Winterreise mit Todesfolge - Werner Kellner - E-Book

Winterreise mit Todesfolge E-Book

Werner Kellner

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Beschreibung

Der Bestatter-Ermittler Willy Hamplmaier fürchtet, dass der mit dem Tode bedrohte Richter Fritz Uhrig aus Kirchbrombach vor den Drohungen der Mafia im Erbschaftsstreit mit seiner Enkelin einknicken wird. Der Stammtisch der 'Lebensfreude' schweigt sich über die Ereignisse einer Winterreise aus, die nicht nur wegen Corona abgebrochen werden musste. Ein korrupter Restauranttester erpresst Spitzenköche und zuletzt Rosi, die Wirtin des Gasthauses 'Zur goldenen Gabel'. Ein Mörder muss seine Pläne ändern und ist trotzdem den Ermittlern immer einen Schritt voraus. Der Investigativjournalist Georg Jährling wird ebenfalls mit dem Tode bedroht und Willy Hamplmaier stieß überraschend auf eine neue Spur, die im Zusammenhang mit einer mysteriösen Winterreise steht.

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Seitenzahl: 397

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Winterreise mit Todesfolge
Kurze Übersicht zum Krimi
Inhaltsverzeichnis
Prolog Das Vermächtnis meiner Mama
Buch I: Stammtischgespräche und ein Todesfall
Sigrun I - 30. April 2022 (Walpurgisnacht)
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Buch II: Ein zweiter Mord
Sigrun II - 28. April 2022 (Das Vermächtnis)
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Buch III: Eine irritierende Begegnung
Sigrun III - 15. April 2022 (Das Geständnis)
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Buch IV: Lose Enden einer Ermittlung
Sigrun IV - 5. April 2022 (Die Drohung)
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Buch V: Die Spur zum Täter
Sigrun V – 2. März 2022 (Nein heißt Nein)
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Buch VI: Eine missglückte Beweisaufnahme
Sigrun VI - 1. März 2022 (Die Hoffnung)
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Buch VII: Drei Väter sind zwei zu viel
Sigrun VII - im Sommer 2015 (Die Entschuldigung)
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Epilog Das Erbe von Innas Papa
Die Hauptpersonen der Geschichte
Bemerkung des Autors
Danksagung
Pressemeinungen, Rezensionen
In dieser Reihe sind bisher erschienen:
Impressum

Impressum neobooks

Werner Kellner

Winterreise mit Todesfolge

Ein neuer Fall für die Privatermittler der Serie

Mordskrimigeschichten aus dem Odenwald (3)

Ausgabe vom Juni 2023

Für Lucia.

Hinweis:

Die handelnden Personen und die einzelnen Schauplätze des folgenden Romans sind frei erfunden und wurden in die Landschaften des Odenwaldes und Island integriert.

Kurze Übersicht zum Krimi

Lange bevor Willy Hamplmaier, der Privatermittler aus Michelstadt in einem heißen Sommer und unter dem Eindruck gravierender Coronanachwirkungen seine Ermittlungen gegen einen übergriffigen Restauranttester aufnehmen wird, ist für Sigrun der Traum von einer angstfreien Zukunft mit einem geliebten Mann geplatzt. Sie hinterlässt ihrer Tochter Inna ein Vermächtnis, welches das Mädchen in einen tiefen Konflikt stürzt und nicht nur ihr Leben bedroht.

Ein wenig beachteter Badewannenunfall entpuppt sich kurz danach als Morddrohung gegen den strengen Richter Fritz Uhrig, und der Fürther Journalist Georg Jährling entgeht nur knapp einem Mordanschlag.

Ein Wettlauf gegen die Zeit und den Mörder beginnt...

Inhaltsverzeichnis

Prolog : Das Vermächtnis meiner Mama

Buch I : Stammtischgespräche und ein Todesfall

Buch II : Ein zweiter Mord

Buch III: Eine irritierende Begegnung

Buch IV: Lose Enden einer Ermittlung

Buch V : Die Spur zum Täter

Buch VI: Eine missglückte Beweisaufnahme

Buch VII: Drei Väter sind zwei zu viel

Epilog : Das Erbe von Innas Papa

Die Hauptpersonen der Geschichte

Prolog Das Vermächtnis meiner Mama

Aus der Sage über die Geschwister von Midfjördur

Es war vor vielen Jahren. Ein Bruder und eine Schwester aus dem Norden Islands sollten hingerichtet werden, weil sie ein gemeinsames Kind bekommen hatten. Als die Versammlung das Urteil zum Tode durch Ertränken verkündete, waren viele Leute herbeigeeilt, um sich das Spektakel nicht entgehen zu lassen. Das Todesurteil sollte an der Richtstätte ‚Drekkingarhyrlur‘ in Thingvellir vollstreckt werden, wie so viel Male zuvor.

Meine Mama war zeitlebens eine unglückliche Frau. Ihre Geschichte einer ungebrochenen Suche nach Liebe und Zuneigung und einer Schulter zum Anlehnen für eine glückliche Zukunft habe ich spät erfahren.

Zu spät.

Dieser gefühlte Eindruck über ihre Traurigkeit hatte mich durch die gesamte Kindheit begleitet.

Woher ihre Bekümmertheit rührte, das erfuhr ich erst vor Kurzem aus ihrem Abschiedsbrief.

Unbewusst hatte ich schon früh unsere eigene Familie als die Hauptquelle ihrer betrübten Stimmung verortet. Zurückblickend glaube ich, dass Mamas gelegentliche Bemerkungen über die Männer in ihrer unmittelbaren Umgebung in Verbindung mit den dumpfen Hinweisen meines Opas zum Thema Geschwisterliebe ausreichten, um mein eigenes Stimmungsbild in düstere Farben zu tauchen.

Opa war ein ernsthafter und strenger Mann, den die Sorge um die Zukunft seines respektablen Hotelrestaurants umtrieb, welches er am Fuße des Vatnajökull-Gletschers besaß. Er galt als vermögend und einflussreich, er trat selbstbewusst und arrogant auf, und so benahm er sich auch. Innerhalb der Familie regierte er wie ein autoritärer Patriarch, dem alle zu gehorchen hatten. Widerspruch duldete er nicht. Ich hatte den Eindruck, dass er sich nach dem Tod meines Papas der Mama gegenüber wie ein tyrannischer Ehemann verhielt.

Ich hatte Angst vor ihm.

Und Opa, der von Natur aus nicht nur streng, sondern auch jähzornig und leicht erregbar war, wirkte nicht nur durch seine Körperlichkeit auf mich furchteinflößend. Rotes dichtes Haar, ausgebleicht von Wind und Wetter und mit weißen Strähnen durchzogen sowie ein rot-graumelierter Vollbart umrahmten ein kantiges Gesicht, dem selten ein Lächeln entglitt. Ein Blick aus seinen eisblauen Augen ließ einem das Blut in den Adern gefrieren.

Und dann war da noch mein Onkel.

Mamas Verhältnis zu ihrem Bruder war eigenartig. Wann immer er in ihrer Nähe war, verhielt sie sich sonderbar und lief wie eine Schlafwandlerin durch die Gegend. Sobald Mama und ihr Bruder gleichzeitig auftraten, was selten genug vorkam, weil er als Reiseleiter meistens unterwegs war, reagierte Opa noch gereizter als sonst. Ich wusste nie im Voraus, gegen wen sich sein Unmut gerade richtete. Ich zog mich dann zurück und wurde unsichtbar.

Ihr Bruder nahm sich gegenüber dem Alten fast schmächtig aus, trotz seines muskulösen und durchtrainierten Körpers. In Statur und Körperbau ähnelte er Mama, die gleich groß wie er, schlank und wunderschön rotblond war.

