Ihre Schmetterlinge im Bauch hatten über ihren abebbenden inneren Widerstand gegen eine Neuauflage ihrer Sandkastenliebe die Oberhand gewonnen. Es war unglaublich, wie schnell sich die Beziehung zu Hans nach den Jahren seiner Flucht wiederbelebt hatte.

Umso unheimlicher waren ihr die Konsequenzen.

Sie hatte hartnäckig die Anzeichen ignoriert, die sich in der Folge ihrer hemmungslosen Nächte zunehmend in morgendlichem Unwohlsein und unkontrollierten Brechanfällen äußerte.

Dabei wäre eine Schwangerschaft für sie, wenn sie ehrlich zu sich war und das Übelbefinden ausklammerte, ein im wahrsten Sinn des Wortes freudiges Erlebnis. Endlich hätte sie erreicht, was ihrer Vorgängerin in der Beziehung zu Hans, nicht vergönnt war.

Der Begriff gefiel ihr nicht.

Dazwischengängerin wäre richtiger gewesen, denn Steffi lebte mit Hans ja schon lange vor Alina und permanent verliebt zusammen, und hatte ihn, wiederum ehrlich gesagt, nie aufgegeben.

Nur dass Hans ihr vor vierzehn Jahren so spontan und ohne große Ankündigung den Laufpass gegeben hatte.

Ihre Eltern waren damals todunglücklich, weil sie meinten, sie hätte Hans vor Jahren verlassen. Aber er war es, der sich von ihr getrennt und jetzt wieder in sie verliebt hatte.

Und sie sich in ihn.

Das war die ungeschminkte Wahrheit.

Hans hatte den Tag seinerseits mit einem ausgiebigen Frühstück eröffnet, und seine Empfangsantenne für die Gefühle seiner Liebsten war dem Duft des Spiegeleies unterlegen und abgeschaltet. Außerdem kreisten seine Gedanken um den bevorstehenden Grabbesuch von Alina. Steffi wiederum war ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, und stocherte in ihrem Müsli herum. Der Haferbrei war nicht imstande, ihre Magennerven zu beruhigen.

Sie hatte sich beim Frühstück entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten drastisch zurückgehalten und saß für ihre Verhältnisse schweigsam am Tisch.

Das Schweigen überdauerte sogar die Autofahrt zum Friedhof, ohne dass sich irgendeine Konversation entwickelt hätte.

Sie stieg zusammen mit den anderen aus dem Auto auf dem Parkplatz am ‚Ruheforst‘ in Erbach und ähnelte mehr der Zombiemaske, in die sie sich auf dieser missglückten Halloweenparty vor zwei Tagen geschminkt hatte.

Steffi verabscheute Grabbesuche aller Art, weil ihr die Erinnerung an jene, die ihr im Leben etwas bedeutet hatten, immer seelische Schmerzen zufügte.

Das Gefühl war nicht mit dem zu vergleichen, das ihr das Samhain-Fest zu vermitteln imstande war. Ein Ereignis, bei dem es im Gegensatz zu Allerseelen mehr um die Wechselwirkung zwischen Leben und Tod ging.

Allein die Friedhofsatmosphäre genügte, um mit dem Gedanken an den Tod einen endgültigen Abschied zu verbinden. Und das vertrug ihr Gemüt zu normalen Zeiten nicht und heute schon gar nicht.

Und so stapfte sie an diesem Morgen mit blassem Gesicht und wenig begeistert hinter ihren beiden Ermittler-Chefs vom Parkplatz am ‚Ruheforst‘ in Erbach in Richtung Waldfriedhof.

Willy der Bestatter aus Michelstadt hatte Alina, Eminas Mama, und die ermordete Ehefrau von Hans, bei Nacht und Nebel vor elf Jahren im Ruheforst beigesetzt, und dieses war das erste Allerseelenfest, an dem Hans ihr Grab besuchen kam.