Im Gegensatz zu ihm hatte sie eine sanfte Wesensart, die weder durch die lange Zeit, welche die Zwillinge im Waisenhaus und danach bei strengen Pflegeeltern zugebracht hatten, noch die späten Jahre ihrer Ehe gelitten hatte. Obwohl mein Onkel ein genauso aufbrausendes Wesen wie Opa hatte, fühlte ich mich quasi sicher, wenn er da war. Es gab mehr als eine Szene, bei der er seine Schwester gegen die Willkür des Alten beschützt hatte, und dessen Zorn auf sich zog.

Ich war zu klein, um zu verstehen, was sich in der Kindheit an Beziehungen und Beziehungskonflikten vor meinen Augen abspielte.

In der Erinnerung war mein Papa der Einzige gewesen, der es gewagt hatte, sich dem Alten entgegenzustellen, und der trotzdem eine gewisse Harmonie in der Familie herstellen konnte. Leider war auch er selten genug zu Hause und nach seinem Tod war von familiärem Einklang nichts mehr übriggeblieben.

Was ihre und insbesondere meine Vergangenheit anbelangte, war Mama immer extrem zurückhaltend gewesen. Das fiel mir freilich erst auf, nachdem sich unbequeme Fragen wie Luftblasen im Wasser an die Oberfläche meines Bewusstseins drängten und platzten.

Als ich nach ihrem Tod Antworten suchend ihre Sachen durchwühlt hatte, erlaubte mir ihr Handy, bruchstückhaft zu verstehen, was sie dort für mich abgelegt hatte.

Sie wollte, dass ich es finde!

Mit dem Lesen ihrer Tagebucheinträge öffnete sie mir die Tür zu ihrer Gefühlswelt einen Spalt und gewährte mir posthum einen kleinen Einblick in ihr Innerstes.

Was ich zu lesen bekam, reichte aber bei Weitem nicht aus, um die sich aufdrängenden Fragen zu beantworten.

Mein Stimmungsbarometer bewegte sich nahezu synchron zu ihren Gefühlen, die sie mir beim Lesen ihrer Notizen vermittelte. Ich verfiel in Trauer, wann immer sie ihren traurigen Emotionen Ausdruck verlieh, und ich freute mich, sobald ich las, dass sich Mamas dumpfe Grundstimmung aufgehellt hatte. Das passierte vor allem dann, nachdem ein Mann in ihr Leben getreten war, der ihr Hoffnung auf eine liebevolle, gemeinsame Zukunft gemacht hatte.

Und das war nicht oft der Fall.

Ihre stichwortartig notierten Bemerkungen, die sie seit dem Tod ihres Mannes niedergeschrieben hatte, verrieten mir, wie sie zum Beginn ihrer Ehe aufgeblüht sein musste, nachdem sie zu meinem Papa auf den Hof gezogen war. Papas Vater betrieb hier ein bekanntes Hotelrestaurant, das ganzjährig geöffnet war.

Dabei hatte sie meinen Papa nicht aus Liebe geheiratet. Es war eine Zweckehe, in der er sich ihre Arbeitskraft durch sein Eheversprechen gesichert und sie sich eine sichere Zukunft erhofft hatte. Wie Mama trocken ausführte, war mein Papa ursprünglich nur auf eine billige Servicekraft aus. Dazu hatte er sie ins Hotelrestaurant geholt, und mit der nachfolgenden Heirat sparten der Opa und Papa den kargen Lohn, den sie vorher als Hilfskraft erhalten hatte. Mama sollte anfangs nur in der Küche aushelfen, aber mit den Jahren wuchs sie in die Rolle der Küchenchefin. Sie genoss einen neuen Freiheitsgrad, der sich zwar nur im Kleinen abspielte, sie aber dennoch erfreute, weil es ein für sie ungekanntes Lebensgefühl war.

Sie hatte ihre Arbeit in der Restaurantküche geliebt und mit Hingabe ihre Gäste bekocht. Im Haus war sie seinem Vater aus dem Weg gegangen, so gut sie konnte. Sie verstand sich von Anfang mit ihrem Schwiegervater überhaupt nicht, der sie nach Belieben auszunutzen und zu schikanieren schien. Papa hatte sie gegen den erklärten Willen des Alten dabei unterstützt, neben dem Hotel-Restaurant einen Reiterhof einzurichten. Sie hatte Pferde schon immer geliebt, und ihr Hobby, über saftige Wiesen und sanfte Hügel zu galoppieren, erfreute sich steigender Beliebtheit bei Touristen. Sie frönte ihrem Lieblingssport tagsüber, denn die Restaurantküche war - außer im Sommer - nur abends geöffnet. Den daraus resultierenden Einkommenszuwachs nahm der Opa kommentarlos zur Kenntnis, und sie lebte auf durch die Chance, etwas aufzubauen.

Ich bekam meinen Papa in all den Jahren selten genug zu Gesicht, denn als Reiseleiter war er, wie der Onkel, die meiste Zeit unterwegs. Über ihn hatte er auch Mama kennengelernt und war froh gewesen, eine Hilfe in der Wirtschaft seines Vaters gefunden zu haben.

Dass sie mir nach sechzehn Jahren in ihrem Abschiedsbrief eröffnete, dass Papa nicht mein leiblicher Vater war, hat mich tief getroffen.

Obwohl er für mich immer mein Papa bleiben wird, treibt mich jetzt die Sehnsucht um, in eine schönere Zukunft zu entfliehen.

Nach dem schrecklichen Jagdunfall vor sieben Jahren, bei dem Papa starb, war Mamas Leben in einer lange anhaltenden Trauerperiode versunken, in welcher der Alte ihren Lebensstil bestimmt hatte. Ich war damals froh, wenigstens im Winter im Internat meine Zeit weit weg von der tristen Atmosphäre zu Hause zu verbringen.

Dass Mama ebenfalls versuchte, aus ihrer häuslichen Tristesse zu entfliehen, entnahm ich ihren Notizen. Sie beschrieb, dass sie sich gelegentlich und heimlich von zu Hause fortgestohlen und ab und zu die Tanzabende besucht hatte, die im Winterhalbjahr auf den umliegenden Höfen stattfanden.

Ihr nächster Stimmungsaufheller war im darauffolgenden Sommer aufgetaucht. Sie beschrieb in ihrem Tagebuch, wie unsterblich sie sich in einen Gast in unserem Gasthaus verknallt hatte.

Mama begann aufzuleben und von einer schönen Zukunft zu träumen. Ich bildete mir ein, aus ihren Zeilen herauszulesen, dass dieser Gast nicht zum ersten Mal im Hotel von ihr verwöhnt wurde.

Ich befand mich zu der Zeit - wie üblich - den ganzen langen Winter über, der bis weit in den Mai hineinreichte, im Schulinternat in Höfn. Die Sommersaison würde ich dann wieder auf dem Hof verbringen, um Mama im Restaurant zu helfen, und ich durfte reiten lernen.

Mama hatte mit aufgeregten Worten festgehalten, dass ihr Liebling wieder einmal für ein paar Tage und Nächte im Gasthaus Veitingahús eingekehrt war.

Am Abend bevor die Gruppe, mit der er gekommen war, über Egilstadir nach Akureyri weiterzureisen plante, wollte sie endlich wissen, woran sie mit ihrem zögerlichen Lover war.

In dem Chaos, das sich mir nach meiner Rückkehr vom Internat dargeboten hatte, wäre ich beinahe verzweifelt.

Mit ihrem Schwiegervater war sie in einen noch heftigen Streit geraten. Sie hatte entschieden, ab sofort Schluss zu machen mit dem Druck, den er auf sie ausgeübt hatte. Wut und Angst sprühten aus ihren Zeilen, als sie wiedergab, dass er mit allen Mitteln versucht hatte, sie in eine Quasi-Ehe zu zwängen.

Und das alles aus purer Gier.

Mit ihrem Abschiedsbrief vom April endeten ihre Notizen, und es gab ab diesem Zeitpunkt keine weiteren Einträge in ihren Handynotizen.

Als ich nach Schulschluss, es war Anfang Juni, auf den Hof zurückkehrte, ohne zu wissen, was vorgefallen war, traf ich meine Mama nicht mehr an.

Ich fand den Brief, ihr Handy und ihre Klamotten, die unberührt im Schrank hingen. Einzig das blaugemusterte Kleid, das sie so gerne getragen hatte, fehlte in ihrem Kleiderschrank.

Am dritten Tag nach meiner Rückkehr hatte mich Opa ohne Begründung aus dem Haus gejagt und mir zornig nachgerufen, dass ich enterbt sei. Ich sehe ihn immer noch vor mir, den rotbärtigen Patriarchen, der zornbebend beinahe platzte, wie er so in der Tür stand und mich gnadenlos auf die Straße schickte.

Alles, was mir geblieben war, waren der Abschiedsbrief und die Notizen, die sich auf Mamas Handy befanden. Ich habe diese Schätze seither wie meinen Augapfel gehütet und keinem davon erzählt.

Die einzige Person, die mir ab diesem Zeitpunkt Zuflucht hätte gewähren können, war mein Onkel. Aber vor dem hatte ich Bammel und außerdem war er in U-Haft verschwunden.

Ich verbrachte eine kurze und schwierige Zeit bei einer Schulfreundin in Höfn. Diese Freundin war es auch, die mich zu Mamas Grab geführt hatte, dessen Trostlosigkeit keine Trauer in mir aufkommen ließ. Ein unansehnliches nacktes Holzkreuz in der hintersten Ecke des Friedhofs in Höfn, von dem ein Namenschild mit Mamas Namen baumelte, war alles, was mir von ihr geblieben war. Meine Freundin erzählte, dass mein Onkel am Tag nach dem Begräbnis Anfang Mai dieses Schild angebracht hatte. Er hatte einen Tag Hafturlaub bekommen.

Ich fühlte mich im Haus meiner Freundin fremd und geduldet und hatte eine krasse und schwierige Zeit. Die Bemerkungen ihres Vaters, dass ich mir ein eigenes Zuhause suchen sollte, drängten mich zur Flucht.

Ich stand damals wie ein Geist neben mir, ohne zu verstehen, was ich tun sollte, als sich plötzlich mein Onkel meldete. Er teilte mir telefonisch mit, dass er ein One-Way-Ticket am Flughafen in Keflavik auf meinen Namen hinterlegt hatte, und mich von der Insel holen wollte, um einen Neuanfang zu starten.

Ich bestieg den Flieger mit den wenigen Siebensachen, die ich den Winter über im Internat dabei hatte.

Praktisch ohne Geld und Pass, aber mit Mamas Schätzen, die sie mir vererbt hatte. Mit dem Handy samt gespeichertem Tagebuch und einem Brief, der sich wie ein Vermächtnis voller Rätsel las.

Ich begann wie Mama, von einer liebevollen Familie zu träumen, ohne zu wissen, wie das funktionieren sollte. Gleichzeitig füllten Bedenken mein Herz, ob der Mann, der Mamas Liebe zerstört hatte, mir eine glückliche Zukunft eröffnen würde.

Die Neugier drängte die Zerrissenheit und meine Zweifel zurück.

Wer war der Mann, den sie so selbstzerstörerisch geliebt hatte, und von dem ich nichts hatte als ein verschwommenes Selfie auf ihrem Handy?

Buch I: Stammtischgespräche und ein Todesfall

Sigrun I - 30. April 2022 (Walpurgisnacht)

Gespenstisch beleuchteten die flackernden Flammen, der in einem Kreis gesteckten Fackeln, ein schauriges Szenario. Drei mit weißen Kapuzen maskierte Richter und ein unkenntlich gemachter Ankläger traten einer auf einen Stuhl gefesselten Frau gegenüber auf. Sie saßen auf den halbkreisförmigen Stufen des uralten Versammlungsortes der früheren Althing und harte Worte prasselten auf die Frau ein, welche in einen Jutesack gehüllt auf einem Stuhl fixiert war. Ein festes Seil umschloss ihre Arme wie eine Zwangsjacke und dennoch hatte sie den Kopf stolz in die kalte Vorfrühlingsnacht gereckt, als der Richter sie ansprach.

- Angeklagte, du wirst des fortwährenden schweren Ehebruchs, der liebestollen Hexerei mit Fremden und Inzest beschuldigt. Es würde dem Gericht den Urteilsspruch erleichtern, wenn du ein Geständnis ablegen würdest.

- Ich will, dass ihr die Gesichtsmasken abnehmt, um euch in die Augen zu sehen. Ihr maßt euch an, Recht zu sprechen, das nichts aber auch gar nichts mit den gültigen Gesetzen zu tun hat. Ihr seid aus der Zeit gefallen mit euren archaischen Vorstellungen und Lügen, die sogenannte Zeugen und dieser verrückte Ankläger, den ich sehr wohl erkannt habe, über mich verbreitet haben.

- Du hast hier vor der Versammlung des Rates nichts zu wollen. Du kannst gestehen, und wenn du die Mindeststrafe von 50 Stockhieben überstehst, am Leben bleiben. Oder du wirst ertränkt, wie es das uralte und ungeschriebene Gesetz für dein schamloses Verhalten verlangt. Du hast die Wahl.

- Es gibt nichts zu gestehen. Und ihr Feiglinge, die ihr mir nicht ins Gesicht zu sehen wagt, denkt nicht, dass ihr mit diesem Spektakel davon kommt.

- Zum letzten Mal, nimm das Angebot an, oder die Hinrichtung wird unmittelbar nach dem Urteilsspruch vollstreckt.

- Ich habe nichts zu sagen, außer, dass ich euch und eure Kinder und Enkel verfluche. Ihr werdet öffentlich an den Pranger gestellt werden, auch wenn ihr mich tötet.

Kapitel 1

Bad König, Montag, 6. Juni 2022

Der heiße Sommer wollte nicht enden, und Oliver Schmucker saß bei einer Tasse schwarzen Kaffees anstelle seines üblichen kräftigen Frühstücks. Obwohl er frühmorgens in die aufgehende Sonne drei Mal rund um den Kurparksee in Bad König gejoggt war und danach kalt geduscht hatte, stand ihm der Schweiß auf der Stirn.

Er bewohnte das kleine Haus am Rande von Bad König, in das er nach dem Tod seiner Mutter zurückgekehrt war, seit Jahren allein. Er war ein Einzelgänger. Seine sozialen Kontakte am Ort beschränkten sich auf Telefonate und Terminabsprachen mit seiner Haushälterin, die einmal im Monat die Wohnung auf Vordermann brachte und auf seinen Sportclub. Da er die meiste Zeit beruflich unterwegs war, sah er die Putze höchstens zweimal im Jahr. Sobald er zu Hause war, verbrachte er seine Freizeit morgens beim Joggen rund um den Kurpark in Bad König oder im benachbarten Crossfit-Club, in dem ihn außer einem persönlichen Coach niemand näher kannte.

Kurze Zeit, nachdem seine Mutter von seinem Erzeuger sitzengelassen worden war, hatte er das elterliche Haus ebenfalls verlassen und gleichzeitig seine Ausbildung zum Koch abgebrochen. Er hatte seinem Vater keine Träne nachgeweint, und die Trennung von seiner Mutter fiel ihm unwesentlich schwerer. Sie hatte ihm seit seiner Pubertät das Gefühl vermittelt, dass Männer nur eine Sache im Kopf hatten, beziehungsweise das Gehirn in der Unterhose trugen.

Er hatte die Gene eines umtriebigen Vaters geerbt, und mit ihrer Prophezeiung war sie seinem Grundproblem recht nahegekommen. Das bewies schlüssig und nachvollziehbar sein Lebenslauf, der mit Übergriffen aller Art übersät war. Gewaltphantasien vermittelten ihm einen Kick, den er einer normalen Beziehung nicht abgewinnen konnte. Mit der Zeit wurde es immer schwieriger für ihn, dem Drang zu widerstehen, diesen Kick in Realität zu verwandeln.