Alina, die sie weder gekannt hatte und zu der sie posthum keine Beziehung wünschte, denn egal wie man die Vergangenheit betrachtete, Alina hatte damals ihre Liebe gestohlen.

Sie schaffte es nicht, am Grab irgendwelchen entschwundenen Zeiten nachzutrauern.

Vor allem, wenn es sich um schmerzhafte Erinnerungen handelte.

Sie freute sich lieber mit den Lebenden.

Am Grab fühlte sie sich leer wie ein Vakuumgefäß.

Und das Vakuum in ihr wurde dunkler und leerte sich weiter, je länger sie am Ort von Alinas Beisetzung verharrte.

Dabei beherrschten Leere und Dunkelheit niemals ihr Leben.

In normalen Zeiten drängte ihr flippiger Charakter gnadenlos und blitzschnell dunkle Gedanken ins Abseits, sobald sie aus irgendwelchen Ecken krochen.

Zu Willys Frau Anna, deren Grab sie unmittelbar vorher auf dem Erbacher Friedhof besucht hatten, hatte sie ein völlig anderes Verhältnis gehabt, aber sogar diesen Grabbesuch hatte sie eher widerwillig absolviert. Sie hatte Anna gekannt, seit Willy sie aus Spanien angeschleppt hatte. Sie hatte die gesamte Phase der schleichend stärker werdenden Depression erlebt.

Wie oft hatte sie Anna in der Klinik besucht, in die Willy sie einweisen ließ, weil er das tägliche Miteinander zu Hause nicht mehr aushielt und ihre Seelenkrankheit nicht vertreiben konnte.

Ehrlich gesagt, tendierte die Stimmung an diesem Morgen bei Willy Hamplmaier und seinem Sohn Hans Hämmerle gleichermaßen zur dunklen Farbskala.

Die Ehre, die sie ihren toten Ehefrauen zu erweisen beabsichtigten, ließ dank der tragischen Umstände, unter denen beide gestorben waren, keine andere Einstellung zu.

Für Steffi kam zu der seelischen Bedrücktheit die körperliche Belastung dazu.

Und das war das eigentliche Übel.

Ihr war kotzübel.

Und das war womöglich maßlos untertrieben.

Der Drang, sich ständig zu übergeben, hatte sich ihrer schon seit Tagen bemächtigt, und der Impuls, jede Art von Essen gleich wieder in der Toilette hinunter zu spülen, nahm tendenziell zu.

Von ihren drei Begleitern war nur Emina ihr Zustand aufgefallen.

Aber die schwieg und wartete, bis sich ihre Freundin unaufgefordert offenbaren würde.

Im Moment sah es nicht danach aus, dass Steffi bereit wäre, über die Gründe ihrer Nausea zu sprechen.

Dem mit gesetzten Schritten vor Emina hergehendem Papa war Steffis Abwehrreaktion ebenso entgangen wie ihre Übelkeit. Und genauso war es mit ihrem Opa Willy, denn die Herren waren mit ihren Gedanken woanders.

Aber das war für die nachfolgenden Damen nicht im Mindesten neu.

Steffi hatte lange gezögert sich aufzuraffen, um die beiden zu begleiten, nachdem Hans und Willy einen Besuch bei den Grabstellen ihrer Frauen zu Allerseelen angekündigt hatten. Steffi war nur mitgekommen, weil Emina sie flehentlich bat, nicht allein das Grab ihrer Mama zu besuchen. Sie und Steffi wussten beide erst seit Eminas unseligem Treffen mit ihrem Onkel Dawoud, dass ihre Mama nach ihrer Ermordung hier begraben lag. Klammheimlich war das vor elf Jahren deshalb passiert, um nicht die Wölfe[Fußnote 2] der Gesellschaft, die sie und ihren Papa gejagt hatten, auf ihre Spuren zu locken, wie ihr Papa erklärt hatte, der nicht ihr biologischer Vater war.