Dennoch war er nur in einem einzigen Missbrauchsfall überführt und verurteilt worden. Dies war dem Umstand geschuldet, dass die meisten seiner Opfer den Gang an die Öffentlichkeit fürchteten und sich schämten, ihr Problem vor der Polizei oder dem Gericht auszubreiten.

Zwei Jahre zuvor war die Haftstrafe für das von einer Sterneköchin angezeigte Vergehen wegen seines bis dahin unbescholtenen Lebenswandels zur Bewährung ausgesetzt worden. Es war das erste Mal, dass er Gegenwind zu seinen maßlosen Methoden verspürte.

Nach dem Abbruch seiner Berufsausbildung zum Koch hatte er sich früh für den Weg des Foodbloggers entschieden, und eine erkleckliche Anzahl von Followern gesammelt. Das Angebot einer bekannten Ratingagentur von Restaurants, um für einen krankheitsbedingt ausgefallenen Kollegen einzuspringen, war ein Geschenk des Himmels. Es hatte ihm die Tür zu einer Karriere als Gourmetkritiker eröffnet.

Er hatte das Angebot probeweise angenommen, und der Job gefiel ihm so gut, dass er das Bloggen sein ließ und sich von nun an auf die kritische Bewertung von Restaurantküchen stürzte. Nach einer anfänglichen Phase der Euphorie kühlte seine Begeisterung angesichts der kümmerlichen Bezahlung allmählich wieder ab. Er drohte auch in diesem Job ein Versager zu werden.

Er war enttäuscht von seinem niedrigen Grundgehalt und der mickrige Erfolgsbonus am Jahresende, der an die Qualität und Menge seiner Beurteilungen geknüpft war, konnte seine Unzufriedenheit nicht aufhellen.

Um zu verhindern, dass sein Bankkonto wegen seiner Online-Spielsucht gelegentlich ins Minus wuchs, hatte er einen dunklen Nebenerwerb entwickelt, der im Falle einer Anklage wegen erpresserischer Nötigung mit einer mehrjährigen Gefängnisstrafe belohnt würde. Ohne seine Sondereinkünfte wäre sein Kontostand ständig auf Privatinsolvenzkurs gelandet.

Für Restaurants war diese Zeit weltweit extrem schwierig. Restaurantbesitzer genauso wie Chefköche kämpften während der Coronapandemie ums Überleben. Nachdem die harten Beschränkungen eines vollständigen Lockdowns wieder gelockert worden waren, war eine hohe Reputation der Küchen Gold wert. Es war ein knochenhart umkämpfter Markt, und so mancher Sternekoch verabschiedete sich in die Insolvenz. Das galt genau so, wenn nicht ärger, für die unzähligen Mittelklasserestaurants und Gaststätten, die zudem mit Personalmangel kämpften.

Die Geschäftsinhaber waren darauf angewiesen, dass sie in den diversen Reiseportalen und Restaurantführern mit einer hohen Zahl von Gabeln, Löffeln oder Sternen möglichst hoch bewertet wurden. Es blieb nicht aus, dass sich Missbrauchsfälle häuften. So mancher Restauranttester wollte sich frech ein Stück vom prosperierenden Umsatz-Kuchen durch unsaubere Machenschaften bis hin zu krimineller Nötigung sichern.

Oliver Schmucker war von letzterer Sorte.

Dazu kam seine persönliche Schwäche. Er war als Mann eher unattraktiv und schleppte seit seiner Pubertät einen Komplex mit sich herum, den seine Mutter mit ihrer Nörgelei unnötig angeheizt hatte. Nach Jahren der Demütigung und erlittenem Beziehungsfrust behandelte er Frauen als Menschen zweiter Klasse.

Vor einigen Jahren hatte er einem Kollegen ein Geschäftsmodell abgeguckt, bei dem dieser den Restaurants einen Sonderbonus für gute Bewertungen abverlangt hatte. Ruckzuck hatte er ein nettes privates Provisionspaket in seine eigenen Testserien eingebaut. Dieses Modell hatte er zudem um eine persönliche Note bereichert, indem er seiner weiblichen Kundschaft gestattete, seine Provision in Naturalien abzubezahlen. Dass er dabei manchmal mit kräftiger Hand nachhelfen musste, und es sich um pure Erpressung bis hin zu körperlicher Gewaltanwendung handelte, störte ihn nicht weiter.

Wenn man von der überdurchschnittlich harten Strafe für einen Ersttäter durch den Amtsrichter in Michelstadt vor drei Jahren absah, hatte er bisher seine Erpressungen und Nötigungen relativ unbeschadet überstanden.

Er wusste natürlich, dass er sich auf dünnem Eis bewegte und überlegte, ob er sich eine kurze Auszeit verordnen sollte, um den diversen Drohungen auszuweichen, die sich auf seinem PhaseBOOK-Account angesammelt hatten. Das Konto hatte er aus der Foodbloggerzeit in den neuen Job hinübergerettet.

Lustlos blätterte er in seinem Terminkalender.

Sein Brötchengeber hatte ihn vor zwei Tagen mit eindringlichen Worten ermahnt, und von ihm die längst überfälligen Bewertungsberichte offener Restaurantbesuche verlangt.

„Oliver, beweg deinen Hintern. Du schuldest uns wenigstens fünf Testergebnisse.“

Mit diesen Worten hatte ihn sein Chef direkt und ohne Vorwarnung unter Druck gesetzt.

„Ich weiß“, hatte er den Vorwurf bestätigt, „aber mir geht es grad nicht so gut. Ich nehme sie mir nächste Woche vor. Versprochen.“

Er hatte seit der Prügelei einen echten Durchhänger und die Liste der Restaurants, die sie ihm für die kommenden Monate vorgegeben hatten, um deren Qualität und Kochkünste zu bewerten, war nicht dazu angetan, seine Stimmung zu heben.

Seit seiner verkorksten Bewertungstour vom März beherrschte ein Stimmungstief seine Gemütswetterlage. Der Krankenhausaufenthalt, der zum Komplettausfall einer lukrativen Testreihe im Zusammenhang mit einer Winterreise geführt hatte, war ihm in die Knochen gefahren. Dem gut bezahlten Streifzug durch exklusive Touristenrestaurants einer Standardrundreise für anspruchsvolle Winterurlauber war ein Angebot zugrundegelegen, das aus dem Blauen kam und dem er nicht hatte widerstehen können. Seine Agentur hatte ihn, nachdem er die Offerte angenommen hatte, anonym unter eine Reisegruppe aus dem Odenwald gemischt. Seine übliche Masche privater Provisionszahlungen hatte einen zusätzlichen Profit versprochen.

Aber dann war alles anders gekommen als geplant.

Er hatte die Prügelei als Reaktion auf seinen Übergriff nicht vorhergesehen und fast eine Woche im Krankenhaus verbracht. Neben einem Schädeltrauma hatte eine der gebrochenen Rippen seine Lunge durchbohrt. Die Coronaauswirkungen, die sich nachträglich dazugesellten, waren dagegen ein Kindergeburtstag.

Er biss die Zähne zusammen und starrte aus dem Fenster.

Seine Stimmung wurde durch die Einsicht, dass er es sich selbst zuzuschreiben hatte, nicht besser. Dazu kam, dass eine drohende Anzeige mit dem Risiko einer Verletzung seiner Bewährungsauflage wie ein Damoklesschwert über ihm hing. Er hatte überlegt, abzutauchen und alle seine Engagements vorerst zu canceln, denn sein Bedarf an Gerichtsterminen war seit dem letzten Urteil gedeckt. Noch dazu bei diesem knallharten Richter, der über eine Anklage entscheiden musste.

Oliver Schmucker, der bereits eine Zeugenaussage zu dem Vorgang hinter sich hatte, ahnte nicht, dass dem Amtsträger, wie ihm selbst, ein queeres Frauenbild manchmal die Sicht vernebelte. Er hatte eine nicht unbegründete Angst, beim nächsten Mal für einen längeren Zeitraum einzufahren.