Aber die Mafia hatte sie nach ihrer Rückkehr in den Odenwald trotzdem entdeckt, und das Verwischen der Spuren und ihre Flucht in die Schweiz hatten letztlich nicht funktioniert. Das Blutvergießen um Familienehre und Rache hatte sich fortgesetzt.

Und erst jetzt, solange sie zu viert in der Stille des Waldes an den Gräbern standen, und alle ihren so unterschiedlichen Erinnerungen nachhingen, schien Friede in den Gedanken einzukehren.

Eine Ruhe, die trügerisch war, und die nicht lange währen sollte.

Der Covid-19-Patient

Darmstadt, Freitag 27. November 2020

Der allseits bekannte Herzbube[Fußnote 3] hatte von der ganzen Aktion, mit der ein Rechtsanwaltsbüro im Auftrag der Mafiaspitze ihn dem Zugriff der Behörden entzog, kaum etwas mitbekommen.

Der Wory[Fußnote 4] lag eine Woche im künstlichen Koma, in das er Anfang Oktober versetzt worden war. Er wurde daraus zurückgeholt, nachdem sich seine Blutwerte stabilisiert hatten und seine Lunge zwar geschwächt aber selbstständig arbeitete. Dieser Zustand erlaubte es den Ärzten, ihn von der Intensivstation der Uni-Klinik Darmstadt, die seinen schweren Covid-Verlauf behandelt hatte, zur weiteren Erholung seiner Lungenfunktion auf die Innere Abteilung zu verlegen.

Und dann war er so mir nichts dir nichts aus dem Klinikum verschwunden. Hatte sich womöglich selbst entlassen, ohne dass jemand sagen konnte, wie es passiert war.

Die Klinik hatte umgehend die Staatsanwaltschaft verständigt, nachdem sein Verschwinden bemerkt worden war. Denn auf den Herzbuben, alias Frank Koch, wartete ein Haftbefehl wegen Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung. Ein Delikt, das er kurz vor seiner Erkrankung mit zwei seiner Mafiakumpels begangen hatte.

Die Abholaktion aus dem Klinikum lief generalstabsmäßig und wie geplant ab, wobei Frank selbst, wie gesagt, nichts davon mitbekam.

Von gesund war er zum Zeitpunkt der Befreiung nach wie vor meilenweit entfernt, aber dem Tod war er erst mal von der virenverseuchten Schippe gesprungen.

Morgens um 5:00 Uhr, unmittelbar vor Schichtwechsel des Pflegepersonals, waren an diesem tristen Novemberfreitag urplötzlich zwei unbekannte Rettungssanitäter unter dem Kommando eines Schlipsträgers im Nadelstreifenanzug auf der Station der Uni-Klinik erschienen. Sie hatten ihn, ohne groß zu fragen, abgeholt, und in die befreundete Einrichtung zum Auskurieren zu verlegen.

Das Ganze dauerte keine zwei Minuten und war unbemerkt aber nicht undokumentiert abgelaufen, wie die später ausgewerteten Videoclips der Überwachungskamera in den Krankenhausfluren zeigten.

Die befreundete Einrichtung, in die er transferiert wurde, war ursprünglich auf REHA spezialisiert, aber jetzt erwirtschaftete die Wiederherstellungstherapie nur mehr einen unbedeutenden Anteil am Umsatz. Die ‚Gesellschaft‘ hatte mit der abseits gelegenen Klinik einen sicheren Platzfür den Herzbuben ausgewählt,

Der Spitzname war ihm geblieben, obwohl er in den kommenden Wochen seine Bedeutung verlieren würde. Er hatte eine anstrengende, von Kurzatmigkeit geprägte Zeit der Vergangenheitsbewältigung vor sich.

Dies war seinen eingeschränkten Organfunktionen geschuldet, zu denen sich ein dramatischer Verlust an Gedächtnisleistung mit kognitiven Dysfunktionen gesellte.

Soviel sei aber an dieser Stelle schon erwähnt, dass seine Ansichten und Vorlieben, was das weibliche Geschlecht anbelangte, von dieser tückischen Krankheit völlig umgekrempelt würden.

Für die Mafiaführung kam es prioritär darauf an, ihn abgeschirmt von der Öffentlichkeit sicher aus der Long-Covid-Phase und dem Zugriff des Staatsanwaltes wegen einer Vergewaltigungsklage zu holen.

Dabei war seitens der neu gewählten Anführerin der Bratwa[Fußnote 5]geplant (Nastasia Korolja hatte sich im mafiainternen Machtkampf durchgesetzt), mithilfe des gesundeten Patienten eine Ausdehnung der Klage um weitere Klagepunkte gegen die Gesellschaft zu vermeiden.

Für die Bande war die drohende Anklage existenziell bedrohlich, denn sie betraf nicht nur die Person des Vergewaltigers, sondern das ganze Spektrum illegaler Geschäfte, das im Zuge der Erhebungen publik würde.

Der Kranke, der in der Gesellschaft eine führende Position bekleidete, gehörte dank seiner robusten Konstitution zur kleinen Gruppe derjenigen, die unvorhergesehen die komatöse Beatmungsphase überlebt hatten.

Der Chef der Hibiskusklinik hatte persönlich die Überführung des immer noch von der Krankheit gezeichneten Patienten überwacht. Aber nur, weil die neue Chefin der Gesellschaft ihn partnerschaftlich bat, ihren deutschen Mafiachef aufzunehmen.

Dr. Kurnikov war ein Chirurg, der sich in seiner ukrainischen Klinik lange, bevor er in die hessische Enklave berufen worden war, vor allem dem profitablen Leihmutterthema gewidmet hatte.

Er war extrem besorgt, dass der seit Langem unauffällig funktionierende Klinikbetrieb mit seinen diversen Aktivitäten durch diesen Patienten das Interesse der Medien und womöglich der Anklagebehörde wecken würde.

Dieses Risiko missfiel ihm gewaltig.

Nach dessen Gesundung würde er darauf dringen, dass die Gesellschaft ihn aus dem idyllischen Tal genauso schnell verschwinden ließ, wie er hier aufgetaucht war.

Die Klinik selber war ein altehrwürdiges Krankenhaus, das eingebettet in eine landschaftlich bezaubernde Lage weit hinter Bad König im verträumten Ortsteil Engenthal und an einem romantischen Waldbach lag. Die Anfänge des Hauses reichten weit zurück in die Vorkriegszeit, in welcher der Verein Kinderborn gegründet wurde. Ziel dieser Organisation war die Unterstützung des Kinderreichtums von Partei-Angehörigen sowie die Betreuung hilfsbedürftiger Mütter und Kinder in vereinseigenen Heimen.

Der Spatenstich fand in Engenthal zu Kriegsbeginn statt, nachdem die Wiesbadener Kinderborn Zuchtanstalt aus den Nähten zu platzen drohte.

Die Gebäude wurden vor dem Kriegsende fertiggestellt, wobei das Mutter-Kind Zentrum trotzdem erst in den Nachkriegsjahren eröffnet wurde. Das Geburtenzentrum wurde in den Folgejahren weiter ausgebaut und diente von da an weniger politischen, sondern rein medizinischen Zielen. Der zweite Schwerpunkt der Klinik stürzte sich auf die lukrativen und von den Krankenkassen geförderten Kuren und REHA-Aktivitäten für die vielen psychisch und physisch Verletzten aus dem großen Krieg.

Später waren es die Kranken der Wohlstandsgesellschaft.

Die Klinik verfügte über einen eigenen Brunnen, der Thermal- und Heilbäder anbot, und die orthopädische Rehabilitationsversorgung wurde weiter ausgebaut.