Er hatte den ungeduldigen Brötchengeber am Telefon nur mit Mühe beruhigen können, indem er ihm versichert hatte, dass er seinen Verpflichtungen umgehend wieder nachkommen wollte. Für den kommenden Mittwoch hatte er konsequenterweise einen neuen Testtermin fixiert. Der Termin betraf eine Kultkneipe in Bad König, die einen ausgezeichneten Ruf weit über die Region hinaus hatte. Dazu kam, dass das Lokal von einer alleinstehenden Wirtin geführt wurde. Das hatte er dieses Mal im Vorfeld recherchiert, während er durch die ‚Ourewäller‘ Speisekarte der Köchin gescrollt war.

Missmutig trank er einen Schluck des heißen, schwarzen Kaffees und stierte auf die Liste mit den zu bearbeitenden Restaurants, die ihm sein Brötchengeber gemailt hatte. Während er sich überlegte, mit welcher Ausrede er sich aus der Verpflichtung davonstehlen könnte, hatte ein Ping seines Telefons eine eingehende SMS angekündigt.

Beim nächsten Mal wird dich die Polizei nicht mehr schützen!

Der Absender hatte seine Telefonnummer unterdrückt.

In Gedanken versunken, legte der Restauranttester sein Handy auf den Tisch.

Für ihn war seine Masche, von den jeweiligen Küchen- oder Restaurantbetreibern einen Extra-Bonus zu verlangen, seit Jahren leichtverdientes Geld, das er skrupellos, und ohne einen Gedanken an Konsequenzen zu verschwenden, verlangt hatte.

Nie war etwas - von den oben erwähnten Kleinigkeiten abgesehen - schief gelaufen, und urplötzlich drohte sich sein Geschäftsmodell in ein Schreckensszenario zu verwandeln.

Er atmete tief durch.

Mit einem letzten Schluck aus der Kaffeetasse beschloss er, zeitnah nach seinem für Mittwoch fest gebuchten Testessen eine möglichst lange Auslandstour einzulegen. Selbst wenn das über seinen ‚Guide gastronomique‘-Arbeitgeber nicht klappen sollte, würde er einige, ihm bekannte Reiseveranstalter direkt kontaktieren.

Das Pflaster hierzulande wurde ihm zu heiß.

Und die Hitze kam nicht nur vom Joggen oder den rasant steigenden Sommertemperaturen.

Er wollte schon seit langem die italienische Küche durchkosten und Italien war Neuland für ihn. Da kannte ihn keiner.

Nach einer zweiten Tasse Kaffee fühlte er sich in der Lage, seinen Brötchengeber zu bitten, ihm eine Tour weit weg vom Odenwald zu ermöglichen.

Er redete sich ein, dass er, geschützt durch einen zeitlichen und räumlichen Abstand, die Gefahr locker aussitzen könnte.

Zuvor würde er ein vorerst letztes Mal die Vorteile seines Jobs auskosten, denn für die Wirtin, die zu testen er sich für den nächsten Mittwoch vorgenommen hatte, war er ein unbeschriebenes Blatt. Und er war kaltschnäuzig genug, das Risiko einzugehen, obwohl sich die Gaststätte in seinem Wohnbezirk befand.

Praktisch um die Ecke.

Normalerweise würde er so einen Auftrag ablehnen, denn Anonymität garantierte ihm fast immer einen gewissen Schutz vor den Rachegedanken seiner Opfer.

Aber wegen der Chance, sich unmittelbar danach ins Ausland absetzen zu können, behielt seine Gier nach der Sonderprovision die Oberhand.

Kapitel 2

Bad König, Freitag, 10. Juni 2022

Der Sommer zeigte, wie schon seit Wochen, sein sonnenverbranntes Gesicht, und dabei hatte er noch nicht einmal richtig begonnen. Brütende Hitze begleitete Willy Hamplmaier auf dem Weg zu seiner Stammkneipe.

Der großgewachsene, kräftige Ermittler mit den grauen Haaren erinnerte in seiner Art zu recherchieren an den Inspektor Columbo der bekannten Fernsehserie. Sein behäbiges Auftreten wurde von seinen Kontrahenten oftmals mit stoffelig verwechselt und seine kriminalistische Spürnase unterschätzt. Sein Schnauzbart und vor allem seine Brille mit den runden Gläsern unter buschigen Augenbrauen verliehen ihm seine Identität und seinen hohen Bekanntheitsgrad.

Willi Hamplmaier merkte nur zu gut, dass er Stresssituationen, wie diesen verdammten Gerichtsprozess, nicht mehr so leicht wegsteckte wie früher. In seinen Ermittlungen, die er neben dem Bestattungsunternehmen betrieb, das er von seinem Vater geerbt hatte, schwächelte neuerdings sein legendärer Riecher. Dieses unbeirrbare, nicht durch Logik ersetzbare Bauchgefühl, ließ ihn gelegentlich im Stich, und er musste durch umso intensivere Nachforschungen den fehlenden sechsten Sinn kompensieren. Deshalb hatte er auch kein Problem damit, einzelne Fälle peu à peu an seinen Junior abzugeben, der seit zwei Jahren das kleine Ermittlerteam verstärkte.

In diesem Moment kam er direkt von der vorletzten Gerichtsverhandlung eines gefühlt endlosen Erbschaftsstreits mit der Mafia in seine Stammkneipe. Er stapfte mit gebeugten Schultern und schwitzend über den groben Kiesweg, der zur weitgeöffneten Eingangstür des Gasthofs führte. Die Schweißperlen auf seiner Stirn rührten nicht nur von der Sonne her.

In sich gekehrt kreisten seine Gedanken um den Prozess und die Ereignisse des heutigen Tages. Willy Hamplmaier freute sich darauf, im Kreise seiner Kumpels mit ein paar Bierchen oder einem Humpen Äppelwoi den Tag, von dem er nicht sicher war, ob er ihn als erfolgreich verbuchen sollte, ausklingen zu lassen.

Die Gerichtsverhandlung war wegen der hohen Arbeitslast des Amtsgerichtes um 15:00 Uhr und für eine knappe Stunde angesetzt worden. Dank des üblichen Sperrfeuers der Gegenseite hatte sich die Verhandlung bis kurz nach 18:00 Uhr hingezogen. Der Richter hatte es geduldig zugelassen, weil es der letzte Gerichtstermin des Tages war. Er wollte den Klägern keine Gelegenheit für weitere Einsprüche oder Verzögerungen geben.

Das Ende des Prozesses, den die Mafia gegen seine Enkelin angestrengt hatte, war festgelegt und absehbar.

Der Rechtsanwalt der klagenden Partei hatte bei diesem letzten Verhandlungstermin, den der Richter der Gegenpartei für eine abschließende Stellungnahme eingeräumt hatte, nur Altbekanntes vorgetragen. Das Gericht hatte unmittelbar danach den kommenden Freitag als Termin der Urteilsverkündung festgelegt. Zum Leidwesen von Willy Hamplmaier ohne jeden Fingerzeig, ob es den Antrag der klagenden Partei abzuweisen gedachte oder nicht.

Willy Hamplmaier war versucht dem zuständigen Amtsrichter, Fritz Uhrig, eine Aussage zu entlocken, aber der hatte den Versuch kurz und knapp unterbunden. Umso verwunderter reagierte Willy, dass er ihn nach dem Ende der Verhandlung in sein Arbeitszimmer gebeten hatte.

Vor Gericht hatte Willy regelmäßig ein flaues Gefühl im Magen, als ob jederzeit etwas Unvorhergesehenes den Lauf der Rechtssprechung beeinflussen könnte. Er wusste nur zu gut, dass das erhoffte Urteil keine Selbstverständlichkeit war. Er fühlte sich vor Gericht fast immer wie in einem Boot auf hoher See. Man war als Beklagter oder Kläger gleichermaßen in Gottes Hand und die Einsicht, dass die Rechtsprechung nicht immer gleichbedeutend mit Gerechtigkeit war, stimmte ihn missmutig.