Um das Geschäft mit der Gesundheit auf eine breitere Basis zu stellen, spezialisierte man sich mit der Zeit auf die Symbiose von psychiatrischer Therapie und die Behandlung von Stoffwechselerkrankungen. Damit hatte sich die Klinik in der Folgezeit einen gewissen Ruf bei der Betreuung psychisch Kranker ebenso wie bei der sanften Entwöhnung drogenabhängiger Suchtkranker erworben.

Die Klinik umwarb Patienten mit dem Angebot einer ganzheitlichen Verarztung seelischer Störungen, ohne jemals den Beweis der Wirksamkeit anzutreten.

Vor circa zehn Jahren wurde das Haus, infolge des massiven Verlustes an gewinnbringenden REHA-Patienten, verkauft und gelangte in neue Hände.

Mit diesem Betreiber hatte sich die Ausrichtung der Einrichtung unbemerkt von der Öffentlichkeit langsam aber drastisch geändert. Es wurde eine chirurgische Abteilung angeflanscht, die es schaffte, bei ‚Organ-Trans‘ EU-weit registriert zu werden.

Den neu angekommenen Long-Covid-Patienten beeindruckte das Image der Klinik wenig. Er dämmerte die folgenden Tage vor sich hin und bekam trotz kurzer Erholungsphasen, die von quälenden Rückschlägen unterbrochen wurden, von seinen Untersuchungen und Behandlungen relativ wenig mit.

Ausgeprägt, aber mit einer deutlichen Tendenz zur Besserung, waren seine permanente Atemnot, eine tiefe Müdigkeit und jede Menge Komplikationen wegen einer eingeschränkten Nierenfunktion.

Eine ausgeprägte Niereninsuffizienz wirkte sich auf seine Gehirntätigkeit und kognitiven Fähigkeiten aus.

Er litt unter regelmäßig auftretenden heftigen Schmerzen.

Seine permanenten Angstzustände wandelten sich mit der Zeit in seinem Unterbewusstsein in Hassgefühle gegen Frauen. Vor allem betroffen war die Person, die seiner Meinung nach für seinen desolaten Zustand ursächlich verantwortlich war. Und derentwegen er sich jetzt gezwungen sah, sich vor den Anklagebehörden zu verstecken.

In seinen Träumen, wobei er in seinem akuten Dämmerzustand nicht zwischen Tag- und Nachtträumen zu unterscheiden vermochte, wechselten sich Erinnerungen an seine Gewalttaten mit zynischen Erlebnissen mit liebesuchenden Frauen ab. Aber immer wieder dominierte das angstverzerrte Gesicht seines letzten Opfers.

Trotz seiner eingeschränkten Gedächtnisleistung, die sich kaum zu bessern schien, verlinkte er seine ganze verdammte Situation mit dieser störrischen Gutachterin der Heimaufsicht, die unverschämt genug war, ihn und seine Kumpels im Gegenzug mit Covid-19 zu infizieren.

Sein krankhaftes Ego redete ihm ein, dass er mit seinen Mafiafreunden dieser ‚Bitch‘ einen Gefallen getan hatte. Wieso sonst hatte sie sich bei ihrem korrupten Ex, der sie als Gutachter begleitet hatte, über ihre vertrocknete Ehe ausgekotzt?

Dieser Ex trug dem Opfer nach, dass sie ihn vor Jahren gegen einen materiell abgesicherten Stecher versetzt hatte. Und der Ex hatte einen zweiten, nicht minder triftigen Grund für die Attacke. Er musste seine Partnerin davon abhalten, seine korrupten Machenschaften auszuplaudern.

Von Schuldgefühlen war der Herzbube indessen meilenweit entfernt. Dennoch stand er ebenfalls unter ziemlichem Druck, denn die Gesellschaft hatte ihm ein Ultimatum gesetzt. Man würde ihn gnadenlos aufgeben, wenn er nicht schnellstens, die bei der Staatsanwaltschaft anhängige Anklage, vom Tisch wischen konnte.