Er hoffte, dass sich der Richter in seinem Fall nach zwei Jahren langwieriger Verhandlungen auf die Seite seiner Enkelin stellen würde. Es ging um Eminas Anspruch als Erbin des Vermögens der Stiftung ‚Jungbrunnen‘ aus der Hinterlassenschaft ihres im Gefängnis ermordeten Gangster-Vaters. Ihr biologischer Erzeuger war der Boss der berüchtigten Bratwa, einer Bruderschaft der sogenannten Diebe im Gesetz. Eine frühere Geliebte des Bandenchefs hatte ihn im Knast und unter den Augen der Justizbeamten in der JVA Erbach aus Eifersucht ermordet. Nastasia Korolja, war danach mit dem Auftragskiller der Bande nach Kaliningrad geflohen, um die Rolle ihres toten Ex einzunehmen[Fußnote 1]. Seither hatte sie alle Hebel in Bewegung gesetzt, um an das Stiftungsvermögen ‚Jungbrunnen‘ zu gelangen, das sich die Bande durch Sozialmissbrauch und dem Betrieb einer Reihe von Pflegeheimen in Hessen ergaunert hatte. Ihr Partner, der eine Rechtsanwaltskanzlei in Frankfurt führte, Maxim Mutsonow, war ihr Rechtsbeistand im Erbschaftsstreit.

Die Gegenseite hatte jahrelang sämtliche rechtlichen Mittel ausgeschöpft und ständig mit Drohungen in alle Richtungen gearbeitet. Es war keinesfalls ungewöhnlich, dass ein Richter höchstpersönlich von der sich benachteiligt fühlenden, unterlegenen Partei im Verfahren bedroht und zur Zielscheibe von Hassmails wurde.

Willy konnte sich zuerst keinen Reim darauf machen, warum ihn Fritz Uhrig nach dem Ende dieser abschließenden Sitzung vor der Urteilsverkündung in sein Zimmer gerufen hatte. Er atmete tief durch, als der unaufgefordert auf einen kürzlich eingegangenen Drohbrief zu sprechen kam. Der Richter erklärte, dass er nach reiflicher Überlegung zu dem naheliegenden Schluss gekommen war, dass es sich dabei um ein Schreiben dieser Mafiabande handeln musste. Dieselbe Bande, mit der sich sein Sohn Hans und er im Namen seiner Enkelin, Emina Hämmerle, seit Jahren und aktuell im Erbschaftsverfahren um das Stiftungsvermögen ‚Jungbrunnen‘ herumschlagen mussten.

Fritz Uhrig lachte die Drohung etwas gezwungen weg, aber seine Augen verrieten eine nicht zu verleugnende Angst, die er zu überspielen versuchte.

„Das ist nur ein Schreiben von vielen, die ich meistens ungelesen entsorgt habe“, erklärte er.

Willy Hamplmaier, der sich dennoch wunderte, dass der Richter ihn in seine Bedrohung eingeweiht hatte, bot ihm spontan seine Dienste bezüglich der Ermittlung des Urhebers der Drohung an. Willy schlug vor, das Ganze bei einem Glas Bier in Ruhe zu besprechen, aber auch diesen Vorschlag lehnte Fritz Uhrig ab, der auf seine Unabhängigkeit großen Wert legte.

Einen Moment lang dachte Willy, der Richter hatte ihm den Wisch nur gezeigt, um ihm zu demonstrieren, dass ihn die Gegenseite nicht mit Drohungen kleinkriegen könnten. Der Amtsrichter war ein bekannter Sturkopf, der sich nicht so schnell einschüchtern ließ, bevor er der Strenge des Gesetzes zu ihrem Recht verhalf.

„Wenn da nicht mehr kommt, wird das wieder im Papierkorb landen. Im Moment ignoriere ich das Thema noch. Sollte sich die Situation bis zum nächsten Gerichtstermin verschlechtern, kann es sein, dass ich über Konsequenzen nachdenken muss! Entweder ich vertage den Prozess oder es gelingt ihnen kurzfristig, den Urheber der Drohbriefe zu auszuforschen!“, betonte er.

Willy verstand die Sorge des Richters über einen befürchteten Zusammenhang zwischen der Drohung und dem Urteilstermin, und er wiederholte sein Hilfeangebot.

„Gerne. Wenn sie meine Hilfe benötigen, stehe ich selbstredend für eine unauffällige Suche des Stalkers zu ihrer Verfügung. Mir wäre nur wichtig, dass der Prozess nicht platzt. Wenn ich ihnen einen Rat geben darf, würde ich an ihrer Stelle umgehend die Kripo einschalten“.

Der Richter schüttelte nur energisch den Kopf, damit war alles gesagt und Willy Hamplmaier hatte sich verabschiedet.

So kam es, dass Willy Hamplmaier gegen 20:30 Uhr den Gastraum seines Stammlokals ‚Zur goldenen Gabel‘ betrat und immer noch seinen Gedanken nachhing, während seine Augen die Wirtin suchten, die eifrig den Zapfhahn mit dem ‚Guude‘ – Pils bediente.

„Ein großes Bier für mich, Rosi“, rief er ihr zu.

Sie nickte und wischte sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn.

„Kommt sofort“, rief sie und fragte nach einem schnellen Blick auf seine nachdenkliche Miene, „geht es dir gut? Du siehst ein bisschen blass um die Nase aus, meiGuudschter[Fußnote 2].“

Willy lachte und schob seine Schweißtropfen auf der Stirn mit einem Augenzwinkern auf den heißen Sommer und s’Corona.

„Ich geh schon mal zu den anderen“, sagte er über die Schulter gewandt, und orientierte sich an dem lauten Gelächter der Stammtischbrüder, die es sich in ihrer gewohnten Ecke gemütlich gemacht hatten.

Er hatte sich noch nicht gesetzt, als ihm die zierliche junge Frau, die eine viel zu große Schürze der Wirtin umgebunden hatte, das beschlagene Bierglas auf seinen Platz stellte.

„Danke. Bist du neu hier? Darfst du um diese Zeit noch arbeiten?“, wunderte sich Willy mit einem Blick auf die Uhr und wegen des Alters der Bedienung, die er auf höchstens sechzehn schätzte. Das Mädchen lächelte nur ein scheues Lächeln, bevor es in der Küche verschwand.

„Willy, kümmere dich um deinen eigenen Kram und mach mir bloß nicht die Inna abspenstig. Wo ich so froh bin, dass mir endlich jemand im Service hilft. Wegen Corona sind ja alle abgehauen!“, rief Rosi herüber und drohte ihm lachend mit dem ausgestreckten Zeigefinger.

„So war das doch nicht gemeint“, beruhigte Willy die Wirtin seiner Stammkneipe und fügte scherzend hinzu, „finde ich gut, dass endlich mal ein hübsches Gesicht die Stimmung in deiner Kneipe aufhellt“.

Er wich geschickt dem von der Wirtin nach ihm geworfenen Bierdeckel aus, bevor er sein Glas hob.

„Prost zusammen!“

Willy prostete der Runde zu, die - wen wundert es - sich mit dem Standardthema ‚Corona‘ herumschlug. Bei diesem Streitthema waren alle Nuancen eines kontrovers angelegten Streitthemas vertreten, wobei sich die Meinungen der Kontrahenten in langen Diskussionsrunden verfestigt hatten.

Jeder bestand auf seiner Einstellung, als der einzig richtigen Wahrheit, und es gab kaum einen Spielraum für Toleranz oder ein gemeinsames Verständnis.

Dabei konnte sich Willy durchaus daran erinnern, dass im März, kurz nachdem die Sportgruppe der Stammtischbrüder von ihrer Islandreise zurückgekehrt war, alle coronapositiv getestet worden waren. Einige von ihnen mussten bis Mai mit unterschiedlich schweren Symptomen das Bett hüten.

Keiner wollte hinterher der Auslöser der lokalen Pandemiewelle gewesen sein. Je nach individuell vorhandenem Immunsystem war der Krankheitsverlauf bei dem einen kürzer oder in einigen Fälle sogar lang anhaltend verlaufen.

Willy hatte das große Schweigen nach der Winterreise, deren Hauptzweck Eisklettern am größten Gletscher Europas war, auf die überstandenen Covidauswirkungen geschoben. Im Gegensatz zu allen anderen Reisen vermisste er diesmal die üblichen mitreißenden Reiseberichte.

Dafür arbeitete sich die Gesprächsrunde nach erfolgreicher Wiedergenesung und uneinsichtig wie eh und je am Amtsrichter des Ortes ab, dem man selbst im Nachhinein Panikmache vorwarf. Er hatte mit einer Handvoll von Urteilen Aufsehen erregt, die dazu geführt hatten, dass ein paar widerspenstige Cafés und Gasthäuser einige Zeit dichtmachen mussten. Am schlimmsten hatte es wohl eine renitente Restaurantbesitzerin im Zentrum von Erbach getroffen, die nach wochenlanger Lokalschließung Insolvenz und kurz danach Konkurs anmelden musste. Das Lokal wurde bevorzugt von Motorradfahrern als Pausenstopp angefahren und von den Einheimischen dem Rockermilieu zugerechnet.

Es wunderte keinen, dass die als querköpfig beleumundete Dame unvermittelt und nicht ohne lautstarke Drohungen in der wachsenden Szene der Verschwörungstheoretiker abgetaucht war. Dass sie Freiheit mit Disziplinlosigkeit verwechselt hatte, das ließ nur einen kleinen Teil der Stammtischrunde kalt. Wiederum eine Minderheit fand entgegen der üblichen Lockerheit harte Worte. Bemerkungen wie ’früher hätte man so jemanden als Hexe verbrannt‘ waren zwar Einzelmeinungen. Dennoch überraschte es besonnene Mitglieder wie den gemütlichen Willy Hamplmaier immer wieder, wie in schwierigen Zeiten extreme Meinungen wie Pilze aus dem Boden schossen.

Wobei nicht alle derselben Ansicht waren.

Der kleine Teil, der sich zugunsten der abgetauchten Restaurantbesitzerin verständnisvoll äußerte, konnte sich endlos darüber ereifern, dass der Richter sie dafür bestraft hatte, weil sie so aufrecht und unverblümt eine Anzahl sturer Maskenverweigerer unterstützt hatte.

Im Gegenargument tropften Hinweise der Besonnenen in die Argumentationsketten, dass man sich doch bitte an die eigenen Erfahrungen mit der Krankheit nach der kürzlich erfolgten Islandreise erinnern möge.

Was wiederum von den Besserwissern als dummes Zeug vom Tisch gewischt wurde. Man wünschte der höheren richterlichen Weisheit das Virus an den Hals.

Basta.

Dass dies bei einem älteren Herrn mit einer vorgeschädigten Lunge, wie es bei Fritz Uhrig der Fall war, auch tödlich enden könnte, nahmen die verbitterten Coronaleugner der Gruppe in ihrer Ignoranz über die Long-Covid-Folgen billigend in Kauf.

Willy Hamplmaier unterdrückte seinen aufkeimenden Frust über die undeutlichen Hinweise der Stammtischgruppe und spülte alles mit einem kräftigen Schluck des Guude-Pils hinunter.

Später sollte er sich umso öfter vorwerfen, dass er nicht beharrlicher nachgebohrt hatte. Als er gerufen wurde, um seiner Bestattertätigkeit nachzugehen, war es zu spät.

Kapitel 3

Brombachtal, Freitag, 17. Juni 2022

Die Schwester des Richters führte nach dem Tod des frühverstorbenen Gatten den Haushalt ihres Bruders. Nach einer glücklichen Ehe, die leider kinderlos geblieben war, ergab sich Maria Uhrig-Neff in ein nicht unzufriedenes Witwen-Dasein. Hingebungsvoll kümmerte sie sich um Haus und Hof von Fritz Uhrig und bekochte ihn, denn erneut zu heiraten, kam ihr nicht in den Sinn. Dafür war die gemeinsame Zeit mit ihrem verstorbenen Mann zu schön gewesen. Als Geschwister waren Fritz Uhrig und sie von klein auf sehr eng, und er ließ ihr den Freiraum, den sie brauchte, um über den Verlust hinwegzukommen.

Als er sie eingeladen hatte, bei ihm zu wohnen, hatte sie nicht lange gezögert und war der Aufforderung gefolgt. Unter der Bedingung, sich um das Elternhaus zu kümmern. Sie liebte das alte Haus in Kirchbrombach und genoss die dahinter liegenden weitläufigen Streuobstwiesen mit uralten Apfelbäumen.

Maria strich sich das Haar aus der Stirn, als sie aufatmend das letzte, sauber geputzte Fenster schloss und von der Leiter stieg. Sie war eine zierliche Frau, Anfang fünfzig und mit ihrer Ausstrahlung durchaus attraktiv.

Es war ein langer Tag gewesen, denn freitags putzte sie einmal im Monat sämtliche Fenster in dem großen Haus, das sie im Dachgeschoss und ihr Bruder im Parterre bewohnte. Vom vielen Stehen auf den Leiterstufen tat ihr das Kreuz weh, und die Beine schmerzten vom anstrengenden Klettern auf der Leiter. Die großen Fenster, die vom Wintergarten auf die kleine Terrasse führten, waren deutlich einfacher zu putzen gewesen, bevor sie sich an die mühsame Reinigung der vielen Sprossenfenster im Rest des Hauses machte.

Sport war nicht ihr Ding, und sie vertrat die Meinung, dass sie sich bei der täglichen Arbeit mehr als genug bewegte. So argumentierte sie, wenn ihr Bruder sie zum Besuch der Rückenschule im Ort überreden wollte, zu der es ihn jeden Montag und Freitag nach seinen Dienststunden am Amtsgericht in Michelstadt zog.

Auch er hatte es im Kreuz. Wobei er niemals zugegeben hätte, dass es mit seinen regelmäßigen Golfrunden zusammenhing, die er wenigstens dreimal die Woche absolvierte.

An diesen Tagen entfiel dann das gemeinsame Abendessen und Maria genoss entspannt den Abend allein auf der Sonnenbank im Apfelhain hinter dem Haus. In der Sonne sitzend las sie ein Buch, oder sie schmökerte Krimis in ihrer geliebten Badewanne. Im Sommer war die Wanne immer mit lauwarmem Badewasser gefüllt, um der Hitze zu entgehen. Ein Glas gekühlter Apfelwein stand dann griffbereit auf einem Tablett neben der Wanne und Maria träumte von einem früheren Leben.

An diesem Freitag, mitten im Juni, war es nicht anders, und ein überdurchschnittlich warmer Frühlingstag hatte einen heißen Sommer angekündigt. Sie ließ das lauwarme Wasser in die Wanne mit dem Schaumbad laufen und fühlte mit der Hand, ob die Temperatur stimmte. Müde und geschafft vom vielen Fensterputzen stieg sie zufrieden in das angenehm temperierte Nass. Der erste Schluck Apfelwein tat ein Übriges, die peripheren Blutgefäße öffneten sich. Ein wohliges Gefühl durchflutete sie und breitete sich in ihrem Innern aus.

Sie hatte die Augen geschlossen und träumte sich in die Erinnerung. Ohne sich anzustrengen, stiegen die Bilder wie Blasen in ihr Bewusstsein hoch. Sie entspannte sich weiter, und die leise Musik aus ihrem Smartphone ließ sie lächeln.

Mit dem letzten Glas in der Hand und nach einer knappen halben Stunde musste sie eingenickt sein, denn sie hörte die Schritte nicht, mit denen ein unbekannter Besucher auf den leisen Sohlen modischer Sneaker das Badezimmer betrat. Der Überraschungsgast, der getrieben von Rachegedanken das Haus betreten hatte, blieb überrascht in der Tür stehen. Er hatte weder mit der Anwesenheit einer Frau im Haus geschweige denn in einer Badewanne gerechnet.