Der Klinikchef war in die Pläne seiner Bosse eingeweiht und würde den Patienten nach vier bis sechs Wochen skrupellos und ohne Aufsehen entsorgen, wenn keine Besserung einträte.

Er verursachte jetzt schon weitaus mehr Aufmerksamkeit, die er gerne vermieden hätte, und die seine profitablen Geschäfte störten.

Die Erpressung

Darmstadt, Montag 30. November 2020

Die Frau, die der sich langsam ins Leben zurückkämpfende Frank Koch zu seinem Feindbild erklärt hatte, stand in-sich-gekehrt am Fenster ihres Hauses im Vorort Bessungen in Darmstadt.

Maria Bitsch schaute in den kahl gewordenen Garten des Reihenhauses. Ihr leerer Blick war zum Horizont gerichtet, den die bemoosten Dachfirste der Nachbarhäuser bildeten. Von dort wanderte er zu der entlaubten große Birke, die der vorgelagerten Terrasse und dem Blumengarten im Sommer kühlen Schatten spendete. Eine kalte Herbstsonne blinzelte durch die Zweige des Baumes, aber die Strahlen wärmten nicht mehr, und sie beruhigten nicht.

Sie sah die Krähen, die sich im Geäst sammelten, ohne sie wahrzunehmen. So stand sie schon eine Weile, und es dauerte lange Minuten, bis sie wieder fähig war, sich auf ihre direkte Umgebung zu konzentrieren, und die Leere ihres Inneren sich in Unrast änderte.

Montag und Dienstag waren ihre Homeoffice-Tage, an denen sie die kommissarische Pflegeleitung der Seniorenoase ‚Jungbrunnen‘ von zu Hause aus wahrnahm. Den Mittwoch und Donnerstag verbrachte sie halbtagsweise im Pflegeheim, und den Freitag hatte sie sich als ihren freien Tag ausbedungen. Sie hatte ihrem Chef versprochen vorübergehend, bis er einen vollwertigen Ersatz gefunden hatte, aber längstens bis Ende März 2021, die Leitung des Heims zu übernehmen.

Was angesichts ihrer familiären Lage schwierig genug war.

Ihr reisefreudiger Ehemann, Karsten, war nach ihrem Verständnis allzu oft auf Geschäftsreise unterwegs. Sie war es leid, täglich darum zu betteln, dass ihre Mutter an den besagten Mittwochen und Donnerstagen in der anstehenden Covid-Lockdown-Phase betreuend einsprang. Ihre gemeinsame Tochter Julia war sechs Jahre alt, selbstständig erzogen, aber elterliche Aufsicht war Maria wichtig.

Sie war heute früh aufgestanden, so wie jeden Tag, seit sie wieder aus dem Krankenhaus zurück war, wo sie die Folgen der Vergewaltigung und der nur langsam abklingenden leichten Covid-19-Erkrankung auskuriert hatte. Der Gedanke an den letzten Abend der Inspektion im Seniorenheim, an dem sie von drei Bandenmitgliedern der Mafia missbraucht worden war, um ihre Enthüllungen zum Pflegemissbrauch der Klinikleitung zu unterbinden, verfolgte sie sogar in ihren Träumen.

Den Morgenmantel hatte sie trotz der überheizten Wohnung eng um ihre Schultern gezogen. Sie fror immer, wenn sie in den grauen Morgen schaute, und seufzend wandte sie sich zur Küchenzeile am anderen Ende des Wohnzimmers. Das morgendliche Frühstück wartete darauf, zubereitet zu werden. Eine Kleinigkeit normalerweise und vor allem dann, wenn sie mit Julia allein im Haus war.

Aber in letzter Zeit war aus jeder Winzigkeit eine fast schon unüberwindliche Hürde gewachsen, die zu bezwingen ihr immer schwerer fiel.

Sie hatte das Gefühl, dass mit jedem neuen Tag, der anbrach, diese Hürden höher wurden anstatt kleiner.