Besagter Besucher wollte freitagabends kaltblütig den Richter töten, mit dem Ziel, ihn danach ungestört und spät nachts am Kirchbrombacher Galgen hinzuhängen. Seine Bestrafung sollte öffentlich gemacht werden.

Seit drei Tagen hatte er an nichts anderes gedacht, als dieses, sein erstes Opfer aufzuspüren und seine Gewohnheiten kennenzulernen, bevor er zuschlagen würde. Eine sorgfältige Choreografie würde seine Rachegelüste stillen, und er hatte die Aktion wohldurchdacht auf diesen Freitagabend im Haus des Richters gelegt. Jeden Abend war sein Opfer unmittelbar vom Amtsgericht nach Hause gefahren, um sich sein Abendessen in der Küche zuzubereiten und danach fernzusehen. Wegen seiner morgendlichen Golfrunden, bevor er sich seiner richterlichen Tätigkeit hingab, ging er unter der Woche früh zu Bett. Um 22:00 Uhr schlief er in der Regel tief und fest.

Er wollte ihn im Schlaf töten.

Das wäre unter der Woche problemlos möglich gewesen, außer freitags.

Da er weder von den Besuchen der Rückenschule noch der Anwesenheit einer Frau im Haus etwas wusste, war eine Planänderung erforderlich.

Die Fotos, die er ordentlich gerahmt auf dem Bücherregal im Wohnzimmer vorgefunden und aufmerksam studiert hatte, nachdem er den Raum durch die offene Terrassentür und den Wintergarten betreten hatte, waren schon irritierend gewesen.

Sie hatten den Schluss nahegelegt, dass es ein weibliches Wesen im Leben des Gesuchten gab. Obwohl er bei seiner Observation, bisher keine Frau zu Gesicht bekommen hatte. Was wiederum an seiner Unkenntnis über die ärztlich verordnete Abwesenheit der Maria Uhrig-Neff lag. Diese hatte, nach einem seit längerem anstehenden, schmerzhaften Bandscheibenvorfall, einen dringend erforderlichen, dreiwöchigen Reha-Aufenthalt in einer naheliegenden Klinik absolviert.

Davon war sie erst spät am Vorabend zurückgekehrt. Ahnungslos, dass das Wiedersehen mit ihrem Bruder nur kurz sein würde.

Ihre Bandscheiben waren wieder wie neu oder so gut wie neu, weshalb sie rechtzeitig vor dem Wochenende den freitäglichen Fensterputz absolviert hatte. Auch wenn ihr Bruder sie ausschimpfen würde, weil sie sich nicht geschont hatte.

Der unerwartete Besucher war vor allem deshalb erstaunt über die Anwesenheit eines weiblichen Wesens im Haus, weil er sein Opfer im Vorfeld als unverheiratet recherchiert hatte. Auf dem Foto war die Ähnlichkeit der Frau mit seiner eigentlichen Zielperson eindeutig und unverkennbar. Er tippte er auf eine jüngere Schwester seines Opfers.

Er hielt sich allerdings nicht lange mit seiner Verwunderung auf und änderte spontan den Plan. Die Möglichkeit seinem Opfer vor dessen Tod eine heftige Leidenszeit zu verpassen, eröffnete ihm eine erregende Alternative zum ursprünglichen Plan. Die Chance, die ihm ein Zufall bot, eine nahe Angehörige des Wohnungsinhabers als Todesdrohung mit Symbolcharakter an den Hausherrn zu töten, erschien ihm mehr als verlockend.

Er stand in der Tür des Badezimmers und überlegte unaufgeregt, wie er einen Tod durch Ertrinken am einfachsten bewerkstelligen konnte. Kurz entschlossen nahm er das Badetuch vom Haken. Er warf es über die mit geschlossenen Augen und mit Ohrstöpseln in den Ohren tief ins Badewasser gerutschte Frau. Vorsichtig drückte er mit der Rechten ihren Kopf solange unter Wasser, bis sie sich - nach einigen schwachen Abwehrversuchen - nicht mehr bewegte. Mit der Linken hatte er ihre Hände mit dem Handtuch im Wasser fixiert. Nachdem alles vorbei war, wischte er achtlos ein paar Schaumspritzer von den Bodenfliesen neben der Wanne. Die benutzten Badetücher hängte er fein säuberlich über den Handtuchtrockner. Danach versenkte er das an das Ladegerät angeschlossene Smartphone im Wasser, um die Nachforschungen schwierig zu gestalten, und der FI-Sicherungsautomat der Steckdose im Badezimmer löste aus. Abschließend hauchte er das Spiegelglas an und schrieb seine Botschaft in den feuchten Belag.

Du bist der Nächste!

Er hoffte, dass seine Botschaft ihr Ziel erreichte. Wenn nicht, wäre das kein Beinbruch.

Er hatte Zeit, seinen Auftrag zu erfüllen, und Geduld war eine seiner Stärken.

Damit verließ er das Haus.

Zufrieden mit seinem Werk.

Kapitel 4

Bad König, Freitag, 17. Juni 2022

An diesem Wochenende fehlte zur üblichen Zeit die Mehrzahl der ‚Freunde der Lebensfreude‘ aus der Abteilung ‚Sport und Freude‘. Dennoch beherrschte eine kampfeslustige Atmosphäre den harten Kern der Runde. Es wurde – wen wundert es – wieder einmal mit dem Lieblingsthema dieser Tage, der Einhaltung von Coronaregeln und der umstrittenen Impfpflicht, um die Lufthoheit an einem rauchgeschwängerten Stammtisch gerungen.

Die wertebewussten Mitglieder konnten es nicht verwinden, dass kürzlich die Kneipe genauso wie die kleine Konditorei im Ort auf richterliche Anordnung wegen Ignorierung der Coronaregeln hin geschlossen worden war.

„Das geht überhaupt nicht, dass der Staat jetzt so in unsere Privatsphäre hineinregiert“, ereiferte sich Hartmut Müller ein pensionierter Gymnasiallehrer und Ex-Oberstudienrat zum x-ten Mal über das ausgelutschte Thema.

„Jetzt mach mal halblang“, versuchte Willy Hamplmaier zu beruhigen und erreichte das exakte Gegenteil damit. Er löste einen formidablen Shitstorm, wie er im Buche steht, mit seiner Bemerkung aus.

„Du hast leicht reden. Einem Bestatter würde man niemals den Laden dichtmachen“, bekam er direkt sein Fett weg.

„Natürlich nicht. Ob du es glaubst oder nicht, für mich sind die Zwangsbeschränkungen objektiv geschäftsschädigend. Ein Aufheben der Maskenpflicht gefiele mir und meinem Umsatz dagegen schon besser. Dann wäre endlich mit einem Ende der Flaute und einem Anstieg an Bestattungen zu rechnen. Ohne Corona würde ja hier keiner mehr das Zeitliche segnen, so zählebig wie ihr seid. Die Zahl der Hundertjährigen steigt jedes Jahr“, knurrte Willy mit einem verschmitzten Lächeln. Auch ohne Corona jammerte er, angesichts der gesunden Lebensführung der ländlichen Bevölkerung, ständig über zu wenige Leichen in seinem Keller.

„Wenn ich es mir genau überlege, dann hilft der Beschluss von unserem neunmalklugen Amtsrichter weder der Rentenversicherung noch meinem Umsatz“, konnte sich Willy eine weitere sarkastische Bemerkung nicht verkneifen.

„Du bist ja bescheuert, wenn du das ins Lächerliche ziehst. Übersterblichkeit gibt es nicht, das ist längst erwiesen“, versuchte der Oberstudienrat seine Verteidigungslinie zu halten, aber allgemeines Gelächter hatte seine roten Linien längst durchbrochen.

Zu guter Letzt tauchte Rosi mit der zierlichen Bedienung im Schlepptau auf und verteilte die Teller mit den berühmten Ourewäller Kochkäseschnitzeln, was zumindest für kurze Zeit eine angenehme Gesprächspause über den Tisch sinken ließ.